Sexualitäten - Volkmar Sigusch - E-Book

Sexualitäten E-Book

Volkmar Sigusch

0,0

Beschreibung

Sigmund Freuds Sexualtheorie ist inzwischen mehr als 100 Jahre alt. Seitdem hat sich viel verändert. Wir denken und arbeiten heute nicht nur anders, wir begehren und lieben auch anders. Die Sexualität ist nicht mehr die große Metapher des Rausches und der Revolution. Sie wird heute durch Medien und Kommerz weitgehend banalisiert. Vor diesem Hintergrund legt der große Sexualforscher Volkmar Sigusch mit diesem Buch eine eigene Sexualtheorie vor, die erstmals auch die Neosexualitäten unserer Zeit wie Internet-, Portal- und Asexualität umfasst, Neogeschlechter wie Trans-, Inter- und Agender sowie Neoallianzen wie Polyamorie und Objektophilie. Selbstverständlich werden auch die alten Formen wie Hetero-, Homo- und Bisexualität, Sadomasochismus und Pädophilie erörtert. Der Kern der Sigusch-Theorie lautet: Keine Sexualität eines Menschen ist mit der eines anderen identisch. Weil das Sexuelle sich der Systematisierung entzieht, kann darüber theoretisch nur in Fragmenten gesprochen werden. Und weil sich eine Sexualtheorie nur durch Praxis erhellt, geht Sigusch auf die gelebte Sexualität der Kinder, der Jugendlichen, der Paare, der Alten und vieler anderer ein - kritisch und konkret.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 1117

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Volkmar Sigusch

Sexualitäten

Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Sigmund Freuds Sexualtheorie ist mehr als 100 Jahre alt. Seitdem hat sich viel verändert. Wir denken und arbeiten heute nicht nur anders, wir begehren und lieben auch anders. Sexualität wird durch Medien und Kommerz weitgehend banalisiert. Volkmar Sigusch legt in diesem Buch eine eigene Sexualtheorie vor, die erstmals auch die Neosexualitäten unserer Zeit wie Internet-, Portal- und Asexualität umfasst, Neogeschlechter wie Trans-, Inter- und Agender sowie Neoallianzen wie Polyamorie und Objektophilie. Selbstverständlich werden auch die alten Formen wie Hetero-, Homo- und Bisexualität beleuchtet, aber auch die Schattenseiten des Sexuellen wie Pornografie, Missbrauch und Gewalt. Der Kern der Sigusch-Theorie lautet: Keine Sexualität eines Menschen ist mit der eines anderen identisch. Weil das Sexuelle sich der Systematisierung entzieht, kann darüber theoretisch nur in Fragmenten gesprochen werden. Und weil sich eine Sexualtheorie nur durch Praxis erhellt, geht Sigusch auf die gelebte Sexualität der Kinder, der Jugendlichen, der Paare, der Alten und vieler anderer ein – kritisch und konkret.

Über den Autor

Volkmar Sigusch war von 1973 bis 2006 Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft im Klinikum der Universität Frankfurt am Main und Professor für Spezielle Soziologie. Er gilt als Pionier der deutschen Sexualmedizin und Begründer der Kritischen Sexualwissenschaft. Außerdem ist er ein erfahrener Empiriker sowie Sexual- und Paartherapeut.

Inhalt

Vorwort

Kritische Sexualtheorie: Prämissen und Aporien

#1 Notwendigkeit der Begriffe, Terror der Theorie

#2 Sexualität als gesellschaftlicher Begriff

#3 Was ist natürlich am Sexuellen?

#4 Das Sexualobjektiv

#5 Die Sexualform

#6 Die Geschlechtsform

#7 Metaphysik des Geschlechts

#8 Der »heilige Eros«

#9 Sexus potior, Sexus sequior

#10 Die Liebesform

#11 Die Sexualpersonalität und die Differentia sexualis specifica

#12 Begriff der Gesellschaft und Sexualtheorie

#13 Einzelnes Allgemeines und Gesellschaft, Innen und Außen

#14 Notwendigkeit und Kritik der Kritik

#15 Wissen als gesellschaftlicher Fetisch

#16 Transgressionen oder Metamorphosen von Leben und Tod

#17 Theorem der Hylomatie

#18 Paradoxaler Status der Scientia sexualis

#19 Feminismus und Sexualwissenschaft

#20 Kritik des patriarchalen Sexismus

#21 Differentia generum, Differentia generis specifica

#22 Aporie des Mann-Frau-Verhältnisses

#23 Logik der Differentia generum

#24 Prämissen Kritischer Sexualwissenschaft

#25 Notwendigkeit der Empirie

#26 Ein epistemologisches Missverständnis: Furor naturalis

#27 Eine vergebliche Suche: Furor causalis

#28 Getrennte Einheit Körper/Seele

#29 Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Sexualwissenschaft

#30 Grundannahmen einer Theorie der Psychosexualität

#31 Drang, Begierde oder Trieb?

#32 Salz der Sexualwissenschaft

#33 Der irreduzible Sexualrest als Substanz des Sexuellen

#34 Das Krankheits- und das Operationsobjektiv

#35 Sexualwissenschaft als gesellschaftliche Einrichtung

#36 Was also ist das Sexuelle?

Mundus sexualis: Paläo- und Neosexualitäten

#37 Inthronisation des Königs Sex

#38 Neosexuelle Revolution

#39 Dissoziation von Reproduktion und Sexualität

#40 Dissoziation von Geschlecht und Sexualität

#41 Transsexuelle und ihr Wunsch

#42 Zissexuelle und ihre Abwehr

#43 »Neogeschlecht« und die Ansichten Betroffener

#44 Geschlechterdistinktion, Gender Blending und Liquid Gender

#45 Nosomorpher Blick

#46 Thesen als Prothesen

#47 Intergeschlechtliche und ihr Aufbruch

#48 Dissoziation von körperlicher Reaktion und Erleben

#49 Ambra, Zibet, Viagra und der Wille zur Selbsterregung

#50 Der Phallus, der Penis und die symbolische Ordnung

#51 Dissoziation der aggressiven von der zärtlichen Sphäre

#52 Infantile Erotik und das reine Kind als Gegenbild

#53 Die infantile Sexualität und die Medizin

#54 Die infantile Not

#55 Differente Übergriffe, Traumatisierungen und Täter

#56 Pädophilie und Pädosexualität

#57 Dissoziation von personaler Beziehung und sexuellem Erleben

#58 Objektophilie und die Ansichten Betroffener

#59 Dispersion der Sexualfragmente

#60 Shopsex

#61 Politische Pornografen und die Heuchelei der Pornophilen und Pornoklasten

#62 Anachronistischer Dienst am sexuellen Elend und die Kopulation der Klischees

#63 Ein Besuch im Sexkino

#64 E-Sex als emergente Neosexualität

#65 Neoallianzen oder Diversifikation der Lebens- und Beziehungsformen

#66 Schwule in Bewegung oder Differenzierung der Homosexualität

#67 Lesben in Bewegung

#68 Bisexuelle

#69 BDSM/Sadomasochismus

#70 Perverse und normale Sexualität

#71 »Perversion« der Perversion

#72 Von den Perversionen über die Paraphilien zur Sexualsucht

#73 Neozoophilie als Neoallianz

#74 Portalsex und Polyamorie als Neoallianzen

#75 Keine allgemeine Moral

#76 Individuell-intime Konsensmoral

#77 Prostitution, Sexarbeit

#78 AIDS als Krankheit und Blendwerk

#79 Wandel als Große Erzählung

#80 Diskursive vs. nichtdiskursive Sexualität: Diskursfiguren

#81 Erhellende und verdunkelnde Fakten

#82 Wohllust der Jugend

#83 Paarsexualität

#84 Silver Sex

#85 Gesundheitsgewinn gelebter Sexualität

#86 Kritik der sexualmedizinischen Fachsprache

#87 Kritik der psychoanalytischen Orgasmuslehre

#88 Vom Kommen und Gehen sexueller Störungen

#89 Freuds Abschied von der Sexualität

#90 Asexualität und die Ansichten Betroffener

#91 Paradoxale Verhältnisse

#92 Selfsex und Lean Sexuality als neue Paradigmen

#93 Vielsagende Nachrichten aus der neosexuellen Revolution

#94 Neosexuelle Involution

#95 Neosexualitäten vs. Paläosexualität

#96 Sexogenerischer Kern

#97 Auf der Suche nach einer Ars erotica

#98 Kostbarer Fetisch Liebe

#99 Geht das sexuelle Zeitalter zu Ende?

Literatur

Sachregister

Vorwort

Ein Stein ist mir vom Herzen gefallen. Vor Jahren forderte mich eine Rezensentin des Buches »Anti-Moralia« auf, die verstreuten Bemerkungen zu einer neuen Kritischen Sexualtheorie zusammenzuführen. Diese Aufforderung hat mich in den letzten Jahren begleitet. Mit dem Erscheinen der vorliegenden 99 Fragmente lege ich das vor, was mir möglich ist.

Die Sexualwissenschaft hat in 150 Jahren so viele Daten aufgehäuft, Schicksale dargestellt, Debatten geführt, Thesen formuliert, Sumpfblüten produziert und Termini in die Welt gesetzt, dass es mir notwendig zu sein scheint, den ungeheuren Faktenberg, den ungeheuren Meinungswust, den niedergelegten Erfahrungsschatz, aber auch die Affirmationen, Ausblendungen, Irrtümer und Privatheiten, die ich in meiner »Geschichte der Sexualwissenschaft« (2008) beschrieben habe, mit dem Versuch einer begrifflichen Bestimmung, ja mit dem Grundriss einer allgemeinen Sexualtheorie zu konfrontieren – in der Hoffnung, Getrenntes zusammenzuführen, Beliebigkeiten zu überwinden, Ideologisches zu enttarnen, ohne zu sagen: wie nun alles einzig zu sehen sei.

Die Haltbarkeit aller Sexualtheorien ist zeitlich begrenzt, weil die menschliche Sexualität nichts ist, was seit Jahrtausenden unverändert wäre wie der Salzgehalt des Blutes. Im 20. Jahrhundert haben sich drei sogenannte sexuelle Revolutionen ereignet, die letzte, von mir neosexuelle Revolution genannt, begann vor drei Jahrzehnten. Die Umcodierung und Umwertung der alten Geschlechts-, Liebes- und Sexualformen ist dadurch in den Ländern des Westens so einschneidend gewesen, dass wir theoretisch und praktisch umdenken müssen. Allein die technologische, kulturelle und personale Trennung der Fortpflanzungssphäre von der Sexualsphäre hat die alten Theorien entwertet. Noch aber zehren wir vor allem von Sigmund Freuds »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, die vor mehr als einhundert Jahren erschienen sind. Dabei denken, fühlen, arbeiten, lieben, leben und sterben wir heute anders.

