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In den heiligen Hallen des Tempels, der Sol den Sonnengott anbetet, wächst Seren auf. Strenge Regeln bestimmen ihr Leben und schränken die Freiheit der Frauen stark ein. Für lange Zeit hält Seren diese Ordnung für unverrückbar. Doch als sie beginnt, die Normen zu hinterfragen, erwacht in ihr ein tiefes Verlangen nach Wissen - besonders nach der Medizin, die nur Männern vorbehalten ist. Dann trifft Seren auf Yunho einen geheimnisvollen Traveler, der alles verkörpert, was der Tempel verabscheut. Ihre Zweifel wachsen, während Yunho ihr eine Welt jenseits der strengen Regeln zeigt und ihr die Möglichkeit bietet, den Anhängern von Sol zu entkommen und ein neues Leben zu beginnen. Doch der Weg in die Freiheit ist gefährlich, denn Amon, die unerbittliche rechte Hand des Tempeloberhauptes, setzt alles daran, Seren in den Fängen des Tempels zu halten. Serens aufkeimende Liebe zu Yunho wird zu einem gefährlichen Spiel ums Überleben. Eine Geschichte über Mut, Widerstand und die Suche nach der eigenen Bestimmung. Wird Seren es schaffen, sich aus den Ketten des Tempels zu befreien? Oder wird sie für ihren Mut einen hohen Preis zahlen müssen?
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Seitenzahl: 281
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An alle, die gerade durch eine schwere Zeit gehen: Das Leben ist nicht immer einfach, aber gebt nicht auf. Dieses Buch ist für euch, damit ihr wisst, dass nach Regen auch wieder Sonnenschein kommt.
Hiermit sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dieses Buch Szenen von Gewalt und Misshandlungen enthält, außerdem sexuelle Übergriffe sowie Darstellungen von Selbstverletzung, Alkoholmissbrauch, Tod, Tieropfern, Suizidgedanken, Essstörung, Misogynie und Folter.
1 YUNHO
2 SEREN
3 YUNHO
4 SEREN
5 SEREN
6 YUNHO
7 SEREN
8 YUNHO
9 YUNHO
10 SEREN
11 SEREN
12 AMON
13 YUNHO
14 SEREN
15 AMON
16 SEREN
17 YUNHO
18 SEREN
19 SEREN
20 SEREN
21 AMON
22 SEREN
23 SEREN
24 SEREN
25 SEREN
26 YUNHO
27 SEREN
28 SEREN
29 SEREN
30 SEREN
31 AMON
32 SEREN
33 SEREN
34 SEREN
35 YUNHO
36 SEREN
37 YUNHO
38 SEREN
39 YUNHO
40 SEREN
41 SEREN
42 AMON
43 YUNHO
44 SEREN
45 VIORICA
46 SEREN
47 YUNHO
48 SEREN
49 AMON
50 YUNHO
SCHLUSSWORT
DANKSAGUNG
Einen Schritt vor, einen zurück, spulte er immer wieder in seinem Kopf ab.
Mit einem Lächeln auf den Lippen tanzte Yunho leichtfüßig über das Seil, das in schwindelerregender Höhe hing. Die erstickten Gespräche der Zuschauer drangen zu ihm hoch, aber davon ließ er sich nicht beirren.
Einen Schritt vor, einen zurück, so hatte er es etliche Male getan.
Yunho nahm den Geruch nach Popcorn, Schweiß und billigem Parfüm wahr, der sich mit dem Duft des Heus, der von den Ställen herüberwehte, vermischte. Das war bereits die vierte Vorstellung diese Woche, die bis auf den letzten Platz ausverkauft war. Die Menschen im Königreich Scalis mochten es, ihr Geld für Unterhaltung auszugeben. Dafür sahen sie sogar darüber hinweg, wer sie ihnen bot.
Normalerweise wurden Traveler, wie Yunho einer war, in diesem Königreich verachtet. Sie waren fahrendes Volk ohne Heimat. In den Augen der Bewohner waren sie damit unkultiviert, ohne Wertvorstellungen und ohne Sitte. Wilde oder Barbaren. Doch jetzt wollte Yunho all das vergessen. Für einen Moment schloss er die Lider, um sich zu konzentrieren. Das Seil unter ihm schwang kaum merklich und er wusste, was das bedeutete. Als er sie wieder öffnete, erblickte er das wunderschöne Gesicht von Luna.
Ihre dunkelblonden Haare, mit denen er heute Morgen noch gespielt hatte, hatte sie zu einem kunstvollen Zopf geflochten, damit sie ihr nicht ins Gesicht fielen und ablenkten. Ihr schmaler, athletischer Körper steckte in einem eng anliegenden, mit Pailletten bestickten Anzug.
Die Menge unter ihnen klatschte und Luna sah Yunho herausfordernd an. Er liebte diesen Gesichtsausdruck an ihr.
„Bereit?“, fragte sie.
Yunho nickte und klopfte noch mal seine in Kreide getauchten Hände zusammen. Die Scheinwerfer waren nun auf die beiden gerichtet. Als wäre es das Leichteste der Welt, gingen Yunho und Luna aufeinander zu. Sie kannten sich seit ihrer Kindheit und vertrauten einander bedingungslos. Hunderte Male hatten sie dieses Kunststück geprobt und vorgeführt.
Seine Finger kribbelten, als er ihre Hand in seine nahm. Später, wenn er allein mit ihr war, würde er sie mit Küssen verwöhnen.
