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Der Hamburger Hafengeburtstag – für Martin Phillips von der Polizeiwache Hamburg-Bergedorf schon immer ein Tag des Abnormalen. Seine Kollegen machen sich über seine düsteren Prophezeiungen regelmäßig lustig, und doch … In diesem Jahr kommt der junge Finn Baumann auf die Wache und erklärt, seine Mutter ermordet zu haben. Mit einer Gitarrensaite will er sie stranguliert haben – aber es findet sich keine Leiche. Und die Wohnung von Mutter und Sohn ist offensichtlich seit vielen Wochen von keinem Menschen mehr betreten worden. Doch wieder ein Tag des Abnormalen? Jedenfalls einer, der Martin Phillips in der Folgezeit viel Kopfzerbrechen und einige Überraschungen bescheren wird.
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Seitenzahl: 252
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Semper occultus - Bin ich schuldig?
Ein Hamburg-Krimi
Roman
Alexandra Krebs
Fehnland-Verlag
Erstausgabe im Oktober 2017
Alle Rechte beim Verlag
Copyright © 2017
Fehnland-Verlag
D-26817 Rhauderfehn
Dr.-Leewog-Str. 27
www.fehnland-verlag.de
Cover: Scandals under Cover, unter Verwendung eines Bildes von Storyblocks.com
Lektorat: Roland Blümel und Michael Kracht
Satz und Layout: Michael Kracht
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
Nachwort
Martin
Das kann nur wieder ein seltsames Wochenende werden. Für andere Polizisten ist es das an Halloween. Doch bei mir ist es immer das Wochenende rund um den fünften Mai. Heute ist der sechste Mai und das heißt, der Irrsinn geht wieder los: Hafengeburtstag.
Alle verstehen, dass am Halloween irre Dinge passieren, sogar hier in der schönen Hansestadt Hamburg. Aber für mich passieren immer wieder unvorstellbare Dinge rund um den Hafengeburtstag.
So wie im letzten Jahr, als ein Pärchen, auf unsere Wache in Bergedorf kam, eigentlich ein Stadtteil, der fast zwanzig Kilometer vom Mittelpunkt des Geschehens entfernt liegt. Die Frau hat sich lautstark bei uns beschwert, dass ihr Freund keinen Sex mit ihr haben wollte.
Wir versuchten, ihr zu erklären, dass man dazu niemanden zwingen kann. Es hat fast drei Stunden gedauert, bis wir dann auch noch festgestellt haben, dass der vermeintliche Freund gar nicht ihrer war, sondern ein Tourist aus Schottland, der leider kein Wort Deutsch verstand. Sie war zu betrunken, um noch mitzubekommen, wer neben ihr stand. Die Frau bekam dann eine Freinacht in der Ausnüchterungszelle. Ob sie ihren Freund wiedergefunden hat, habe ich leider nie erfahren.
Vor vier Jahren meinte ein junger Mann, uns eine Bibelstunde geben zu müssen. Er ließ sich davon nicht abhalten. Glücklicherweise hatten wir an dem Tag einen Praktikanten und konnten diesen dazu abkommandieren. Er hat sich eine Stunde Bibelverse und die Auslegung dazu angehört.
Aber das Beste, was mir bis jetzt passiert ist, fand gleich im ersten Jahr statt. Ein ca. achtzigjähriger Mann kam auf die Wache, damals noch in Winterhude, ein beschaulicher Stadtteil, in dem die sozialen Strukturen noch so sind, dass man sagen kann, es leben dort hauptsächlich höhergebildete Menschen. Er schrie uns an, wir sollten doch diesem kleinen Rotzlöffel von Neffen erklären, dass nicht jedem Minirock hinterhergestarrt werden sollte. Es würde sich doch in seinem Alter nicht schicken.
Der Neffe war etwas größer als ich mit meinen 1,95 m. Der Großvater war etwa so groß wie meine jetzige Kollegin, die gerade mal 1,65 m misst. Bis heute muss ich immer wieder lachen, wenn ich an diesen Tag zurückdenke.
Ich bin mir sicher, dass heute wieder etwas Besonderes passiert, auch wenn es auf der Wache nach einem ganz normalen Tag sein aussieht. Der Vorraum, in dem die Bürger ihre Anzeigen oder Fragen stellen können, liegt verwaist da. Typisch für einen Sonntagmorgen. Ich atme durch und gehe in den Einsatzraum. Hier stehen einige der Kollegen und unterhalten sich.
