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Es gibt diese Momente im Leben, die wir nie vergessen. Die sich in unseren Seelen festsetzen. Sie verändern uns, formen uns. Manchmal retten sie uns. Aber sie können auch dunkel und gefährlich sein. Uns verführen. Kontrollieren. Und möglicherweise sogar zerstören. Der Moment, als ich das Weingut betrat und zum ersten Mal in die Augen von Faith Winter sah, war einer dieser Momente.
Kalifornien: Als der Anwalt Nick Rogers der Künstlerin Faith das erste Mal in die Augen blickt, kennt er mindestens eines ihrer Geheimnisse. Eines von vielen - wie er vermutet. Aber Nick selbst hat ein Geheimnis: Er weiß, wer Faith ist. Er spielt die Rolle des Fremden nur. Denn er will herausfinden, ob Faith tatsächlich die Frau ist, die seiner Familie so viel Schmerzen und Leid verursacht hat. Die ihn verletzt hat.
Niemals wollte er diese Frau berühren.
Jetzt, wo es geschehen ist, will er sie. Er muss sie haben. Hass, Liebe und Lust kämpfen in seiner Seele - während er Faith tiefer in sein Leben lockt. In sein Herz. Nick könnte alles verlieren. Doch schon bald werden alle Lügen aufgedeckt und die Wahrheit wird ans Licht kommen. Und wo die Lügen enden, beginnt die Besessenheit ...
Geheimnisse, Lügen und eine Anziehung, die alle Vernunft vergessen lässt: der erste Band der neuen fesselnden Reihe von Lisa Renee Jones. Band 2: Shameless Lies - Tiefes Verlamngen.
Stimmen unser Leserinnen aus der Lesejury:
»Sinnlich, verführerisch und mitreißend spannend.« (Alison)
»In diesem Buch sprühen nur so die Funken. Ab dem ersten Moment spürt man die Leidenschaft von Nick und Faith für einander...Sie hat ihre Grenzen zum Selbstschutz. Er will diese Mauern durchbrechen und Sie. Sie fühlt sich sicher und geboren in seinen Armen und er braucht sie zum Atmen.« (Lisbeth_liest)
»Wunderschön gefühlvolle Liebes- und prickelnde Szenen.« (1Leseratte)
Lisa Rene Jones ist Bestseller-Autorin (NEW YORK TIMES und USA-TODAY) und begeistert die Leserinnen und Leser seit vielen Jahren mit ihren spannenden und absolut sinnlichen Romanen. Bei beHEARTBEAT sind von ihr unter anderem die Romance-Reihen »Dirty Rich« und »Amy’s Secret« sowie »Tall, Dark and Deadly« und »Hard Rules« erschienen.
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Seitenzahl: 415
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Grußwort
Über dieses Buch
Titel
Playlist
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
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Viel Freude beim Lesen und Verlieben!
Nick glaubt, dass sein Vater ermordet wurde. Eine Theorie, die der junge Anwalt bestätigt sieht, als er erfährt, dass sein Vater einer fremden Frau Geld hinterlassen hat – der Mann, der sich nie um jemanden gekümmert hat, schon gar nicht um eine Frau. Nick will Antworten.
Er forscht nach und trifft auf die Künstlerin Faith, die das Vermögen ihrer Mutter geerbt hat: darunter ein Weingut und das Geld von Nicks Vater. Hat sie etwas mit dem Mord zu tun? Nick will Faith hassen. Doch als er ihr begegnet, merkt er, dass das nicht so einfach ist. Sie ist schön, verführerisch, freundlich und eine begabte Künstlerin. Er kann ihrer Anziehung nicht entfliehen. Außerdem scheint sie nichts von dem Geld zu wissen. Aber ist das wirklich so?