„Ich liebe dich“, flüsterte sie, bevor sie ihren Körper anspannte und nach links kippte. Die Zuschauer schrien entsetzt auf – doch Yunho packte Luna an den Armen und ließ sie etwas hinunterrutschen, bis er ihre Handgelenke umfassen konnte und sie an den Händen hielt. Das Seil schwankte leicht unter seinem Gewicht, allerdings hatte er einen sicheren Stand.
Die Menge atmete auf und klatschte. Yunho sah den zufriedenen Blick des Zirkusdirektors, der von der Manege aus nach oben schaute. Yunho und Luna waren die Hauptattraktion. Mit einem kraftvollen Schwung zog er sie wieder hoch. So vollführten sie noch einige Kunststücke auf dem dünnen Seil, das Yunho eine Heimat war.
Der Applaus der Besucher ebbte auch dann nicht ab, als Yunho und Luna die Leiter hinabstiegen und sich mitten in der Manege mit geschmeidigen Verbeugungen bedankten. Doch die Show war noch nicht zu Ende – nun würde das Highlight folgen.
Luna verließ das Zelt, um sich schnellstmöglich in einem der bunten Wohnwagen umzuziehen, Yunho folgte ihr bis zum Manegenrand. Er ließ seinen Blick über die Zuschauer schweifen, die an den Lippen des Direktors hingen. Bald würden sie ihren Augen nicht mehr trauen.
Yunhos Freund stand am Ende der Tribüne. Sie tauschten kurz Blicke und Ace deutete mit dem Zeigefinger nach oben und packte ein Seil.
Um nicht die Aufmerksamkeit der Besucher auf sich zu ziehen, schlenderte er zu seinem Freund.
„Ihr konntet ja eure Blicke nicht voneinander abwenden“, sagte dieser und grinste.
„War es etwa so offensichtlich?“ Yunho kratzte sich verlegen am Hinterkopf.
„Ich bin dein bester Freund. Wenn mir so was nicht auffällt, wem dann?“ Ace legte ihm seinen Arm um die Schultern und zog ihn mit sich. „Wir müssen uns mit dem Seil beeilen.“ Ace setzte seine seriöse Miene auf.
Flink wie ein Affe stieg Ace das Gerüst hoch, welches das Zelt stützte. Er befestigte das Seil am höchsten Punkt und warf es Yunho dann gekonnt zu, der unten wartete.
Auch er kletterte hoch. Während er mit dem Seil hantierte, brach Applaus aus und Luna kam hinter dem Vorhang hervor. Yunho blieb für einen Moment die Luft weg, so atemberaubend sah sie aus. Sie trug ein weißes Kleid, das über und über mit kleinen Spiegelpailletten bestickt war. Sie fingen das Licht ein, brachen es und warfen es in hundert verschiedenen Farben zurück. Luna drehte sich für die Zuschauer, die aus dem Staunen nicht mehr herauskamen.
Ace bedeutete Yunho mit einer Geste, sich zu beeilen. Nur widerwillig löste er sich von Ihrem Anblick und machte das Seil fest.
Heute Nacht wird sie das Kleid nur für mich ausziehen.
„Und nun, meine Damen und Herren, der Höhepunkt des Abends“, verkündete der Direktor.
Luna hatte sich einen Gürtel um die Taille geschnallt, an dem Ace zwei kleine Karabiner, die am Ende des Seiles hingen, befestigte. Er gab Yunho ein Zeichen, der daraufhin an einem dicken Strick zog. Luna erhob sich in die Luft und schien zu schweben. Bunte Muster wurden aufgrund ihres Kleides und den Schmucksteinen gegen das Zelt geworfen. Yunho beobachtete, wie die Augen der Kinder immer größer wurden. Er sah auch die Blicke der Männer und etwas in seinem Magen rumorte. Er wusste um Lunas Schönheit und wie glücklich er sich schätzen konnte, dass sie sich ausgerechnet in ihn verliebt hatte.
Luna kam oben an der Plattform an. Jeden Moment würden die Zuschauer ihr unglaubliches Können bestaunen – einem Wunder gleich. Das Seil, auf dem sie tanzen sollte, war aus einem besonderen Material gefertigt, es passte sich der Umgebung an und so sah es aus, als würde sie durch die Luft gehen. Die Traveler hatten dieses Seil im Nachbarkönigreich Dorado anfertigen lassen. Dort waren die Technologien und auch der Wissensstand weit fortgeschritten. Im Gegensatz zu Scalis, in dem sich seit über zweihundert Jahren nichts verändert hatte.
Luna löste die Karabiner und tanzte wie eine Ballerina in den Lüften. Yunho war so konzentriert auf Luna und ihre Sprünge und Kunststücke, dass er Ace’ Stimme zu spät vernahm.
„Yunho, verdammt, das Seil!“, schrie dieser und blickte zum Zeltdach.
Sofort schoss Yunhos Blick nach oben – Ace hatte recht. Das Seil, das er nicht überprüft hatte, weil er von Lunas Anblick abgelenkt war, löste sich aus den Windungen.
„Scheiße, wenn sie fällt, wird sie es nicht überleben!“
„Hol das Sprungtuch!“, wies Yunho seinen Freund an. „Ich versuche, noch rechtzeitig nach oben zu kommen.“ Seine Hände waren schwitzig, in seinem Kopf hämmerte es und sein Herz raste.