»Moin Martin, na meinst du, dass deine Prophezeiung sich bewahrheitet, dass Hafengeburtstag der Tag des Abnormalen sein wird? Ich meine, es ist doch schon Sonntag.«
Maik, ein Kollege, mit dem ich die Ausbildung absolviert habe, der aber im Gegensatz zu mir nicht zur Kripo gewechselt ist, schaut mich belustigt an. Wir haben zufälligerweise fast immer gemeinsam an den Hafengeburtstagsterminen Dienst. Er amüsiert sich über seinen Spruch.
»Noch ist nicht aller Tage Abend, Maik, erst wenn es vorbei ist und nicht wirklich etwas Seltsames passiert, dann werde ich glauben, dass es dieses Jahr mal anders war.«
Torsten und Miriam kommen gerade in diesem Moment in den Raum und scheinen meine letzten Worte gehört zu haben, denn Torsten kann sich einen Witz auf meine Kosten nicht verkneifen.
»Wenn du dich dieses Wochenende verlieben solltest, dann werde ich auch glauben, dass immer an diesem Termin etwas Seltsames passiert.«
Ich habe eindeutig den Ruf des Singles weg. Natürlich habe ich immer wieder mal Affären, doch nie eine, die länger als zwei oder drei Wochen anhält. Ich liebe das freie Leben und möchte das nicht für eine Frau aufgeben.
Gerade als ich antworten will, geht die Tür auf und Paula betritt den Raum. Obwohl sie mit Abstand die kleinste im Raum ist, strahlt sie eine natürliche Autorität aus. Auch wenn sie viel Spaß abkann, traut sich kaum einer, einen Witz auf ihre Kosten zu machen. Ihre langen, braunen Haare hat sie immer zu einem strengen Dutt gekämmt. Die blauen Augen stehen in einem wunderschönen Kontrast zu ihrer Hautfarbe, die sehr dunkel ist und zu den Haaren. Wenn wir gemeinsam an einem Tatort arbeiten, ziehen wir alle Blicke auf uns. Ich mit meinen rotblonden Haaren und Sommersprossen, wie einer, der immer wie ein zu groß geratener Junge aussieht. Und das, obwohl ich Kraftsport betreibe und, wenn Paula recht haben sollte, Arme wie ein Baum habe und sie, klein aber streng dreinblickend.
Vermutlich wäre Paula die einzige Frau, die meinem Single-Leben ein Ende hätte setzen können, aber sie ist seit vier Jahren mit einem tollen Mann verheiratet, mit dem ich mittlerweile befreundet bin. Meine größte Sorge gilt eigentlich eher der Gefahr, dass sie vielleicht schwanger werden könnte und ich einen neuen Partner bekomme.
»Martin, wir sollen zu Karsten. Er hat einen neuen Fall.«
Triumphierend, dass ich doch recht habe, schaue ich in die Runde. Ich bin mir absolut sicher, dass nun das passiert, was ich prophezeit habe.
Finn
Dieser Magendruck und die Übelkeit, ich kann ihnen kaum noch standhalten. Ich spüre, dass Mageninhalt meinen Hals hochsteigt. Mein Blick wandert unruhig in dem Raum umher, aber es gibt nirgendwo einen Eimer oder eine Toilette, in den hinein ich erbrechen könnte. Also schlucke ich es hinunter. Kein Wunder, dass es hier drinnen wie in einem Tigerkäfig riecht, denn ich bin bestimmt nicht der erste, dem hier schlecht wird oder der aufs Klo muss. Noch während ich suche, wo ich meine Notdurft erledigen kann, schießt mir ein anderer Gedanke durch den Kopf, der mich ablenkt. Was passiert mit mir? Dieser Raum, in den mich der Polizist gebracht hat, ist kalt. Eisig kalt, kahl und unpersönlich. Auch wenn man genau sehen kann, dass ich nicht der Erste bin, der hier drin ist, erkennt man keine Besonderheiten und auch keine Geschichte. Der Raum wirkt so unmenschlich. Die Antarktis hat mehr Leben. Auch ein Grund, warum ich dieses Frösteln verspüre. Langsam zieht dieses Prickeln vom Hals runter bis in die Pofalte. Aber der Hauptgrund, dass ich fröstle, ist, dass ich es normalerweise liebe, aus dem Fenster zu sehen. Von unserem Hochhaus in die Ferne, weit rüber bis zur Autobahn. Doch fast immer bleibt mein Blick an dem Kinderbauernhof hängen. Wie sich die Kinder freuen können, Schweine, Enten und Ziegen zu beobachten. Das stolze Gesicht der Kinder, wenn sie sich trauen, eines der Tiere zu streicheln. Eltern, die ihren Kindern Eis ausgeben, mit ihnen an der Hand spazieren gehen oder sie sogar auf dem Arm nehmen.
