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Warum real, wenn Frau auch perfekt sein kann? April ist nett, lustig, charmant und relativ normal. Und Single, obwohl sie das gar nicht sein will. Manchmal wünschte April, sie wäre ein Gretchen. Ein Gretchen ist die Art Frau, die Männer vergöttert – die perfekte Traumfrau von nebenan zum Pferdestehlen, ohne Probleme und Vergangenheitsballast. Als April anfängt, so zu tun, als wäre sie ein Gretchen, scheint alles plötzlich viel einfacher. Sogar das Daten macht Spaß und zum ersten Mal hat sie die Kontrolle über ihr Leben und die Männer, die sie trifft. Doch dann begegnet sie Joshua, der keine Ahnung hat, wer sie wirklich ist, als er sich in sie verliebt. Wie lange kann April die Fakeshow aufrechterhalten? Und will sie das überhaupt?
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Seitenzahl: 541
Veröffentlichungsjahr: 2022
Holly Bourne
Roman
Aus dem Englischen von Nina Frey
Für anständige Männer
Ich hasse Männer.
Bitte schön, jetzt hab ich’s gesagt. Ich weiß, dass man das nicht sagen soll. Wir tun alle so, als hassten wir sie nicht; wir reden uns allesamt ein, wir hassten sie nicht. Aber ich sag, wie es ist. Hier stehe ich auf meiner Tribüne und spreche es aus.
Ich. Hasse. Männer.
Man muss ja nur einmal kurz nachdenken. Sie sind der reine Horror. Ich ertrage es nicht, wie selbstsüchtig sie sind. Wie viel Raum sie einnehmen in dem Glauben, sie hätten ein Anrecht drauf. Wie sie in den öffentlichen Verkehrsmitteln die Beine spreizen, als müssten sie ihre Eier regelmäßig stoßlüften wegen drohenden Schimmelbefalls. Ich ertrage es nicht, wie sie quasi auf Schritt und Tritt erst mal ihr Revier markieren, den Raum gestalten, damit er ihren Bedürfnissen entspricht. In dem Moment, wo sie zu einer Party dazustoßen, genau die Musik auflegen, nach der ihnen gerade ist, und sich immer im bequemsten Stuhl breitmachen. Wie sie alles befingern müssen, statt es sich einfach nur anzuschauen, sich sogar das Mobiliar zurechtrücken, damit sie es richtig gemütlich haben. Und das alles, ohne je auch nur nachzufragen – niemals wird je vorher gefragt.
Ich ertrage es nicht, wenn sie glauben, ihre Interessen seien wichtiger als deine – selbst wenn sie nur zweimal die Woche lauter Fremden beim Rumkicken einer Kugel auf einem Rasenstück zusehen und dann rumschmollen, wenn die Kugel nicht in die richtige Öffnung geht. Und wie angeödet sie dreinschauen, sobald man mal versucht, ihnen einen Film, eine Band oder auch nur einen verdammten YouTube-Clip zu zeigen, bevor man überhaupt auf Play gedrückt hat.
Ich ertrage ihre grenzenlose Arroganz nicht. Ich ertrage es nicht, wie sie einem ins Wort fallen und sich dann entschuldigen und trotzdem einfach weiterreden. Wie sie dir eine Frage stellen, aber hinterher an deiner Antwort herumkorrigieren. Ich ertrage es nicht, dass sie nie einen Handgriff im Haushalt machen können, ohne einem davon zu berichten. Ich ertrage es nicht, wie sie es einfach nicht aushalten, sich im Auto von einer Frau kutschieren zu lassen, und seien sie selbst noch so miese Fahrer. Ich ertrage es nicht, wie sie sich einbilden, die großartigsten Grillmeister aller Zeiten zu sein. Kaum bricht mal die Sonne durch, schmeißt schon ein Mann den Weber an und verwehrt der Frau den Zutritt zum Fleisch. Lässt verkohlte Hähnchenteile auf ihren Teller plumpsen, zart umweht von Bierrülpsern, wie der letzte Höhlenmensch, als müssten wir jetzt auch noch ganz hingerissen davon sein, uns Salmonellen einzufangen und hinterher alles abwaschen zu dürfen.
Ich ertrage es nicht, wie viel Angst ich vor ihnen habe. Ich ertrage den Lärm nicht, den sie machen, wenn sie in Horden auftreten. Das primitive Gegröle, als hätten sie beim Zusammenrotten ihr Gehirn abgegeben und gegen Testosteron eingetauscht. Wie sie immer ankommen, wenn man allein im leeren Zug sitzt, und sich absichtlich neben dich setzen müssen, alle auf einmal, und extralaut über ihren Machokram reden müssen, wohl um Eindruck zu schinden. Ich ertrage es nicht, wie sie einen anschauen, wenn man an ihnen vorbeigeht – dich automatisch abchecken und auf der Fickbarkeitsskala einordnen. Einem sagen, man solle lächeln, sobald man es wagt, mal nicht ganz so begeistert dreinzuschauen wegen dem ganzen Scheiß, mit dem man Tag für Tag leben muss.
Ich ertrage es nicht, wie schwer sie zu lieben sind. Wie viele von ihnen wirklich, aufrichtig glauben, der Weg zu deinem Herzen führe über das Senden eines Selfies, auf dem sie sich einen runterholen, samt Blick auf ihren haarigen Sack. Ich ertrage es nicht, wie sie Sex haben. Wie sie einem die Finger reinschieben in dem Irrglauben, das würde einem auch nur irgendwas geben. Einem die ungewaschenen Pfoten in die trockene Vagina rammen und darin herumfingern, als wollten sie eine Prostatauntersuchung vornehmen, und sich dann wundern, wieso man plötzlich den Scheidenpilz hat, aber noch immer keinen Orgasmus. Hat denn keiner von denen mal je in einen Sexratgeber geguckt? Mal im Ernst? Keiner? Und ich ertrage es nicht, dass sie dich nicht mehr ertragen, sobald sie gekommen sind. Wie selbst die Netten noch mit kaltem Blick daliegen und Zärtlichkeit heucheln, aber eindeutig Fluchtgedanken hegen.
Ich ertrage es nicht, dass es nie gerecht zugeht. Dass sie einem die ganze emotionale Verantwortung aufbürden und sich dann aufregen, dass man gestresster ist als sie. Ich ertrage es nicht, dass sie einen nie verstehen, sosehr sie sich auch bemühen, obwohl sie sich, mal ganz ehrlich, nie besonders ins Zeug legen. Und ich ertrage es nicht, dass man sich ständig daran aufreibt, ihren angeödeten Gesichtern auch nur die simpelste, begreiflichste der eigenen emotionalen Reaktionen zu erklären.
Ich ertrage es nicht, wie sie alle, aber wirklich alle Probleme mit ihrem Vater haben.
Und wisst ihr, was ich am wenigsten ertrage?
Dass ich trotz allem, trotz all dieser Verachtung, immer noch auf Männer stehe. Dass ich immer noch will, dass sie auf mich stehen, mich wollen, mich lieben. Ich hasse mich dafür, wie sehr ich sie will. Warum stehe ich noch immer so auf Männer? Was läuft da falsch mit mir? Warum sind sie alle solche psychischen Wracks? Bin ich ein psychisches Wrack, weil ich immer noch mit einem zusammen sein will, nach alldem? Ich sollte alleine sein. Das ist der einzig gesunde Weg. ABERICHWILLNICHTALLEINSEIN. Ich hasse Männer, das ist das Problem. GOTT, ICHHASSESIESOSEHR – sie meinen, ihnen steht alles zu, und sie sind kaputt und faul und kapieren nichts und …
Moment mal …
Mein Handy.
ERHATZURÜCKGESCHRIEBEN!!!
MITEINEMKUSSAMENDE!
Egal.
Vergesst es. Ich hab nichts gesagt. Alles wunderbar.
Ich glaube, ich bin drauf und dran, mich zu verlieben«, berichte ich Katy, als wir neben dem verbeulten Wasserkocher stehen und auf sein lustloses Brodeln warten.
»Vielleicht einen Tick zu früh dafür, oder?«
»Ich weiß. Aber irgendwie, na ja, weiß ich es schon, weißt du?«
Katy schließt die Augen etwas länger als notwendig, durchaus verständlich. Ich höre mich ja selbst, mit eigenen Ohren. Ich kann so ein Mensch nicht sein. Ich bin nicht so eine Frau. Obwohl ich es bin, ich bin es tatsächlich. »Du schaltest schon wieder deinen Verstand aus, oder?« Sie wäscht unsere Becher mit einem Miniklecks Spülmittel ab, auf dessen Flasche ein Zettel mahnt: »Ein Tropfen reicht!« Als könne die Beratungsstelle, für die wir arbeiten, durch besonders ressourcenschonendes Abwaschen vor dem Untergang bewahrt werden.