Als Michel Foucault vor Jahrzehnten zurückblickte, sah er vier strategische Komplexe seiner unsere Sexualität erfindenden Wissens- und Macht-Dispositive. Diese vier historischen Einschnitte waren: die Hysterisierung des weiblichen Körpers, die Pädagogisierung der kindlichen Sexualität, die Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens und die Psychiatrisierung der perversen Lust. Heute gelten diese Beobachtungen nicht mehr. Heute beschreiben wir stattdessen vor allem die Resexualisierung der weiblichen Sexualität, die Tabuisierung und den Missbrauch der kindlichen Sexualität, die Ungleichbehandlung der Geschlechter, das Auseinanderfallen von Sexualität und Fortpflanzung, das Abdanken von Heterosexualität und Ehe als einzige Lebens- und Liebesmodelle sowie die Kulturalisierung und partielle Anerkennung vordem als pervers klinifizierter Sexualitäten. Vor wenigen Jahrzehnten hätten die Bewohner Mitteleuropas nicht für möglich gehalten, was wir heute erleben: In »wilder Ehe« Lebende oder offen homosexuell Begehrende können höchste Staatsämter einnehmen, gehen eine staatlich anerkannte Lebenspartnerschaft ein. Transsexuelle können ihr Geschlecht wechseln, mit oder ohne Operation. Bisexuelle können gleichzeitig mit einem Mann und einer Frau intim verbunden sein. Sadomasochisten können im Fernsehen demonstrieren, wie manfrau sich ohne böse Folgen verletzt. Im Internet können Singles in zahllosen Portalen einen Partner suchen, der ihren Vorstellungen entspricht. Dort werden ohnehin alle undenkbaren sexuellen Vorlieben weltumspannend präsentiert. So können natürlich auch Pädophile unbehindert von Aufsichtsbehörden im Internet hunderttausende Fotografien nackter Kinder zur sexuellen Stimulation benutzen. Selbst ein Kannibale findet ein menschliches Objekt. Gleichzeitig werden die sexuellen und reproduktiven Selbstbestimmungsrechte der Frauen abgebaut und Sexualstraftäter rücksichtsloser bestraft. Ein Beispiel für die insgesamt paradoxalen Verhältnisse.

Merkwürdiger- und bedauerlicherweise hat sich, von ganz ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, die akademische Soziologie trotz der enormen Transformationen bisher nicht in der Lage gesehen, Sexualität, Kultur und Gesellschaft kritisch zusammen zu denken (Sigusch 2010b). Und auch die Psychoanalyse und die aus wenigen Personen bestehende akademische Sexualwissenschaft kamen über verstreute Ansätze nicht hinaus. Die verbleibenden Wissenschaften schweigen ohnehin oder tischen uralte biologistische Ladenhüter auf. So blieb es oft bei Theoremen, die vor mehr als einhundert Jahren aufgestellt worden sind, als hätten sich seither Gesellschaft, Kultur und Leben bei uns nicht drastisch verändert. Dabei gab Sigmund Freud schon vor der vorletzten Jahrhundertwende als Theoretiker zu bedenken, dass man immer ein Kind seiner Zeit bleibe.

Kritische Sexualwissenschaft, die immer wieder von den Universitäten vertrieben wird, ist weiterhin notwendig, weil unsere vor einigen Jahrhunderten als allgemeine kulturelle Form entstandene Paläosexualität noch nicht ganz in Vollzug, Marktförmigkeit, Apathie und Aggression untergegangen ist. Nach der zweiten sexuellen Revolution hatte die Medizin der Sexualwissenschaft einen kleinen Finger gereicht, den sie jetzt wieder wegzieht, weil vor allem Neurowissenschaften die Verwertbarkeit von Forschungsergebnissen versprechen. Da die Medizin immer mehr zur Hure der Ökonomie wird, haben kritische Sexualwissenschaft und kritische Sexualmedizin jenseits der Pharmaindustrie keine Chance mehr. Sich um missbrauchte Kinder, vergewaltigte Frauen, sexsüchtige Männer, einen Geschlechtswechsel ersehnende Transsexuelle, tote Gegenstände Liebende, im Iran verfolgte Homosexuelle usw. kümmern, ist unergiebig, wirft keinen Gewinn ab. Und auch medial ist kritische Sexualwissenschaft ein Trockengebiet. Die Feuchtgebiete überlässt sie anderen.

Doch das sexuelle Elend dauert an, die Einsamkeit, die Selbstbezüglichkeit, die Unvereinbarkeit, die Mystifikation, drapiert durch Neosexualitäten, Neogeschlechter und Neoallianzen, die noch um ihre kulturelle Anerkennung kämpfen. Ein Blick auf die Leistungen der Kritischen Sexualwissenschaft in den letzten Jahrzehnten zeigt, warum eine solche Wissenschaft theoretisch und praktisch benötigt wird. Die Kluft zwischen der diskursiven und veröffentlichten Sexualität einerseits und dem realen und unveröffentlichten Sexualleben der allermeisten Bürgerinnen und Bürger andererseits ist gewaltig.

Wichtig ist mir außerdem zu sagen, dass ich als ein weißer Mann aus Mitteleuropa spreche, der bewusst zwei politische Systeme erlebt hat, das ost- und das westdeutsche. Es spricht also nicht ein Mann aus China oder eine schwarze Frau aus Afrika. Ich sage das, weil ich davon überzeugt bin, dass »unsere« Sexualität als kulturell-gesellschaftliche Form nur in Europa und in Nordamerika existiert.

Wichtig ist mir auch zu sagen, dass angesichts der heutigen Komplexität der Forschungsverhältnisse und des Forschungsgegenstandes der eigene Horizont benannt und bedacht werden sollte. Denn selbstverständlich blickt ein Mediziner anders auf einen Gegenstand oder eine Szene oder überhaupt in die Welt als ein Philosoph. Mein Horizont umfasst das Studium der Medizin sowie begrenzt der Psychologie und Philosophie, Praxis in mehreren medizinischen Fächern, darunter insbesondere Psychiatrie, Psychotherapie, Gynäkologie und Sexualmedizin, Forschung zunächst vor allem sozialpsychologisch in empirischer und experimenteller Richtung, später klinisch-therapeutisch, kulturtheoretisch und sexualhistorisch sowie Lehre als Professor für Sexualwissenschaft im Fachbereich Medizin und für Spezielle Soziologie im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften.

Mein Bemühen kreist um Sexualität als kultureller und gesellschaftlicher Begriff, nicht als physiologischer oder psychologischer. Denn selbst die Liebe ist in erster Hinsicht ein kulturell-gesellschaftliches Ereignis und nicht ein psychologisch-biologisches. Um das zu erkennen, genügt ein schweifender Blick über die europäischen Jahrtausende seit der Antike. Grob gesagt, geht kultur- und gesellschaftswissenschaftliche Sexualtheorie aufs Allgemeine, psychologische aufs Besondere. Deshalb kann der soziologische Theoretiker übers Ganze sprechen, der psychologische aber eigentlich nur über einen Menschen, weil kein individuell-personales Sexual-, Liebes- und Geschlechtsleben mit einem anderen identisch ist. Wie sich die in diesem Buch erörterten sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen seelisch im einzelnen Individuum niederschlagen, muss eine entsprechend reflektierte Höhen- und Tiefenpsychologie im Einzelnen untersuchen.

Mir geht es nicht vorrangig um das Personale wie Affektregulation, Frustrationstoleranz, Selbstschutzverhalten, Symbolisationsfähigkeit, Selbstgefühl, Objektkonstanz, Schamvermögen usw. Eine Sexualpsychologie werde ich nicht bieten, einmal aus Nichtkönnen, andermal aus Nichtwollen. Denn, so sagte es Theodor W. Adorno, »der umstandslose Ansatz beim Individuum ist Ideologie« (Adorno und Krakauer 2008: 289). Ich werde also überwiegend als Nichtpsychologe sprechen, der es den psychologischen Wissenschaften überlässt, seelentheoretische Schlüsse zu ziehen. Bemüht habe ich mich aber, nicht in einen soziologischen Jargon zu verfallen, nach dem Liebe die »Inklusion der Vollperson« ist und Sexualität »der symbiotische Basismechanismus der Intimkommunikation«.

Diese Position schließt ein, dass auf der Subjekthaftigkeit des Sexuellen bestanden wird, weil das Objektivale und Objektive vorgängig ist. Wird alle Lust verordnet, muss das Anarchische und Widerständige des Sexuellen betont werden, als verzweifelte Suche nach Gegenbildern und Gegenrealitäten im Zustand der generellen Versachlichung. Das Subjekt ist aus weiten Bereichen der Philosophie verschwunden, das Individuum ist objektiv belanglos, doch die Sexualwissenschaft muss an allem festhalten, Subjekt, Individuum, Wunsch und Befriedigung, will sie nicht ins Leere fallen und es jener Sexologie gleichtun, deren geistige Beweglichkeit schon lange der der Warenhauskataloge entspricht. Denn trotz aller Vergesellschaftung ist Sexualität nur individuell wirklich.

Indem nach den geschichtlich-theoretischen Prämissen und Aporien einer Kritischen Sexualtheorie gefragt wird, indem das rätselhaft Sexuelle von den allgemeinen Sexualformen und dem kommerzialisierten Sex unterschieden und der wissenschaftliche Status ebenso wie die Praxis der Sexologie problematisiert wird, geht eine Kritische Sexualtheorie durch die Freud’sche Psychoanalyse, aber auch durch die Kritik der Politischen Ökonomie und die Kritische Theorie hindurch – und vor allem zu affirmativer oder bloß fortschrittlicher Sexologie auf Distanz. Der Kritik unterliegt die Sexualität als ideologische, wissenschaftliche und gesellschaftliche Form. Als gesellschaftliche Form unterliegt sie der Kritik, weil Lust und Macht, Begierde und Gewalt, Liebe und Tausch, sexueller Vollzug und allgemeine Verstofflichung ineinanderliegen, wenn Individuum und Gesellschaft nicht nur im Kopf der Theoretiker zusammengebrannt sind, sondern tatsächlich; als Begriff, weil das wissenschaftlich disziplinierte Sexuelle zum undisziplinierten im Widerspruch steht, die Unwahrheit jeder Sexualwissenschaft verratend; als Ideologie, weil das gesunde und glückliche Sexualleben nun einmal die Ideologie seiner Verhinderung ist.

Müsste ich meine Thesen auf ihren gemeinsamen Kern reduzieren, würde ich am ehesten sagen: Alle Sphären des Sexuellen, von der großen Liebe bis zum perversen Triebdurchbruch, bilden eine Einheit: die des ungelösten Widerspruchs. Weil der Widerspruch aus allgemeinem Grund ungelöst ist, ist keine in sich harmonische Möglichkeit des Sexuellen zu erkennen. Zwischen dem sexuellen Wunsch und seiner Befriedigung gähnt ein Abgrund, der nur überbrückt werden kann durch objektiv bestimmte Formen, also durch Sexualität, also durch Diszipliniertes und Erstarrtes. Noch aber gibt es die Geheimnisse der sexualpersonalen Erregung und die unkalkulierbare Befriedung durch die intersubjektive Liebe.