Yunho hatte gerade die dritte Sprosse auf der Leiter erreicht, als er ein Geräusch hörte, das ihm durch Mark und Bein ging. Das Schreien der Menge bestätigte ihm, dass etwas schiefgegangen war.
Die Szenerie verlangsamte sich.
Yunho drehte sich um. Lunas schmaler Körper lag inmitten der Manege. Blut tränkte den Sandboden. Ohne auf das zu achten, was um ihn geschah, stieg er hinunter und rannte los. Er kam mit den Knien vor Lunas Körper auf.
Von irgendwo rief Ace: „Verdammt! Holt den Arzt!“
Genau, wir haben einen Arzt, der uns schon so oft geholfen hat, versuchte Yunho, sich zu beruhigen.
„Luna“, flüsterte er und wusste nicht, wo er sie berühren sollte, ohne ihr weitere Schmerzen zuzufügen. „Es wird alles wieder gut.“
Mit ihren blauen Augen sah sie ihn liebevoll an. „Ich denke nicht.“ Ihre Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. Blut rann ihr aus den Ohren und dem Mundwinkel.
Er ergriff ihre Hand. „Du kannst mich nicht verlassen.“
Ein flüchtiges Lächeln umspielte ihre blassen Lippen, doch im nächsten Moment hustete sie. Blut spritzte ihm auf Kleidung und Gesicht. Verzweifelt bemühte er sich, ihre Blutungen zu stillen.
Ehe er dazu kam, kniete sich der Arzt neben ihn und hielt seinen Handrücken gegen Lunas Lippen. „Sie atmet nur noch schwach.“
„Tu etwas!“, rief Yunho völlig außer sich.
„Wahrscheinlich ist ihre Halswirbelsäule beschädigt.“ Er tastete sie weiter ab. „Hier sind zwei Rippen gebrochen und womöglich in die inneren Organe eingedrungen. Wir können sie nicht bewegen und mir fehlen die Geräte, um sie zu operieren, und das nächste Spital ist mehrere Tagesfahrten mit der Kutsche entfernt.“
„Also willst du sie hier sterben lassen?“ Yunho spürte eine leichte Berührung an seinem Handgelenk und sah zu Luna hinunter. Sie wirkte so zierlich und verletzlich, wie er sie nie wahrgenommen hatte. „Wir können es zum Spital schaffen, es wird alles gut“, sagte er zu ihr.
„Ich kann meine Beine nicht mehr spüren und das Atmen fällt mir immer schwerer“, meinte Luna mit dünner Stimme. „Ich denke nicht, dass wir es zu einem anderen Arzt schaffen können.“
„Das ist nur der Schock“, versicherte Yunho, ohne selbst daran zu glauben.
„Ich liebe dich.“ Luna schloss ihre Augen. „Bitte lass mich etwas schlafen.“
„Nein, du darfst jetzt nicht einschlafen.“ Yunho stupste ihr sachte gegen die Wangen, um sie wach zu halten, doch ihre Lider flatterten nur. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schwach – bis die Bewegung stoppte.
Ein nicht enden wollender Strom aus Tränen rann Yunho übers Gesicht. Er packte seine Freundin an den Schultern und schüttelte sie. „Nein, Luna, bitte! Du kannst mich jetzt nicht allein lassen!“, rief er. „Du kannst nicht gehen! Wach wieder auf!“ Die Tränen nahmen ihm die Sicht und in ihm mischten sich Wut mit Verzweiflung und Angst. „Wach auf, Luna!“
Jemand legte die Hand auf seine Schulter. „Sie ist tot“, sagte Ace. „Lass sie gehen.“
„Nein.“ Er schluchzte.
„Yunho.“ Ace’ Stimme klang sanft, aber dennoch bestimmend.
Doch er konnte nicht, er wollte, dass seine Liebste wieder aufwachte. Sie musste einfach aufwachen.
„Sie ist tot.“ Ace packte Yunho unter den Achseln und zog ihn weg.
„Was soll das?“
„Wir können ihr nicht mehr helfen.“
Zorn kochte in Yunho hoch. Mit einem energischen Ruck befreite er sich aus Ace’ Umklammerung und verpasste ihm einen Kinnhaken, der ihn zurücktaumeln ließ. In seinem Blick lag allerdings keine Verärgerung, sondern Mitleid. Was Yunho nur noch wütender machte. Er hob den Zeigefinger. „Fass mich nie wieder an, sonst …“ Yunho wandte sich ab, hob Lunas Körper vom Boden auf und verließ das Zelt.
Es war, als würde er die ganze Welt durch einen Schleier sehen. Ein Dunst, der sich kalt und dunkel über seine Haut zog und in seine Knochen kroch. Yunho ging den geschotterten Weg entlang, der zu seinem Wagen führte. Er legte Lunas Körper auf seinem Bett ab und setzte sich neben sie. Vorsichtig strich er ihr eine Haarsträhne aus dem blutigen Gesicht. Eine Zeit lang betrachtete Yunho ihr Gesicht, bis er es nicht mehr aushielt. Er musste etwas tun, jetzt sofort.
Als er aus dem Wagen kam, wartete Ace bereits auf ihn. „Was hast du vor?“
Yunho antwortete nicht, sondern stürmte an ihm vorbei.
„Yunho?“
„Ich werde in das Dorf gehen und einen anderen Arzt holen, da ihr sie sterben lassen wollt!“, brüllte er und lief davon.