»Das sind fünf Verabredungen gewesen! Fünf! Hast du irgendeine Vorstellung, was für ein Meilenstein das ist? Ich hab im Internet nachgeschaut, und das ist einer, wirklich. Wirklich!«
»Haben wir das Thema mit den Beziehungstipps aus dem Internet nicht gerade gehabt, April?«
»Ich kann nichts dafür. Unser Büro hat unbeschränktes Internet und ich bin ja nicht Gandhi. Und selbst der, darauf wette ich, hätte ›5 Dates was heißt das‹ gegoogelt, wenn er in meiner Lage gewesen wäre.«
Sie lacht so laut, dass im Büro sämtliche Köpfe hochschießen. Ich mache »Psst!« und verteile den Kaffee auf drei Becher. Sie gibt Milch in gerechten Spritzern dazu und ich stimme in ihr Gekicher ein, obwohl mir ihre Heiterkeit unwillkürlich einen kleinen Stich versetzt. Katy ist seit vier Jahren verheiratet, mit einem Mann, der sie anbetet und auf Händen trägt. Sie ist selbstzufrieden und huch-so-was-wär-mir-völlig-fremd und entspannt, was ja kein Kunststück ist, wenn man schon vier Jahre verheiratet ist mit einem Mann, der einen anbetet und auf Händen trägt. Ich wäre genauso entspannt, wenn ich mit einem Mann wie Jimmy verheiratet wäre. Zu Tode gelangweilt, aber entspannt.
Wir klappern zurück zu unseren Schreibtischen, durch ein Büro, das nur so schwirrt vor verfrühter Freitagabendenergie. Das Wochenende ist zum Greifen nahe. Die Schultern der Tippenden entkrampfen sich, die Meetings sind witzgetrüffelt und das Radio läuft. Niemand arbeitet ganz so intensiv, wie er oder sie sollte, und am Montag werden wir uns für diesen Schlendrian verfluchen. Aber Montag ist Montag und jetzt ist jetzt, und ich habe eine sechste Verabredung und das ganze Wochenende vor mir und die Hoffnung auf einen Neubeginn.
Im selben Augenblick, als ich mich setze, stürze ich mich auf mein Handy. Diese süße Todesqual des Wartens auf den roten Punkt, der mir eine Nachricht verkündet – meine ganze zukünftige Laune hängt davon ab. Die Millisekunde, bis die Bildschirmsperre vorbei ist, stelle ich mir vor, wie sich alles in Luft auflöst. Dass ich mir die Schwingungen zwischen uns nur einrede, dass er vielleicht nicht geantwortet hat, dass ich vielleicht völlig durchgeknallt bin und Sachen zusammenfantasiere, die es nicht gibt, und dass er das rausgekriegt hat und mich jetzt erklärungslos ghostet. Dann muss ich wieder von vorn anfangen. Mich aus dem Staub erheben. Versuchen, mir wieder Hoffnung einzuhauchen. Ein dunkler Abgrund tut sich in meinem Magen auf … ah, Moment!
Nachricht!
Er hat geantwortet!
Dies ist mein Lohn dafür, dass ich beim Kaffeekochen mein Handy auf dem Schreibtisch habe liegen lassen. Ich habe den Liebesgöttern ein Schnippchen geschlagen, indem ich in die Küche gegangen bin. Das hat sie glauben lassen, ich schere mich nicht um Simons Antwort, und nur deshalb haben sie sie mir gesandt. Aber jetzt sind sie die Dummen, denn ich hatte noch nicht mal Lust auf diesen Kaffee. Ich hab einfach einen Grund gebraucht, von meinem Handy wegzukommen.
»Dein Handy hat gebrummt!«, unterrichtet mich Matt unnötigerweise, während ich bereits draufstarre. Über seinen Monitor späht er zu mir herüber, blickt freundlich durch seine dicke schwarze Brille. »War das Simon?«
Ich nicke. »Glaub schon. Aber ich kann jetzt ja nicht gut nachschauen, oder?«
»Warum nicht? Na klar kannst du.«
Katy knallt ihm seinen Kaffeebecher hin und er nickt dankend. »Google hat ihr vermutlich davon abgeraten«, sagt sie und lässt sich neben ihm nieder. Sie zieht sich die Tastatur heran und beginnt, ernst vor sich hin zu tippen.
»Nicht nur deshalb«, protestiere ich. Ich ziehe meine oberste Schublade auf und lege mein Handy hinein, aus den Augen, aus dem Sinn. Es kuschelt sich zwischen ein paar vollgekritzelte Notizbücher und die Werbepostkarten, die wir an die Studentenvertretungen verteilen. »Ich will nur einfach nicht, dass er glaubt, ich starre den ganzen Tag auf mein Handy, ob er jetzt schreibt.«
»Obwohl du ja genau …«, wagt Matt sich vor.
»Ja, aber ich hab auch andere interessante Sachen gemacht und auch andere interessante Gedanken gehabt.«
»Wie zum Beispiel …?«
»Tja, eben hatten wir dieses Meeting …«
»Bei dem du dein Handy dabeihattest … und permanent nur in deinen Schoß gestarrt hast.«
Ich schüttle den Kopf und schlürfe aus meinem ungewollten Liebesgötter-Austricks-Kaffeebecher. »Okay, okay, ich bin total jämmerlich, und Simon wird schnallen, wie verrückt ich bin, und mich sitzen lassen, und ich werde allein in meiner Wohnung sterben und meine Katze wird mein Gesicht fressen, weil die Viecher völlig illoyal sind.«
»Du hast keine Katze«, erinnert mich Katy.
Matt streckt mir seinen Zeigefinger hin. »Genau das schreibst du ihm jetzt zurück.«
»Was? ›Bitte lass mich nicht sitzen, wenn du rauskriegst, wie sehr ich spinne. Du bist meine einzige Chance, dass mein verwesendes Gesicht nicht von einer Katze gefressen wird‹, oder was?«
Er reckt mir energischer den Finger entgegen. »Jupp. Unterzieh ihn dem Stresstest. Schau, was passiert. Wenn er der Richtige ist, dann kapiert er es schon.«
Katy und ich sehen uns kopfschüttelnd an. Katy ist schon so ewig mit Jimmy zusammen, dass sie völlig eingerostet ist, aber selbst sie weiß, dass so was nicht geht.
»Du weißt, dass es so nicht läuft.«
Die Sache ist ja die: Ich weiß auch nicht, warum ich mich in Liebesdingen so schwertue. Ich bin hübsch. Ich bin klug. Ich habe einen okayen Job. Freunde. Hobbys. Ich bin lustig. Ich verwirkliche mich selbst. Ich ziehe mich gut an. Ich habe keine besonders hohen Ansprüche. Ich will von niemandem errettet werden. Ich habe realistische Vorstellungen von einer Beziehung. Ich weiß, dass sie anstrengend sind. Ich weiß, dass niemand perfekt ist, und ich schon mal gar nicht. Ich weiß, dass man »auch mal was riskieren muss«, und das tue ich auch. Ich bin eine gute Gesprächspartnerin. Ich komme gut allein zurecht. Wirklich.
Aber irgendwie will ich trotzdem eine Beziehung.
Ich will so dringend eine Beziehung.
Nicht, weil ich glaube, ohne würde mir was fehlen oder damit wären alle meine Probleme vom Tisch. Nicht, weil ich eine große Hochzeit möchte oder in einem teuren Kleid erstrahlen. Eigentlich noch nicht mal, weil ich Kinder möchte, denn ich könnte notfalls auch ohne welche überleben.
Ich möchte eine Beziehung, weil es so ein normaler, natürlicher Wunsch ist. Und trotzdem hat es bisher nicht geklappt bei mir. Das macht fertig, so anstrengend ist das. Ich weiß wirklich nicht, wieso das so anstrengend ist …
Aber vielleicht wird es jetzt nicht mehr so anstrengend sein. Nicht mit Simon.
Gott, ich mag Simon wirklich, so richtig.
Ich versuche, in meine Arbeit abzutauchen. Meine wichtige Arbeit in meinem wichtigen Beruf in meinem unabhängigen Leben. Ich versuche darüberzustehen. Weniger bedürftig zu sein. Weniger besessen. Heute Nachmittag werde ich für den Posteingang verantwortlich sein, und das ist immer eine traumatische Schinderei, also muss ich effizient arbeiten und mich durch meine E-Mails wühlen und so sein, wie ich weiß, dass ich sein kann. Ich tippe die Notizen vom letzten Treffen über die Sicherheitsmaßnahmen ab. Ich erstelle den neuen Monatsplan für das Buddy-Projekt und schicke ihn raus an die Ehrenamtlichen. Ich absolviere ein weiteres Treffen über Budgetkürzungen: wie wir mit viel weniger zurechtkommen, als wir haben, und wie sehr es nächstes Jahr wohl weiter zusammengeschrumpft sein wird, aber wie zuversichtlich wir doch sind, dass wir es trotzdem hinkriegen. Doch das Handy in meiner Schublade kann ich regelrecht fühlen. Die ungelesene Nachricht pocht Edgar-Allan-Poe-mäßig durchs Eichenholz, wie das tote Herz eines Menschen, den ich ermordet und zu verstecken versucht habe. Immer wieder starre ich ins Leere, während ich manisch über den Inhalt der Nachricht spekuliere. Er wird kaum für heute Abend absagen, oder? Zuletzt schien er doch richtig Lust drauf zu haben. Er hat ausdrücklich die Worte »freu mich auf dich« benutzt. Er hat einen Kuss hinten drangehängt. Aber was, wenn er sich umentschieden hat? Was, wenn ihn gestern Nacht plötzlich seine Ex angerufen und ihm gesagt hat, dass sie ihn immer noch liebt, und dann haben sie die ganze Nacht lang durchgevögelt wie die Karnickel, und erst eben ist ihm wieder eingefallen, dass er heute Abend ja verabredet war? »Upsi, da sollte ich wohl besser absagen«, lacht der Simon in meinem Kopf unbeschwert und sorglos, als sie ihm die Arme um den Hals schlingt. Sie heißt Gretchen, habe ich beschlossen. Aus unerfindlichen Gründen heißen alle perfekten Frauen, die sich in Beziehungen perfekt zu verhalten wissen, bei mir immer Gretchen. Gretchen küsst sein Gesicht und sagt: »Tja, da kannst du wohl jetzt kaum hingehen, was? Wo wir doch gerade miteinander nach Gretna Green durchbrennen wollen«, und – O GOTT, SPINNEICHDENN? Was soll jetzt dieses schräge Bild von ihm mit seiner Ex in meinem Kopf? Ich kenne ihn ja gar nicht, das waren grade mal fünf Verabredungen, warum tu ich mir das an? Ich muss die Nachricht lesen. Er wird absagen. Ich weiß es, ich weiß es. Ich sollte die Enttäuschung rasch hinter mich bringen, das Pflaster abreißen, Luft an die Wunde lassen, damit sie heilen kann und …
Die Schublade ist auf, mein Handy draußen, zusammen mit einem Schwung Postkarten, die wie Bombensplitter auf den grauen Teppich regnen. Ich pikse mit dem Daumen drauf, um es zu öffnen, frage mich schon, ob meine Mitbewohnerin Megan heute Abend Zeit haben wird, sich tröstungshalber mit mir zu betrinken. Ich öffne die Nachricht.