Damit sei angedeutet, dass ich die Dinge keineswegs nur pessimistisch sehe. Ich bin davon überzeugt, dass es gut und richtig ist, in der Theorie äußerst kritisch und das heißt leider oft pessimistisch zu sein, in der Praxis aber so optimistisch wie nur irgend denkbar. Anders könnten wir ja als Sexualmediziner und Psychotherapeuten Patienten gar nicht beraten und behandeln. Auch die neosexuelle Revolution sehe ich bei Weitem nicht so negativ wie einige angedeutet haben. Sie hat einige Liberalisierungen gebracht, die Menschen das Leben erleichtern. Verglichen mit früheren Zeiten sind heute unsere Geschlechtsbeziehungen außerdem gleichberechtigter und unsere Intimbeziehungen ehrlicher.

Von unseren großen Philosophen haben wir gelernt: Meinungen und Betrachtungen sind ohne Begriffe blind, Begriffe aber sind ohne Meinungen und Betrachtungen leer. Aus diesem Grund werden in diesem Buch nicht nur Begriffe eingeführt, sondern auch durch praktische Beispiele aus der gegenwärtigen Sexualkultur mit Leben gefüllt. Insgesamt bleibt zu kritisieren, was ist, so wie es ist, ohne den Anschein zu erwecken, wir wüssten, wie ein »richtiges« Sexualleben beschaffen wäre. Eine Kritische Sexualtheorie verträgt sich nicht mit absoluten und letzten Gewissheiten. Die vorliegenden Theoreme und sonstigen Fragmente sind für mich ein »Werkzeugkasten« im Sinne von Michel Foucault. Möge er hier und da hilfreich sein.

Mein Dank gilt nach Jahrzehnten der Zusammenarbeit im Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft vor allem Martin Dannecker, Agnes Katzenbach, Bärbel Kischlat und Reimut Reiche. Dem Campus Verlag, insbesondere seiner Wissenschafts-Chefin Judith Wilke-Primavesi, danke ich erneut für die vertrauensvolle und anregende Zusammenarbeit.

Frankfurt am Main, im Juni 2013

Volkmar Sigusch

Teil I

Kritische Sexualtheorie: Prämissen und Aporien

Alle, die denken, sind an allgemeine Strukturen gebunden, die sie nicht aus der Welt schaffen können. Auch die, die gegen den Strom schwimmen, schwimmen im Strom. Dieser Strom besteht aus allgemeinen Objektiven, Paradigmen, Imperativen und Diskursen sowie den bewussten und unbewussten Weichenstellungen im persönlichen Leben. So stehen alle, die denken, eines Tages zum Beispiel vor der Frage, ob ihre Theorie das, was Realität zu sein scheint, eher zustimmend oder eher ablehnend interpretiert. Denn irgendwann müssen die Karten, auf denen die mehr oder weniger bewussten theoretisch-politischen und persönlichen Vorentscheidungen stehen, auf den Tisch des Hauses gelegt werden.

Mit einiger Willkür können alle Theoriegebäude zwei großen Denkströmen zugeordnet werden: dem optimistischen und dem pessimistischen. Während der Optimismus von Hegel, dem alles nicht positiv Geschichtliche nichts als Müll war, bis zu Elias und Habermas reicht, die an das Gute, Friedfertige und Vernünftige im Menschen trotz allem appellieren, gehören zum denkerischen Pessimismus der anthropofugale d’Holbach oder Schopenhauer, der Verächter des Willens zum Leben (der natürlich trotzdem nach dem Ausbruch der Cholera in Berlin nach Frankfurt am Main flüchtet, um sein Leben zu retten), oder Luhmann, in dessen Gesellschaftstheorie der Mensch keinen systematischen Ort hat.

In jedem Denkleben fällt die Entscheidung, in welchem oder gegen welchen der beiden Ströme geschwommen wird, mehr oder weniger deutlich und auf Dauer. Meine Entscheidung in dieser Frage, natürlich widersprüchlich, lautet: in der Theorie radikal pessimistisch sein, um nicht in Amen und Affirmation zu erstarren, in der klinischen und politischen Praxis aber radikal optimistisch sein, um selbst das Unmögliche nicht zu versäumen, Hilflose nicht wie bereits tote Dinge zu behandeln und das Neue nicht gering zu schätzen. Das mag eine verzweifelte Spekulation des Sexualforschers auf die List des Homo sexualis, auf die Differentia generosexualis specifica, auf die »kleinen sexuellen Dramen« sein, von denen Martin Dannecker (1987a: 27) gesprochen hat. Ich sehe aber keinen anderen Weg, solange wir davon überzeugt sind, dass das Geschlechts- und Sexualleben nur individuell wirklich wirklich ist (#11) – trotz des mittlerweile erreichten Vergesellschaftungsgrades und der Einsicht, dass das Leben nicht lebt und das Sexuelle nicht sexuell ist.

Nach meiner Erfahrung schließt theoretischer Pessimismus praktischen Optimismus nicht nur nicht aus; er macht ihn oft erst möglich. Praxis aber ohne Reflexion endet oft dort, wo sie nicht hin will: Anpassung, Ignoranz, Verstümmelung, Folter, Blutbad. Und Theorie ohne Rücksicht auf die Lehren der Praxis endet oft dort, wo sie ihr Gegenbild annimmt: Unvernunft oder blinde Hybris. Auch deshalb gehören Theorie und Praxis zusammen.

#1Notwendigkeit der Begriffe, Terror der Theorie

Weil jede Wissenschaft, auch Metapsychologie und Metasexuologie, tendenziell apersonale Rationalität anstrebt, kommt es darauf an, das Moment des Personalen an den Begriffen und Kategorien zu entfalten: Ein Begriff poppt nicht, und verzweifelt ist kein allgemeines, sondern das individuelle Bewusstsein. Ohne Begriffe aber bliebe es stumm und belanglos, nur deren Kontinuität bewahrt die Kontinuität des Unglücks, wie immanent sie auch, denk- wie notgedrungenermaßen, gefasst seien. Not, die individuell ist, verweist darauf, dass die Individuation der Erkenntnis notwendig ist. Kritik der Sexual- und Geschlechterverhältnisse kommt aus dem Bedürfnis, das Unglück zum Sprechen zu bringen. Das geht aber nicht ohne Begriffe. Nur sie können das sogenannte Schicksal, das ganz persönlich ist, zugleich und zuletzt als Objektivität begreifen, die sich im Individuum niederschlägt.

Ohne eine Kontinuität und Stringenz der begrifflichen Anstrengung wäre alle Praxis, wäre alle Kritik geschichtslos und die Lebensnot der Menschen nichts als die Wiederkehr des Immergleichen. Weil die Differenz des Besonderen vom Allgemeinen von diesem objektiv determiniert sei, prozessierten die altkritischen Begriffe Identität und Widerspruch ineinander, theoretisch und real. Gesetzmäßig näherte sich das alte dialektische Prinzip des Widerspruchs der Unzahl des Verschiedenen. Indem es konsequent das aufsuchte, was nichtidentisch schien und sich Terminologie wie Begrifflichkeit entzog, unterstellte es sich dem höheren Prinzip des identifizierenden Denkens. Denn jedes Denken ist seiner Form nach Feststellen, Festhalten, in der vergesellschafteten Gesellschaft gesellschaftlich diktierte Form der fetischisierten Ver- und Entstofflichung, deren notwendig falsche Parolen Einheit, Identität, System einerseits, Dissoziation, Verschiedenenvielheit, Widerspruch andererseits sind. Denkende Sexualwissenschaft kommt aus diesem Dilemma nicht heraus, sie kann es aber reflektieren. Die überlieferten Begriffe, die uns heute noch beschäftigen, wurden vor allem in der Auseinandersetzung mit der Natur gebildet, in dem Bemühen, die Natur zu beherrschen. Als Momente der Auseinandersetzung sind sie angestrengt und hart, als Momente der Beherrschung herrisch, als Momente der Realität unbegrifflich. Die Reflexion dessen zerstört ihren Schein des Ansichseins. Kritische Sexualwissenschaft, die am Begriff der Liebe festhält, beschwört kein Ansich, sondern das Verflochtensein ins Ganze. Sie erinnert: Der Begriff der Verdinglichung bewahrte seit Hegel das Wunschbild der ungebrochenen Unmittelbarkeit des Subjekts in sich auf. Der Begriff des Triebes widersprach seit Freud der Vernünftigkeit der Realität, denunzierte sie als herrschendes Prinzip, suchte, um es in Hegels und Adornos Sprache zu sagen, in sich das Wunschbild der Verflüssigung des Festen, des Dinghaften ohne Rest zu bewahren.

Weil das Ganze paradoxal und antagonistisch ist, sind die Begriffe in sich selbst gebrochen, nicht rund; weil das Ganze nichtbegrifflich ist, entziehen sie sich konstitutiv dem Begrifflichen, das sie doch sein wollen. Je hermetischer sich Sexuelles und Liebe als Begriffe gegenüber ihrem Moment des Nichtbegrifflichen abschließen, je absoluter sie auftrumpfen, desto deutlicher geben sie zu erkennen, dass auch ihre Genese die der Gesellschaft ist. Dem Inhalt nach sind die Begriffe des Sexualtriebes und der Liebe denen des Instinkts, des Realitätsprinzips und des Tauschs, des verdinglichten Bewusstseins und der Verstofflichung konfrontiert; nicht denen des Seins oder der Macht oder der Kommunikation. Die Konfrontation macht sie aber noch lange nicht von dem frei, dem sie sich konfrontieren. Noch als Gegenbilder, als Signaturen der Sehnsucht sind sie von all dem geprägt, dem sie widersprechen.

Diese Paradoxie ist zu begreifen. Sie gründet in der, die die nach Wahrheit suchende Philosophie, ob idealistisch oder materialistisch genannt, in der Denkbewegung von Kant über Hegel und Marx bis Adorno letztlich verbindet: dass trotz aller Entfremdung, Verdinglichung, Reifikation und Verstofflichung Gesellschaft ebenso ein Inbegriff von Personen sei wie deren Negation, wie Personen ein Inbegriff von Gesellschaft seien wie deren Negation. Die Gesellschaftsformationen sind nicht vom Himmel gefallen, nichts Natur- oder Gottentsprungenes, sondern durch menschliche Tätigkeit, Arbeit und Denken (und beides auch nicht) produziert. Heute tendiert die Vergesellschaftung der Einzelnen zum Totalen; heute tendieren Arbeiten und Denken der Individuen zur Bedeutungslosigkeit, die Maschinerie des Bestehenden rollt über sie hinweg. Auch deshalb sind das Sexuelle und die Liebe ein kostbares Gut.

