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Menschen kommen und gehen. Vampire bleiben. Davon hatte mein Erschaffer Ludwig tom Brook oft gepredigt. Doch er hatte längst keine Macht mehr über mich. Ich lebte unbekümmert und zufrieden an der Seite von Leander und zwischen den uns wohlgesonnenen Sterblichen. Ich wusste durchaus um die Wahrheit in Ludwigs ehemaligen Worten. Ich wusste wohl um die Schmerzen des Verlustes und die Ausweglosigkeit, die sie bargen. Und doch handelte ich jeden Tag und jede Nacht gegen sie. Die Nähe zu Menschen brachte mir Schutz, Wohlbehagen und Nahrung. Ich lebte mit ihnen in einer bequemen Symbiose, abhängig von ihrer Loyalität, ihrem Blut und ihrem Dasein. Doch unsere sorglose Existenz sollte schon bald ihr Ende finden. Die Sanduhr des Lebens ist unerbittlich. Und für uns läutete sie die Stunde der Wahrheit schneller ein, als es uns lieb war.
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Veröffentlichungsjahr: 2017
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Copyright © Februar 2023 by
MACHWERKE Verlag
Sandra Baumgärtner
C/o Block Services
Stuttgarter Straße 106
70736 Fellbach
www.machwerke-verlag.de
2. Auflage 2023
Buchsatz&Lektorat: Machwerke Verlag
Titel&Umschlaggestaltung: Carina Klinkhammer
Alle Rechte vorbehalten.
Sämtliche Inhalte, Fotos und Grafiken dieses Machwerkes sind urheberrechtlich geschützt. Sie dürfen ohne vorherige Genehmigung weder ganz noch auszugsweise kopiert, verändert, vervielfältigt oder veröffentlicht werden.
Print: ISBN 978-3-947361-05-2
eBook: ISBN 978-3-947361-03-8
Die Vergangenheit ist das,
was uns zu dem werden lässt,
was wir sind.
Leander Kayran
„Du bist so ruhig. Ist irgendetwas?“
Ich hatte Leander öfter dabei erwischt, wie er nachdenklich aus dem Fenster starrte. Bislang hatte ich es vermieden zu fragen, doch sein ungewöhnliches Verhalten machte mich zunehmend nervös und so wagte ich mich heute vor.
„Es ist nichts“, wich er meiner Frage aus und blickte weiter auf die Stadt hinunter.
Unser neues Domizil hoch über Trier bot normalerweise einen grandiosen Ausblick bis zur anderen Moselseite hinüber. Heute jedoch hing ein zäher Nebel über der Stadt. Selbst die Bäume im Garten schimmerten lediglich als dunkle Schatten im Grau.
„Du lügst!“ Ich ging zum Sofa hinüber. „Ich habe dich die letzten Tage beobachtet. So oft hast du noch nie dagesessen, ohne etwas zu sagen.“
Endlich blickte er auf. „So?“, fragte er mit dunkler Stimme und einem Quäntchen Spott. Er sah unverschämt gut dabei aus. „Du beobachtest mich?“
„Manchmal schon, ja“, meinte ich. „Wenn es interessant ist.“
„So wie jetzt?“
„Ja.“ Ich ging sicherheitshalber auf Abstand.
„Es ist interessant, wie ich hier sitze und aus dem Fenster starre?“ Ein Grinsen breitete sich auf seinem Marmorgesicht aus.
Ich nickte.
„Das ist interessant“, antwortete er, stand plötzlich vor mir und schloss mich in seine Arme.
„Da frage ich mich …“, flüsterte er mir ins Ohr und fuhr mit seinen Lippen meinen Hals entlang. „Wenn du es so interessant findest, mich bewegungslos und stumm auf dem Sofa sitzen zu sehen …“ Er knabberte spielerisch an meinem Ohrläppchen und ich musste unwillkürlich kichern. „… wie findest du es dann erst, wenn ich in Bewegung bin und rede?“
Jetzt lachte ich und war erleichtert, ihn wenigstens kurz aus seiner Nachdenklichkeit gerissen zu haben. „Das kann ich so nicht beurteilen“, behauptete ich frech. „Um mir ein korrektes Urteil bilden zu können, käme es auf eine ausgiebige Kostprobe deiner Bewegung an.“
„Hier und jetzt?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nicht möglich. Aniko und René werden gleich hier sein. Schon vergessen? Du hast sie selbst herbestellt.“
„Wohl wahr.“ Leander seufzte und küsste mich auf die Stirn. „Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Du bekommst selbstverständlich deine Kostprobe, auch wenn das Ergebnis längst feststeht: Sie wird dich zufriedenstellen.“
„Das hoffe ich doch sehr! Und nebenbei: Mit einem vollen Magen fällt es mir leichter, ein fachmännisches Urteil abzuliefern. Nicht, dass mein Hunger das Ergebnis verfälscht.“
„Nicht auszudenken“, feixte Leander und blickte mir tief in die Augen. „Andererseits würde ich dich auch so überzeugen.“
Verzückt blickte ich ihm ins Gesicht, studierte die von dichten Wimpern gesäumten schwarzen Augen und die Locken, die seine prägnanten Wangenknochen umspielten. Die Lippen, die mich einladend anlächelten, kamen immer näher.
„Ich weiß“, murmelte ich ergeben und kam ihnen entgegen.