Simon: Hey, wie ist der Freitag bis jetzt? Treffen wir uns um 19 Uhr in Gordon’s Weinbar? X
Der übliche Emotionskick setzt ein. Himmelhochjauchz! Er hat geschrieben! Er mag mich! Ich mag ihn! Ich hab mir das nicht nur eingebildet! Menschen können einander treffen und mögen und daraus kann sich etwas entwickeln, und ich kann einer dieser Menschen sein! Ich krieg das gebacken mit Beziehungen! Ich krieg das so was von gebacken! Bei mir stimmt doch alles! Ja! Oh, ich mag ihn so arg! Gordon’s! Was für eine Superidee! Ich finde es so super da! Normalerweise finde ich es dort grauenhaft, aber jetzt ist es perfekt! Oh, er ist wirklich perfekt. Ich glaube, ich werde mich in ihn verlieben und es wird immer perfekt sein! Wie dumm von mir! Upsi! Wie unglaublich dumm von mir, das zu bezweifeln.
Aber Moment …
Ich hab mir gerade in Technicolor zusammenfantasiert, wie er unfassbar guten Versöhnungssex mit seiner Ex-Freundin hat. Ich hab sie sogar Gretchen getauft.
Das ist nicht normal, was?
Zum Henker noch mal, das ist so was von unnormal.
Was stimmt nicht mit mir?
ERDARFNIEHERAUSKRIEGEN, WIEUNNORMALICHBIN!
Matt wirft mir einen Blick zu und sieht, wie meine schlotternden Hände sich ums Handy krampfen. Er zieht die Kopfhörer ab und weist auf meine Hände. »Alles okay? Du schaust drein, als hätte er dir eine Todesdrohung geschickt.«
Ich blicke peinlich berührt auf. »Er will in Gordon’s Weinbar.«
»Boah, das toppt die Todesdrohung.« Er kann sich gerade noch unter der Kopfnuss wegducken, die ich ihm verpassen will. »Ist doch gut, dass er dich wiedersehen will, oder?«
»Denk schon.«
»Was wirst du antworten?« Er spricht langsam, wie ein Lehrer, der zum Schüler sagt: »Was für ein tolles Bild – malst du am Himmel wohl noch eine Sonne dazu?«
»So wird das ja üblicherweise gehandhabt, oder?«
»Ja, scheint mir allgemein das Schema zu sein. Die anderen schreiben. Man selbst schreibt zurück. Und so weiter und so fort.« Er will gerade die Kopfhörer wieder aufsetzen, als er innehält.
»Herrje, was kommt jetzt?«, frage ich. »Du wirst mir jetzt aber keinen brillanten Datingtipp aufs Auge drücken, oder? So à la: ›Wenn er der Richtige ist, dann kannst du’s gar nicht verbocken, und wenn nicht, dann helfen auch keine Tipps und Tricks‹ – für den großen Sinnspruchspender hab ich dich bisher eher nicht gehalten.«
»Nein, also eigentlich wollte ich mit dir über deine Schicht reden.«
Herzkrampf. Blick wird trüb. Ich weiß schon, was jetzt kommt.
»Ich hab mal in den Posteingang geschaut und da ist ein ziemlicher Klopper drin. Ich bin dein Buddy, also hab ich gedacht, ich warn dich vor und …«
Ich schneide ihm das Wort ab. »Ich weiß, was du sagen willst, aber mir geht’s gut.«
»Sicher?«
Mein Lächeln sitzt, obwohl ich schon richtig spüre, wie mir vertraute Trigger durchs Nervensystem surren und alles wieder zur Zündung bringen. Wie sie mir sämtliche Schalter im Körper umlegen. Alles um mich herum ist dunkel dunkel dunkel und ich tief im Allerschrecklichsten des Lebens. Hinter meinen Augenlidern verschwimmt die weiße Tapete. Das Prägemuster beginnt zu kreiseln. Ich bin hier im Zimmer, und die Sache ist aus dem Ruder gelaufen und ich weiß gar nicht, wie, weil alles eben einfach so unglaublich schnell passiert ist, aber die Tapete und … Nein. Da bin ich nicht. Ich bin hier, im Büro. Es ist Freitag. Mir kann gar nichts passieren.
»Sicher«, sage ich.
Anscheinend glaubt er mir, denn er setzt sich die Kopfhörer wieder auf. Matt kommt mit dem Radiosender nicht zurecht, der hier im Büro läuft. Wenn sich ein Lied nicht um irgendeinen traurigen Typen dreht, den sein mieses Selbstwertgefühl und die Erinnerung an sämtliche Verflossenen peinigen, klinkt Matt sich aus.
Ohne weitere Überlegungen lasse ich mein Telefon wieder in die Schublade gleiten. Simons Nachricht ist mir einstweilen entfallen. Ich stöpsele meine eigenen Lärmunterdrückungs-Kopfhörer ein. Klar, es ist Freitag und alle wollen Magic FM hören und dürfen das auch, aber über sexuelle Gewalt zu lesen, während Wham! läuft, halte ich nicht aus. Ich klicke auf Regen & sanfte Klaviermusik, logge mich in den Posteingang der Beratungsstelle ein und harre der neuesten Schreckenstat, die ein Mann einer Frau angetan hat.
Richtig übel, meine Schicht. Ich meine, übel ist sie immer, aber mir verschlägt es fast den Atem, als ich die Nachricht im Posteingang lese:
Eingang: 15:34
War das Vergewaltigung? Er ist mein Freund. Ich begreif’s nicht. War das jetzt ernst gemeint?
Matt schaut öfter zu mir herüber, als er zugeben würde. Ich spüre es jedes Mal, wenn sein Kopf zuckt, wenn sein Blick mein Gesicht abtastet.
Unvermittelt stehe ich auf. »Ich bin dran mit Tee. Mag noch wer?«, frage ich etwas zu aufgekratzt.
Er legt sich die Kopfhörer um den Hals. »Für mich nicht, danke. Alles gut? Ehrlich, April, ich mach die Schicht gern, wenn du lieber nicht möchtest.«
»Alles okay!« Ich schnappe mir meine Tasse und schicke Katy eine Daumen-hoch-runter-Geste, ob sie dabei ist. Sie schüttelt den Kopf. Ich tue, als hätte sich nicht der ganze Tag unter mir verschoben, als fühle sich mein Leben nicht an wie in einer aufgeschüttelten Schneekugel. »Tee ist schon unterwegs«, nuschle ich vor mich hin.
Ich stehe in der siffigen Küche und schlucke den Tee in Riesenschlucken hinunter, ohne ihn zu schmecken. Ich bin hier im Büro. Hier im Büro, wo mir nichts passieren kann. Hier ist jetzt. O Mann, ist das ein Drecksloch, dieses Büro. Als ich noch klein war, hab ich mir vorgestellt, Büro, das ist so ein Ort, wo Männer Anzüge aus der Reinigung und Seidenkrawatten tragen und perfekt manikürte Frauen Powerheels. Wo die Leute in windschnittigen Glasaufzügen die Stockwerke emporsausen, um mit Blick auf die Londoner Skyline ihre Meetings zu absolvieren. Das Büro einer Beratungsstelle sieht anders aus, vor allem das einer Beratungsstelle in Unterfinanziertheits-Endlosschleife. Seit die letzte Förderung gestrichen worden ist, haben wir schon wieder umziehen müssen. Jetzt kuscheln wir uns ungemütlich in ein Objekt im Obergeschoss eines Maklers auf der Hauptstraße. Wir teilen uns zu zwanzigst ein Unisex-Klo, wo jeder alles hören kann, und ein Fenster, um den Gestank rauszulassen, gibt es auch nicht. Oder einen frischen Blumenstrauß am Empfang oder irgendwelche schlanken Touchscreen-Teile auf dem neuesten Stand der Technik. Nur einen Dienstplan gibt es, wer diese Woche dran ist mit Telefondienst, und einige Computerknochen, die bei einer Geschäftsauflösung billig zu haben waren. Ach, und viel zu viele verzweifelte junge Menschen, die Hilfe brauchen, und zu wenige von uns, um ihnen wirklich helfen zu können.