Die Realität sickerte langsam zu ihm durch. Es war egal, ob er einen Arzt finden würde, Luna könnte er nicht retten. Er stützte seine Hände auf den Oberschenkeln ab und brach in Tränen aus. Mit jedem Schluchzen zerriss sein Herz ein wenig mehr. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in seiner Brust breit.
Ich bekomme keine Luft.
Er musste etwas gegen den Schmerz unternehmen, er musste sich betäuben. Seine Füße trugen ihn wie von allein zur nächsten Kneipe. Alkohol hatte ihm schon immer geholfen, seine Probleme zu lösen. Bis Luna aufgetaucht war. Sie hatte sein Leben so viel heller und bunter gemacht.
Mit der flachen Hand wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht. Er durfte nicht an sie denken.
Der Wirt an der Bar kannte Yunho und nickte ihm kurz zu. „Was darf es sein?“
„Etwas von deinem stärksten Fusel.“
Der Wirt grinste und griff nach einer Flasche. „Hier, dein Fusel“. Er grunzte und schob Yunho ein Glas zu, in dem eine karamellfarbene Flüssigkeit hin und her schwappte.
Er roch nicht daran, sondern stürzte das Gesöff mit einem Zug hinunter. „Noch mal!“
„Schwerer Tag?“, fragte der Wirt, doch Yunho schüttelte nur den Kopf, um nicht darüber reden zu müssen. Er hielt ihm das Glas hin.
Der Wirt schien verstanden zu haben, dass Yunho nicht auf ein Gespräch aus war. „Hast du vor, das auch zu bezahlen, Traveler?“, fragte der Gastgeber beim fünften Glas.
„Natürlich“, lallte Yunho.
Jemand stieß ihn an und die heilende Flüssigkeit ergoss sich auf seiner Hose.
„Was soll das?“, blaffte Yunho und sah dem Übeltäter ins Gesicht.
„Entschuldigung“, murmelte dieser.
„Ist das alles, was du dazu sagen hast?“
„Du Traveler-Abschaum hättest dich eigentlich bei mir entschuldigen müssen, dass wir deine Anwesenheit hier ertragen müssen.“
Etwas schob sich vor seine Augen und trübte seine Sinne. Es war nicht der Alkohol, sondern die blanke Wut. Mit einem präzisen Schlag holte er aus und verpasste dem Fremden eine Ohrfeige. Dieser wirkte einen Moment geschockt, doch setzte zum Gegenschlag an. Die Faust traf Yunho hart und er schmeckte den metallischen Geschmack von Blut.
Hastig packte er den anderen am Kragen und schlug seinen Kopf gegen den Tresen. Jetzt kamen weitere Männer hinzu und begannen, Yunho zu treten und schlagen. Sie hielten ihn an den Armen fest, doch er konnte sich befreien. Zorn loderte in Yunho auf.
Einer der Männer packte ihn am Genick und drückte sein Gesicht nach unten, ehe er ihm die Hände auf den Rücken drehte. Yunho blickte nach oben und erkannte, dass es der Wirt war. Im festen Griff des Mannes flog er hinaus.
„Raus mit dir, und dass du dich nie wieder blicken lässt!“
Mit dem Handrücken wischte er sich das Blut von der Lippe.
„Das sieht ja ganz schön übel aus.“
Ace lehnte an einer Hauswand. Es dämmerte bereits und die Nachtwächter gingen umher, um die Laternen anzuzünden.
„Du solltest mal den anderen sehen.“ Yunho spuckte auf den Boden, um das angesammelte Blut in seinem Mund loszuwerden. Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern lief los, zurück zum Lager der Traveler, das sich in der Nähe des Zirkuszeltes befand. Ace folgte ihm.
Yunho ging zum Wohnwagen, während Ace glücklicherweise weit entfernt blieb. Die anderen hatten Luna aus seinem Wagen getragen, und er war unsicher, ob er darüber erzürnt oder dankbar sein sollte. Er wanderte auf und ab, die Gedanken an Luna lasteten schwer auf ihm. Es war, als würde sein Herz zerreißen. Vermutlich versammelten sich alle gerade, um Abschied von ihr zu nehmen. Doch er konnte sich noch nicht dazu durchringen, sich ihnen anzuschließen. Er wollte einen Augenblick in seiner Blase leben. Sie mussten Luna so schnell wie möglich bestatten, da sie nicht länger an diesem Ort verweilen konnten. Sie waren ein fahrendes Volk und hatten keine Heimat. Diese Bestattung würde ihren Tod realer machen.
Yunhos Blick fiel auf eine kleine violette Glasflasche. Lunas Parfüm, das sie in seinem Wagen vergessen hatte. Zögerlich griff er danach und roch daran. Sofort sah er sie in seiner Vorstellung. Ihre wunderschönen, herausfordernd dreinblickenden Augen, das Muttermal auf ihrer Schulter, das er so gern geküsst hatte.
Hätte er nur dieses verdammte Seil kontrolliert. Frustriert schleuderte er das Fläschchen in die Ecke, wo es zerbrach. Dann waren die Bücher und alles andere in seiner Reichweite an der Reihe. Tränen liefen über sein Gesicht. Am liebsten hätte er geschrien vor Entmutigung. Als Ace den Wohnwagen betrat, saß Yunho mit dem Kopf in die Hände gestützt und völlig verzweifelt am Tisch. Ace kam auf ihn zu.