Lisa Renee Jones
Shameless Lies –Dunkles Begehren
Aus dem Amerikanischen von Michaela Link
»Sugar« von Maroon 5
»Ain’t My Fault« von Zara Larsson
»Whisper« von Chase Rice
»i hate u, i love u« von Gnash
»World Falls Away« von Seether
»Sugar« von Maren Morris
»Make You Miss Me« von Sam Hunt
»Sex and Candy« von Marcy Playground
»Take Me Away« von Seether
»Stay« von Rihanna
»Dreams« von Fleetwood Mac
»Human« von Rag ’n’ Bone Man
»Love on the Brain« von Rihanna
Tiger
Es gibt Momente im Leben, die schlicht provokativ sind und die sich auf ewig in unseren Geist eingraben und manchmal selbst in unsere Seelen. Sie verändern uns, prägen uns, retten uns vielleicht sogar. Aber einige dieser Momente sind dunkel und gefährlich. Wenn wir uns auf sie einlassen, beherrschen sie uns. Verführen uns. Zerstören uns vielleicht sogar.
Der Augenblick, in dem ich das Herrenhaus betrete, den Mittelpunkt des Weinguts Reid Winter, ist keiner dieser Momente. Noch sind es die, in denen ich mich in der Rotunde, die das große Foyer der Villa aus dem neunzehnten Jahrhundert bildet, durch das Gedränge von Anzugträgern und Frauen in Kleidern schlängele, unter meinen Füßen prächtige, mit Weinranken verzierte Fliesen.
Und auch nicht die, die ich mit drei Kellnern verbringe, die mir Gläser mit verschiedenen Weinen aus den berühmten Weinlagen in Sonoma servieren, um mich zu verleiten, Flaschen davon zu kaufen und der Wohltätigkeitsorganisation Geld zu spenden, die die Veranstaltung organisiert. Nicht einmal die Sekunde, in der ich die atemberaubende blonde Frau in dem hautengen schwarzen Kleid entdecke, das sich um ihre üppigen Kurven schmiegt, hat sich als einer dieser Momente erwiesen, aber ich würde ihn doch als verdammt interessant bezeichnen.
Der Augenblick, in dem ich beschließe, dass ihr goldenes, seidiges langes Haar in meine Hände und auf meinen Bauch gehört, ist ebenfalls ziemlich interessant. Und nicht weil sie geradezu danach schreit, gevögelt zu werden. Es gibt jede Menge Frauen in meinem Leben, die danach schreien und wissen, dass ich ihre Lust verstehe und sie ihnen definitiv verschaffe, jedoch nicht mehr.
Diese Frau ist zu anständig und geziert, um einem solchen Arrangement jemals zuzustimmen, und doch ertappe ich mich trotzdem dabei, dass ich ihr und ihrem herzförmigen Hintern durch das Gedränge folge. Ich bin auf mehr aus als einen interessanten Moment. Ich will diese provokative Frau.
Ich folge ihrem Pfad, der von Gruppen aus zwei, drei oder mehr Personen gesäumt wird, dränge mich durch die Menge näher, und als ich aufsehe, steht meine Schönheit einige Schritte entfernt mit dem Rücken zu mir und mit zwei Männern in blauen Anzügen vor sich.
Und obwohl sie scheinbar mit dem Rest der Anzugträger im Raum verschmelzen, haben sie die Haltung von Parasiten, wie ich sie im Gerichtssaal nur allzu oft kennenlerne, jenen Männern, die sich in den meisten Fällen als mein gegnerischer Anwalt herausstellen.
Meine blonde Schönheit verschränkt die Arme vor der Brust, ihr Rücken ist durchgedrückt, und wenn ich sie richtig durchschaue – und ich durchschaue die meisten Menschen richtig –, hat sie definitiv Ärger. Und zu ihrem Glück mag Ärger mich genauso wenig in seiner Nähe, wie ich ihn mag.