Wir hielten uns immer noch eng umschlungen, als wir unsere Blutspender draußen im Flur zur Haustür hereinkommen hörten.
Leander stöhnte. „Meine Schuld. Ich hätte sie vertrösten sollen.“ Er küsste mich ein letztes Mal leidenschaftlich und gab mich dann, gerade als es an der Tür klopfte, frei. „Herein“, bat er unsere Gäste ins Wohnzimmer.
Aniko und René traten ein. „Guten Abend“, grüßten sie munter.
Aniko trug einen Aktenkoffer und ich fragte mich sofort, ob er Neuigkeiten bezüglich unseres Projektes, die Roten Philanthropen, mitgebracht hatte.
„Wir haben alles dabei, wie Sie es gewünscht haben, Herr Kayran“, sagte Aniko.
Leander nickte zufrieden. „Wunderbar.“ Er deutete auf den Wohnzimmertisch, auf den unser Blutspender sogleich sein Koffer ablegte und einen Laptop auspackte.
„Werden wir heute endlich mal die Internetseite der Roten Philanthropen besuchen?“, fragte ich.
Leander hielt Aniko von einer Antwort ab. „Nicht gleich, Cara. Zuvor musst du deinen Magen füllen, schon vergessen? Ich möchte ja nicht, dass du dir ein falsches Urteil bildest, wenn du dir die Rothropen ansiehst.“
„Die wer?“
„Wir nennen die Besucher unserer Internetseite der Einfachheit halber nur noch die Rothropen“, klärte mich Aniko freundlicherweise auf. „Ständig die Roten Philanthropen zu sagen, war uns auf die Dauer zu umständlich. Also haben wir sie abgekürzt.“
„Okay.“ Das fand ich logisch. „Ich habe mich schon gefragt, wie lange es noch dauert, bis wir uns diese Rothropen endlich unter die Lupe nehmen.“
Leander enthielt sich eines Kommentars. Stattdessen bat er unsere Blutspender, auf dem Sofa Platz zu nehmen, und schaute mich dann mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Möchtest du lieber zuerst virtuell oder lieber ganz reell deinen Hunger stillen?“, erkundigte er sich und um seine Mundwinkel zuckte es verdächtig.
Ich setzte mich neben René auf das Sofa. Der hatte schon den rechten Ärmel seines Shirts hochgeschoben und hielt mir ergeben den freigelegten Unterarm entgegen. Ich konnte nicht anders, ich musste die prägnanten, dunkelblauen Linien betrachten, die sich prall gefüllt durch die helle Haut des schlanken Unterarms drückten. Warm und lebendig pulsierte Renés Blut in seinen Adern. Ohne weiteres Zögern hob ich diese Wärme an meine Lippen und biss in das zartgliedrige Handgelenk. Wie so viele Male zuvor trank ich Renés delikaten Lebenssaft. Und wie so viele Male zuvor musste ich mich zwingen, damit aufzuhören. Ich wollte mehr, doch ich wusste, es durfte nicht sein. Ich musste René schonen, um ihn uns für die kommenden Jahre zu erhalten. Herzhaft seufzend zog ich also meine Zähne aus Renés Fleisch und strich andächtig über die feinen Einstichstellen, die kein bisschen nachbluteten.
Schade eigentlich, dachte ich. Die Enttäuschung und der verbleibende Hunger schmerzten. Wenigstens ein Tropfen hätte doch nachkommen können, den ich hätte auflecken können.
Aber mit etwas Glück hatten wir ja bald mehrere Blutspender. Vielleicht würden wir gleich auf ein paar Neue stoßen? Und wenn nicht heute, dann irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft. Ansonsten wäre alle Mühe, die sich Aniko und René in den vergangenen Monaten mit ihrer Internetseite gemacht hatten, vergebens. Als ich von Renés Hand aufblickte, sah ich unvermittelt zu Leander. Er musterte mich abschätzend. Mit einem leichten Nicken in meine Richtung wies er Aniko an, sich zu mir zu setzen. Dieser folgte der Aufforderung sofort und bot mir nun ebenfalls seinen Arm an. Anikos Handgelenk war unversehrt.
„Was soll das?“, fragte ich überrascht. Wieso hatte Leander sich nicht an Aniko bedient?
Leander deutete auf den Wartenden. „Mir scheint, du hast es heute nötiger. Ich überlasse dir gerne den Vortritt, Cara.“
„Es ist okay!“, widersprach ich, während er langsam auf mich zu kam.
Wieso kann er immer meine Gedanken lesen? Er braucht genau wie ich etwas zu essen.
„Ich habe keinen Hunger“, behauptete er ruhig und legte zur Bestätigung seine Hand auf meine Schulter. „Bitte, tue mir den Gefallen und trinke.“
Ich blickte begierig auf Anikos dargebotenen Arm und nahm ihn in meine Hände. „Und du?“, fragte ich, jedoch nur der Höflichkeit halber. Abgeben wollte ich jetzt nicht mehr.
„Ich werde anderweitig etwas finden“, meinte er großzügig. „Mach dir um mich keine Sorgen.“ Er nickte auffordernd.
Vorsichtig biss ich in Anikos Handgelenk und ließ mir auch sein köstliches Blut munden. Als ich nach kurzer Zeit wieder von ihm abließ, spürte ich lediglich Leere in mir. Keine Befriedigung, keine Sättigung. Gerade so, als hätte ich keinen einzigen Tropfen abbekommen. Dementsprechend enttäuscht dankte ich Aniko und lehnte mich im Sofa zurück, während er das Hemd herunter krempelte und sich langsam aufsetzte. Er zog den Laptop zu sich heran.