Ich zwinge mich zurück zu meinem Arbeitsplatz und wühle dann in meiner übervollen Handtasche nach dem Lavendelöl. Davon sprenkle ich mir etwas auf die Handgelenke und atme tief ein, um mich zusätzlich im Geruch zu verankern.
»Ehrlich«, sagt Matt wieder. »April, ich kann echt übernehmen.«
Ich hebe den Kopf und lächle, weil er so besorgt dreinblickt. Matthew ist einer der wenigen Aspekte an diesem Beruf, die mein Vertrauen in Männer nicht komplett untergraben. »Du bist super«, sage ich zu ihm, weil es nämlich stimmt.
»Hinterher ein Eis?«
»Mehr als super.« Ich inhaliere noch mal ausführlich meine duftgetränkten Pulszonen und lese die E-Mail zum zweiten Mal. Ich mache mir Notizen, prüfe, ob ich auch nichts vergessen habe, keines der vielen Bruchstücke ihrer Geschichte, ihres Leids. Dann minimiere ich das Fenster, doppelklicke auf den Ordner »Dokumentvorlagen Antworten« und öffne die Textdatei »Vom_Freund_vergewaltigt.docx«. Weil vom eigenen Freund vergewaltigt zu werden so normal ist, dass es dafür eine eigene Antworten-Dokumentvorlage gibt. Ich tune die Vorlage, in der schon die ganzen wichtigen Sätze stehen, wie dass sie keine Schuld trifft und dass es keine richtige oder falsche Reaktion darauf gibt, und frage sie, ob sie jemanden hat, dem sie vertraut und mit dem sie reden kann. Ich verweise sie auf spezialisierte Anlaufstellen, die ihr weiterhelfen können. Ich schreibe, dass ich hoffe, dass sie später irgendwann das alles wird einordnen können und es schafft, diese Geschichte nicht ihre Person oder ihr Leben bestimmen zu lassen. Ich schlürfe an meinem Tee und überprüfe meine Antwort auf Tippfehler. Dann setze ich die Tasse ab, lese alles noch mal durch und drücke auf Senden. Irgendwas an meiner Atmung stimmt nicht so richtig. Die Luft steckt in meinem Zwerchfell fest wie ein Klumpen feuchter Lehm. Mein Computer meldet mir mit aggressivem Piepsen, dass meine Antwort empfangen worden ist. Ich stelle mir vor, wie sie im Posteingang dieses gesichtslosen Mädchens eintrifft – wo auch immer in diesem Land sie gerade ist. Ich stelle mir vor, wie sie ihren Bildschirm aktualisiert, auf diese Antwort wartet, und jetzt ist sie gekommen. Ich hoffe, sie hilft ihr. Ich stelle mir vor, wie sie darin Trost findet, wie das Gefühl der Einsamkeit nachlässt. Wie sie weint – auf gute Weise, so, wie man weint, wenn sich der schwere, aber richtige Weg vor einem auftut.
Ich helfe, ich helfe, ich helfe, sage ich mir in einem fort und lasse den Gedanken in mich einsinken, sich ausbreiten, mich zur Ruhe bringen.
Wieder Matt. Der mich über den Bildschirm hinweg anschaut. »Grad deine Antwort gelesen«, sagt er. »Hast den Ton perfekt getroffen.«
Ich seufze und lege den Kopf in den Nacken, starre hinauf zu einer losen Deckenkachel. »Danke, Buddy.«
»Sag nur Bescheid wegen dem Eis. Der ganze Rest im Posteingang ist ziemlich nullachtfünfzehn. Kannst dich auf eine 23-jährige Jungfrau freuen und auf noch eine, die wissen will, ob man von einem Toilettensitz schwanger werden kann.«
Ich lächle zu ihm empor. »Bei meiner Verabredung heute Abend ist das Jobthema tabu, oder?« Jetzt, wo ich mich durch den Trigger gekämpft habe, ist Simon in meinen Kopf zurückgekehrt. In meinen Adern keimt Hoffnung auf. »Ist Sperma auf Toilettensitzen überhaupt ein angemessener Date-Gesprächsstoff?«
»Frag Google«, antwortet Matt mit einem Lächeln.
Ich tippe los.
»O Gott«, sagt er, »du googelst das jetzt tatsächlich, was?«
Das hier sind die Gründe, warum ich glaube, dass Simon anders ist und ich mich deshalb in ihn verlieben könnte: Er schreibt immer zurück. Er scheint sich zu freuen, wenn er mich sieht. Seine Eltern sind nicht geschieden. Er hat noch nicht verkündet, ich sei die Liebe seines Lebens, was angemessen ist, doch seine Zuneigung für mich scheint mit jedem Treffen zu wachsen, was ebenfalls angemessen ist. Er hat einen festen Job und ist weder verkrachter Musiker noch verkrachter Schriftsteller noch verkrachter Schauspieler, der seinen Brotberuf nur ausübt, weil er gescheitert und deshalb verbittert und wunderlich und depressiv ist. Er hat mal ehrenamtlich im Obdachlosenheim ausgeholfen, wo ich ihn auch kennengelernt habe, was bedeutet, dass er innerlich nicht völlig abgestorben sein kann. Er hat eine Schwester, was, wie wir alle wissen, eine echte Empfehlung ist. Er ist attraktiv, aber nicht so sehr, dass sich ihm alle an den Hals werfen und er deshalb ein Mordsego hat und das ausnutzt. Er bringt mich zum Lachen und ich bringe ihn zum Lachen. Er küsst richtig gut. Als ich seine Ex-Freundin online gestalkt habe, war sie ungefähr mein Level, wenn nicht einen Tick hässlicher, und von der Timeline her konnte ich erkennen, dass sie vor grob einem Jahr und zwei Monaten Schluss gemacht haben müssen, was eine gute Zeitspanne ist, um über jemanden hinwegzukommen. Er scheint richtig angetan von mir – bislang.
Ich erspähe ihn, bevor er mich erspäht, und so kann ich den prickelnden Anblick eines Mannes genießen, der auf einen wartet. Ach, Simon, ich möchte mich wirklich in dich verlieben, wenn ich es irgendwie gebacken kriege. Er sieht gut aus in seiner Arbeitskluft – die Ärmel seines blauen Hemds sind hochgekrempelt und stellen die gebräunten Arme zur Schau. Er hat schon eine Flasche Roten bestellt – weil er noch vom letzten Mal her weiß, dass ich lieber rot trinke. Er hat es geschafft, uns draußen ein winziges Fasstischchen und zwei Hocker zu organisieren. Er hängt an seinem Handy, scrollt mit dem Daumen durch, völlig entrückt vom lauten Wochenendgebrabbel der Feiernden um ihn herum. Dann spürt er meine Anwesenheit und blickt auf. Seine Augen bilden beim Lächeln kleine Fältchen, was laut dem Beziehungsexperten Roald Dahl bedeutet, dass es sich um ein aufrichtiges Lächeln handelt. Ich winke beschämt und lächle zurück, ebenfalls mit Roald-Dahl-Gütesiegel. Das ist es, Leute. Das könnte es wirklich sein. So lächelt ein Mann nicht, wenn es nicht wirklich was sein könnte. Ich gehe zu ihm hinüber, extremst befangen, und wünsche mir, ich hätte dieses zweite Glas Wein nach der Arbeit nicht getrunken. Ich hatte das eigentlich gar nicht vor, aber London trumpft gerade mit einer höchst ungewöhnlichen Hitzewelle auf, und da haben wir kurz entschlossen den Stier bei den Hörnern gepackt und etwas Wein mit in den Regent’s Park um die Ecke geschleppt. Ich wollte den hartnäckigen Nachgeschmack meiner Schicht loswerden. Außerdem ist mir nach einem neuen Rechercheanlauf aufgegangen, dass Simon vielleicht heute mit mir schlafen wollen würde, und ich bin prompt völlig durchgedreht. Der Wein hat meiner Angst, es könnte nicht klappen oder wieder passieren, die Spitze genommen. Ich schwebe einfach so dahin und bin überzeugt, dass schon alles laufen wird, obwohl ich meine Vaginaldehner schon seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt habe.
Wir wissen noch nicht ganz, wie wir einander begrüßen sollen. Bei unserem letzten Treffen standen wir gegen eine Wand in der U-Bahn-Station gepresst und haben uns so heftig geküsst, dass es schon an ein Wunder grenzt, dass wir nicht verhaftet wurden. Ich bin mir sicher, dass wir beide gerade daran denken, und trotzdem sind wir wieder in steifem Balzverhalten verfangen.
»Hallo, du!« Er küsst mich auf die Wange und ich murkse irgendwie eine Umarmung daraus.
»Du riechst gut«, höre ich mich angeschickert sagen, als wir uns voneinander lösen. »Wir würden genetisch total gesunde Kinder haben.«
Zwei Sekunden lang versinke ich im Erdboden, bis er in schnaubendes Gelächter ausbricht und mein Magen sich wieder entkrampft. Er lacht so breit, dass ich mindestens drei Plomben ausmachen kann, was ich auch noch erotisch finde, oxytocingetränkt, wie ich bin.