Ich überwinde den Raum zwischen mir und ihnen und nähere mich gerade rechtzeitig ihrem kleinen Dreieck, um sie sagen zu hören: »Werden Sie das wirklich hier und jetzt machen?«
»Ja, Ms Winter«, antwortet einer der Männer. »Werden wir.«
»Nein«, sage ich und trete neben Ms Winter, deren Blumenduft fast so süß ist wie die Herausforderung, ihre Gegner zu bezwingen, die jetzt auch meine sind. »Sie machen das nicht hier und jetzt.«
Alle Aufmerksamkeit verlagert sich auf mich, und Ms Winter wirft mir einen scharfen Blick zu, den ich mehr spüre als sehe, denn meine Konzentration gilt weiterhin den Männern, die ich loswerden will, nicht der Frau, die ich kommen lassen will. »Und Sie sind wer?«, verlangt der Typ im Anzug direkt vor mir zu erfahren.
Ich schätze, dass er kaum aus den Zwanzigern heraus ist, ohne Erfahrung, und das Glitzern in seinen Augen verrät mir, dass ihm dieser Mangel nicht bewusst ist, was ihn ungefähr so uninteressant macht wie ein Glas Billigwein, in das jeder einzelne Anwesende hier hineinspucken würde.
Der Eindruck wird von einer dreihundert Dollar teuren Krawatte aus italienischer Seide unterstrichen, die er zu einem Hundert-Dollar-Anzug trägt, zweifellos in der Hoffnung, dass die Krawatte den Anzug teuer wirken lässt und ihn selbst wichtig. Er irrt sich.
»Ich habe gefragt, wer Sie sind«, wiederholt er, da ich ihm anscheinend nicht schnell genug antworte. Seine Ungeduld gereicht mir zum Vorteil, während ich meine Rolle als Katze in diesem Katz-und-Maus-Spiel mühelos etabliere.
Ich bin nicht bereit, Worte für eine Antwort auf eine Frage zu vergeuden, die ich niemals stellen würde und die aber zugleich zu erwarten war. Ich greife stattdessen in die Tasche meines hellgrauen Dreitausend-Dollar-Anzugs, den ich mir damit verdient habe, Gegner zu schlagen, die das Zehnfache seiner Erfahrung und seiner Verhandlungstalente besitzen, und strecke dem unwichtigen Mistkerl meine Karte entgegen.
Er reißt sie mir aus der Hand und wirft einen Blick darauf, findet meinen Namen und die Kanzlei, die ich vor nunmehr einem Jahrzehnt gegründet habe, nachdem ich es gewagt hatte, eine sichere Partnerschaft in einer renommierten Kanzlei auszuschlagen. »Nick Rogers?«, fragt er.
»Steht auf der Karte noch ein anderer Name?«, gebe ich zurück, denn ich bin ein Klugscheißer, wann immer ich die Chance dazu bekomme.
Er sieht mich an und scheint seine Worte abzuwägen, bevor er weiterfragt: »Wie viele Pulloverwitze über Mr Rogers bekommen Sie so zu hören?«
Angesichts des albernen Scherzes ziehe ich eine Braue hoch. Vergleicht er mich doch tatsächlich mit dem kinderfreundlichen Fernsehmoderator Fred »McFeely« Rogers, dessen Markenzeichen die von seiner Mutter gestrickten Pullover waren. Das dient nur dazu, den Tiger in mir zu erwecken.
Anzug Nummer zwei, den ich vom Alter meinen eigenen sechsunddreißig Jahren näher schätze, erbleicht sichtlich, dann schnappt er dem anderen Mann die Karte aus der Hand und unterzieht sie einer schnellen Musterung, bevor er den Blick zu mir hochreißt. »Der Nick Rogers?«
»Ich erinnere mich nicht daran, dass meine Mutter das Wort ›der‹ vor meinen Namen gesetzt hat«, antworte ich trocken, aber andererseits hat sie meinen Vater auch nicht gebeten, meinen Nachnamen zu ändern. So sehr hat sie ihn gehasst.
»Der Tiger«, fügt er hinzu, und es ist keine Frage, sondern eher eine Feststellung.
»Stimmt.« Ich genieße die Früchte meiner Arbeit, die mir den Spitznamen eingetragen haben. Einen Spitznamen, den mir nicht meine Freunde gegeben haben.