Ich spürte Leanders Blick allzu deutlich auf mir ruhen und ignorierte ihn absichtlich. Stattdessen schaute ich demonstrativ auf Anikos Monitor. Nach ein paar Handgriffen von Aniko erschien die Internetseite der Roten Philanthropen. Neugierig rutschte ich näher. Auch Leander kam dazu.
„Wir haben die Module ein wenig konfiguriert“, erklärte Aniko. „Dadurch ist es für die User einfacher, sich im Forum zu bewegen. Und im Chat geht es jetzt ebenfalls wesentlich zügiger und unkomplizierter zu. Wir haben eine kleine Umfrage gestartet. Bislang haben wir ausschließlich positives Feedback für unsere Modifikationen erhalten.“
Aniko schien voll in seinem Element. Ich nickte, um zu signalisieren, dass ich ihn verstand, was ich jedoch kaum tat. Technischer Kram interessierte mich nicht sonderlich. Funktion und Ergebnis zählten.
So, wie mein Abendessen, dachte ich verdrossen. Technisch war es einwandfrei, aber seine Funktion hat es nicht erfüllt. Ergebnis: mangelhaft. Bloß, warum?
„Wie viele User sind zurzeit online?“, fragte Leander und warf einen genaueren Blick auf den Bildschirm.
Aniko drehte ihm den Laptop entgegen. „Aktuell sind es 8 User. Da unten können Sie es sehen.“ Er deutete auf eine kleine Zeile am unteren Ende des Bildes. „Online sind im Moment Ayra, Gutmensch, Kaffeebohne, Kortirion, Magnus, Marietanum, NikdeVill, und Wichtel69.“
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Ich hoffe, wir sollen jetzt nicht nur anhand der Namen die Rothropen beurteilen?“, gluckste ich. „Ich darf mir gar nicht vorstellen, wie Wichtel69 in natura aussieht.“
„Ich finde den Gutmenschen fast noch besser“, meinte Leander ausgelassen. „Womöglich ist sein Name auch Programm.“
„Darüber kann ich leider noch nichts sagen.“ Aniko lachte. „Wir haben ja noch nicht mit den offiziellen Prüfungen begonnen. Aber auch so haben wir schon eine Menge Informationen anhand der Beiträge in den Chats und den Foren von den aktivsten Mitgliedern sammeln können.“
„Inwieweit diese Informationen der Wahrheit entsprechen, konnten wir noch nicht herausfinden“, redete René weiter. „Bislang haben wir ja nur auf legale Methoden zurückgegriffen. Aber einige Details können wir jetzt schon ohne Zweifel als sicher bezeichnen.“ Er deutete zum Bildschirm. „Diese acht User, die zurzeit online sind, bezeichnen wir als den harten Kern der Truppe. Sie sind ständig eingeloggt und melden sie sich so gut wie nie ab, außer, wenn jemand von ihnen in Urlaub geht. So, wie zum Beispiel Ayra und NikdeVill letzte Woche.“
„Und wie findet ihr heraus, ob etwas, das sie sagen oder schreiben, der Wahrheit entspricht?“, fragte ich. „Im Internet kann man doch viel behaupten. Da kann man sich ganz neu erfinden und eine andere Persönlichkeit annehmen.“ Man wählte einen spaßigen Nicknamen, mit oder ohne Geburtsdatum, oder nahm einen Charakter seiner Lieblingsserie. Fertig war die Geheimidentität, aus deren Deckung heraus es sich gut schwadronieren ließ. Anonym im Internet zu lästern, war heutzutage verlockend einfach, man musste zudem keine Konsequenzen fürchten. Die Wenigsten, so dachte ich zumindest, beteiligten sich in einem Chat oder Forum mit ihren Realnamen. Ich surfte tatsächlich mit Namen und Geburtsdatum. Die Wahrheit hinter VampSeraphim1906 verstand ohnehin niemand verstanden. Ich seufzte und ließ mich derweilen von Aniko eines Besseren belehren.
„Die meisten hier sind viel zu freizügig, was die privaten Informationen betrifft. Meiner Meinung nach sind sie sehr unvorsichtig“, erklärte er und ich schrumpfte automatisch in mich zusammen.
Ich sollte mich schleunigst mit der Idee einer neue Identität im Netz anfreunden.
„Zwei der User haben sich im Forum kürzlich über ihren Urlaub unterhalten. Sie haben den Ort genannt und sogar das Hotel erwähnt, das sie gebucht hatten.“
Ich horchte auf. „Und?“
„Na ja“, meinte René. „Es gehört sich eigentlich nicht, aber die Chance wollten wir uns nicht entgehen lassen, und so bin ich letzte Woche nach Hamburg gefahren. Das hatte ich in all der Aufregung ganz vergessen, anzukündigen.“
„Schon gut. Und du hast sie tatsächlich gefunden?“, fragte Leander.
„Anhand ihrer Avatare im Forum war es ein Leichtes, sie im Hotel aufzustöbern“, antwortete René.
Immerhin das habe ich richtig gemacht. Kein Mensch würde hinter dem Bild einer orangenen Fledermaus eine echte Vampirin vermuten.
„Und?“ Ich platzte vor Wissensdurst.