Hier ist nicht einmal ein Fenster und damit habe ich keine Chance auf den Blick in die Natur. Das Einzige, was ich anschauen kann, sind die tristen, grauen Wände, auf denen Striche gezogen oder irgendwelche Sprüche geschrieben wurden. Ich dachte immer, das sei ein Klischee aus dem Fernsehen. Doch es ist Realität. Aber nun verbringe ich mein Leben hinter Gittern. Und wieso? Nur, weil ich frei sein wollte. Frei von meiner Mutter, die mich immer nur unterdrückte. Frei von einer Frau, deren Sklave ich war. Wieso habe ich mich überhaupt gemeldet? Hätte ich nicht einfach abhauen können? Wieso konnte ich nicht mehr mit dem Gedanken leben, alles zu verheimlichen? Tagelang bin ich herumgegeistert. Jeden Winkel der Stadt kenne ich nun. Der Michel, der hat mir den Rest gegeben. Während ich still in der Kirche saß und darüber nachdachte, was ich machen kann, wohin ich abhauen soll, sprach eine leise Stimme zu mir.
»Stell dich, denn du hast keinen Haltepunkt mehr, keine Hilfe. Flucht ist auch kein Leben.« Es zerfrisst mich, dass ich meine Mutter umgebracht habe. Niemals hätte ich geglaubt, dass ich dazu jemals in der Lage sein würde. Ich höre immer noch ihr Röcheln. Das leise, stille Röcheln, ein kurzes Zucken und dann sackte sie zusammen. Nur noch das warme Blut, das über meine Hand lief, zeugte davon, dass sie vielleicht doch ein Mensch gewesen sein könnte. Ansonsten war sie in meinen Augen nur ein Monster.
Während alle meine Freunde und Klassenkameraden in der Schule waren, musste ich oft bei ihr sein. Das wollte sie so. Bier oder Korn aus dem Schrank holen, die Flaschen öffnen. All das konnte ich schon, da waren andere nicht einmal in der Lage, sich die Schuhe zuzubinden. Ich konnte schon den Krankenwagen rufen, da wussten andere nicht einmal, in welcher Straße sie wohnten. Denn so oft ist sie zusammengebrochen. Wie gerne hätte ich mit meinen Freunden auf der Straße gespielt? Doch sie verbat es mir.
»Spielen, Finn, ist nur was für Menschen, die schwach sind. Wir sind stark, wir stehen für einander ein. Aber nicht für andere.«
Das waren immer wieder die Worte meiner Mutter. Aber waren wir wirklich stark? Meine Mutter, ja, sie bestimmt. Doch ich? Sie konnte mich gut unterdrücken. Ich habe immer das gemacht, was sie wollte. Aber ich, ich war nie stark. Meine Klassenkameraden, wenn ich mal von der Polizei zur Schule gebracht wurde, weil ich zu oft gefehlt hatte oder meine Mutter mich nicht entschuldigt hatte, haben das schnell erkannt und immer wieder Wege gefunden, mich zu schikanieren. Das »Netteste« an ihrem Terror war, mir meine Schuhe zu klauen. Dann musste ich barfuß nach Hause und was dort passierte, das kann sich niemand ausmalen. Ich konnte mehrere Tage nicht sitzen. Denn meine Mutter, die sonst nicht ihre Getränke selber holen konnte oder zu schwach war, den Haushalt zu erledigen, war auf einmal sehr gut in der Lage, aufzustehen und mir den Hintern so zu versohlen, dass es tagelang wehtat.
Aber wie gerne würde ich das Leben nun weiterführen, die Zeit zurückdrehen und alles vergessen machen. Nur wird das nicht passieren können.
Martin
»Moin ihr beiden, setzt euch.«
Mit einer Hand zeigt Karsten, unser Dienststellenleiter, auf die beiden abgewetzten Stühle an seinem Schreibtisch. Er selber setzt sich auf einen Lederchefsessel, in dem er beinahe versinkt. An den Seiten des Stuhles erkennt man, wie kaputt der schon ist. Sein gelbes Innenleben schaut heraus. Oft denke ich, dass die Stühle genauso alt sind, wie die Wache Bergedorf. Das ist natürlich Unsinn, aber Karsten achtet nicht so sehr auf das Drumherum. Ihm ist seine Arbeit wichtiger als ein nettes Ambiente.
»Ich habe einen Fall für euch, der sollte leicht zu lösen sein.«
Was Karsten als leicht bezeichnet, ist für andere ein normaler bis eher schwieriger Fall.
»Vor einer knappen halben Stunde ist Finn Baumann auf die Wache gekommen und hat den Mord an seiner Mutter gestanden.«
Nicht ungewöhnlich, unter anderen Umständen würde ich ihm zustimmen, aber doch nicht am Hafengeburtstag.