„Ich habe sie getötet.“ Yunho schluchzte.
„Hast du nicht, es war ein Unfall.“
„Nein, war es nicht!“ Yunhos Gesicht war von Schmerz verzerrt. „Ich habe vergessen, das Seil zu überprüfen.“
Ace widersprach ihm nicht. Er trat einen Schritt zur Seite, sodass Yunho einen Blick aus dem Fenster erhaschte und dort die anderen Traveler sah.
„Sie möchten Luna die letzte Ehre erweisen. Sie haben auf dich gewartet.“
Es hatte seinen Grund, warum Traveler ihre Zelte vorübergehend immer in der Nähe eines Gewässers aufschlugen. Sie glaubten, dass sich das Reich der Toten hinter einem Schleier auf einem Gewässer befand. So konnten sie ihre Angehörigen im Todesfall nach ihren Ritualen verabschieden und ihnen eine Wiedergeburt in ein neues Leben ermöglichen.
Yunho und Ace traten aus dem Wagen und gingen hinüber zum Ufer.
Lunas Leiche war auf einem Floß aufgebahrt. Irgendjemand hatte um ihren Körper Vergissmeinnicht gelegt. Man hatte ihr ein weißes Leinenkleid angezogen und die Haare zu einem Zopf geflochten. Sie war gewaschen worden, die Verletzungen hatten aufgehört zu bluten. Sie sah aus, als würde sie nur etwas Schlaf nachholen.
Yunhos Herz krampfte sich zusammen. Ace reichte ihm eine Fackel, doch er schüttelte den Kopf.
„Ich kann das nicht.“ Seine Stimme zitterte. Es war, als würde ihm die Luft abgeschnürt.
Ace nickte.
Die Zeit schien stillzustehen. Eine gespenstische Stille legte sich auf Menschen und Natur. Yunhos Leben war in wenigen Stunden zu einem Albtraum mutiert.
„Mutter Erde, wir geben dir nun zurück, was du uns einst geliehen hast“, sagte Ace die traditionellen Worte und zündete die Hölzer an, die wie ein Zelt über Luna errichtet waren. Zwei weitere Traveler machten das Floß los. Yunho sah ihm nach, wie es den Fluss entlangtrieb, ins Reich der Schleier, wie sie das Totenreich nannten. Was würde er dafür geben, Luna nochmals in den Arm nehmen zu können. Ihre Stirn, Nase und Lippen zu küssen.
Eine Hand auf seiner Schulter holte ihn zurück in die brutale Realität.
„Mein Beileid“, sagte Ace.
Auch die anderen Traveler brachten Yunho gegenüber ihre Trauer zum Ausdruck. Er fühlte sich allerdings wie ein Heuchler. Er war Lunas Mörder, er hatte es nicht verdient, dass man ihm aufmunternde Worte zuflüstert. Mit jeder Beileidsbekundung, jeder Berührung wuchs seine Schuld ins Unendliche.
„Was wirst du jetzt tun?“, fragte Ace.
„Ich will nur weg von hier.“
„Gut, dass ich einen Plan habe. Ein Teil der Traveler zieht weiter zum Fest der Sterne. Wir können uns ihnen anschließen.“
„Das Fest der Sterne, dieses barbarische Fest der Sekte des Sols?“ Yunho war nicht überzeugt.
„Ja, sie sind barbarisch, und wenn du mich fragst, etwas zurückgeblieben, was ihre Weltanschauung angeht, aber denk an das viele Geld, das wir verdienen werden.“ Ace’ Augen funkelten und er rieb sich die Hände.
Yunho sah noch mal hinüber zum Floß. Das Feuer reichte bis zum Himmel. „Ich werde dich begleiten.“
In Gedanken fügte er allerdings an Luna gerichtet hinzu: Ich werde wiederkommen und dann werde ich für immer bei dir sein.
Staub wirbelte auf und tanzte im gelben Sonnenlicht, das durch die breiten, runden Fenster fiel. Einige Mädchen schüttelten blütenweiße Tischdecken aus und legten sie fein säuberlich über die großen, langen Holztische. Andere eilten mit riesigen Sträußen aus Wildblumen herbei und arrangierten diese mittig.
Seren beobachtete ihre Schwestern mit Adleraugen. Schließlich war heute der wichtigste Tag ihrer Zimmergenossin Gwen. Es war jedes Mal ein Fest, wenn eines der Mädchen heiratete. Gwen wurde letztes Jahr am Tag der Farben von ihrem Bräutigam ausgewählt. Seren konnte kaum stillhalten, ihr Herz pochte wie wild, denn die Hochzeit bedeutete auch den Anfang und das Ende des Festes der Sterne.
Zu Ehren ihres Gottes Sol gab es einen Monat lang ein riesiges Fest. Händler und Schausteller kamen nach Solaris, um dem Tempel und Sol selbst Ehre zu erweisen. Der letzte Tag, der Tag der Farben, war dazu gedacht, zwei der Schwestern des Tempels mit einem der Brüder zu verheiraten, damit diese für neue Nachkommen im Tempel und unter den Dienern Sols sorgten. Die erste Braut würde noch am selben Tag heiraten und somit das Ende des Festes darstellen. Die zweite Braut würde sich ein Jahr gedulden müssen, denn diese Hochzeit stellte den Anfang des neuen Festes dar.