„René hat sie natürlich nicht angesprochen“, meinte Aniko. „Stattdessen hat er sie nur ein wenig beobachtet und diese Fotos hier gemacht.“
Während er im Koffer suchte, sah René teilnahmslos zum Fenster hinaus. Als er sich uns wieder zuwandte, wirkte er angespannt und hatte rote Wangen. Aniko präsentierte ein paar Bilder. Er reichte mir eines davon. Die anderen beiden übergab er Leander. Meine Aufnahme war leicht verwackelt und die Gesichter darauf nur schwer erkennbar. Ich vermutete zwei Männer mit Sporttaschen in den Händen. Ganz offensichtlich war das Foto aus weiter Ferne und in einem Schwimmbad aufgenommen worden. Leander gab mir eines seiner Bilder. Es zeigte die wesentlich schärfere Nahaufnahme von einem der beiden. „Der ohne Haare auf dem Kopf ist Ayra“, berichtete Aniko. „Und der Dunkelhaarige hier ist Magnus.“
„Nein, das ist NikdeVill“, verbesserte René.
Ich betrachtete das Bild von Ayra. Ich fand ihn auf Anhieb unsympathisch.
„Respekt“, lobte Leander. „Ihr leistet ganze Arbeit. Noch nicht einmal Detektivarbeit ist euch zu viel. Auch wenn sie euch in diesem Maße nicht in Auftrag gegeben wurde.“
„Ich dachte, wo sich die Gelegenheit quasi angeboten hat.“ René wurde noch eine Spur roter.
„Schon gut“, beschwichtigte Leander. „Früher oder später hätten wir ohnehin damit angefangen. Warum also nicht gleich, wenn sich die zwei euch praktisch vor die Füße werfen. Es ist gut zu wissen, dass die Avatare in dem Fall der Wahrheit entsprechen. Nicht auszudenken, wenn sich hinter Ayra ein bierbäuchiger Greis verstecken würde.“
„Bloß nicht“, entfuhr es mir ungewollt. Ein in die Jahre gekommener, kränklicher Blutspender war das Letzte, was ich mir wünschte. Dann doch eher schon dieses mit Muskeln bestückte Ekelpaket.
„So schlimm sehen sie nun auch wieder nicht aus“, missdeutete Leander meinen Ausruf und warf einen kurzen Blick auf Ayras Nahaufnahme. „Immerhin hat meiner hier ein paar nette Tattoos“, sagte er und wedelte mit seinem Foto.
„Den habe ich noch gar nicht gesehen“, beschwerte ich mich. „Gib her.“ Ich riss ihm das Foto aus der Hand und übergab ihm meines.
„Ich frage mich, was du hast“, meinte Leander. „Die beiden machen einen recht vitalen und gesunden Eindruck. Zumindest, soweit ich es auf diesen Fotos beurteilen kann.“
Ich hörte kaum hin. Auf dem Foto war ein schmächtiger Typ mit schulterlangen Haaren und einen struppigen Kinnbart zu sehen. Er war an sich nicht sonderlich auffällig, die unzähligen Tattoos auf seiner Haut dagegen schon.
„Ich kann Ihre Vermutung bestätigen“, antwortete René. Seine Worte drifteten an mir vorbei „Ich habe die Zwei eine Zeit lang beobachtet. Ich schätze, dass sie regelmäßig ein Fitnessstudio besuchen oder zumindest viel Sport treiben.“
„Diese Bizepse von Ayra machen mich ein wenig nachdenklich“, warf Leander ein. „Es bedeutet eine Menge Arbeit und Durchhaltevermögen, um sich solche Muskeln anzutrainieren. Zumindest, wenn es ohne Anabolika vonstattengeht.“
„Das sind Details, die wir mit Leichtigkeit bei den Labortests sehen würden“, versicherte Aniko. „Auf Drogen werden wir die Blutproben selbstverständlich testen.“
Leander nickte. „Davon gehe ich aus.“
Die Tests waren mir im Moment egal. Mich interessierte vielmehr NikdeVill. Sein rechter Arm war derart mit Tattoos überzeichnet, dass das Bild wie ein bis zur Schulter reichender Handschuh wirkte. In der linken Brustwarze glänzte ein Piercing, drum herum erblühte eine schwarze Rose und am Bund seiner knappen Badehose lugte ein großer, angriffslustiger Schlangenkopf hervor. Ich hätte diese Tattoos unter Millionen anderer wiedererkannt. Ich spürte Leanders Blick auf mir ruhen und versuchte, mich zu entspannen.
„Nett“, sagte ich und legte das Foto zurück zu den anderen.
„Sagen sie dir nicht zu?“, fragte Leander. Er beäugte mich forschend.
„Wie soll ich das anhand der Fotos abschätzen können?“, antwortete ich gereizt. „Ich müsste sie erst mal live erleben, um dir sagen zu können, ob sie für mich infrage kommen.“
„So weit sind wir zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht“, warf Aniko ein. „Es war lediglich eine glückliche Fügung, dass die beiden ihren Rothropen-Freunden ihre Urlaubsabsichten mitteilten. Alles andere wird noch eine Weile dauern. Erst danach sollten Sie sich entscheiden.“
„Gut.“ Leanders Aufmerksamkeit galt wieder dem Bildschirm. Ich atmete ein wenig auf und hoffte, dass ich mich nicht allzu auffällig benommen hatte. Denn wesentlich überraschender als die unzähligen Tattoos auf Niks Haut war die Tatsache, dass ich ihn kannte. NikdeVill, oder Marius Seitz, wie er sich im richtigen Leben nannte, wohnte in Leipzig und war regelmäßiger Gast bei sämtlichen Gothic-Events innerhalb Deutschlands. Und natürlich ging er auch auf die größte aller schwarzen Messen, das Wave-Gotik-Treffen. Dort hatte ich ihn kennengelernt. Wie lange war das eigentlich schon her?