Karsten, der meine zusammengekniffenen Lippen bemerkt, lächelt.
»Martin, nicht immer stimmt es, was du vermutest. Es kann auch ein normales Wochenende werden. Wir sind doch nicht die Davidwache.«
Schnaubend antworte ich.
»Wir sind aber alle Hamburg!«. Karsten muss laut lachen. Sofort zeigen sich seine kleinen Lachfalten, die ihn noch sympathischer wirken lassen.
»Nun hört auf, hier rumzualbern, und lasst uns weiter über den Fall reden, sonst könnt ihr beide einen Arbeitstag auf der Reeperbahn absolvieren. Die Kollegen der Davidwache werden sich freuen.« Mit ihrer ernsten Stimme und einem doch leicht witzigen Unterton holt uns Paula gedanklich wieder zurück zu dem angesprochenen Fall.
»Noch mehr Leute?« Karstens Blick wandert sofort zum Dienstplan. An solchen Tag werden von allen Wachen Kollegen in den Hafen hinbeordert. Die Reeperbahn und der Hafen sind an den Tagen im Ausnahmezustand und nach den Terrorangriffen in Deutschland und der Welt ohnehin.
Nun muss Paula doch lachen. Karsten und Paula arbeiten seit drei Jahren gemeinsam auf der Wache und er hat ihren Humor immer noch nicht verstanden. Ich muss ja zugeben, dass der auch sehr trocken ist.
»Was weißt du denn sonst noch so über den Fall?« Erwartungsvoll schaue ich Karsten an, der immer noch leicht genervt auf seinen Plan blickt, ehe er sich mit einem Kopfschütteln wieder an uns wendet.
»Noch nicht wirklich viel. Er ist nur hier rein, hat den Mord gestanden und schien laut Robert ziemlich verwirrt. Ein Drogenschnelltest wird gerade durchgeführt. Doch ich möchte die Kollegen, die Streife gehen oder fahren, gerne entlasten und bitte euch, alles Weitere zu übernehmen.«
Was ist daran anders als sonst? Das ist das Hafengeburtstagsphänomen, da bin ich mir sicher.
»Hör auf, darüber nachzudenken. Das hat alles nichts mit deinem Phänomen zu tun.« Paula, die meine Gedanken anscheinend gelesen hat, stupst mich in die Seite und dreht sich um.
Ich nicke Karsten noch freundlich zu und folge ihr auf direktem Weg runter zur Zelle, wo wir Finn Baumann vermuten.
Kurz davor dreht sich Paula noch einmal um und schaut mich mit einem spöttischen Lächeln an.
»Martin, sagst du noch ein einziges Mal etwas in diese Richtung des Hafengeburtstagsphänomens, dann werde ich dich zwei Tage mit meiner Schwiegermutter einsperren.«
Das ist wirklich eine schwere Androhung, denn ihre Schwiegermutter ist schlimmer als die Pest. Nichts, aber wirklich rein gar nichts, kann Paula ihr Recht machen. Sie wagt es sogar, hinter Paula her zu putzen. Diese nimmt es äußerlich zwar gelassen hin, aber innerlich kocht sie.
»Ja, Paula ich werde mich zurückhalten, aber…«. Doch weiter komme ich nicht, denn sie sagt nur ein Wort.
»Irene.« Es reicht, um mich zum Schweigen zu bringen.
»Geht doch«, lacht sie und schließt die Zelle auf.
Ich hatte mir vorher keine Gedanken gemacht, wie der Täter aussehen könnte. Das habe ich mir vor vielen Jahren schon abgewöhnt und ich dachte auch, dass mich nichts mehr verwundern könnte.
Doch kaum sehen wir den Verdächtigen auf der Pritsche sitzen, bin ich erstaunt. Wenn ich das Alter schätzen sollte, hätte ich 12, vielleicht 14 Jahre gesagt. Nur der Kleidungsstil passt nicht wirklich dazu. Eine schwarze Stoffhose und darüber ein weißes Hemd. Braune Lederschuhe und darunter weiße Socken, wie sie auch gern in Krankenhäusern von Ärzten getragen werden.
Doch in diesem altbackenen Kleidungsstil steckt ein kleiner Junge. Ungepflegte Haare, die einige Tage weder gewaschen noch gekämmt wurden. Pickeliges Gesicht, blass und mit eisblauen Augen. Wenn ich ihn so ansehe, schießt mir durch den Kopf, dass nur noch eine laufende Nase fehlt, die er sich in den Hemdsärmel abwischt.