Er beugt sich zu mir her und schnüffelt an meinem Hals. »Mmmm, du riechst, als hättest du einen breit gefächerten Genpool.«
»Unsere Kinder werden nicht mal Impfungen brauchen!«
Dann küssen wir uns auf eine Art, die ich eigentlich in der Öffentlichkeit verabscheue, machen da weiter, wo wir beim Ende unseres letzten Dates aufgehört haben. Der Wein ist vorübergehend vergessen, das Stimmengewirr der Menge um uns herum verschmiert wie Vaseline, und ich schmecke Simons Mund und bin mir wirklich ziemlich sicher, dass das Liebe sein muss.
Ich breche es ab. »Bitte unterlass es aber, jetzt auch noch hundemäßig meinen Hintern zu beschnüffeln«, sage ich.
Er stellt wieder seine sexy Füllungen zur Schau. »Aber das ist mein bester Move!«
Wir wenden uns unserer Rotweinflasche zu und dem prickelnden Gefühl des Kontakts mit einem Menschen, auf den man so richtig steht.
Das ist es alles wert gewesen, beschließe ich, als er schließlich die letzten Tropfen Wein in mein Glas leert. All den Herzschmerz und die Trennungen und die grauenhaften Verabredungen und die Anrufe bei meinen Freundinnen, wie erschöpft ich doch bin und dass ich es nicht mehr schaffe, und die ständige Sorge, »ob ich das je erleben darf«, und das Weinen, bis mir die Luft wegbleibt, und das Jahr nach Ryan, wo ich in all den leeren Stunden nichts anderes gemacht habe, als nach Methoden zu googeln, wie ich mich umbringe, ohne dass meine Mutter beim Finden meiner Leiche zu sehr leidet … das ist es alles wert gewesen, wegen jetzt. Simon. Dem hier. Der Art, wie wir einander ergänzen.
»Ich bin nicht wie die anderen Typen in der Finanzwirtschaft«, sagt er und schwenkt seinen Wein so im Glas, dass er bis an den Rand züngelt, aber nie hinüberrinnt. »Die sind alle nur wegen des Geldes dabei. Ich nicht. Ich bin Ombudsmann; ich passe nur auf, dass sich alle benehmen. Wenn man sagt, man ist in der Finanzwirtschaft, dann nehmen alle einfach an, man sei so ein Bankerarschloch, aber einer muss ihnen ja auf die Finger schauen.«
Ich nicke bedeutsam, schaue drein, als mache ich mir Gedanken über irgendwelche Einzelheiten des Zahlensalats, den er mir da auseinanderpflückt, obwohl ich in Wahrheit den äußerst entsetzlichen Gedanken hege, dass er in der Finanzwirtschaft arbeitet und das bedeutet, dass er so richtig Geld verdient, selbst wenn er kein Banker ist, und das doch durchaus nützlich sein kann, weil ich ja für eine Wohlfahrtseinrichtung arbeite und deshalb chronisch pleite bin. Vielleicht hat er genug gespart, um ein Haus zu kaufen? In dem ich dann auch wohnen kann? Und dann, wenn wir heiraten, wird das Haus auch irgendwie mir gehören? Ich meine, ich mag Simon, weil er Simon ist – nicht, weil er Geld hat. Aber Geld ist wirklich nützlich. Moment mal, was hat er gerade gesagt? Ich zwinkere unser grundsaniertes viktorianisches Reihenhaus mit drei Schlafzimmern in Greenwich beiseite. »Bitte?«, frage ich.
Wieder langt er über das Fasstischchen nach meiner Hand. »Ich hab mich nur nach deiner Arbeit erkundigt. Weil du bisher kaum was erzählt hast.«
»Tja, klar, das liegt daran, dass ich für eine Fachstelle für Sex- und Beziehungsberatung arbeite. Kein optimales Thema für Dates. Das ist alles schwer anstößig.«
Er drückt meine Hand fester. »Das hier ist unsere sechste Verabredung, April, ich glaube, da ist ein bisschen Anstößigkeit durchaus erlaubt.«
Und dann macht er dieses Männerdings mit den Augen, wenn sie einem ganz klarmachen wollen, dass sie wirklich Sex mit dir wollen. O Gott, jetzt geht’s los. Es wird klappen, es wird klappen. Wenn er derjenige ist, welcher, dann wird es klappen.
»Also, dein Job?«, ermuntert er mich, macht es sich bequem und schraubt den Blick zurück. »Erzähl mir was darüber.«
»Was möchtest du wissen?«
»Tja, machst du ihn gern?«
»Ich liebe ihn.« Ich schwenke begeistert mein Weinglas herum und lasse die Freude über meine Arbeit meine aufkeimende Angst übertünchen. »Also, wir sind quasi dauerpleite und letztes Jahr konnten wir uns nicht mal eine Weihnachtsfeier leisten. Aber die Arbeit gibt einem viel und meine Kollegen sind toll. Meine Aufgabe ist zweigeteilt«, erkläre ich. »Die Hälfte meiner Zeit mache ich Organisatorisches – mich um die Ehrenamtlichen kümmern, um die Sicherheitsmaßnahmen und so weiter. Im Grunde bin ich dafür verantwortlich, Freiwillige zu rekrutieren, sie auszubilden, dafür zu sorgen, dass sie auch bei uns bleiben, und sicherzustellen, dass sie auch noch ungefähr wissen, was sie da machen. Und die andere Hälfte meiner Zeit übernehme ich die Schichten bei unserem Beratungsdienst.«
»Was für ein Beratungsdienst?« Er wirkt jetzt nur noch halb interessiert, aber vielleicht hab ich mir nur eingebildet, dass er gerade auf sein Handy geschielt hat?
»Also, ich arbeite bei unseren Online-Angeboten. Die Leute schicken uns ihre Fragen zu Sex und Beziehungen und wir antworten dann.«
»Sexfragen? Da geht’s sicher ganz schön zur Sache, was?«
Ich lache und leere mein Glas, spüre, wie mich die Wärme durchsickert. Es ist die sechste Verabredung und so langsam fühle ich mich wohl mit Simon. Nicht wegen des Weins, ganz sicher. »Mich kann nichts mehr schocken«, sage ich zu Simon, meinem Ehemann in spe.
»Ach ja?«
»O ja. Bei diesem Job kann man gar nicht prüde sein. Also, an meinem ersten Tag musste ich ein Meeting über unsere Richtlinien zu Analverkehr leiten.«
Er spuckt beinahe den Wein aus. »Und wie lauten die Richtlinien zu Analverkehr?«
»Meine oder die meiner Arbeitsstelle?«
Er schluckt schwer und für den Spruch klopfe ich mir innerlich auf die Schulter. Ich lache wieder und genieße es, wie er sich windet. »Ich hab dir gesagt, mich kann nichts schocken. Zu meiner Verteidigung, du hast mit dem Thema angefangen. Obwohl mir mein Kollege Matt geraten hat, ich soll mich über meine Arbeit noch ein bisschen ausschweigen.«
Er neigt den Kopf. Ein Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus. »Ach, du hast also deinen Kollegen von mir erzählt?« Er stellt sein Glas ab, damit er über den Tisch langen und wieder meine Hand nehmen kann.
Ich nicke schüchtern und kann nicht mal beschreiben, wie unglaublich sich seine Haut auf meiner anfühlt. »Warum? Hast du deinen Kollegen etwas von mir erzählt?«
Jetzt nickt er. »Vielleicht hab ich mal erwähnt, dass ich schon ein paar Dates hatte.«
Das ist es. Hab ich doch gesagt, dass es das ist. Wenn er Leuten von mir erzählt, dann muss das heißen, dass er sich auch in mich verliebt. Meine Muskeln entkrampfen sich, seufzen laut auf und machen sich locker. Ich versuche, den Moment in mich aufzusaugen und ihn mir einzuprägen, damit ich ihn später in allen Einzelheiten unseren Enkelkindern erzählen kann. Die Sonne, die am Himmel schwitzt, der Geruch der nahen Themse in meiner Nase, was genau ich anhabe, was genau er anhat, wo genau unser Weinfasstisch steht, welche Geräusche die Grüppchen um uns herum machen. Alles ist so wunderbar, dass ich den tödlichen Fehler begehe.
Ich glaube dran.
Und deshalb lasse ich langsam los.
»Ich frage mich immer, wie das wäre, ganz normale Arbeitsbeziehungen zu seinen Kollegen zu haben statt diese richtig intensiven«, sinniere ich und streiche mir mit dem Rand meines Weinglases über die Lippen. »Wenn man für einen Verein wie ›IstDaJemand?‹ arbeitet, dann verlangt es die Professionalität einem ab, auf Anhieb extrem persönliche und unprofessionelle Gespräche miteinander zu führen.«
»Was meinst du damit?«, fragt Simon und kippt den Kopf etwas zu weit in den Nacken, um an den Bodensatz seines Weinglases zu kommen. Nicht die attraktivste Pose, aber das ist egal, weil er mein potenzieller Ehemann ist und deshalb alles, was er macht, automatisch herzerwärmend wirkt.