So notwendig entfaltete Begriffe sind, so sehr tendiert jedes geschlossene theoretische Corpus zum Terror. Je entfalteter ein anthropologisch gemeintes ist, desto unentrinnbarer: auf dass die letzte Ritze, durch die das wirr zerstreute Personale blinzelt, wissenschaftlich zugekleistert werde. Schlüge das Individuum nicht so viele unvorhersehbare Haken, überlebte es nicht so viele Drahtseilakte, wären die Systeme der Wissenschaften vom Menschen nicht so lückenhaft und unwahr, hätten die scheinbar perfekten und kompletten Theorien à la bio-neuro-sozio-psycho-somatisch das Personale schon endgültig erledigt.

Jede Theorie ist Machtausübung, wendet Formeln auf Formelloses an, die diesem äußerlich bleiben wie die Naturgesetze der Natur. Jede Sexualtheorie transferiert Sinnliches in Übersinnliches. Kontrollierbar wird das Sexuelle dadurch, dass es auf die spezifisch abendländische Epistemegezogen wird. Die Gesetze des menschlichen Geistes sollen die Welt der Sinne und des Sinnlichen metaphysisch zur Äußerungsform, rationalistisch zum Anwendungsbereich der Welt der Zahlen, Normierungen, Axiome, Gesetze und Begriffe machen. Viele Sexuologen gehen dabei physikalischer als die Physik vor, indem sie jede Unschärferelation bekämpfen, obgleich keine ihrer Gleichungen – dieser Sexualhormonspiegel, jene Appetenz – jemals aufging. Zum Gegenstand von Forschung und Theorie, von Fibeln und Gesetzesbüchern gemacht, ist der Chaos-Charakter des Sexuellen gebannt, ist das Sexuelle eingespeist in Systeme, die über es verfügen, mal so, mal anders, es aber immer beherrschen, sich seiner bemächtigen. Keine Sexualtheorie kann sich dieser Bemächtigung entziehen, mag sie auch noch so unabhängig und ungewöhnlich erscheinen. Jede Theorie ist Ordnung versus Entropie.

Dieser metaphysischen Falle des Beherrschens und des geschlossenen Systems wollten die französischen Neostrukturalisten entkommen, zu denen auch Foucault »vorsichtig« gezählt werden kann (Frank 1984: 136). Aber sie hätten es nur gekonnt, wenn sie aufgehört hätten zu denken, weil schon das Denken identifiziert, wenn sie aufgehört hätten, Kategorien zu benutzen und zu entfalten, theoretisch Unordnung zu schaffen als eine andere Ordnung. Keine Theorie kommt ohne die Annahme einer wenn auch noch so brüchigen und begrifflich schwächlichen Einheit aus, die die Einzelheiten, das Verstreute, Disseminierte als etwas von einem Etwas begreift. Theoretisch arbeiten heißt, über das Auflisten oder Herunterplappern von Einzelheiten hinausgehen. Theoretisch sind also auch jene Schriften, die die herrschende Rationalität als Willen zur Macht mit seinen Ableitungen Wille zum Wissen und Wille zur Ordnung kritisieren. Jede Theorie unterliegt dem herrschenden Rationalismus, auch die, die auf das Gegenteil setzen will; indem sie es tut, unterliegt sie jenem Willen zum Wissen und zur Ordnung, auch wenn sie beide überwinden will.

Selbst die »offenen Systeme« ohne »innere Einheit«, ohne ein »absolutes Zentrum«, also das, was Lyotard (1979) »la condition postmoderne« genannt hat, sind ohne Einheit nicht zu denken. Gibt es keine nichtrelative Instanz, kein nichtrelatives Prinzip, von dem aus das Ganze gedacht werden könnte, besteht die Einheit in der Unhintergehbarkeit der Relationen, in der Unmöglichkeit, einen Ort der Interpretation einzunehmen, der jenseits der wirklichen Welt läge, der übersinnlich, metaphysisch wäre. Bei Marx bezeichnet die Kategorie des Fetischcharakters, bei Heidegger die des Verweisungszusammenhanges, bei Adorno die des Immanenzzusammenhanges und bei Derrida, dem geistigen Kopf der Neostrukturalisten, immerhin die der Strukturalität der Struktur diese »Einheit«. Während Strukturalisten wie Lévi-Strauss und Soziologen wie Luhmann in ihren Systemtheorien keinen Ort und keine Kategorie bereithalten, die dem, was ist, wie es ist, widersprächen, weil alles in Signifié/Funktion aufgeht, beschworen Marx das Proletariat, Herbert Marcuse die Versöhnung von Sinnlichkeit und Vernunft, von Trieb und Moral oder Pierce, Apel und Habermas mit ihrer pragmatizistischen Konsensustheorie den herrschaftsfreien universalen Diskurs.

Ein Resumée: Theorien, die die Welt aus Einem erklären oder mit Einem analysieren wollen, ob nun objektiver Geist, Warenfetischismus, Wille zum Wissen oder unbewusste Psychodynamik, sind äußerst suspekt. Alle Theorien sind von den Objektiven der jeweiligen Gesellschaft und Zeit und von den Amaurosen der Denkerin oder des Denkers gezeichnet, nicht wenige durch und durch. Nur Theorien, die diesen vorentschiedenen Anteil an ihrem Denkgebäude nicht alles andere überwuchern lassen, haben die Chance, über den Tag hinaus bedacht zu werden. Alle Theorien, ob nun Kritik der Politischen Ökonomie, Kritischer Rationalismus, Neuere Systemtheorie, Radikaler Feminismus oder Essenzialismus und Konstruktivismus, blenden Wesentliches aus und verschweigen selbstproduzierte Paradoxien – wie bereits ein unangestrengtes Nachdenken erweist. Indem zum Beispiel der Konstruktivismus nachweist, dass Geschlecht und Sexualität gemacht sind, beseitigt er sie, weil sie nachweislich weggemacht werden können. Indem der radikale Essenzialismus behauptet, das Mann-Frau-Verhältnis und die mannweibliche Liebe seien schon immer so gewesen wie heute, widerspricht er nicht nur dem radikalen Konstruktivismus, nach dem alles bis in die letzte Krypte hinein gesellschaftlich konstruiert ist; er bestreitet auch die Spezifität der individuellen Liebe und die Möglichkeit, sich als Person dem »Essenzialen« entgegenzustellen. Totalisierende Theorien (»alles Schein«, etc.) sind ein geistiger Reflex auf totale Verhältnisse, also der Stillstand, den sie kritisieren. Partialisierende Theorien (»alles geht«, etc.) sind ein geistiger Reflex auf fragmentierte, zerstreuende Verhältnisse, also die Buntscheckigkeit, die sie kolportieren. Oft setzen die Gegenstände der Theorien den Theorien Grenzen. Je umfangreicher, durchdringender, formierender, komplexer eine gesellschaftliche Installation oder eine Mentalität ist, desto unerkennbarer wird sie. Die Gesellschaftsmitglieder, die heute in Mitteleuropa leben, können sich kaum noch ein Leben ohne Geld vorstellen.

Eine endgültige Sexualtheorie ist unvorstellbar, es sei denn, manfrau behauptete, es gäbe Sexualität nicht mehr, eine These, für die einiges Material aufbereitet werden könnte. Wahrheit aber gibt es tatsächlich nicht. Jedes Foto, jedes Bild ist richtig und wirklich. Keines aber ist wahr. Die großen Fotografen wussten das schon vor dem elektronischen Zeitalter. Das Medium, das bei uns und heute Generalität besitzt, ist Geld, nicht Wahrheit. Die sogenannten Wahrheiten der Wissenschaft, die immer mehr zur Hure des Marktes und der Politik wird, sind allzu käuflich und unwissend. Denn ein bestimmtes Wissen produziert eine bestimmte Kenntnis und damit sachlogisch zugleich auch eine bestimmte Unkenntnis, etwas, das vorher nicht gewusst wurde. Dass die katastrophalen Entgleisungen hochtechnologischer Anlagen nicht ein Resultat von zu geringer Komplexität und von Ineffizienz sind, sondern von zu hoher Effizienz und Komplexität oder dass der gesellschaftliche Reichtum, von dem bei uns so gerne die Rede ist, im Grunde eine gesellschaftliche Verarmung ist, weil die Folgekosten unkalkuliert bleiben – das sind Einsichten, die die Politische Ökonomie wegfetischisiert. Im Augenblick strengt sich besonders die Medizin an, zur Hure der Ökonomie zu werden; sie schafft an den sogenannten Universitäten alles ab, was sich nicht sofort bezahlbar macht, vor allem also das Nachdenken über die gegenwärtige Praxis und die eigene Geschichte. Und die Wahrheiten der Politik? Sie sind ein für viele nicht mehr genießbarer Aufguss aus Tran und Smer, Nebel und Verdrehung, den spätestens Günther Anders als ein perennierendes (Sich-)Wahr-Lügen entlarvt hat.

#2Sexualität als gesellschaftlicher Begriff

Keine Gesellschaft, keine Sexualität. Der Mensch ist von Natur gesellschaftlich und seine Sexualität ist es auch. Ohne den gesellschaftlichen Lebensprozess existierte die Menschheit weder biologisch noch sonst wie. Sexualität ist in erster und letzter Hinsicht ein gesellschaftlicher Begriff, kein physiologischer. Menschensexualität schlechthin, »reine« Sexualität ist reine Gedankenschöpfung. Eine von Geschichts- und Gesellschaftstheorie getrennte Theorie der Sexualität des Menschen ist keine. Wer über Sexualität ernsthaft nachdenkt, hat die ganze Gattungsgeschichte des Menschen und mehr am Hals. Das natürliche Moment am Sexuellen lässt sich vom gesellschaftlichen prinzipiell nicht abscheiden − im Sinne von primär und sekundär, von voraus gegeben und gemacht, von richtig und falsch. Vergleiche über Jahrhunderte hinweg oder zwischen differenten Gesellschaftsformationen sind höchst problematisch.

Der Satz »Gevögelt wurde immer« ist irreführend. Darauf wenigstens können wir uns verlassen, dachten alle, als Martin Dannecker diese Bemerkung in einem unserer gemeinsamen theoretischen Seminare machte, um die Debatte voranzubringen. Tatsächlich? Ja, hatten alle irgendwie im Hinterkopf: immer wenn zwei Menschen, die den Schmerz der Individuierung vergessen machen wollen, die Platons aristophanische Erzählung von den in zwei Geschlechtshälften geteilten Menschen erst richtig zur Legende machen wollen, die regredieren wollen, thalassal, zurück ins Fruchtwasser, ins Urmeer, aus dem wir herausgepresst worden sind. Doch dann dämmerte es den meisten sehr schnell: Vögeln war nie gleich vögeln, weil sich, manchmal sehr schnell, die seelischen Regungen änderten, die dem Akt vorausgehen, ihn begleiten und ihm folgen, die inneren Bilder, die äußeren Bilder, die symbolischen Bedeutungen, die Vorstellungen von Männern und Frauen und Mann/Frau, Mann/Mann, Frau/Frau, vom Geschlecht, von Sinnlichkeit, Lust und Liebe, die gesellschaftlichen Normen, Erwartungen und Hemmnisse, der allgemeine Umgang mit den erwünschten und unerwünschten Folgen usw. Im 20. Jahrhundert wurde bei uns nicht nur gevögelt, sondern auch unter anderem – je nach sozialer Schicht, Region, Zeit usw. – kopuliert, begattet, kohabitiert, koitiert, beigeschlafen, verkehrt, gefickt, geknallt, gerammelt, gebumst, geoymelt, penetriert und Sex gemacht. Im Augenblick trifft wohl das kunsthandwerklich anmutende Verbum poppen am ehesten die jugendlich-mediale Lage des Geschlechtsaktes, der seit wenigen Jahrhunderten auch ein Sexualakt ist.