Was für ein unglaublicher Zufall, dass ausgerechnet er sich für die Rothropen interessiert. Im nächsten Moment wurde ich mir bewusst, dass ich Leander einiges beichten musste, um einem möglichen Chaos vorzubeugen. Wie so oft verpasste ich durch mein Gedankenkino den weiteren Wortwechsel zwischen Aniko und Leander.
„Du lässt den armen Kerlen aber auch nicht den Hauch einer Chance, was?“
Simon regte sich wie üblich darüber auf, dass ich die Männer reihenweise um den kleinen Finger wickelte. Dabei war er diesbezüglich nicht viel besser.
„Hört, wer spricht“, gab ich schnippisch zurück. „Ich liebe es nun mal, den Kerlen den Kopf zu verdrehen, bevor ich ihnen den Hals umdrehe.“
Simons provokante Bemerkung darauf hatte ich noch bestens in Erinnerung. „Man spielt aber nicht mit seinem Essen.“
„Lass Sera in Ruhe, Simon. Sie macht ihr Ding und du deins. Es muss ja nicht jeder gleich sein Essen auf der Fußmatte verschlingen.“ Raoul hielt zu meinen Gunsten dagegen. „Und lehn dich besser nicht allzu weit aus dem Fenster. So viel harmloser siehst du heute Abend auch nicht gerade aus.“ Simon trug hautenge Lederhosen, unzählige Nietenbänder und ein schwarzes Netzshirt, das mehr preisgab als verdeckte. Das passende Outfit, um sich gleich ins schwarze Getümmel zu stürzen. Es war Pfingsten und wir waren wieder einmal nach Leipzig gefahren, wo das Wave-Gotik-Treffen gefeiert wurde. Genau hier, ein Jahr später, sollte ich während derselben Veranstaltung auf Leander treffen.
„Wenn man euch so nebeneinander sieht“, setzte Raoul lachend nach, „könnte man meinen, ihr wärt auf dem Weg zur Fetisch-Party.“
Simon grinste. „In gewisser Weise sind wir das ja auch, oder? Ich habe übrigens einen ziemlichen Kohldampf. Wie sieht‘s aus? Schnappen wir uns was Leckeres oder wollt ihr erst mal zur Konzerthalle gehen?“
Während Simon sich schließlich abgesetzt hatte, waren Raoul und ich ausgelassen schwatzend in die Nacht aufgebrochen, um auf das Agra-Gelände zu fahren. Dort hatten wir uns unter die Gothic-Anhänger gemischt, das ein oder andere Konzert angehört und uns anschließend getrennt. Ich erhielt selbst vor meinen Freunden die Farce einer blutsaugenden Vampirin aufrecht, obwohl ich in Wirklichkeit unfähig war, einen Menschen zu töten. Statt mir den Magen mit Blut vollzupumpen, spielte ich lieber nur mit dem, was eigentlich mein Essen hätte sein sollen. Jetzt zog ich alleine los, um den Frust über diese Unzulänglichkeit auf meine Weise wieder abzubauen.
In dieser lauen Nacht traf ich Marius.
Marius Seitz war mir augenblicklich ins Auge gefallen. Mit seinen ausgefallenen Tattoos auf dem nackten Oberkörper und der auf der Hüfte sitzenden Jeans zog er auch die Aufmerksamkeit anderer Frauen auf sich. Doch er hatte nur noch Blicke für mich übrig, als ich mich ihm keck in den Weg stellte. Er roch unglaublich verführerisch und die Erinnerung an ihn und an seinen Duft ließ mir das Wasser selbst jetzt noch im Mund zusammenlaufen.
„Hi“, sagte ich lässig. Mich konnte nichts so schnell aus der Bahn werfen. Noch nicht einmal seine außergewöhnlichen Tattoos.
„Hi.“ Er schien überrascht und checkte mich mit einem kurzen Blick ab. „Kennen wir uns?“
„Ich denke nicht. Noch nicht“, antwortete ich mit strahlendem Lächeln. „Aber wir könnten das ändern, wenn du möchtest. Ich bin Sera.“
Er lächelte und wirkte weder überheblich noch eingebildet. Sollte hinter diesem auffälligen Äußeren etwa ein netter Typ stecken?
„Hi, Sera. Ich bin Marius. Wir sind gerade auf dem Weg zum Völkerschlachtdenkmal.“
„So spät?“, fragte ich unschuldig. Natürlich wusste ich, dass dort bis spät in die Nacht Konzerte stattfanden. Aber naiv kam bei den Jungs immer gut an. „Um Mitternacht wird dort das Requiem von Mozart gespielt. Komm doch einfach mit uns.“
Perfekt, eine Einladung. Genau das hatte ich erreichen wollen. Nur leider waren seine Kumpel ganz und gar nicht nach meinem Geschmack. Ich wollte Marius für mich alleine, wollte seine ungeteilte Aufmerksamkeit haben und ihn nicht in aller Öffentlichkeit mit anderen teilen müssen. Schon gar nicht mit neugierigen Kameraden. Ich kicherte, als er mich plötzlich um die Hüfte schnappte und mich nah an sich heranzog. Sein Duft war in direkter Nähe noch prägnanter. Harzig, würzig, eine Mischung aus Kiefer, Weihrauch und Labdanum. Unglaublich lecker. Ich schleckte mir unbewusst über die Lippen. Marius bemerkte es.