Seit Jahrhunderten wurde so das Überleben der Gemeinschaft des Sols gesichert. Seren schwelgte in Erinnerungen an letztes Jahr. Alle waren bunt angezogen gewesen, hatten Bänder in den Haaren gehabt. Bis auf die fünf auserwählten Mädchen.
Sie hatten splitterfasernackt vor den tosenden Zuschauern gestanden und der auserkorene Bruder hatte jedes Mädchen genau betrachtet. Gwen hatte das Glück gehabt, dass er sie favorisiert hatte. Seren war froh, dass sie dieses Jahr zu den handverlesenen Damen gehörte, die hoffentlich eine Zukunft mit einem der Brüder fand. Seit sie klein war, hatte sie von nichts anderem geträumt. Unaufhörlich waren die Schwestern auf diese Aufgabe vorbereitet worden.
„Seren, träumst du?“, hörte sie eine tiefe Stimme hinter sich und spürte die leichte Berührung an ihrem Arm.
Sie wandte sich um und sah in Amons dunkle Augen. Er war die rechte Hand des Tempeloberhauptes, dabei war er gerade einmal ein paar Jahre älter als sie. Sofort fühlte sie sich ertappt.
Sein Lächeln wirkte gezwungen, als er sagte: „Gwen wartet auf dich. Sie braucht deine Hilfe.“
„Natürlich, ich werde gleich gehen.“ Seren war es in Amons Nähe immer unheimlich zumute. Sie wusste nicht, woher dieses Gefühl kam, sie wusste nur, dass sie so schnell wie möglich zu ihrer Zimmergenossin gelangen sollte.
Seren eilte durch die langen Gänge des Tempels, bis sie vor einer kleinen Holztür angekommen war. Sie atmete kurz durch, bevor sie eintrat. Der Raum war extra für die Braut zur Verfügung gestellt worden. Dort durfte sich Gwen für ihren großen Tag zurechtmachen. Ihre Kleider waren die gleichen, nur durch die Farbe der Bänder in ihren Haaren unterschieden sie sich. Die Farben symbolisierten ihre Herkunft. Seren hatte kupferfarbene Bänder, da ihre Familie mit Geld zu tun hatte. Ihr Vater war der Schatzmeister des Tempels. Andere Mädchen hatten grüne Bänder, die für die zum Tempel gehörende Landwirtschaft standen, wieder andere hatten rote Bänder. Die Mädchen mit dieser Farbe gehörten den Gerber-Familien an. Unzählige andere Farben waren vertreten.
„Wie wäre es mit dem Karminrot für deine Lippen? Das würde gut zu deiner rosigen Haut passen“, meinte Seren und hielt ihrer Freundin die Farbe vor die Nase.
Ein breites Lächeln erhellte ihr Gesicht, während sie nickte. Gwen spitzte ihre Lippen zu einem Kussmund, sodass Seren die Farbe darauf auftragen konnte.
„Was sollen wir mit deinen Haaren machen?“, fragte Seren. „Ich könnte dir ein paar heiße Eisenwickel eindrehen.“
„Flechte sie mir einfach zu einem Zopf.“
Während Seren eine Strähne nach der anderen in die Hand nahm, konnte Gwen kaum stillhalten und rutschte auf dem Stuhl hin und her.
„Kannst du es glauben? Ich werde heute heiraten. Vielleicht bist du am Monatsende schon die nächste glückliche Braut!“
Seren war das nur allzu bewusst. Sie wollte alles dafür tun, eine der Auserwählten zu sein. Falls Seren auserwählt wurde, würde sie das Fest mit ihrer Feier beenden.
„Ich habe gehört, das Tempeloberhaupt will Amon dieses Jahr verheiraten.“ Gwen senkte verschwörerisch ihre Stimme. „Und jeder weiß, dass Amon ein Auge auf dich geworfen hat.“
Ein eisiger Schauer durchfuhr Seren, wenn sie an seine dunklen Augen dachte, die sie beobachteten. Sie strahlten eine unheimliche Brutalität aus.
„Ich denke, es wird geeignetere Kandidatinnen für Amon geben als mich.“
Gwen nahm Serens Hand in ihre eigene. „Aber du bist wunderhübsch und noch dazu das klügste Mädchen von uns allen.“
Die Glocke der Turmuhr unterbrach sie und ersparte ihr eine Antwort.
„Wir sollten los, du willst deinen Bräutigam doch nicht warten lassen“, sagte Seren und war froh, nicht mehr über Amon reden zu müssen. Natürlich würde die Heirat mit ihm für ihre Familie sehr viel bedeuten, denn Amon war nach dem Tempeloberhaupt der angesehenste Bruder unter den Dienern Sols. Sie würde eine Position bekommen, für die andere Mädchen wahrscheinlich ihre Seele verkaufen würden. Eigentlich hätte sie dankbar sein sollen.
Doch eine leise Stimme in ihrem Kopf sagte ihr, dass dieser Weg der falsche wäre.
Sie war ein Mädchen. Das Beste, worauf sie hoffen konnte, war eine gute Heirat. Ihr geheimer Wunsch, einmal Ärztin zu werden, würde für immer das bleiben, was er war: ein Hirngespinst. Mit Schrecken dachte sie aber daran, wie es wäre, wenn Amon sie anfassen würde, geschweige denn, wie es wäre, seine Kinder zu bekommen.
Seren versuchte, die Stimme in ihrem Inneren zu ignorieren. Sie wusste, dass sie sich später, wenn sie allein war, für diese Gedanken bestrafen müsste.