Im Alltag scheint es immer wieder so, als sei Sexualität etwas Unveränderliches, Einheitliches, ganz Bestimmtes. Tatsächlich aber ist Sexualität etwas ständig Transformiertes, Zusammengesetztes, Assoziiertes, wie bereits Freud, einer der ersten kritischen Sexualforscher, wusste. Als er sich die Frage stellte, »was den Inhalt des Begriffes ›sexuell‹ ausmacht«, antwortete er in der 20. Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse zunächst: »Im ganzen sind wir ja nicht ohne Orientierung darüber, was die Menschen sexuell heißen. Etwas, was aus der Berücksichtigung des Gegensatzes der Geschlechter, des Lustgewinnes, der Fortpflanzungsfunktion und des Charakters des geheim zu haltenden Unanständigen zusammengesetzt ist, wird im Leben für alle praktischen Bedürfnisse genügen« (Freud 1916/17: 313 f). Eine Vorlesung später bemerkte er lapidar: »Vergessen Sie nicht, wir sind derzeit nicht im Besitze eines allgemein anerkannten Kennzeichens für die sexuelle Natur eines Vorganges« (ebd.: 331). Freuds Frage war so rethorisch und seine Antwort so tastend, weil er ahnte, dass sich sein Triebhaftes der herrschenden Ordnung des Wissens, der Episteme, rätselhaft entzog. Obgleich ihm der »Geschlechtstrieb selbst als etwas aus vielen Faktoren Zusammengesetztes« imponierte, sodass es zu »Dissoziationen der normalen Entwicklung« käme (Freud 1905: 133), suchte er ein wissenschaftlich haltbares »Kennzeichen«. Dass er trotz der individuellen Rätselhaftigkeit bezeichnete und trotz der kulturellen Assoziation segmentierte wie alle Sexualforscher vor und nach ihm, war der unabweisbare Tribut an eine Gesellschaft des Definierens und Zerlegens, in der nur das zählt, was sich zählen oder wenigstens aufzählen lässt.

Seit der Antike ist es epistemische Wirklichkeit und seit Kant außerdem ein epistemologischer Gemeinplatz, dass auch die scheinbar »objektiven«, ideologiefernen, intentionslosen, gewissermaßen neutralen und integren Naturwissenschaftler »Natur« konstruieren, weil, wie es in der »Kritik der reinen Vernunft« (1787: B XIII/XIV) heißt, »die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt«. Da der Prozess der Aufklärung ein radikaler Prozess des Zerlegens und Neuzusammensetzens von Natur und Mensch und damit auch von Leben und Tod ist, müssen ultraradikale Positionen eingenommen werden, sollen die »naturalen« Naturgrenzen als unhintergehbar begriffen und als ethisch bedeutsam oder gar (in Relation zu »künstlichen« Naturdingen und »künstlichen« Naturvorgängen, letztlich in Relation zur »Kultur«) als »höherwertig« verstanden werden − ein Streit um Denk- und Politikmöglichkeiten, der zuletzt am deutlichsten an den Extrempositionen des Essenzialismus einerseits und des Konstruktivismus andererseits abgelesen werden konnte.

Das natürlich Biotische ist durch den Prozess der Menschwerdung immer mehr zu einem Ge-machten geworden und nicht mehr ein Voraus-gegebenes. Heute sind die Menschen vollends unter sachliche Bedingungen gestellt, die ihnen als unkontrollierte wie eine Naturgewalt, als künstliche, »zweite« und »dritte« Natur entgegentreten und erscheinen. Die Trennung in biologisch vs. nichtbiologisch, natürlich vs. unnatürlich ist doppelt und dreifach falsch. Denklogisch, weil das eine das andere konstituiert, weil das eine ohne das andere nicht zu denken ist. Soziologisch, weil alles miteinander vernetzt ist, nur theoretisch-künstlich voneinander getrennt werden kann (zur gegenwärtig von affirmativen Sexuologen benutzten Leerformel, Sexualität sei »biopsychosozial« bedingt, siehe Dekker 2013).

Anthropologische Konstanten suggerieren eine durchlaufende Ursprünglichkeit, die es nicht gibt. Weder unsere Sexualität allgemein noch unsere Hetero- und Homosexualität, weder bigenerische Identität, Mutterliebe, Geschlechtsliebe, Monogamie noch Nomadie und Fremdenhass sind menschheitsgeschichtlich stabil (vgl. z.B. Eder et al. 1999, Eder 2002, Herzog 2005, 2011a). Totalitär ist die Annahme, Movens und Causa lägen in der physischen Natur des Menschen. Ebenso totalitär ist die Annahme, alles sei gesellschaftlich konstruiert. Tat-sächlich kommt es darauf an, wie das System beschaffen ist, in das die Individuen hineingeraten: mit ihrem Körper, mit ihren Reaktionsmöglichkeiten, mit ihren Wahrnehmungsmöglichkeiten usw., die nur begrenzt fixiert sind, von Epoche zu Epoche auf den Kopf gestellt, uminterpretiert, modelliert, mit anderen Bedeutungen, mit anderer Belohnung und Bestrafung versehen werden können. Es kommt also darauf an, was gedacht und gemeint wird, wie die weichenstellenden Objektive beschaffen sind, die Foucault Dispositive genannt hat, wie wir uns die Dinge und die Welt zurechtlegen, welche Epistemologie gerade herrscht, wie das Verhältnis von Leben und Tod, von Sprache und Bewusstsein, von Unbewusstem und Reflektiertem beschaffen ist – oder wie die Polaritäten gerade und überhaupt heißen. Das ist die »Natur«, mit der wir es zu tun haben. Sie bestimmt auch, wie das Körperliche, die physische »Natur«, objektiviert wird.

#3Was ist natürlich am Sexuellen?

Doch die Frage, was am Sexuellen natürlich sei, verfolgt uns seit Jahrhunderten. Als wir uns und anderen die Hölle bereiteten, entdeckten wir ozeanische Paradiese. Als wir vor lauter Anstand und Sitte zu ersticken drohten, stachen wir in See, um uns berauscht an den seltsamen Bräuchen der Primitiven zu entrüsten. Als es bei uns ebenso sachlich wie brutal zuging, erinnerten wir uns mit Tacitus an die »edlen Wilden«, die er »im Naturzustand« durch die Urwälder Germaniens hatte ziehen sehen, hofften wir auf die »überlegene Vernünftigkeit« der Tahitaner in Diderots »Supplement au Voyage de Bougainville«. So dienten uns die Primitiven, die Wilden, die Naturvölker, soi disant, als Supplement, als Refugium, als ein Gegenbild, dessen wir uns nur noch in exotischer Ferne vergewissern konnten. Das ist bis heute so geblieben. Im 18. Jahrhundert herrschte beim Blick aufs wilde Leben ungläubiges Erstaunen vor, im 19. Jahrhundert schaurig-schönes Entsetzen. Das 20. Jahrhundert brachte uns mit dem Durchmarsch des naturwissenschaftlichen Denkens die kühle Distanz der Sezierbestecke. Doch die Naturwissenschaften befanden sich von Anfang an in einer Krise und die Objektivität der Feldforscher auch. Mit beiden Krisen leben wir.

Zu den ersten wissenschaftlich-ethnologischen Feldforschern, die den Seefahrern folgten, gehört der gebürtige Pole Bronisław Malinowski, der in London gelehrt hat. Anfang des 20. Jahrhunderts studierte er vor allem das Leben der Bewohner der Trobriand-Inseln (damals Britisch-, heute Papua-Neuguinea). Seine detaillierten Berichte »Sex and Repression in Savage Society« (1927) und »The Sexual Life of Savages in North-Western Melanesia« (1929) lösten heftige Debatten in den Wissenschaften vom Menschen aus. Das Familiensystem, das er vorfand, musste er als »matrilinear« begreifen, das Nichtwissen um die biotische Vaterschaft musste ihn verwundern. Unter dem Einfluss der Freud’schen Lehre fahndete er nach dem Ödipuskomplex (Malinowski 1949). Er fand ihn nicht. Dafür aber, ebenso von Freud beeinflusst, formulierte er einen anderen »verdrängten Kernkomplex«: den aus der gegenseitigen Anziehung von Bruder und Schwester und dem gegenseitigen Hass von Neffe und Onkel – als ließe sich unsere Seelentheorie auf »Wilde« übertragen, als wäre das, was wir Verdrängung und Komplex nennen, geeignet, die Wirklichkeit der Trobriander zu beschreiben. Geeignet ist es natürlich (und das meint immer gesellschaftlich) nur, begeben wir uns in eine ethnozentrische Position. Das hat Malinowski, ich denke zwangsläufig, getan, indem er noch den letzten Mythos auf unsere Raison d’être zog. In der Theorie aber insistierte er nicht auf der universalen Gültigkeit unserer Vorstellungen vom Menschen. Dafür war er empirisch zu korrekt und subjektiv zu redlich.

Die, die seine Berichte benutzten, konnten oder wollten nicht ganz so zimperlich sein. Beispielsweise Wilhelm Reich. Ihm dienten die Befunde Malinowskis dazu, »den ethnologischen Beweis für einige Gesetze der sexuellen Ökonomie zu führen« (Reich 1935: 3). Weil der Feldforscher die Kinder der Insulaner in »sexueller Freiheit« aufwachsen sah, wähnte Reich sein Prinzip der sexualökonomischen Selbststeuerung bewiesen, das heißt: Das Sexuelle treibt aus sich selbst heraus auf eine natürliche Sexualordnung hin, wird es nicht durch eine Zwangsmoral wie die bürgerliche daran gehindert. Doch die »zärtlichen« und »sexuell freien« Trobriander lebten »monogam«, waren »treu«. Reich ebenso wie die Studentenbewegung, die ihn und damit Malinowski wieder entdeckt hat, haben »hartnäckig« die andere Seite des Paradieses übersehen, wie Gunter Schmidt (1979) kritisierte: In den Träumen, Fantasien und Mythen der Trobriander geht es aggressiv und grausam zu. Dort toben Geschlechterkampf und unersättliches Verlangen, dort wird überwältigt, verstümmelt, kastriert. Aber gewiss nicht nur dort.