„Es ist dunkel dort in der Krypta“, flüsterte er mir ins Ohr und hauchte ein wenig Kiefernduft über meinen Hals.
„Und deine Kumpel?“
„Ich bin sicher, die werden sich nicht weiter um uns kümmern.“
„Aber wir könnten doch auch woanders hingehen“, versuchte ich, ihn zu locken. „Zum Südfriedhof zum Beispiel. Da gibt es einen schönen Park und ein paar lauschige Ecken.“
„Kommt vielleicht komisch“, gab er zerknirscht zu, „aber ich hasse Friedhöfe. Ich mag Tod und Leichen nicht besonders. Also?“ Er rückte wieder ab und ich befürchtete, meinen köstlichen Zeitvertreib zu verlieren.
Ich seufzte. Gehen lassen wollte ich ihn nicht. „Echt zum Völkerschlachtdenkmal?“, fragte ich, um ihn am Reden zu halten.
„Genau.“
Ich bekam sein Blutaroma direkt in die Nase, atmete tief ein und musste kurz die Augen schließen. „Mozarts Requiem, richtig?“
„Richtig.“ Er näherte sich. Ich roch es.
Ich öffnete die Augen, kam ihm entgegen und küsste ihn, statt zu antworten, voll auf den Mund.
„Das heißt dann wohl Ja“, meinte er verlegen.
Eine mit so viel Enthusiasmus vorgetragene Antwort hatte er wahrscheinlich noch nie bekommen. Ich nickte und hängte mich an seine Hüfte. Seinen anderen Arm legte ich dabei auf meine Schultern. Marius ließ es anstandslos geschehen.
„Gehen wir?“, fragte ich und lächelte.
Er musterte mich noch einmal genauer. Sein Blick wanderte von den Stiefelspitzen aus aufwärts.
„Du bist ziemlich kalt, weißt du das? Wie lange läufst du denn schon so rum?“, fragte er. Diese Frage kam jedes Mal, wenn ihnen der Temperaturunterschied zwischen lebendigem Mensch und toter Vampirin auffiel. „Ich würde dir ja gerne eine Jacke geben, aber ich habe selbst keine dabei.“
Wie schön, dachte ich. Er hat Manieren.
Schon von Weitem sahen wir die Schlange, die sich vor der Krypta gebildet hatte. Die Gothics hatten sich in einer Reihe für das Konzert im Völkerschlachtdenkmal angestellt und wir reihten uns ein. Es dauerte eine halbe Stunde, bis wir in das düstere Innere eintreten konnten. Wir hatten die Zeit genutzt, um ein wenig Nettigkeiten auszutauschen. Es war mir einerlei, was Marius erzählte, solange er nur redete und mir seinen verführerischen Duft hinüberschickte. Entgegen meiner Befürchtung war das Denkmal eine geeignete Spielwiese. Ich hoffte auf Gedränge in der Krypta, auf die erzwungene Nähe zu Marius und auf seine Wärme. Und mein Wunsch wurde erhört. Das gesamte Mittelrund der Halle füllte sich mit Gästen. Sie setzten sich auf die Stufen, die zur Grabplatte hinunterführten, stellten sich dicht an dicht unter die Arkaden der Empore. Die großen, steinernen Torwächter, die die hohen Säulen flankierten, blickten grimmig auf die leise murmelnde Masse und das zu ihren Füßen positionierte Orchester, das mit dem Stimmen der Instrumente begann. Es wurde totenstill im Rund. Nur das Rascheln von Kleidung und ein gelegentlich leise gemurmeltes „Entschuldigung“ durchbrachen die Stille. Marius und ich fanden noch ein kleines Plätzchen am Rande des Ausgangs. Seine Freunde hatten wir längst aus den Augen verloren.
Hinter uns fiel das riesige Portal mit einem lauten Poltern ins Schloss. „Fast wie in einem Grab, was?“ Marius grinste und ich lächelte zurück.
„Dabei magst du das doch gar nicht“, flüsterte ich zurück und schnupperte an seinem Hals.
Das Orchester im Hallenrund erhob sich und applaudierte zusammen mit den Konzertbesuchern, um den Dirigenten willkommen zu heißen. Der bedachte die Applaudierenden lediglich mit einer knappen Geste und eilte zu seinen Noten. Darin blätterte er kurz herum, nahm dann seinen Taktstock und blickte streng auf die Musiker. Diese hatten sich wieder gesetzt und warteten auf den Maestro. Ein kurzes Nicken, ein Schwung mit dem Taktstock und das Konzert begann.