»Na ja, wenn man wie wir mit aufgewühlten Leuten arbeitet, die einem aufwühlende Dinge erzählen, ist es ungesund, immer den professionellen Alleschecker zu spielen. Wir müssen in uns selbst ruhen, um gut mit den Klienten umgehen zu können. Man kann keine Beratungsschicht machen, wenn es einem nicht gut geht. Das ist unverantwortlich. Das sickert dann vielleicht in die Antworten hinein. Darum sind meine Kollegen und ich, also, supereng miteinander. Wir haben immer einen Buddy, mit dem wir nach jeder Schicht eine Nachbesprechung machen, und wir müssen ständig über unsere Gefühle sprechen. Ich weiß im Grunde alles Schreckliche, was ihnen jemals widerfahren ist, und umgekehrt. Auf die Weise kennen wir alle unsere Trigger und können während der Schichten aufeinander aufpassen.«
Simon verzieht das Gesicht. »Trigger?«, fragt er.
Ich nicke. Ich rede wirklich so richtig gern über meine Arbeit. Unseren kleinen gemeinnützigen Verein. Ihm ist so viel Gutes in meinem Leben entsprungen, nach Ryan. »Ja, Themen, die einen besonders aufwühlen – meist, weil es irgendwas ist, das man selbst schon mal durchgemacht hat. Wenn einen bei der Arbeit ein bestimmtes Thema besonders mitnimmt, dann wühlt einen das vielleicht zu sehr auf und dann muss man an eine Kollegin oder einen Kollegen übergeben.« Ich lächele und denke voller Wärme an Matt und Katy und all die anderen in unserem kleinen Kosmos des gegenseitigen Unter-die-Arme-Greifens. »Und deshalb sind wir alle sehr eng miteinander. Zum Beispiel weiß ich, dass mein Buddy nichts übernehmen kann, was mit Alkoholismus zu tun hat, weil sein Vater Alkoholiker war. Und meine Chefin hält sich besser bei Fragen zu Geschlechtskrankheiten zurück, weil sie eine Bazillenphobie hat, und eine von unseren Ehrenamtlichen, die beste von allen, kann nicht so mit Drogensachen.« Ich blicke zu Simon auf, grinsend, erwarte, dass er mein Grinsen erwidert. Darum erschreckt es mich, dass sein Gesicht nicht aussieht, wie ich es mir vorgestellt habe. Stattdessen hat er sich zurückgelehnt, mit leicht angeödetem Gesichtsausdruck. Ich kann sehen, wie er die Nachrichten auf seinem Handy checkt, und mir dreht sich der Magen um.
»Alles vielleicht ein bisschen heftig«, sagt er mit gerümpfter Nase.
Ich merke, wie die Stimmung zwischen uns kippt, spüre sein Unbehagen und komme mir sofort unbeholfen und blöd vor.
»Möchtest du noch woandershin?«, wechselt Simon äußerst bewusst das Thema, die Arme vor der Brust gefaltet. »Oder«, fragt er und hebt eine vielsagende Augenbraue, um die Stimmung noch ein bisschen weiter zu drehen, »sollen wir einfach bei mir noch was trinken?«
Ich bin immer noch verstört, als er mit dem Sex-Zaunpfahl winkt, auf der Suche nach meinem Patzer. Ich ringe mir ein Lächeln ab, hinter dessen Schutz ich laienpsychologisch eruieren kann, was da grade vor sich geht. »Dann gehen wir mal zu dir?«
Es wirft mich aus der Bahn, dass ich ihn verstimmt habe, mir ist, als taumelte ich am Rande eines Abgrunds entlang, wild mit den Armen fuchtelnd, um nicht umzukippen.
Aber Sex … wenn man mit ihnen ins Bett geht, bringt das alles wieder ins Lot. Jetzt will ich mit ihm ins Bett, nicht aus Lust, sondern weil ich es wiedergutmachen will. Mich selbst als Entschuldigung dafür darbieten, ich selbst gewesen zu sein.
Er schnellt empor und schlingt mir den Arm um den Rücken, während ich mich mühsam aufrapple. Ein Knäuel betrunkener Anzugträger quetscht sich an uns vorbei, kapert unseren Tisch, noch bevor ich meine Handtasche vom Hocker genommen habe. Ich grüble immer noch hektisch, als wir auf den Fußweg am Embankment ausgespuckt werden, wo ein Verkäufer der Obdachlosenzeitung verzweifelt ein Exemplar an uns loswerden will. Ich versuche, mich wieder in die gute Stimmung zu versetzen. Hab ich mir das nur eingebildet, dass unsere Verbindung abgerissen ist? Vielleicht. Besonders weil …
Keine Zeit für weitere Gedanken. Simon hat mich an sich gezogen, stöhnt, als sich unsere Lippen treffen. Gute zwanzig Minuten machen wir vor dem Obdachlosenzeitungsverkäufer herum und London verschwimmt im Nichts. Ich vergesse immer wieder, wie sehr mich Küssen außer Gefecht setzt. Mein Gefahrensensor setzt völlig aus, wenn die Biologie das Ruder übernimmt und mich mittels körpereigenem Drogencocktail high macht. Simon legt ein Päuschen ein, nimmt meine Hand und zerrt mich zur U-Bahn-Station, ganz erhobene Augenbrauen und dringliche Sexualerwartung. Ich weise mich an, Aufregung statt Anspannung zu empfinden.
Noch vier Minuten bis zur nächsten Circle-Line-Bahn, also küssen wir weiter, halten nur kurz inne, um zu diskutieren, ob wir bei Tower Hill umsteigen sollen.
»Spart uns zwei Minuten«, sage ich.
»Was sind schon zwei Minuten?«, entgegnet Simon und zieht mich wieder an sich.
Die Bahn fährt zischend ein. Wir taumeln in den halb leeren Waggon. Angesichts der gleißenden Beleuchtung einigen wir uns stillschweigend darauf, die öffentlichen Zuneigungsbekundungen vorübergehend einzustellen, und setzen uns einander gegenüber. Der eskapistische Knutschrausch hält eine ganze Station weit vor, bis meine Angst sich wieder meldet. Ich starre zu Simon rüber und fange war-ja-so-klar-mäßig an, mich an dem Vorangegangenen und dem Bevorstehenden abzumartern. Er hat sein Handy rausgezogen und scrollt wie weggetreten darauf herum. Warum starrt er nicht bewundernd zu mir rüber, so wie ich zu ihm? Das ist das erste Furchtflattern. Und dann, als wir gerade an der Station Monument vorüberrattern: Warum ist er so schräg geworden, als ich von meinem Job gesprochen habe? Habe ich’s übertrieben? Ich übertreibe es immer. Warum hab ich nicht meine Vaginalübungen gemacht? Wird es klappen? Werde ich es schaffen?
Sag nichts, weise ich mich an. Verlier kein Wort drüber. Genieß es. Schlaf mit ihm. Hol dir die Nähe zurück. Du weißt, wie Sex funktioniert. Du hast es schon mal gemacht. Verlieb dich. Der Mann mag dich, ganz klar! Schau doch! Er hat gerade von BBC Sport aufgeblickt und dir zugezwinkert! Zugezwinkert! Was für ein schönes, romantisches Zwinkern … oh, jetzt schaut er wieder auf sein Handy, aber das ist okay. Du kannst kaum erwarten, dass er dich die ganze Fahrt hindurch bewundernd anstarrt. Das wäre zu viel verlangt. Du verlangst zu viel, wie immer.
Aber mein Mund steht offen und die Worte sind bereits draußen:
»Simon? Ist alles okay?«
Er löst den Blick von seinem Display und rümpft zum zweiten Mal an diesem Abend die Nase. »Ja, warum?«
Halt den Mund, halt den Mund, halt den Mund.
»Ich wollte dich nicht mit meinem Job zuquatschen …«
»Mach dir keinen Kopf. War nur ein bisschen heftig für Freitagabend, oder? Schau! Hier müssen wir raus.« Er streckt seine Hand nach mir aus und verwebt wieder unsere Finger, und ich trete hinaus auf den Bahnsteig, mit dem vagen Gefühl, als habe man mir ins Gesicht geschlagen, ich sei aber irgendwie selbst schuld daran und müsse es wiedergutmachen.
»Ich kann es kaum erwarten, bis ich dich in meiner Wohnung habe«, raunt Simon gegen meinen Hals, bevor er ihn küsst.
Ich gebe einen unverbindlichen, erotisch angehauchten Laut von mir und versuche, mich ins richtige Fahrwasser zu bringen. Was meint er mit »ein bisschen heftig«? Ich hab doch kaum was gesagt. Warum fallen diese zwei Worte immer wieder im Zusammenhang mit mir?
Wir bahnen uns unseren Weg durchs Freitagabendflirren, weichen den Klumpen dürftig gekleideter Schwärmer aus, die angeheitert schwankend ihr Heil in fettigen Gasthaussnacks suchen. Simon küsst mich, während wir auf den Bus warten. Mit jedem Kuss weicht meine Angst, werde ich in die Gegenwart zurückgezogen. Als wir einsteigen, will ich mir einreden, dass ich mich anstelle und wieder alles überbewerte, wie immer. Ich versuche, mich in Sexstimmung zu bringen, hake innerlich ab, ob ich bereit dafür bin. Ich trage ein schönes, passendes Unterwäscheset. Ich habe mich heute früh in der Dusche rasiert. Ich habe Kondome und eine Zahnbürste in der Tasche. Ich hoffe, mir stecken keine Klopapierfetzen zwischen den Schamlippen. Vielleicht kann ich vorher schnell auf die Toilette, nur zur Sicherheit?
Das laute Pling des Halteknopfs. Simon, der aufsteht.
»Da wären wir.«
Ich rapple mich auf, halte mich beim abrupten Bremsen des Busses mühsam senkrecht. Er steigt zuerst aus und streckt den Arm nach mir aus. »Mylady«, sagt er mit Handkuss.