Bücher wie die Malinowskis geben uns keine Antwort auf die Frage, was natürlich sei an unserem Liebes- und Geschlechtsleben. Folgten wir dem, was die sogenannte Kulturanthropologie mittlerweile als vorherrschend zusammengetragen hat, müssten wir den Körper des anderen vor dem Beischlaf einer Pflege unterziehen und uns währenddessen durch schmerzhafte Verletzungen erregen. Wir müssten nur noch bei Tage verkehren, den Coitus a tergo vergessen, homosexuelles Reagieren als naturgewollt befördern, die Ejaculatio praecox aus der Klinik entlassen und uns als Männer klaglos der sexualphysiologischen, namentlich orgastischen Überlegenheit der Frauen beugen. Unser Beziehungselend könnten wir als ein Artefakt begreifen; denn »im Naturzustand« sind die Geschlechtsbeziehungen der Menschen sowieso stabil.

Wenn der sogenannte natürliche Anteil am Sexuellen nie unmittelbar, sondern stets nur als historisch Gewordener und gesellschaftlich Produzierter in Erscheinung tritt, ist das Sich-Berufen auf die Natur der Sexualität Ausdruck der allgemeinen Verblendung und Ratlosigkeit, von politisch rechts bis links. Wer von »natürlicher« Sexualität als biologisch voraus gegebener, gesunder, normaler, richtiger, als nur gesellschaftlich »überlagerter« oder als der ungebrochenen, ungehemmten des »einfachen« Menschen redet, leugnet die gattungsspezifische Natürlichkeit des Menschen, die in seiner gesellschaftlichen Geschichtlichkeit besteht, will menschenfeindliche medizinische Attacken rechtfertigen (Beispiel: Kastration), will beschuldigen (Beispiel: Homosexualität), will entschuldigen oder bestätigen (Beispiel: Monogamie, Promiskuität), will »alternative« Lebensformen unter die Leute bringen (Beispiel: Psychosekten), kocht oft sein eigenes Süppchen und hat Grund dazu.

Seit der neosexuellen Revolution (#38), die mit ihren Neosexualitäten, Neogeschlechtern und Neoallianzen auch viele Menschen sehr verwirrt haben muss, versuchen immer mehr sogenannte Evolutionspsychologen in der Nachfolge der Malinowskis zu ergründen, wie wir eigentlich beschaffen sind. Sie suchen in uns die Jäger und die Sammler, vergleichen steinzeitliches Stammesgebaren mit den individuellen Schicksalen im Endkapitalismus, werfen andere Psychologien, namentlich die psychoanalytische, auf die Müllhalde der Wissenschaftsgeschichte, bedienen Vorurteile und Klischees aus den Zeiten vor der neosexuellen Revolution, spekulieren über ein universelles, angeborenes Verspritzen des Männersamens, über sexuell süchtig ovulierende Frauen, über genetisch bedingte Promiskuität, fortpflanzungsnotwendige sexuelle Gewalt, über stammesgeschichtlich festgelegte Dominanz des Mannes und reproduktive Sorge der Frau. Das wird dann so begründet: »Wir sind mit all unseren körperlichen und psychischen Ausstattungen Kinder des Pleistozäns und optimiert dafür, in kleineren Gemeinschaften als Jäger und Sammler durch die Savanne zu ziehen […]. Viele unserer Bedürfnisse, Vorlieben und Abneigungen […] lassen sich aus der stammesgeschichtlichen Entwicklung des Menschen als genetisch manifestierte Anpassungen an frühere Lebensbedingungen erklären. […] Auch die menschliche Sexualität ist durch eine Vielzahl genetisch vererbter, evolvierter, psychologischer Mechanismen gekennzeichnet, welche Einfluss auf unsere Vorlieben und Bedürfnisse sowie auf unser Verhalten haben. […] Ein häufig angeführtes Beispiel zur Veranschaulichung ist die Fähigkeit der Fußhaut, Horn zu bilden« (Maß 2011: 105 f). Liebe, Eifersucht, Beziehungen, sexuelle Gewalt, ja Sexualität katexochen gegenwärtiger Menschen in einer bestimmten gegenwärtigen Kultur und Gesellschaft werden auf mehr oder weniger genetisch verankerte stammesgeschichtliche Adaptationen zurückgeführt, deren Basis im Pleistozän gelegt worden sei, das vor etwa 2,5 Millionen Jahren begann. Greifbare Spuren der Emotionen haben sich natürlich nicht niederschlagen können in Fossilien. Alle Aussagen über das sogenannte Liebes- und Sexualleben der Jäger und Sammler sind logischerweise Spekulationen. Dabei übersehen die Spekulanten, dass es bei all dem, was sie zu erörtern suchen, nicht um etwas Sexuelles im heutigen kulturellen Sinne und damit um Sexual-Subjekte geht, sondern um Fortpflanzung und Arterhaltung im biologischen Sinne. Bei Greenstein (1993: U4) heißt es zusammenfassend zum Beispiel: »First and foremost, man is a fertilizer of women. His need to inject genes into a female is so strong that it dominates his life from puberty to death. This need is even stronger than the urge to kill. […] It could even be said that production and supply of sperm is his only raison d’être.« Auch nehmen Evolutionspsychologen generell nicht zur Kenntnis, was es bedeutet, wenn sie über biotische Vorgänge wie Mitglieder einer kapitalistischen Gesellschaft sprechen (beispielsweise ist die Rede von »reproduktiver Investition« und »elterlichem Investment«) oder wenn sie Gene als »egoistisch« durchschaut haben wollen (Dawkins 1978). Wie gesagt, sehr irritierend müssen die akuten Sexual- und Geschlechtsverhältnisse sein, wenn sogenannte Experten in derartige Spekulationen flüchten, die niemand überprüfen kann, wenn sie komplexe Verhältnisse auf einfachste Formeln bringen wollen, denen zufolge Männer promiske Frauenbefruchter sind, Frauen sich dagegen genetisch nach Monogamie sehnen, während unsere in der Steinzeit erprobten Gene jetzt zu Zeiten der Profit- und Verstofflichungsgesellschaft unser selbstmütiges Gefühlsleben dirigieren. Unglaublich ist diese Sicht der Dinge, doch offenbar wundersam beruhigend ist dieser anachronistische Reduktionismus. Allerdings ziehen seit kurzem die Pioniere dieser Bewegung nicht mehr an einem Strang. Sie streiten sich darum, wer das Ziel evolutionärer Auslese sei: das Individuum oder die Gruppe. Edward O. Wilson (2012) plädierte gerade für die Gruppenselektion, Richard Dawkins und seine Anhänger bezeichneten das als »Dreck« und »pervers« und versuchten, die Verwandtenselektion zu verteidigen.

Wenn gesagt wird, menschlich Sexuelles werde erst in seiner gesellschaftlichen Vermitteltheit konkret und bedeutsam, erst dadurch werde es, über das Körperlich-Morphologische hinaus, konstituiert, dann heißt das nicht, dass der biotische Anteil am Sexuellen in den Weisen gesellschaftlicher menschlicher Praxis und theoretischer Bearbeitung ganz und gar aufgelöst werden könnte. Die anatomisch-physiologische Ausstattung des Menschen bleibt der geschichtlich-gesellschaftlichen Bildung seiner Sexualität nicht ganz und gar äußerlich, sie setzt Richtungen und Begrenzungen, wenn auch noch so randständige und kraftlose, wie die klinische Pathologie uns oft lehrt. Sind die Nerven durchtrennt, sticht alles Gesellschaftstheoretische ins Leere, und an der bio-logisch folgenden Impotenz prallt jede Kritik hilflos ab.

Es ist gefährlich, am Sexuellen einen konstanten von einem variablen Anteil zu trennen. Selbst das, was wir vor Jahrzehnten »Naturbasis« des Sexuellen oder vor kurzem »festen Kern« von Sexualität und Geschlechtlichkeit genannt haben, ist zur historisch-gesellschaftlichen Seite hin nicht blind. Als solches hat es keine Bedeutung. Jede Aussage über die zentralnervöse Steuerung der Sexualität, über die Physiologie der Fortpflanzung, über »Sexualhormone« und dergleichen ist durch die jeweils in gesellschaftlichem Maßstab regierende Art und Richtung sowie Vollständigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis, durch das jeweilige Bild vom Menschen, das jeweilige Naturbewusstsein, die jeweilige Naturideologie hindurch gegangen, deren Boden sich nach dem allgemeinen Verhältnis von Mensch-Natur-Gesellschaft bemisst. Greifen wir den Geschlechterdimorphismus mit dem entscheidenden Umstand: dass die Frau empfangen und gebären, dass der Mann zeugen kann − und das ist der biotische Kern der Zweigeschlechtlichkeit −, greifen wir dieses Merkmal heraus, das gegenüber dem Historisch-Gesellschaftlichen als das relativ stabilste angesehen werden könnte, dann sehen wir sofort dreierlei. Zum einen ist das Zusammenpassen der männlichen mit den weiblichen Geschlechtswerkzeugen keine zwischengeschlechtliche Garantie, die sexuelle Anziehung und Aktion zwischen Mann und Frau zu halten vermochte. Zum anderen wissen zunehmend weniger Menschen, wes Geschlechts sie sind, ob, wie, wann und wozu sie empfangen oder zeugen sollen. Auch hier also wieder: Abgelöst vom Menschen und seinem gesellschaftlichen Lebensprozess hat Biologisches keinen Sinn. Zum Dritten ist die Fortpflanzung, ohnehin ein nichtsexueller Vorgang, aus dem Körper des Menschen bereits technologisch herausgeschält.

#4Das Sexualobjektiv

Wie reflexhaft und animalisch ein Sexuelles ist, das ohne Gesellschaft gedacht wird, zeigt unübersehbar die historische Genese der modernen Sexualität, die sich vor zwei bis drei Jahrhunderten ereignete. Damals bildete sich bei uns ein erkenntnistheoretisches Bewusstsein vom Menschen als solchem heraus. »Der« Mensch katexochen, der moderne Mensch, ist also eine sehr junge Errungenschaft. Seine historische Geburt haben Neostrukturalisten auf die zwei bis drei Jahrzehnten vor und nach 1800 datiert, eine Analyse, deren wesentliche Resultate auch von Hermeneutikern wie Frank (1990) geteilt werden. Nach Foucaults Einsicht ereignete sich in diesen Jahrzehnten um die Französische Revolution ein epistemologischer Bruch, indem das selbstmächtige, organisierende »Subjekt« ins Zentrum des Wissens trat. Die vorausgegangene Episteme hatte kein spezifisches und eigenes Gebiet des Menschen isoliert: »Vor dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts existierte der Mensch nicht«, heißt es in »Les mots et les choses« (Foucault 1966/1993: 373). Erst jetzt traten Objektbereiche und Subjektvermögen ins Zentrum des Wissens, die uns epistemologisch noch vertraut sind, die aber seit einiger Zeit bei uns wieder zurückzutreten scheinen: Leben und Lebenskraft, Sprache und Sprachvermögen, Arbeit und Arbeitskraft, Geschlechtstrieb und Sexualität – nicht zuletzt, weil sich das inzwischen »fraktale« Subjekt »in eine Vielheit miniaturisierter Egos auflöst« (Baudrillard 1985: 78).