Die Bläser kündigten das Hauptthema des Werkes an und stimmten die Zuhörer auf die kommende Seelenmesse ein. Alles lauschte andächtig. Ich blickte mich um und betrachtete die schwarz gekleideten Menschen ein wenig genauer. Marius’ Freunde hatten uns auf dem Weg hierher zwar mit dem ein oder anderen neugierigen Blick bedacht, uns ansonsten aber in Ruhe gelassen. Jetzt entdeckte ich sie ein paar Reihen vor uns. Ein junger Mann, über und über mit Piercings geschmückt, lehnte andächtig an einer Säule und hielt die Augen geschlossen. Mittendrin saß, in sich versunken, ein Punk mit roter Haartracht. Die paar ältere Herrschaften, die hierher gefunden hatten, wirkten hingegen fehl am Platz. Alle blickten auf die Posaunen, die dem folgenden Chor musikalisch vorauseilten.
Es gab wahrscheinlich nur zwei Leute in der dunklen Krypta, denen das Konzert egal war. Marius presste sich von hinten an mich. Ich spürte im Rücken seinen warmen Körper und auf meinem Bauch seine Arme, die er im vergeblichen Versuch, mich etwas aufzuwärmen, um mich geschlungen hatte. Er fummelte an der Kante meiner Korsage herum. Manchmal rutschten seine Finger tiefer und kamen erst auf meinen Oberschenkeln zur Ruhe. Oder sie wanderten neugierig nach oben in den Ausschnitt. Irgendwann drehte ich mich in seinen Armen herum und belohnte seine Anmache mit einem unmissverständlichen Kuss. „Lass uns verschwinden“, stöhnte er, als ich ihn ein wenig Luft holen ließ.
„Nur zu gerne“, flüsterte ich ihm ins Ohr und genoss den Blutduft, der hier am stärksten war.
Marius gab mich frei, nahm meine Hand und zog mich zurück zum Ausgang. Mit grausam lautem Knarzen öffnete er die Tür und schloss sie hinter uns so leise wie möglich. Die Nachtluft war warm im Vergleich zur kalten, abgestandenen Luft der Krypta.
„Wohin so spät des Weges, Schwesterlein?“
Simons Stimme, ätzend und frech, durchschnitt die Nacht. Irritiert drehte ich mich herum. Er stand lässig an die Balustrade der großen Treppe gelehnt, die zum Vorplatz des Völkerschlachtdenkmales hinab führte. Der Mondschein ließ seine hellen Haare wie ein Heiligenschein leuchten.
„Was machst du denn hier?“, fragte ich überrascht und erntete ein flegelhaftes Grinsen. Seine Iriden leuchteten viel zu farblos. Offensichtlich war er heute Abend noch nicht fündig geworden. „Ich dachte, ich pass mal ein wenig auf dich auf. Nicht, dass du in die falschen Hände gerätst.“
„Kennst du den Typ?“, fragte Marius, der von Simons Auftreten sichtlich irritiert war.
„Sie ist meine Schwester“, antwortete Simon an meiner Stelle. „Und wenn du nicht gleich die Fliege machst, dann kann ich für nichts mehr garantieren.“
Seine Worte klangen wie eine Drohung und vertrieben augenblicklich Marius’ Vorfreude auf eine Fortsetzung unseres Spielchens. Und sie ließen mein Erstaunen schlagartig in blanke Wut umschlagen. Was bildete sich Simon eigentlich ein? Im Allgemeinen ließ er mich tun und lassen, was ich wollte. Er war nicht mein richtiger Bruder und erst recht nicht mein Aufpasser. Er war nur Simon, mein Leidensgenosse im Dienste von Ludwig tom Brook.
„Was soll das?“, fragte ich noch einmal und durchbohrte ihn mit bitterbösen Blicken. Doch er lachte bloß.
„Versuche es erst gar nicht, Sera. Das ist sinnlos. Ich bin nämlich schon tot.“ Er streckte mir augenzwinkernd die Zunge heraus.
„Lass sie in Ruhe!“ In Marius regte sich Beschützerinstinkt. Er drängte sich vor mich und versuchte, mich mit ausgestreckten Armen vor Simon abzuschirmen.
Simon stand, ohne einen sichtbaren Schritt getan zu haben, fast Nase an Nase vor ihm. „Sonst was, Bubi?“, fragte er gefährlich leise. Bei seinem Tonfall stellten sich selbst meine Nackenhaare auf. Ich wusste, dass Simons Worte bei Marius noch viel mehr Eindruck machten.
„Schon gut, Simon. Ich komme ja mit“, lenkte ich ein, um seinem Theater ein Ende zu bereiten. Ich trat vor. „Gib mir nur noch zwei Minuten, ja?“
Simon ließ von Marius ab, machte einen angedeuteten Diener und trabte die Treppe hinab.
„Du wirst mir einiges zu erklären haben“, schickte ich ihm hinterher.
„Wer war das denn?“, fragte Marius, als Simon endlich aus unserem Blickfeld verschwunden war. „War das wirklich dein Bruder?“
„So eine Art von.“
„Mann, der Typ hat mir echt einen Schrecken eingejagt. Wie der mich angestarrt hat! Als wollte er mir ans Leder.“
„Wäre er dir vermutlich auch. Entweder er hat Hunger oder er hat wieder seine fünf Minuten. Mit Simon ist manchmal nicht zu spaßen.“ Ich schlang meine Arme um seinen Hals und sog ein letztes Mal seinen betörenden Duft ein. „Es tut mir so unendlich leid.“
„Vielleicht könnten wir uns morgen …?“ Er stoppte, als ich den Kopf schüttelte. Wenn Simon zu solch drastischen Maßnahmen griff, steckte etwas dahinter. Vielleicht ein Anruf aus Trier? Ich bezweifelte, dass wir am nächsten Tag noch in Leipzig weilen würden. Ich sah Marius an, dass er traurig und enttäuscht war. Ich war es auch.