»Finn Baumann?« Immer noch denke ich, dass wir uns im Raum geirrt haben, doch der junge Mann steht sofort auf. Da wir keine Akte haben, ist mir das Alter nicht bekannt. Professionell, wie Paula und ich sind, lassen wir uns nichts anmerken.
»Ja, das bin ich.« Sogar seine Stimme passt zu ihm. Hoch und piepsig.
Martin
Ich beobachte Finn Baumann, wie er sich langsam und verschüchtert auf den Stuhl mir gegenüber hinsetzt. Seine Augen wandern unruhig im Raum umher. Augenscheinlich versucht er zu vermeiden, Paula oder mich direkt anzusehen. Seine Lippen sind fest zusammengepresst. In mir wächst die Vermutung, dass er kein Wort sagen möchte. Doch wenn jemand hierherkommt, um einen Mord zu gestehen, gehe ich davon aus, dass er von sich aus anfängt zu reden. Aber es macht den Anschein, als würde er am liebsten gleich wieder losrennen, weg von uns, weit weg. Sein linkes Bein zuckt unaufhörlich, wird dabei immer schneller. Hoffentlich hält das der Stuhl aus. Minutenlang zieht sich das Schweigen hin. Lediglich sein Blick wandert hin und her.
»Herr Baumann, möchten Sie uns sagen, weshalb Sie hier sind?« Ich unterbreche die Stille im Raum. Sofort schießt sein Kopf hoch und er schaut mich an, als wäre ihm jetzt erst klar geworden, dass er nicht allein im Raum ist.
Leise und mit tonloser Stimme, die kaum zu der Stille in der Zelle passt, beginnt er zu reden.
»Ich habe meine Mutter getötet.« Trotz dieser Nachricht verändert sich weder die Körperhaltung noch der Blick von Finn Baumann. Sein Blick ist immer noch wirr und sein Fuß zuckt immer noch.
Paula unterbricht ihn sofort. Mit sanfter, aber bestimmender Stimme fragt sie:
»Herr Baumann, möchten Sie einen Anwalt haben?«
Das Wort ›Anwalt‹ scheint etwas in Finn Baumann auszulösen. Seine Augen verengen sich. Er schaut Paula an und schüttelt ruckartig den Kopf. Verwirrt beobachte ich das Schauspiel. Ich habe den Eindruck, als würde das Wort ›Anwalt‹ mehr Panik in Finn Baumann auslösen, als der Mord an seiner Mutter.
»Herr Baumann, sollten Sie wirklich ihre Mutter getötet haben, dann brauchen Sie einen Anwalt. Der ist nur dafür da, dass Sie Hilfe bekommen.« Auch ich versuche, ihn noch mal in die Richtung zu drängen, denn ich bin mir sicher, dass er die Tragweite seiner Tat nicht verstehen kann. Auch wenn er vielleicht schon 24 Jahre alt ist.
Das Kopfschütteln wird immer heftiger.
»Nein, ich will keinen Anwalt haben.« Ich bin erstaunt, was für eine feste Stimme Finn Baumann auf einmal haben kann. Sofort wirkt er älter und reifer auf mich.
Paula hebt nur noch resigniert die Schultern. Wenn Finn Baumann sich nicht helfen lassen will, dann können sie oder ich auch nichts dagegen tun. Es ist sein gutes Recht, auf einen Anwalt zu verzichten. Sollte es vor Gericht gehen, dann wird ihm ein Pflichtverteidiger zur Seite gestellt werden.
»Ok, Herr Baumann, dann erzählen Sie doch von Anfang an.« Paulas Stimme ist auffordernd, aber dennoch freundlich. Ich wäre viel ungeduldiger. Aber auch ich weiß, wann es besser ist, dass Paula spricht und nicht ich.
Obwohl er sich wieder in Schweigen hüllt, kann man sehen, dass er nachdenkt. Seine Augen fixieren meinen Stift auf dem Schreibtisch und das Zittern in den Beinen läßt etwas nach.
»Meinen Sie den Mord oder wieso ich sie umgebracht habe?«
Dieses Mal schalte ich mich ein.
»Beides.« Ich antworte ihm kurz und knapp, damit es ein wenig schneller geht.
Es ist immer wieder ein Irrglaube, dass Menschen denken, den Polizisten sei immer nur der Mord wichtig. Aber wir schreiben einen Bericht an die Staatsanwaltschaft und darin möchten wir gern auch die Hintergründe erläutern. Denn es soll ein Urteil gefällt werden, das Hand und Fuß hat.
»Ich habe gestern meine Mutter getötet. Mit einer Gitarrensaite.«
»Erläutern Sie das doch bitte genauer«, übernimmt Paula mit einem bösen Blick auf mich wieder das Gespräch. Sie mag es gar nicht, wenn ich so kurz angebunden und genervt bin.