Der zweite Schlag der Turmuhr ertönte. Gwen und Seren schlüpften durch eine Tür am Ende des Raumes. Die Stufen dahinter führten in die unterirdische Kapelle, in der die Hochzeiten abgehalten wurden. Die hochrangigen Mitglieder des Tempels sowie die Familien der Eheleute waren bereits anwesend und erwarteten die Braut mit lächelnden Gesichtern. Nur einer nicht. Amons Blick ruhte ernst auf ihr, als wüsste er, was sie vorhin gedacht hatte.
Die Anwesenden erhoben sich und stimmten das Lied Sol, du großer Retter an. Jedes Mal bekam Seren dabei eine Gänsehaut, wenn die Stimmen des Chors einsetzten.
Gwen lief den Gang entlang, ihre Augen waren auf ihren zukünftigen Ehemann gerichtet, während Seren sich zwischen den anderen Mitgliedern auf ihren zugewiesenen Platz setzte.
Die Kapelle war mit Schleierkraut geschmückt. Es war an den Bänken befestigt und hing als Girlanden arrangiert von der Decke. Ein Altar aus grobem Marmorstein bildete das Zentrum. Bänke aus Holz waren rundherum aufgereiht, sodass jeder einen guten Blick auf den Altar und die Brautleute hatte. Zwei bodentiefe Fenster ließen die Sonne herein und erleuchteten das Brautpaar in einem unnatürlichen Schein. Die Kapelle war viel zu klein für alle Mitglieder des Sols. Doch bei der Zeremonie waren sowieso nur die im Tempel lebenden Anhänger eingeladen.
Das Tempeloberhaupt begann mit den Gebeten und alle Schwestern und Brüder stimmten ein. Seren konnte nicht verhindern, dass ihre Gedanken immer wieder zu Amon schweiften.
Er saß nur eine Reihe vor ihr und sie betrachtete ihn unauffällig. Er hatte einen kurzen Oberkörper, lange Arme und Beine. Sein dunkelbraunes, lockiges Jahr fiel ihm auf seine schmalen Schultern. Seren fröstelte, als sie daran dachte, wie er sie vorhin angeschaut hatte. Seine raubtierartigen Augen könnten sie mit einem Blick töten, dessen war sie sich sicher.
Das Tempeloberhaupt hatte die Gebete gesprochen, jetzt ging es zum Opferritual über. Diese Tradition fand Seren besonders eklig. Zu Sols Ehren wurde ein Tier geopfert, das dem Brautpaar nahestand, damit es die neue Verbindung segnete und für Fruchtbarkeit sorgte. Braut und Bräutigam mussten das Blut aus einem Kelch trinken und waren danach verbunden und verheiratet.
Seren wäre fast ein Schrei über die Lippen gekommen, als sie sah, welches Tier geopfert werden sollte. Es war ihr Kater, ihr treuer Gefährte Fidilis. Seren sah in Fidilis’ verängstigten Augen, dass er nicht wusste, dass er diese Welt gleich für immer verlassen sollte. Seren hielt sich die Hand vor den Mund und biss hinein. Sie schmeckte den leicht metallischen Geschmack von Blut.
Amon drehte sich zu ihr um. Mit blassem, diamantförmigem Gesicht sah er sie bestimmend an. Dies war ebenfalls ein Test für sie, für ihren Glauben, denn er wusste ganz genau, dass Fidilis ihr Kater war und nicht Gwens. Wusste Amon, dass sie in den Nächten grübelte, ob im Tempel alles nach ihrem Geschmack verlief? Wusste er, dass sie an ihrem Glauben zweifelte, wenn der Mond am Nachthimmel stand?
Sie biss noch fester zu, damit sie wieder klar denken konnte. Ihr Glaube verlangte ein Opfer. Sie musste stark sein.
Amon nickte ihr kurz zu und richtete seine Aufmerksamkeit dann nach vorne.
Seren kam es vor, als wäre sie in Watte gepackt, als das Tempeloberhaupt Fidilis die Kehle durchschnitt und das frische, rote Blut in den Kelch tropfte. Die Stimmen schienen von weit herzukommen, und in ihren Ohren klingelte es. Sie grub ihre Fingernägel tief in ihre Handflächen, um nicht sofort in Ohnmacht zu fallen, während sie verzweifelt versuchte, die Tränen zurückzuhalten.
„Möge dieses Blut euch schützen und fruchtbar machen“, sagte das Tempeloberhaupt. „Heil sei Sol.“
Gwen setzte den Kelch an ihre Lippen und trank.
Yunhos Wut und Trauer hatten sich während der Reise in Gleichgültigkeit gewandelt. Er fand es schwierig, überhaupt noch Gefühle zuzulassen. Die Tage und Wochen waren an ihm vorbeigezogen. Selbst sein Lächeln gegenüber Ace war nur aufgesetzt. Einfach alles, was er nach Lunas Tod gefühlt hatte, war verschluckt von einer Leere, die an ihm zerrte und ihn in den Abgrund riss. Doch er wehrte sich nicht mehr dagegen – seinetwegen sollte sie ihn ertränken.
Es vergingen zehn Tage, bis die Traveler Solaris erreichten. Die Sonne brannte vom Himmel und der Staub von den trockenen Straßen schnürte Yunho die Kehle zu. Das Land war auf heißem Sand erbaut worden. Es gab nur einen Zugang zum Meer, und den hatte das damalige Oberhaupt des Tempels von Solaris für sich beansprucht.