„Es ist sonst nicht meine Art“, meinte er. „Echt nicht. Aber hast du eine Handynummer, unter der ich dich erreichen kann?“
Wieder schüttelte ich den Kopf. Ein mir nachlaufender Kerl war das Letzte, das ich gebrauchen konnte. Wenn Ludwig dahinterkäme, würde es eine Menge Ärger geben. Oder Schlimmeres. Marius musste meine Weigerung als Abfuhr verstehen, aber damit würde er leben müssen. Ich konnte ihm die eigentliche Sachlage nicht erklären.
Er seufzte enttäuscht. „Na gut. War trotzdem schön, dich kennengelernt zu haben.“
„Finde ich auch“, antwortete ich. Ich küsste ihn zum Abschied noch einmal. Seine Antwort auf meinen Kuss war fordernd und vielversprechend. Gerade so, als wolle er mich damit zu einer Umkehr überreden. Ich genoss es zu sehr, um ihn in seiner Hoffnung zu bremsen. Nach wenigen Sekunden schon artete der Kuss in eine heftige Knutscherei aus. Ungeduldig krallte ich meine Fingernägel in seine Oberarme und spürte, wie das Fleisch nachgab. Der verlockende Duft seines Blutes, das in kleinen Tropfen aus der Wunde floss, machte mir schlagartig meinen Hunger bewusst. Zu gerne hätte ich ihm sein Lebenssaft geraubt, wenn ich gekonnt hätte. Doch ich war unfähig und so blieb mir nichts anderes übrig, als mich für meine Gemeinheit zu entschuldigen und die kleinen Wunden vorsichtig sauber zu wischen. Nur um mir hinterher unbemerkt die Fingern zu lecken. Diese winzige Menge musste reichen. Ich ließ Marius in jener Nacht seiner Wege ziehen, wenn auch mit einer gewissen Wehmut.
Zwei Jahre waren seitdem vergangen. Ich seufzte, brachte meine Aufmerksamkeit wieder ins Hier und Jetzt zurück und blickte geradeswegs in die wachen Augen von Leander. Grimmig straffte ich die Schultern. Ich hatte Marius bereits kurz nach unserem Treffen vergessen. Dass er jetzt auftauchte, war mir unangenehm, denn es brachte mich in Erklärungsnöte. Zur selben Zeit spürte ich Vorfreude. Ich könnte ihn endlich haben, wenn ich wollte. Dieses Mal könnte ich sein Blut genießen, vielleicht sogar jeden Tag. Er könnte mein ganz persönlicher Blutspender werden. Was würde er sagen, wenn er mich wiedersehen würde?
„Nachdem wir jetzt wieder alle anwesend sind, schlage ich vor, uns im Forum ein wenig genauer umzuschauen.“ Leanders Stimme holte mich vollständig auf den Boden der Tatsachen zurück.
Schuldbewusst nickte ich und blickte zur Seite. Zu spät merkte ich, dass ich Leander mit genau dieser Geste in seiner Vermutung bestätigte, dass mit mir etwas nicht in Ordnung war. Ich seufzte. Ich durfte nicht noch einmal gedanklich abschweifen, während vor uns die Arbeit lag.
„Also“, begann Aniko. „Hier ist das Forum, untergliedert in die verschiedenen Rubriken. Gute Taten, Heinzelmännchen-Aktionen, Vermischtes und Rothropen helfen Rothropen.“
„Also“, begann Aniko. „Hier ist das Forum, untergliedert in die verschiedenen Rubriken. Gute Taten, Heinzelmännchen-Aktionen, Vermischtes und Rothropen helfen Rothropen.“
Unwillkürlich musste ich kichern. Auch Leander hob amüsiert eine Augenbraue. „Klingt irgendwie wie eine Kindersendung, aber nicht wie etwas, das später mal unsere Bäuche füllen könnte.“ Es hatte ein Scherz sein sollen, aber ich bereute meine unbedachten Worte sofort. Aniko und René warfen sich einen kurzen Blick zu.
„Entschuldigt“, bat ich sofort. „Aber die Namenswahl ist wirklich lustig, oder? Vorhin die Kaffeebohne und der Wichtel. Und jetzt ein Heinzelmännchen.“
„Die Namen der einzelnen Rubriken sind nicht von uns vorgegeben worden, sondern in Zusammenarbeit mit den Usern entstanden“, erklärte Aniko. „Nachdem im Chat der Wunsch nach einzelnen Unterteilungen geäußert wurde, haben wir überlegt, was im Forum gefragt ist. Diese Threads kamen dabei heraus.“
„Es ist erstklassig, was ihr auf die Beine gestellt habt“, sagte Leander. „Vor allem in dieser kurzen Zeit.“
„Und für die Namen der einzelnen User könnt ihr natürlich auch nichts“, meinte ich.
„Das ist auch gut so.“ René nickte. „Denn daraus kann man einen gewissen Rückschluss auf die Person dahinter ziehen.“
„Ein wenig zumindest“, lenkte Aniko ein. Er wandte sich direkt an mich: „Und um noch einmal auf die Rubriken zu kommen: Die Heinzelmännchen-Aktionen sind keineswegs etwas Kindisches.