»Wer oder was ist der verdammte Tiger?«, fragt Anzug Nummer eins.
»Halt die Klappe«, brummt Anzug Nummer zwei, konzentriert sich wieder auf mich und fragt: »Sie vertreten Ms Winter?«
»Was ich tue«, erwidere ich, »ist einfach: Ich stehe hier neben ihr und sage Ihnen, dass es in Ihrem besten Interesse ist zu verschwinden.«
»Seit wann beschäftigen Sie sich mit kleinen Zwangsvollstreckungen?«, fragt er und entblößt damit Ms Winters Situation.
»Ich beschäftige mich mit allem, womit ich mich beschäftigen will«, antworte ich gelassen und verziehe die Lippen, als ich hinzufüge: »Einschließlich der Prozedur, Sie beide von Sicherheitsleuten vom Grundstück geleiten zu lassen.«
»Das«, wagt Anzug Nummer eins zu erwidern, »würde mitten in einem überfüllten Saal nur unerwünschte Aufmerksamkeit auf Ms Winter lenken. Nicht dass Ms Winter überhaupt Sicherheitsleute hätte, die sie hinzuziehen könnte.«
»Glücklicherweise habe ich ein Handy, mit dem man den Notruf wählen kann. Und ich bin in der Lage, die Polizei zu verständigen, ohne Ms Winter danach zu fragen.«
»Falls sie Ihre Mandantin ist«, sagt Anzug Nummer eins und deutet damit offensichtlich an, dass sie das nicht ist, »sind Sie verpflichtet, ihr bestes Interesse im Sinn zu behalten.«
»Meine Entscheidungen«, antworte ich, ohne auch nur einen Herzschlag lang zu zögern und ohne zu bestätigen, dass Ms Winter eine Mandantin ist, »zielen immer aufs Gewinnen ab. Und ich versichere Ihnen, dass mir eine Menge Methoden einfallen, wie ich Ihre Sache der Presse anbieten kann, die sicherstellen, dass ich gewinne, während Ms Winter gleichzeitig davon profitiert.«
»Das ist dann nicht unsere Sache, wie wir sie sehen«, bemerkt Anzug Nummer eins.
»Es wird Ihre Sache sein, wenn ich mit der Presse fertig bin«, versichere ich ihm, amüsiert darüber, wie mühelos ich ihn den Weg entlanggeführt habe, auf dem ich ihn haben will.
»Das hier ist eine kleine Gemeinschaft, die wenig anderes zu tun hat, als über sie zu reden«, sagt er und deutet auf Ms Winters. »Sie will ganz bestimmt nicht, dass ihre Zwangsvollstreckung auf der ersten Seite landet.«
Meine Lippen zucken. »Wenn Sie nicht wissen, wie mühelos ich Sie in schlechtem und Ms Winters in gutem Licht erscheinen lassen kann, werden Sie es schon merken.«
»Wir gehen«, wirft Anzug Nummer zwei schnell ein, und gerade als ich denke, er sei klug genug, zu erkennen, dass nicht mehr Ms Winter den Ärger hat, sondern er und sein Kamerad, sieht er sie an und fügt hinzu: »Wir melden uns«, und das mit einer nicht allzu subtilen Drohung in seinem Ton, bevor er Anzug Nummer eins einen Ellbogen in die Rippen stößt. »Komm.«
Anzug Nummer eins bewegt sich nicht von der Stelle, und er schnaubt ganz offensichtlich vor Wut. Sein Gesicht ist rot, und ein weißer Ring hat sich um seine Lippen gebildet.
Ich sehe Anzug Nummer zwei mit einer hochgezogenen Braue an, und er fügt hinzu: »Jetzt, Jordan.« Jordan, ehemals Anzug Nummer eins genannt, knirscht mit den Zähnen und wendet sich ab, während Anzug Nummer zwei ihm folgt.