»Mylord«, entgegne ich, obwohl mich gerade ein unerklärlicher Widerwille gegen Simon überwallt. Du schmieriger Schleimbeutel, du, denke ich. Fick dich doch, so blöd rumzutun wegen meines Jobs.
Und dann ist das Gefühl wieder weg, so schnell, wie es gekommen ist. Ich lache und knickse flüchtig.
Simon zerrt mich zu seiner Wohnung, raspelt zärtlich Süßholz, wie der Regisseur-DVD-Kommentar zu einem Film namens Was frau heimlich hören will. »Du bist so wunderschön und sexy. Ich find dich so richtig, richtig gut. Du bist der Hammer.«
Die Worte schmelzen in mir wie Honig in warmer Milch und spülen all die Zweifel weg, die gerade die Hand erheben. Ich fühle mich allmächtig, ganz high von seinem Begehren. Wenn er dieses Maß an Bewunderung in jeder Minute unseres gemeinsamen Lebens aufrechterhalten kann, dann wird das doch bestimmt ausgleichen, dass er es nicht eine Minute lang erträgt, wenn ich über meinen schweren Beruf rede, und die Tatsache, dass er tatsächlich ziemlich abgeschmackt ist, und … oh. Gerade haben wir seine Wohnung betreten, und die ist ein absoluter Saustall. Sie ist widerlich. Überall Dreck. Als wären er und sein Mitbewohner Tiere. Igitt. Igittigittigitt.
»’tschuldige. Die Putzfrau kommt erst Sonntagmorgen.« Simon hebt meine Arme, um mir das Oberteil auszuziehen, bevor ich überhaupt zum Ausziehen bereit bin. Schließlich stehen wir immer noch in seinem zugemüllten Flur. Er tut noch nicht mal so, als würden wir Kaffee trinken.
Ich hätte durchaus noch etwas mehr Vertrauen einflößenden Small Talk gebrauchen können, aber jetzt ist mein Oberteil weg und Simon führt sich auf wie alle Männer, die Ficken gewittert haben. Seine Augen haben diesen wütenden, drängenden Blick und jetzt bohrt er mir seine Zunge in den Mund. Es ist wie bei den Höhlenmenschen. Ich komme mir vor wie … Beute? O Gott, Hirn, hör auf zu denken! Ich versuche, mich aufs Zurückküssen zu konzentrieren, mich völlig meinen Instinkten zu überlassen und mich gut und sexy zu fühlen und alles richtig zu machen, aber ja, ich habe ein Auge offen, um seine Wohnung zu mustern und möglichst herauszulesen, was die über sein Wesen aussagt. Schwer zu sagen bei diesem Dreck. Das typische Männer-die-zusammenwohnen-Chaos – zwei orthopädische Fläzsessel und ein in zwei Handgriffen aufgebauter Kieferntisch von Ikea, auf dem alte Zeitungen vor sich hin rotten. Ich drehe Simon herum, um einen Blick in seine Küche werfen zu können. Die Geschirrberge und Speisereste überall verheißen nichts Gutes. Also, der Mann ist dreiunddreißig und kann nicht mal eine Arbeitsfläche abwischen?
»Auf, gehen wir ins Schlafzimmer.« Simons Erektion beult sich gegen seine Anzughose, sein Hemd steht schon halb offen.
»Okay.«
Wir taumeln zum Schlafzimmer, an den Lippen verbunden. Er knöpft dabei weiter sein Hemd auf, und so schlinge ich die Arme um ihn und kratze ihn unbeholfen am Rücken, damit ich gefühlt auch etwas damit zu tun habe. Sein Gegrunze wird dringlicher und schon preschen wir durch die Tür und stehen in seinem Zimmer. Von einer Vorhangstange baumelt die walisische Flagge, was mich wundert, weil er sich kein bisschen walisisch anhört. Ist er denn Waliser? Muss man wissen, ob jemand Waliser ist oder nicht, bevor der einem den Penis reinschiebt? Herrgott, Hirn, halt die Klappe. Genieß einfach den Sex! Was stimmt nicht mit dir?
Wir plumpsen rücklings auf sein ungemachtes Bett, mit einem dumpfen Aufschlag und einem Kichern. Die Intimität dieses Lachens törnt mich ein kleines bisschen an. Es fühlt sich wieder echt und richtig an und ich bin wieder voll dabei. Mein Hirn wird hinreichend frei, dass ich Simon das Hemd vom Leib zerren und zu Boden pfeffern kann wie eine sexy Raubkatze, also keine echte Raubkatze natürlich, weil die ja keinen opponierbaren Daumen hat. Gib Ruhe, Hirn, gib Ruhe! Simon hebt sanft meine Hüfte an, um einen Ausziehversuch bei meiner Skinny Jeans zu starten. Er schlägt sich wacker, bis sie mir an den Schienbeinen hängen bleibt. Ich beuge mich vor, um ihm zu helfen.
»Nein.« Er schlägt meine Arme fort und zerrt.
Schockiert sage ich: »Ich wollte nur helfen.«
»Dann lass es.«
Er zerrt noch eine Weile daran herum, murrt: »Was ist das bitte für ein Scheiß?« Und als er sie mir schließlich von den Füßen gerupft hat, strahlt er mich an wie ein Paradegockel. Als hätte er mich nicht gerade geschlagen. Als müsse ich es erotisch finden, mich zurechtweisen zu lassen.
Keine Ahnung, was ich jetzt tun soll, also recke ich mich ihm zu einem Kuss entgegen, sehne mich nach etwas ausgleichender Zärtlichkeit. Aber er packt mich an den Haaren und windet sie sich um die Faust, zieht mich grob an sich, während er mit der anderen Hand versucht, mir den BH zu öffnen. Ich weiß, dass speziell der knifflig ist und dass er sich schwertun wird, aber dass er Hinweise nicht schätzt, hab ich mittlerweile kapiert. Also gehe ich innerlich noch mal durch, was ich an ihm mag, und ignoriere dabei, dass er mittlerweile schon eine gute Minute daran herumprobiert: Simon beantwortet meine Nachrichten innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens. Er bringt mich zum Lachen. Er ist nicht wie andere Finanzleute. Ich denke daran, wie wir uns bei unserem ersten Date schiefgelacht haben, weil der Kellner so inkompetent war und uns völlig übersehen hat. Ich denke daran, wie er zu unserer zweiten Verabredung mit einem Tulpenstrauß aufgekreuzt ist, weil ich ihm erzählt hatte, dass das meine Lieblingsblumen seien. Ich denke an die nette Nachricht, die er mir letzte Woche geschickt hat, als ich unser Treffen verschieben musste, weil der Büro-Schnupfen mich erwischt hatte, und mir gute Besserung gewünscht hat. Wir haben alle unsere kleinen Fehler, sage ich mir, als er sich aus seinen Boxershorts pellt und mich stumm anweist, aus meiner Unterhose zu schlüpfen. Ich hab so ein Glück, ihn getroffen zu haben, sage ich mir, als ich mich abwartend auf die Ellbogen stütze, während er sich mit dem Kondom abmüht. Das könnte wirklich der Beginn einer größeren Geschichte sein, sage ich mir, als er mich zurücklehnt. Gleich wird er in mich eindringen und ich hole dreimal diskret tief Luft, mache mich verrückt vor Sorge, dass er mir wehtun wird, dass es der Horror wird und mein Leben am Ende … aber … oh, Gott sei Dank, er ist drin und wir haben Sex. Mein Körper entspannt sich und ich stoße einen Seufzer der Erleichterung aus, den er für Befriedigung hält und erwidert. Er zieht mein Gesicht zu sich hoch, um mir in die Augen zu starren. Das ist eigentlich schön. Das gefällt mir. Es ist zärtlich und echt und sicher, zwei Minuten Missionarsstellung lang. Aber dann wendet er den Blick ab, sein Ausdruck wird verschlossen und er wird gröber, rammt fester in mich hinein, als ginge es hier gar nicht um mich. Warum machen sie das immer? Warum? Ich brauche es, dass er mich ansieht. Ich brauche es, dass er mich sieht. Ich brauche das Gefühl, dass das hier etwas bedeutet. Aber sein Pornomodus ist übermächtig und wieder sterben in mir jedes Gefühl und jede Kontrolle, wieder schieße ich mich in einer Spirale aus diesem Zimmer, weg von ihm und hinein in die Finsternis, kann ich mich kaum noch im Hier festkrallen.
Aber es wird noch schlimmer. Er zieht seinen Penis raus, und ohne eine Frage, ohne eine Rückversicherung, ohne einen Kuss oder auch nur irgendeine Form der Zärtlichkeit arrangiert er mich um, um mich von hinten zu nehmen. Das ist so kalt und gefühllos und nein, nein! Wo ist er hin? Warum führt er sich auf, als wäre ich gar nicht da? Meine Angst wächst und wächst, mein Magen stülpt sich um und er zieht an meinen Haaren. Der nette Mann, von dem ich dachte, ich könnte mich in ihn verlieben, ist verschwunden und ich verfalle in Panik …
Ich kann das nicht.
Ich erstarre. Hänge urinstinktiv im Augenblick. Angstdurchtränkt.
Er merkt gar nichts, oder vielleicht tut er auch nur so, als merke er nichts. Egal, er legt wieder los, obwohl ich ganz starr geworden bin, aber nein …
Nein nein nein …
Nicht so.