Sofort beginnt Finn Baumann wieder mit den Füßen zu wackeln.
»Was wollen Sie genauer wissen? Reicht es nicht, wenn ich sage, dass ich meine Mutter getötet habe?«
Er hat einen leicht aggressiven Unterton. Aber die Stimme selbst ist wieder leiser als vorher.
»Herr Baumann, beginnen Sie von Anfang an. Wie ist es dazu gekommen, dass Sie ihre Mutter getötet haben?« Paula animiert ihn mit ihrer sanften Stimme zum Weiterreden.
»Ich wollte meine Gitarre holen. Ich liebe meine Gitarre, müssen Sie wissen. Ich spiele sehr gerne auf ihr und dann entsteht eine wohlige Ruhe in meinem Körper. Ich reise in eine andere Welt. Eine friedliche und sanfte Welt. Meine Sachen lagen verstreut in meinem Raum und ich musste sie zusammensammeln. Da lag sie dann, die schöne D-Seite. Sie ist mit Abstand meine liebste Saite.«
Ich bin erstaunt, wie liebevoll er über diese Saite redet. Natürlich bin ich kein Musiker und habe deswegen auch keine Bindung dazu, aber ich habe auch noch nie jemanden so zärtlich über eine Gitarrensaite reden gehört. Doch Finn Baumann unterbricht sein Reden nicht.
»Sie fühlte sich so richtig an. Stark und unnachgiebig. Sie lag so perfekt in der Hand.«
Während er über die Gitarrensaite wie über eine Frau spricht, beginnt seine Stimme, fester und klangvoller zu werden. Ich habe den Eindruck, als würde richtig Leben in ihn kommen.
»Die Saite war weich und doch kalt. Ich bin dann ins Wohnzimmer. Meine Mutter saß wie immer im Wohnzimmer. All die Jahre saß sie immer nur dort in ihrem Sessel mit diesem schrecklichen Blümchenmuster. Von hinten habe ich ihr sanft über den Hals gestreichelt. Es passte perfekt, diese wunderbare Nylonsaite und ihre Hautfalte. Beide hatten genau die gleiche Tiefe.«
Ich habe schon viele Geständnisse gehört, doch dieses ist schon von besonderer Art. Er, der wirklich aussieht, als würde er gerade vom Spielplatz kommen, beschreibt hier mit einer Liebe den Vorgang, dass sogar ich einen leichten Schauer auf meinem Rücken spüre. Ich beginne, meine Muskeln anzuspannen. Das Hemd, das ich heute anhabe, wird mir zu eng. Ein- und ausatmend versuche ich, mich zu entspannen und mir nicht anmerken zu lassen, was ich über die Geschichte denke.
»Ich habe diese wunderbare Saite in die dafür perfekte Falte gelegt. Sie lag genau hier.«
Mit einer Hand fährt er eine nicht vorhandene Linie über seinem ausgeprägten Adamsapfel nach. »Langsam habe ich die Saite nach links und dann nach rechts gezogen. Es gab ein leises, quietschendes Geräusch. Eine wunderschöne Melodie. Es ist so schade, dass ich sie nicht schon vorher hören durfte.«
Während Finn Baumann das erzählt, bekommt er einen beseelten Gesichtsausdruck. Und ich muss mich schütteln, um das Bild vor meinem inneren Auge wegzubekommen. Ich empfinde es so, als würde er gerade den Mord noch mal durchleben und sich dabei sehr gut zu fühlen. Paula schaut ihn mit großen Augen an. Ich vermute, auch sie revidiert gerade ihre Meinung über den Mann.
»Dann wollte ich testen, wie es sich anfühlt, wenn ich die Saiten am Ende packe und überkreuze. Am Anfang war es sehr langweilig, aber dann habe ich meine Hände immer weiter auseinandergezogen. Langsam riss die Haut ein und es tat so gut. Sie war noch nie so ruhig wie in diesem Moment. Eine wunderbare Stille legte sich über unsere Wohnung.«
Stille scheint etwas zu sein, was ihm wichtig ist.
»Immer weiter zog ich mit der Saite. Auf einmal knackte es. Könnte es vielleicht der Kehlkopf gewesen sein?«
Er lächelt leicht verträumt. Das erste Mal, seit er angefangen hat, darüber zu reden, habe ich das Gefühl, dass er wahrnimmt, nicht allein im Raum zu sein. Nach einigen Sekunden der Stille, in denen ihm keiner von uns antwortet, redet er weiter.