Ms Winter dreht sich zu mir um. Als ihre hellgrünen Augen in meine schauen, werden jedwede Fragen, die ich in Bezug auf diese Frau habe, und die vielen Fragen, von denen ich vermute, dass sie sie jetzt mir stellen möchte, gedämpft von einer unerwarteten, potenziell problematischen, spürbaren Spannung zwischen uns.
»Danke«, sagt sie, ihre Stimme sanft und feminin, einen rauen Anflug in ihren Tiefen, der auf ein nicht mühelos gezähmtes Gefühl hindeutet. »Bitte, genießen Sie heute Abend alles, was Sie mögen. Es geht aufs Haus«, fügt sie hinzu. Das Raue ist jetzt verschwunden, und sie hat sich wieder unter Kontrolle.
Bis ich ihr die Kontrolle raube, denke ich. Aber kaum ist mir der Gedanke durch den Kopf gegangen, wendet sie sich ab und spaziert davon. Diese Reaktion erstaunt und fasziniert mich gleichzeitig, was beides bei mir ungefähr so häufig vorkommt wie Schnee in Sonoma, nämlich so gut wie nie.
Ms Winter taucht in der Menge unter, ich verliere sie aus den Augen. Ich weiß zwar nicht, ob ich sie jetzt wirklich als Maus bezeichnen würde oder ob ich das zu irgendeinem anderen Zeitpunkt jemals tun würde, da ich nun mal über sie weiß, was ich weiß, aber ich bin ganz eindeutig auf der Pirsch.
Ich schreite entschlossen durch den Raum, schlängele mich durch die Menge und suche nach dem nächsten provokativen Moment, halte links und rechts nach ihr Ausschau, in den Gruppen von umherschlendernden Gästen, bis ich die Menge hinter mir habe.
Jetzt stehe ich vor einer breiten Holztreppe, der mein Blick nach oben in das erste Stockwerk folgt, aber noch immer sehe ich keine Spur von Ms Winter. Eine kühle Brise weht heran, und als ich mich umdrehe, sehe ich, dass sie von einer hohen Bogentür herkommt. Die geöffnete Glastür führt zum Garten der Winters, dem Mittelpunkt des Weinguts und schon seit Jahrzehnten eine Touristenattraktion.
Durch den Luftzug fällt die Tür wieder zu. Da ich davon überzeugt bin, dass dies ihr Fluchtweg war, gehe ich in diese Richtung und drücke die Tür auf. Dann trete ich hinaus auf eine Terrasse mit Steinboden und Betonbänken. Sie wird umrahmt von Rosenbüschen.
Nicht weniger als vier sich windende Pfade begrüßen mich als Alternativen für verschiedene Ziele, was bedeutet, dass die Jagd auf diese Frau jetzt für sich genommen eine Provokation ist.
Ich habe gerade beschlossen, auf Ms Winters Rückkehr dort zu warten, wo ich bin, als der Wind auffrischt und mir der Duft vieler verschiedener Blumen, für die der Garten berühmt ist, in die Nase dringt, mit einem zusätzlichen weiblichen Parfüm.
Ich lächle in der Gewissheit, dass meine Beute bald mein Preis sein wird, und folge dem Hinweis, der meine Schritte zu dem Pfad rechts von mir lenkt. Einem schmalen, gewundenen und beleuchteten Weg, gesäumt von adrett zurechtgestutzten, gelb blühenden Büschen.
Der Weg führt an einem weißen hölzernen Pavillon vorbei, den links liegen zu lassen ich nicht die Absicht habe. Nicht, solange Ms Winter darin steht, mit dem Rücken zu mir, die Ellbogen auf das hölzerne Geländer gestützt, während sie den Blick über die Silhouette dessen gleiten lässt, was, wenn das nächtliche Dunkel sich hebt, als eine Hügellandschaft entblößt werden wird. So wie ich vorhabe, dafür zu sorgen, dass sie sich entblößt.