Weil »der Mensch« in Foucaults Denkzusammenhang durch neue, sich allgemein durchsetzende »Dispositive« als lebendes, sprechendes, arbeitendes und liebendes Wesen um 1800 herum erfunden wurde, indem er (und damit auch seine erotisch-geschlechtliche Seite, auf die Foucault übrigens in seinen philosophischen Hauptwerken praktisch nicht zu sprechen kommt) zu einem erkenntnistheoretischen Problem geworden ist, stehen diese »Dispositive« im Zentrum der Bewusstseins- und System- und damit Bedeutungskonstitution. Dadurch werden »Subjektivität«, gedacht als allgemeines, »Personalität«, gedacht als besonderes, und »Individualität«, gedacht als einzelnes Selbstbewusstsein, im Moment ihrer Konstituierung in eine exzentrische Position gezwungen, eine Konsequenz, die der späte Foucault übergeht.

»Dispositiv« könnte im Anschluss an Foucault eine allgemein installierte Stategie genannt werden. An die Theoriestelle des diskursiven Ereignisses (»événement discoursif«) oder Diskurses (vgl. Foucault 1969/1992: 41), der bereits transsubjektiv, das heißt Subjekt überschreitend ist (z.B. Foucault 1972/1977: 5 ff; 1974: 45, 52, 54 ff ), tritt beim mittleren Foucault in der Genealogie und Analytik der Macht das »dispositif« (z.B. 1976/1977: 35; 1978: 119 ff). Darunter ist eine jeweils historisch spezifische Machtstrategie zur Integration von diskursiven (Aussageformationen; Foucault 1969/1992: 69, 99) und nichtdiskursiven Praktiken (Inhaltsformationen institutioneller, ökonomischer, sozialer, politischer usw. Art; ebd.: 45, 224 ) zu verstehen, eine Integration von Innen (das Gleiche) und Außen (das Andere, das Schweigen). Die konkrete Gestalt des Dispositivs wird nicht philosophisch, sondern sozialgeschichtlich bestimmt. Weil ich die hinter diesem Theorem stehende Philosophie der Macht, die nicht zuletzt den Faden der Kritik der Politischen Ökonomie abreißen lässt, nicht mittransportieren möchte, spreche ich jedoch lieber von »Objektiven« als von »Dispositiven«.

»Objektiv« nenne ich eine gesellschaftliche Installation, in der sich materiell-diskursive Kulturtechniken, Symbole, Lebenspraktiken, Wirtschafts- und Wissensformen auf eine Weise vernetzen, die eine historisch neuartige Konstruktion von Wirklichkeit entstehen lässt. Da sich diese Installationen, einmal etabliert, aus sich selbst heraus generieren, imponieren sie in eher alltagssoziologischer Betrachtung als Sachzwänge, denen nichts Wirksames entgegengesetzt werden kann, und in eher alltagspsychologischer und ethisch-rechtlicher Betrachtung erscheinen sie als Normalität und Normativität, die einzig in der Lage sind, Ordnung, Ruhe und Sicherheit zu garantieren. Nicht selten lassen sie das als natürlich erscheinen, was gesellschaftlich ist.

Das Sexualobjektiv kreierte unsere Sexualität nach und nach als Begriff, Gefühl und Tat-Sache in jenen Jahrzehnten um 1800, in denen sich eine neue Episteme etablierte. Das, was wir Sexualität nennen, ist also blutjung, existiert als gesellschaftliche Form durch einen Furor sexualis, wie ich gerne sage, erst seit etwa 200 bis 300 Jahren, mithin seit wenigen Generationen, und zwar nur in Europa und Nordamerika als ein allgemein Durchgesetztes und isoliert Dramatisiertes.

Nebenbei: Weil Sexualität ein europäisch-amerikanischer Begriff ist, sind sexuologische Weltkongresse bestimmter Amerikaner und Europäer und Weltregister sexueller Störungen wie die ICD anmaßend bis absurd. Ich jedenfalls spreche weder hier noch anderswo über das Verhalten oder Empfinden der Menschen in China oder Nigeria, auf Madagaskar oder den Malediven. Ich spreche als weißer Mann jener westeuropäisch-nordamerikanischen Mittelschichten, in denen sich die modernen Sexual- und Geschlechtsformen überhaupt und dazu noch besonders nachhaltig installiert haben und in denen das, was ich Neosexualitäten nenne, zur Zeit Furore macht.

#5Die Sexualform

Als theoretisches, ästhetisches und moralisch-praktisches Problem wurde »Sexualität« zum Bestandteil einer sich etablierenden profanen Kultur. Diese entstand an jener Schnittstelle, die der Zerfall der religiösen Weltsicht und das Aufkommen der waren- und wissenproduzierenden Experimental- und Tauschgesellschaft im Abendland bilden. Als sich die epistemische von der religiösen Sphäre absonderte, entstand allgemein das Gefühl der Sexualität als solcher und damit die Voraussetzung von Erfahrungs-Seelenkunde (das Magazin Γνῶθι σαυτόν [Gnōthi sautón], das heißt »Erkenne dich selbst« von Karl Philipp Moritz erschien 1783 zum ersten Mal), Mitte des 19. Jahrhunderts von Liebes- und Genusskunde (Jules Michelet, Paolo Mantegazza, Karl Heinrich Ulrichs), danach forciert von Sexualpsychopathologie (z.B. Claude-François Michéa, Johann Ludwig Casper, Ambroise Tardieu, Georg M. Beard, Paul Moreau de Tours, Benjamin Tarnowski, Richard von Krafft-Ebing, Pasquale Penta) und am Ende des 19. Jahrhunderts von Sexual-Wissenschaft und Sexual-Psychologie (z.B. Albert Moll, Havelock Ellis, Max Dessoir, Albert Eulenburg, Iwan Bloch, Magnus Hirschfeld, Arthur Kronfeld) sowie Psycho-Analyse (Sigmund Freud). Dirigiert vom Sexualobjektiv, installierten alle zusammen einen Homo sexualis, den es vordem nicht gegeben hatte. Was vordem unreflektiert als Immerschonso, als Verkündigung oder Naturgegebenes zusammenfiel, brach auseinander. Die Trümmer, Selbstbewusstsein, Seele, Sexualität, wurden reflektiert und bildeten einen ganz anderen Schein. Als Gott und die Religion ausgespielt hatten, installierten sich Vernunft und Reflexionsphilosophie als neue oberste Gerichts-Instanzen. Eine andere, totale Partialisierung entstand: die der identifizierenden Vergesellschaftung. Und die einzelnen Allgemeinen rangen jetzt mit einem Sexualität genannten Bestandteil ihres Lebens voller dranghaftem Trieb, Wunsch, Sehnsucht und Leid, der ihre Vorstellung von sich selbst mitbestimmte.

Politökonomisch gesehen, ist unsere Sexualität (wie unsere Liebe) dem Geist des Kapitalismus entsprungen. Als der Kapitalismus mit seinen Ideen, Märkten, Technologien, Zerstreuungen und Lebenserleichterungen zahllose Produktivkräfte entfesselte, nahm der Daseinswille der Individuen gewaltig zu. Die reproduktive und die sexuelle Sphäre wurden dissoziiert und als solche erstmalig herausgestanzt, traten ins gesellschaftliche Zentrum, um sie zu erweitern und zu beherrschen und ihre Bestandteile zu verkaufen und zu prothetisieren: Mit der Geburt des Homo sexualis begann der Kampf um Geburtenregelung, freie Liebe, sexuelle und geschlechtliche Emanzipation.

Als Fabrikation des Kapitalismus konnte die moderne Sexualität nur entstehen, weil die Not der Menschen nicht mehr überwiegend Hungersnot war und gleichzeitig alle menschlichen Vermögen und Kräfte isoliert und als solche fetischisierend vergesellschaftet wurden. Im Sinne der »Dialektik der Aufklärung« (Horkheimer und Adorno 1947) gesprochen, lagen (und liegen) dabei Befreien und Unterdrücken, Befriedigen und Versagen ineinander. Fraglos ist es eine historische Errungenschaft, wenn die Essensfrage um die soziale und die soziale um die sexuelle Frage erweitert wird; der alte Kampf ums nackte Überleben ist dann bereits prinzipiell gewonnen. Bei der Fabrikation der gesellschaftlichen Sexualform liegen jedoch Repression und Freisetzung des sexuellen Verlangens und Tuns schon deshalb ineinander, weil die Tendenz zur Unterdrückung, von der Foucault (1976) im Auftakt seiner »Histoire de la sexualité« meinte, sie sei falsch betont worden, die Tendenz zur Freisetzung logisch voraussetzt; ohne sie kann von jener gar nicht gesprochen, geschweige denn etwas erfahren werden. Michel Foucault, dessen Arbeiten die Kritische Sexualwissenschaft stark beeinflusst haben, hatte unter dem Eindruck damaliger Sexwellen und Studentenrevolten die »Repressionshypothese« kritisiert, die er im Werk von Wilhelm Reich und zu dieser Zeit von Reimut Reiche diagnostizierte (vgl. Foucault 1997/1999: 40), der sich seinerseits in der Schrift »Sexualität und Klassenkampf« von 1968 mit Herbert Marcuses These der »repressiven Entsublimierung« von 1964 auseinandergesetzt hatte. Foucault betonte demgegenüber: Indem »die Macht« eine Strategie entwickele und ein »dispositif de sexualité« errichte, das alle Bereiche erfasse und in die letzte Krypte leuchte, das die Sexualität zum Reden bringe und durch einen Beicht- und Geständniszwang zum Aufdecken und Eingestehen ihrer diversen Lüste, mache sie das Sexuelle groß, bedeutsam, pflanze sie der Gesellschaft neue Sexualitäten und Geschlechtlichkeiten ein.