»Sie fing an, wie wild mit den Armen zu rudern. Es wurde sehr schwer, den Zug mit der Gitarrensaite aufrecht zu erhalten. Aber ich habe es geschafft. Nach wenigen Minuten war ihr Kampf gegen meine glatte und durch ihren Körper warm gewordene Saite beendet. Ein Röcheln entglitt ihrer Kehle und sie hörte auf zu atmen. Nie wieder wird sie befehlen können, nie wieder wird sie mich beherrschen und in unserer Wohnung wird immer Ruhe herrschen.«
Mit diesen Worten sinkt er wieder in sich zusammen und nur ein kleiner, roter Fleck auf seiner Wange zeugt davon, dass er gerade eben noch in einer anderen Gefühlswelt war.
»Zeigen Sie mir bitte doch einmal ihre Hände.«
Paulas Stimme ist kalt und unnachgiebig. Total untypisch für sie, als ob sie eben nicht mit im Raum gewesen wäre und nicht gehört hätte, was gesagt wurde. Normalerweise ist sie immer jemand, der nach einem Geständnis zunächst ruhig und zurückhaltend bleibt. Heute ist sie dagegen sehr offensiv. Soll mir noch mal jemand sagen, dass es nicht das Hafengeburtstagsphänomen ist. Finn Baumann schaut verwirrt hoch, aber ohne Widerrede zeigt er seine makellosen Hände, die nicht die kleinste Verletzung aufweisen. Er hat nirgends Hornhaut und seine Fingernägel sind akkurat geschnitten. Kein Schmutz. Nichts.
»Ok, ich sehe keine Verletzungen an ihrer Hand. Haben Sie Handschuhe oder Ähnliches getragen?«
Der Verdächtige schaut sie verwirrt an.
»Ich glaube nicht.«
Sofort beuge ich mich vor und horche genauer hin. Er muss doch wissen, ob er etwas getragen hat oder nicht.
»Wieso wissen Sie das nicht mehr?«, hakt Paula sofort nach. Es ist nichts Weiches mehr in ihrer Stimme. Sie benimmt sich gerade so, wie ich mich üblicherweise gegenüber Verdächtigen benehme.
Sofort beginnt der Verdächtige, mit den Füßen zu zucken, und die Augen werden wieder unruhig. Es ist nichts übrig geblieben von seiner Sicherheit, die eben noch da war.
»Herr Baumann, wann haben Sie ihre Mutter getötet?« Ich versuche es noch einmal mit freundlicher, aber bestimmter Stimme. Manchmal ist es so, dass die Verdächtigen auf einen von uns gut reagieren, aber den anderen kaum wahrnehmen.
»Vermutlich heute, vielleicht aber auch gestern. Ich bin mir nicht mehr so sicher.« Seine Stimme ist so leise, dass ich Probleme habe, ihn zu verstehen.
»Sie müssen doch wissen, wann Sie ihre Mutter getötet haben.« Paula schreitet sofort wieder ein.
Nervös beginnt er, sich am Kopf zu kratzen, und das Zucken des Beines wird immer heftiger. Der Tisch, an dem wir sitzen, scheint sich rhythmisch dazu zu bewegen. Unter anderen Umständen hätte ich ihn aufgefordert, es zu unterlassen. Aber es ist eindeutig, dass er es nicht kontrollieren kann.
»Herr Baumann, wir kommen so nicht weiter. Wir werden erst einmal in die Wohnung ihrer Mutter fahren und uns den Tatort genauer ansehen. Danach entscheiden wir, wie es mit Ihnen weitergeht.«
Finn
Wieso werde ich so viel gefragt? Es muss doch jedem klar sein, dass ich meine Mutter getötet habe. Wieso glauben sie mir nicht? Vor meinem geistigen Auge läuft die Szene wieder und wieder ab. Das leise Röcheln, das Zucken und dann das Blut. Es ist so viel Blut über meine Hände runter auf den weißen Flokati Teppich geflossen. Die Zotteln des Teppichs haben sich von weißgrau in ein sattes Rot verwandelt. Ein kleiner See voller Blut vor den Füßen meiner Mutter. Und danach die Stille und Ruhe, nie war es so ruhig bei uns in der Wohnung. Entweder meine Mutter hat gebrüllt oder Fernseher, Radio oder ihre seltsamen Hörbücher liefen.
Sobald sie da sind, werden sie es finden und dann wird man mir glauben. Man wird mir keine Fragen mehr stellen und dann wird es in einen anderen Raum gehen. Vielleicht in einen besseren?
Dieser Geruch in dieser Zelle ist unerträglich. Er vermischt Urin, Schweiß und andere Gerüche, die ich nicht einsortieren kann.