Bitte nicht so.
Die weiße Tapete.
Nein. Aber, o Gott!
Das wird so viel einfacher, so viel einfacher, wenn ich einfach mitmache.
Aber ich kann nicht.
Ich kann nicht.
»Tut mir leid«, quieke ich. Ich rolle mich beiseite, um nicht länger übers Bett gebeugt zu sein. Ich muss mich schwer zurückhalten, um ihn nicht wegzutreten und aus dem Zimmer zu laufen.
»Was zum Teufel …?«
Ich sehe, wie sich Panik auf seinem Gesicht ausbreitet. Sein Mund offen steht, die Lippen sich wölben.
Scheiße. Ich hab’s kaputt gemacht, ich hab’s kaputt gemacht. Ich hab so eine Panik und ich will abhauen, aber ich kann das nicht mit seinem Gesicht, nicht jetzt, wo ich es kaputt gemacht habe.
»Ich … ich kapier das nicht. Was ist hier los?«
»Können wir einfach … nicht diese Stellung?« Meine Stimme ist mehr Quietsch als Stimme. »Nicht heute!« Verzweifelt angle ich nach eine Ausrede. »Ich will dein Gesicht sehen.«
»Oh«, sagt Simon, steht da, nackt. »Oh«, wiederholt er.
»Okay, cool«, sage ich und entknote mich und zwinge mich, mich nach oben zu recken und ihn zu küssen, um vielleicht den Moment wieder einzufangen. Vermutlich könnte ich mich schon wieder hineinbefördern, wenn er es einfach schaffte, ein bisschen zärtlicher zu sein. Wir können das überwinden, alles in Ordnung, er küsst immer noch wirklich gut … oder? Er küsst mich kaum zurück. Ich kann sein Zögern schmecken. Und als ich hinabblicke, sehe ich, wie mein Verhalten die Luft rausgelassen hat.
Scheiße. Scheiße Scheiße Scheiße Scheiße.
Ich hätte den Mund halten sollen.
Was stimmt nicht mit mir?
Warum hab ich das getan?
Furcht durchpumpt mich, drückt auf den Panikknopf. Ich breche ab, obwohl ich weiß, dass das Drüberreden es noch schlimmer machen wird. »Alles okay?«
Simon reißt die Augen auf, Simon ist nicht okay. »Jupp.« Er verzieht gequält das Gesicht, als er es sagt. Dann … »Also, eigentlich, also …« Er setzt sich auf die Bettkante, weit weg von mir, und signalisiert damit das Ende dieser sexuellen Begegnung und damit, so viel ist klar, von uns. Mir schnürt sich vor Selbsthass die Kehle zusammen. Ich sehne mich nach einer alternativen Realität, in der ich uns einfach weitermachen lasse. Wo ich die Art von Frau bin, die gerne pornomäßig geschlagen wird von jemandem, mit dem sie das allererste Mal schläft. »Ich bin einfach … also, du hast mir jetzt so ein schlechtes Gefühl gegeben. Ich hab ja nichts falsch gemacht …« Er bricht ab, lässt den Kopf hängen.
»Das weiß ich doch! Sorry! Das tut mir einfach so leid. Ich hab nur …« Ich möchte ihm nicht davon erzählen, aber ich habe auch keine Ahnung, wie ich es ihm erklären soll, ohne ihm davon zu erzählen. Ich lasse es einfach ganz locker und flockig daherkommen. Das krieg ich ja wohl noch hin. »Nur … ich … ich hatte vor langer Zeit mal ein schlimmes Erlebnis und ich brauche manchmal ein bisschen mehr Zeit …« Seine Augen werden riesig, jetzt packt ihn wirklich so richtig die Panik. Mein Herz knotet sich voll zusammen, aber ich bin wild entschlossen, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. »Schau, es ist nichts, mir hat das wirklich gefallen. Hey? Hey.« Ich werfe mich auf ihn, schlinge ihm meine nackten Beine um die Taille und küsse ihn sogar noch verzweifelter. Ich reibe ihm mit den Händen über den Rücken, kratze ihn, versuche, so verführerisch zu sein wie die Frauen im Film.
Er jedoch beachtet mich gar nicht und starrt die Wand an. »Ich … ich glaub kaum, dass ich jetzt Sex haben kann«, verkündet er und steht ruckartig auf, wirft mich ab wie einen Mantel, den er zu Boden fallen lässt, und schreitet zum Badezimmer. Ich kann ihm beim Pinkeln zusehen. Ich sehe ihm zu, während ich meine Kleider aufsammle, mein Herz kurz vor dem Reißen steht. Ich erwarte, dass er sich zu mir setzt und sagt, dass wir vielleicht drüber sprechen können. Obwohl ich gerade völlig den Durchblick verloren habe, werde ich mich da noch durchzwingen können, es runterspielen, uns wieder Richtung Sex scherzen können. Er redet aber nicht drüber. Er schaltet das Licht aus und spaziert großen Schrittes zurück zum Bett, als hätte ich nichts gesagt, als seien wir ein abgestandenes, seit Millionen Jahren verheiratetes Ehepaar. Und damit ist Simon, der Mann, den ich für die Liebe meines Lebens zu halten bereit gewesen wäre, wieder ein Fremder. Jegliche Verbindung zwischen uns ist soeben die Toilette runtergestrullt worden.
Er lächelt verkrampft. »Es ist spät und ich hatte die absolute Horrorwoche auf der Arbeit. Sollen wir einfach schlafen?«
Ich nicke, zerre mir wieder das Kleid über den Kopf, um meinen nackten Körper zu bedecken. Er beugt sich vor und küsst mich auf die Stirn. »Alles gut?«, fragt er mit der klaren Botschaft, dass die Antwort nur Ja lauten kann.
»Ja.«
Er klopft sich innerlich auf die Netter-Mann-Schulter, weil er sich die Frage abgerungen hat, kriecht unter seine leicht müffelnde Decke und dreht sich auf die Seite. »Nacht«, sagt er mit mir zugekehrtem Rücken.
»Öhm, Nacht.«
Ein Zucken, ein Grunzen, ein Wenden, während ich neben diesem Fremden an die Decke starre. Dann vollbringt Simon das Unmögliche.
Er schläft.
Ich bin noch nicht mal zugedeckt, da dampft sich sein Atmen bereits zu einem gleichmäßigen Zischen ein und sein Leib wird schwer. Ich hole tief Luft und beuge mich vor, um meine Unterhose vom Boden zu klauben. Ich ziehe mir das Kleid zur Nase und rieche den Zigarettenqualm und den Schweiß des Tages. Dann lass ich mich in der Finsternis neben diesen Mann sinken und erwäge tatsächlich, ob es wohl möglich wäre, ebenfalls einzuschlafen. Würde ich gerne. Die Wirklichkeit jetzt einfach hinter mir lassen, so tun, als sei die Scheiße, die hier gerade passiert ist, einfach nicht passiert. Ich könnte morgen aufwachen, erfrischt, heiter und gelassen, es irgendwie mit einem Lachen abtun und ihn dazu bringen, erfolgreich mit mir zu schlafen, damit es wieder auf Schiene kommt mit uns.
Vielleicht würden andere Frauen das hinkriegen.
Obwohl diese Frauen sich wahrscheinlich gar nicht erst aufgeführt hätten wie frigide Vollspinnerinnen … Gretchen …
Das ist der Gedanke, bei dem ich losweine. Ein paar Tränen kullern mir die Wange hinab, sickern in Simons schmuddeligen Kissenbezug. Ich schniefe und wische mir die Wange, starre ins Schwarz der Zimmerdecke. Simon regt sich und ich schniefe lauter, während ich in meinem Kopf eine Fantasie abspiele. Die Fantasie, dass er aufwacht und merkt, wie aufgewühlt ich bin, und dann wird die Liebe nur so aus ihm herausquellen. Er wird sich aufsetzen, das Licht anschalten und sagen: »Hey, hey, was ist denn los?«, und ich werde sagen: »Es tut mir so leid, dass es wegen mir so seltsam war.« Er wird mir das Haar zurückstreichen und sagen: »Mir tut es auch leid, dass es wegen mir so seltsam war.« Wir werden über diesen ganzen Krampf lachen. Und dann wird er mir wieder das Haar zurückstreichen, weil, ganz ehrlich, davon kann man nie genug haben, und wird sagen: »Es tut mir wirklich leid, April, ich wollte nicht so sein. Ich bin so froh, dass du dich mir anvertraut hast, und jetzt, wo ich ein bisschen Zeit hatte, es zu verdauen, macht es mir gar nichts aus. Ich mag dich wirklich, so richtig, und es ist so großartig, dass ich dich kennengelernt habe.« Und mehr Worte werden gar nicht nötig sein. Wir werden uns in die Arme fallen und aus Küssen wird überwältigender Sex werden, so überwältigend, dass er den quälenden Totalflop, den wir da eben hingelegt haben, einfach auslöscht.
Einen Augenblick lang beruhigt mich diese Fantasie. Ich drehe mich um und betrachte Simons entspanntes Gesicht, wie die Straßenlaterne draußen es in orangefarbenes Kunstlicht taucht, das Heben und Senken seines Atems. Liebe für ihn regt sich tief in meinem Bauch, ausgelöst durch die Fantasie. Liebe für diesen perfekten Mann in meiner Einbildung.