Der Tempel war schon kilometerweit zwischen den Bergen zu sehen, da er weit oberhalb der Stadt thronte. Er war das Herz des Königreiches Scalis. Auch wenn König Mirnas das wohl nicht so auffassen dürfte, denn eigentlich war der Tempel die geheime Machtzentrale des Landes. Von hier wurde mit teuren Gegenständen wie Seide und Gold Handel betrieben. Um den Stadtkern war eine dicke Mauer aus Stein gezogen, welche die Reichen und Mächtigen vor dem Gesindel in den äußeren Bezirken schützen sollte, in denen sich vor allem Arme, Prostituierte und Spieler aufhielten.
„Da vorne müssen wir das Tor passieren!“, sagte Ace und deutete auf eine große Aussparung in der Mauer, die von Soldaten bewacht wurde. „Egal, was sie sagen, lasst euch bitte nicht provozieren. Wir können keinen Streit gebrauchen.“ Diese Ansage war vor allem an Yunho gerichtet.
„Holt eure Urkunden heraus“, erwiderte Yunho. „Sie werden sie genau prüfen.“
Er hatte recht. Die Wachen am Tor prüften jede einzelne Geburtsurkunde sorgfältig, die im Königreich Scalis als Ausweisung dienten. Doch die Traveler waren geübt in Dokumentenfälschung, und so fielen den Wachen die zahlreichen unechten Papiere nicht auf. Im Königreich Dorado war das schon schwieriger, dort wurde den Bewohnern ein Chip unter die Haut implantiert, doch bis jetzt konnten die Traveler den Ort immer vermeiden.
Eine der Wachen warf Ace die Unterlagen hin. Sie fielen auf den staubtrockenen Boden. „Macht, dass ihr stinkendes Pack schnell weiterkommt. Warum müsst ihr in unser Land besuchen? Habt ihr nicht eigene Feste, die ihr feiern könnt?“
„Bei euch macht es aber mehr Spaß“, sagte Ace und hob die Urkunden auf. Er gab den anderen ein Zeichen, die daraufhin die Wagen in Bewegung setzten.
Die Wachen waren auf Krawall aus, doch von ihnen ging keine Gefahr aus, im Gegensatz zu den Leuten im Tempel. Trotzdem schloss Yunho seine Hand um den Dolch in seiner Tasche. Sie waren so eingespielt, dass er wusste, dass Ace es ihm gleichtat. Sie würden sich auch hier ein geheimes Versteck suchen, das etwas außerhalb der Stadt lag, wie sie es immer taten. Denn egal, in welchem Königreich sie sich befanden, Traveler waren nie erwünscht und nur zu gern Ziel einiger Angriffe.
Die Stadt verkörperte eine Oase in der Wüstenlandschaft. Die frische Brise, die vom Meer herüberwehte, machte die langen Strapazen der Reise erträglicher. Immer wieder mussten sie ausweichen, die breiten Straßen waren viel befahren. Es war wohl die Handelsstraße, die vom Hafen zum Marktplatz und aus der Stadt führte.
„Riecht ihr das?“, fragte Jasmin.
„Zimt“, antwortete Ace. „Hier muss es unzählige kostbare Gewürze geben.“
Taemin, der im gleichen Alter wie Yunho und Ace war, kam staunend zwischen den Wagen hervor. „Wer hätte das gedacht“, sagte er und legte den beiden jeweils einen Arm um die Schultern. „Seht euch nur die schönen Frauen an.“
Ace folgte seinem Blick. „Und Männer.“
Taemins Kinnlade klappte nach unten, als eine Bewohnerin von Solaris an ihnen vorbeischlenderte, ihr Gewand in leuchtenden Farben schimmernd, der Schmuck funkelnd in der Sonne. „Sieh dir all die Gewänder und den Schmuck an“, hauchte er.
Ace strich sanft durch Taemins blondes Haar, während sein Blick die Menge durchforschte. „Du schaust nicht genau hin. Die Kleidungsstücke sind zusammengenäht, die Ringe und Ketten sind bloß aus einfachem Kupfer, bemalt, um Reichtum vorzutäuschen.“ Er wies auf zwei Männer in eleganten Seidengewändern hin, verziert mit goldenen und silbernen Fäden. „Such nach denjenigen mit weißen Gewändern, auf denen nicht ein Staubkorn zu finden ist. Sie müssen nicht arbeiten; sie haben Menschen, die das für sie erledigen.“ Teamin verzog die Lippen zu einem Schmollmund.
„Warum immer ich?“
„Weil du ein Gesicht wie ein Engel hast“, mischte sich Yunho in das Gespräch ein. „Dir würden sie nicht zutrauen, dass du ihnen das Geld aus den gut gefüllten Taschen ziehst.“
„Scheiße“, sagte Seren leise, als ihr Schuh sich in ihrem Baumwollgewand verfing.
Die Bücher, die aus ihrer Hand zu rutschen drohten, konnte sie gerade noch abfangen. Seren wusste ganz genau, welche Strafe sie erwartete, falls sie zu spät zum Unterricht käme. Leider hatte die Versorgung ihrer Wunden heute Morgen länger gedauert als beabsichtigt. Warum war es auch so verdammt heiß? Die Salbe wurde durch ihren Schweiß immer wieder weggewischt.