Wie viele saßen hier schon drin? Waren es alles Mörder? Haben sie auch damit um ihre Befreiung von einer Unterdrückung gekämpft? Durch den Tod meiner Mutter bin ich innerlich endlich frei und das ist das, was ich immer wollte. Frei sein von ihr.
Seltsam, irgendwie kommt mir der Raum so vertraut vor. Passiert das wirklich so schnell? Ich bin doch erst heute Morgen hierhergekommen. Oder war es heute Nacht? Aber wenn man hier, genau hier neben der Tür, einen schweren, massiven Mahagonischrank hinstellen würde, dort anstelle der Pritsche ein Doppelbett aus Mahagoni und hier genau gegenüber von dem Bett an der freien Wand einen Schreibtisch mit einem Stifteköcher, dann wäre es so, wie ich es kenne.
Aber das ist doch Quatsch, wie komme ich auf die Idee, dass mir so ein Raum vertraut sein könnte? Ich meine, mein Zimmer, in dem ich die letzten achtzehn Jahre verbracht habe, hatte ein kleines Jugendbett, einen Kleiderschrank und einen angeranzten Schreibtisch und alles aus Eiche. Eiche, fand meine Mutter, sei genau das, was ich darstellen sollte. Stark wie eine Eiche, jedem Wind und jedem Sturm standhaltend. Immer wieder verglich sie mich mit einer deutschen Eiche. Aber ich fühlte mich selber eher wie eine Pappel, immer am Zittern, wenn ein Windhauch an mir vorbeihuschte. Wie gerne wäre ich stark und kräftig.
»Du bist stark, wenn du mit dir im Reinen bist.« Seltsam, wieder so etwas Vertrautes. Woher habe ich diesen Satz bloß? Vielleicht von meiner ehemaligen Lehrerin? Sie hatte immer mal wieder solche Sinnsprüche auf Lager.
Frau Langenhagen, meine ehemalige Lehrerin für Gesellschaftskunde und Religion, die immer wieder hinter mir stand, mir in allen Lebenslagen geholfen hatte, wie gerne hätte ich sie bei mir. Ich muss sie anrufen, sobald ich hier raus kann, oder darf man einen Anruf tätigen? Ich glaube, ich habe so etwas schon mal im Fernsehen gesehen.
Ich muss doch in meinen Jackentaschen meine Geldbörse haben. Sie muss hier sein. Wo ist sie bloß? Aber ich kann die ganze Jacke auf den Kopf stellen. Kein Portemonnaie und damit auch keinen Zettel mit ihrer Nummer. Nichts ist mehr da. Wer hat ihn? Ach ja, nun fällt es mir wieder ein. Als ich auf die Wache gekommen bin, musste ich alles abgeben. Es macht mich nervös. Würde mich jemand hören, wenn ich rufe? Es lässt mir keine Ruhe. Ich klopfe an die Tür, lauter und doller. Mir tun schon nach kurzer Zeit die Hände weh, aber es ist mir egal, ich will, dass die mich da draußen hören können.
Endlich leise und von der dicken Wand gedämpft höre ich:
»Warten Sie eine Sekunde. Ich bin sofort da.« Ich wurde gehört und bin erleichtert.
Ein Ratschen und dann steht ein älterer, aber sehr freundlich blickender Polizist vor mir.
»Müssen Sie mal, Herr Baumann?« Seine milde, beinahe brummbärige Stimme beruhigt mich ein wenig. Aber wie kann er denn glauben, dass ich aufs Klo muss? Ich brauche das Wichtigste in meinem Leben. Die Nummer von Frau Langenhagen.
Hektisch schüttele ich meinen Kopf.
»Nein, aber ich hatte heute Morgen eine Geldbörse dabei, wo ist die?« Verwirrt schaut mich der Polizist an.
»Ich war leider heute Morgen nicht da, als Sie gekommen sind, aber ich vermute, sie liegt im Tresor. Dort liegt sie sicher. Sobald Sie entlassen werden, bekommen Sie sie wieder.«
Sein Lächeln soll mich in Sicherheit wiegen, aber eher das Gegenteil ist der Fall. Ich möchte sie jetzt haben. Ich will nicht, dass jemand Fremdes sie in seinen Händen hält.
»Bitte, es ist dringend. Ich brauche die Geldbörse. Können Sie sie mir bringen?« Ich lege meine ganze Kraft in diese Frage und es scheint anzukommen. Ein Nicken und er schließt die Tür hinter sich.
Aufgeregt laufe ich auf und ab in diesem kleinen Raum. So also fühlt sich ein Tiger, der in seinem Käfig gefangen ist.
Die Minuten ziehen sich endlos dahin. Kurz bevor ich wieder an der Tür klopfen will, höre ich, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht und die Tür aufgestoßen wird.