Wenn die bisherige Forschung nicht ganz in die Irre ging, war für »die mittelalterliche Gesellschaft«, verglichen mit der neuzeitlichen, die »extreme Uneinheitlichkeit des Verhaltens« charakteristisch (Elias 1939/1969, Bd. 1: 157 f). Jahrhunderte, nach Norbert Elias’ Analyse einen einzigartigen »Prozess der Zivilisation« lang, dauerte es, bis die Alteuropäer allgemein und effektiv für Zucht und Ordnung, für Lohnarbeit, Sittlichkeit und Sexualität disponiert waren, bis das Sexuelle gleichzeitig hervorgehoben und verschwiegen werden konnte, »so erhoben und erniedrigt« wie keine andere »Naturerscheinung« (Hirschfeld 1908: 9) – eine Paradoxie, die der sexuellen Sphäre permanente Aufmerksamkeit und Konflikthaftigkeit garantierte. Unvorstellbar für uns die Veränderungen: von der Gemeinschaft des Ganzen Hauses zur Gesellschaft mit Klein- und Kleinstfamilie, vom Geschlecht der Pflanzen über die Brünste wie bei Tieren zur Selbstbezüglichkeit der Menschen, von der Zweck-Ehe der Oberschicht zur Liebes-Ehe aller, von der Einpflanzung (Implantation) als krank oder abnorm bezeichneten sexuellen Verhaltens zu dessen Ausjähtung (Explantation, Extraktion), von der Vorliebe zur Perversion und zurück, vom Massengrab zum Individualgrab usw. usf. Unvorstellbar für einen mittelalterlichen Menschen, der noch keine Sexualindividualität hat, was für einen Menschen der Gegenwart selbstverständlich ist: in einem dunklen Kino sitzen, einen erregenden Film sehen, die »Sexualobjekte« in Greifnähe haben – und doch seine Begierden im Griff behalten, selbstgedrosselt jede Anwandlung eines »Übergriffs« unterdrücken. Je umgreifender die neue Gesellschaftsformation mit ihren Kernen kapitalistischer Betrieb und bürokratischer Staatsapparat wurde, desto größeres Gewicht bekam die Erforschung des sexuellen Triebes und des psychischen Apparates.

Der philosophische Diskurs erhob die Moderne im späten 18. Jahrhundert zum Thema wie besonders eindrücklich bei Jürgen Habermas (1985) nachzulesen ist. Kaum jünger ist die Scientia sexualis, werden die Anti-Onanisten und der Marquis de Sade mit ihren bleibenden Parolen als Vorboten genommen, obgleich sie noch auf die Kirche fixiert und und von einer wissenschaftlich überzeugenden Argumentation meilenweit entfernt waren. Auf den ersten Blick scheint es so, als stünde in der Umbruchszeit, die neben anderem »den« Menschen und »die« Sexualität hervorgebracht hat, de Sade für Lust und Sinnlichkeit, Kant dagegen für Triebverzicht und Vernunft, jedenfalls wird immer wieder behauptet, de Sade habe mit seinen Werken der Sinnlichkeit zu ihrem missachteten Recht verholfen, während Kant zur selben Zeit, als die Französische Revolution Europa erschütterte, die Vernunft im Gebiet des Philosophierens endgültig installiert habe. Bei kritischer Betrachtung aber ergibt sich eher das Gegenteil. De Sade ist der Verkünder des vernünftigen Egoismus, den die europäische Aufklärung zum Maßstab erhoben hat. Kant behandelt die Sinnlichkeit nicht, wie viele denken, abschätzig. Er unterzieht die Vernunft als »reine« einer radikalen Kritik und stellt ihr ein Reich »dunkler Vorstellungen« gegenüber, das, wie später erst Freud angeblich erkannt hätte, »praktisch unendlich« sei (vgl. Gulyga 1977/1985: 302 f). Weil bei de Sade der Egoismus (und die Rationalität) der Aufklärung zu sich kommt, weil er sich selbst als mitleidslos, zynisch, gemütslos, schamlos, technisch, gewalttätig, eigensüchtig entlarvt, wird der Poète maudit anhaltend als Philosoph von hohen, wenngleich nicht selbstreflexiven Graden betrachtet und in Frankreich an jeden Großintellektuellen mit Hingabe die Frage gestellt: »Sollen wir seine Werke verbrennen?« Meine Antwort wäre: Um Gottes willen! Zur Pflichtlektüre muss de Sade gemacht werden, und zwar unter Aufsicht zunächst für die Chefs der Trusts.

In Anlehnung an Begriffe wie Waren- und Denkform habe ich 1981 in Vorlesungen die Kategorie Sexualform eingeführt (vgl. Sigusch 1984b). Sie ist in den Jahren danach von vielen Sozial- und Sexualwissenschaftlern aufgegriffen worden (z.B. Lautmann 2002: 171 ff). Während die Kategorie Sexualobjektiv, die ich hier zum ersten Mal systematisch verwende, auf den Prozess der gesellschaftlichen Installation einer »Sexualität« genannten Symbol-, Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Erlebensstruktur der Menschen abzielt, soll die Kategorie Sexualform (wie analog die Kategorien Geschlechts- und Liebesform) das zumindest scheinbar stabile allgemeine Resultat dieses Prozesses bezeichnen.

Sexualform meint: Es ist eine Differenz ums Ganze, ob ein Einzelner eine Ansicht äußert und eine bestimmte Sensation hat oder ob es gang und gäbe ist und für alle kein Entrinnen gibt, so und nicht anders zu denken und zu empfinden. Zum Beispiel hat der gescheite Theologe und Philosoph Antonio Rocco, in die heutige Semantik übertragen, um 1630 Folgendes in seiner Verteidigung der »Päderastie« geschrieben (und wahrscheinlich 1650 drucken lassen): Sexualität ist nicht an Fortpflanzung gebunden, sie dient der reinen Lebensfreude; Liebe verlangt Körperlichkeit; es gibt verschiedene natürliche sexuelle Spielarten usw. Sein Werk »L’Alcibiade fanciullo a scola« blieb in Italien für Jahrhunderte einmalig, interpretiert Wolfram Setz die singulären Ideen in seiner Neuausgabe von 2002. Tatsächlich werden Roccos Auffassungen, abzüglich der Verteidigung der Pädosexualität, bei uns erst mehr als 300 Jahre später wirklich allgemein, und zwar um 1970 herum.

Philosophisch wurde dem Begriff der Form seit Aristoteles (Physik 1, Metaphysik 7 f) der Begriff der Materie entgegengesetzt. Während hyle und materia das Bauholz, das Material, allgemein den Stoff meinten, standen morphe und forma für die Idee des Bauens und den erbauten Bau. In Analogie repräsentierte das Triebhafte den Rohstoff, das Rohmaterial, aus dem das bewohnbare Haus der Sexualität errichtet wird. Psychoanalytiker wie Sexualwissenschaftler waren davon durchdrungen, dass das Triebhafte amorph, also formlos sei, aber zu den informis formabilisque materies der Kirchenväter gehöre, also formbar sei. Idealistisch und ideologisch wurde der Triebstoff als roh und vorkulturell, als uneigentlich und vergänglich, als minderwertig bis böse betrachtet, die Form dagegen als kultiviert und zivilisiert, als konstant, gut, hochwertig. Dieses Wertgefälle ist bis heute in der Alltagssprache präsent: Wer die Formalitäten erfüllt, wer informiert ist, wer über gute Formen verfügt, gar formvollendet auftritt, ist vorbildlich zivilisiert. Dass er aber dem, was herrscht, erlegen ist, wird verschwiegen. Sonst wäre das Formvollendete beherrscht, unterworfen, der Formlose aber frei. Da jede Gesellschaft auf der Formierung, Modellierung und Institutionalisierung menschlicher Vermögen gründet, greifen förmliche Stoff-Form-Theorien zu kurz. Sie erklären auch nicht, durch wen und auf welche Weise das Rohmaterial zum Haus wird, wer der »Bauherr« ist (von »Baufrau« ist selbstverständlich im Patriarchat keine Rede). Die Kategorie »Sexualform« soll also nicht an diesen Denkstrom anschließen, sondern vor allem an den, den die Kritik der Politischen Ökonomie und der Neueren Werttheorie entfaltet hat. Stehen dort in der klassischen Fassung das Objektiv Tausch und die generelle Elementarform Ware samt Fetischismus im Zentrum der gesellschaftlichen Strukturbildung (Sigusch 1984b, 1986), sind es im Spätkapitalismus außerdem vor allem die Elementarform Wissen und das Objektiv Hylomatie (#17), die die Spezialform Sexualität grundlegend strukturieren.

So können gegenwärtig wenigstens vier kategoriale Sexualitäten unterschieden werden: (1) die biologische Sexualität (Stichworte: Geneffekte, Instinkte und Trigger) mit der von der Medizin bestimmten Unterform somatologische Sexualität (Stichworte: ZNS, Transmitter, Enzyme, Hormone usw.); (2) die psychologische Sexualität, die je nach der wissenschaftlichen Richtung um Reiz-Reaktions-Muster, Triebe, Wünsche, Ängste, Fantasien, Meinungen usw. zentriert ist, sodass einmal eine experimentell-empirische, andermal eine unbewusste Sexualität herauskommt; (3) die soziologische Sexualität, die wie die psychologische je nach der Schulrichtung sehr unterschiedlich gefasst ist, eher praktisch-empirisch oder eher theoretisch mit den Leitkategorien Symbole, Rituale, Vorurteile, Regeln, Normen, Werte, Verhaltensweisen usw.; und (4) schließlich über allen anderen die philosophische Sexualität, die einmal metaphysisch-körperlos ist, andermal materiell-lebensweltlich. Hinzu kommt, welches Problem aus dem riesigen Mundus sexogeneris die Forscherin oder der Forscher eigentlich im Auge hat. Interessiert sie oder ihn so etwas wie Protosexualität, Genosexualität, Biosexualität, Soziosexualität, Psychosexualität, Logosexualität oder gar Antisexualität mit dem Generalrepräsentanten Anteros? Mannfrau sollte also recht genau hinschauen, wenn von »Sexualität« oder »Geschlecht« mit dem Anspruch die Rede ist, etwas Verbindliches zu sagen.

Bis zum 19. Jahrhundert hatte die gesellschaftliche Sexualform keinen ihr angemessenen Namen. Erst dann wurde das Adjektiv sexuell [spätlat. sexualis »zum Geschlecht gehörig«, zu sexus »männliches und weibliches Geschlecht«, bildungsspr. »(natürliches) Geschlecht« und »(der Fortpflanzung und Arterhaltung dienender) Geschlechtstrieb« im Unterschied zu Eros] wie das Adjektiv modern in den europäischen Sprachen substantiviert. Modernität gibt es zuerst bei den Schönen Künsten, Sexualität bei den Pflanzen (wie eine von August Henschel 1820 veröffentliche Schrift bereits im Titel zeigt: »Von der Sexualität der Pflanzen«) – eine epistemische Mitgift, die nach wie vor kausale Schatten wirft. Kritische Sexualwissenschaft bedauert, dass die Geschichte des Wortes sexualité/Sexualität/sexuality noch nicht geschrieben ist. Ihr ist es nicht nebensächlich, das Wort Sexualität weder in der Bibel noch bei Homer noch bei Shakespeare zu finden, sondern die Sache selbst: Vergesellschaftung von Venus Urania und Venus vulgivaga, von Minne und Wollust, von Geschlecht und Liebe. Die Transformation zahlloser Lüste, Empfindungen und Vorstellungen in eine einzige, scheinbar ebenso gott- wie naturgewollte Sexualform kann am leichtesten an der Tat-Sache abgelesen werden, dass an die Stelle der zahllosen Wörter, die vor dem 19. Jahrhundert kursierten, ein einziges Wort trat, ein Kollektivsingular, der all die Vorgänger von Venus bis Nisus verschlang: sexualité/Sexualität/sexuality.