Ich überwinde die Entfernung zwischen uns, und sobald ich sie erreiche, dreht sie sich zu mir um, die Hände auf dem Geländer hinter ihr, die Brüste nach vorn gereckt, während jede einzelne ihrer üppigen Kurven meine Augen, meine Hände und meinen Mund in Versuchung führt.
»Kennen diese Männer Sie?«, verlangt sie zu erfahren. Offensichtlich hat sie mit mir gerechnet. »Kennen Sie diese Männer?«
»Nein und nein.«
»Und doch kennen sie den Spitznamen Tiger.«
»Mein Ruf eilt mir voraus.«
»Sie legen es darauf an, also bitte«, sagt sie. »Welcher Ruf?«
»Es heißt, dass ich meinem Gegner die Kehle aufreiße, wenn man mir die Chance gibt.«
»Tun Sie das?«, fragt sie, ohne auch nur blass zu werden oder zu blinzeln.
»Ja«, bestätige ich, eine simple Antwort auf eine simple Frage.
»Ohne jedwede Sorge darum, wen Sie verletzen«, stellt sie fest.
Ich ziehe eine Braue hoch. »Ist das eine Frage?«
»Sollte es eine sein?«
»Ja.«
»Es ist keine«, entgegnet sie. »Sie sind nicht an diesen Spitznamen gekommen, indem Sie nett waren.«
»Nette Kerle gewinnen nicht.«
»Dann bin ich ja gewarnt«, antwortet sie. »Sie sind kein netter Kerl.«
»Ist Nettigkeit eine Eigenschaft, die Sie sich von einem Mann wünschen? Denn als Ihr Anwalt für heute Abend, Ms Winter, gebe ich zu bedenken, dass Nettigkeit überbewertet wird.«
Sie sieht mich einen Moment lang an, bevor sie sich wieder den Bergen zuwendet, die Ellbogen auf das Geländer gestützt, eine Geste, in der ich eine stumme Aufforderung zu gehen sehen könnte. Ich entscheide mich dafür, die Geste stattdessen als Einladung zu betrachten, mich zu ihr zu gesellen.
Ich stelle mich neben sie, ganz nah, aber nicht annähernd so nah, wie ich ihr bald sein werde. »Sie haben die Frage nicht beantwortet«, bemerke ich.
»Sie gehen zu Unrecht davon aus, dass ich nach einem Mann Ausschau halte. Das tue ich nicht.« Sie sieht mich an. »Aber wenn ich es täte, dann Nein. Nettigkeit würde auf meiner Liste stehen, wenn auch nicht ganz oben, doch nirgendwo auf dieser Liste würden sich die Fähigkeit und die Bereitschaft finden, jemandem die Kehle aufzureißen.«
»Ich kann Ihnen versichern, Ms Winter, dass ein Mann mit Biss genauso unterschätzt wird, wie ein netter Kerl überbewertet wird. Und nicht nur, dass ich weiß, wie und wann ich meinen Biss platzieren muss. Wenn ich mich dafür entscheide, Sie zu beißen, was ich durchaus tun könnte, wird es zudem nur um Lust gehen, nicht um Schmerz.«
Ihre Wangen werden rot, und sie wendet sich ab. »Ich heiße Faith.« Sie schaut wieder zu mir herüber. »Soll ich Sie Nick, Tiger oder schlicht und einfach arrogant nennen?«
»Egal, nur nicht Mr Rogers«, sage ich. Ich genieße unser Geplänkel viel mehr, als ich es erwartet hätte, bevor ich heute Abend hergekommen bin, um sie aufzusuchen.
Sie lacht jetzt ebenfalls, und es ist ein zarter, süßer Laut, aber sie wirkt, als sei sie nicht nur über das Lachen überrascht, sondern als sei es nicht willkommen. Eine Sekunde später stößt sie sich vom Geländer ab, tritt einen Schritt zurück und verschränkt schützend die Arme vor sich, als wir uns einander zuwenden. »Ich muss mich um die Gäste kümmern.« Sie versucht, sich zu entfernen.
Ich halte sie sanft am Arm fest, und sie sieht mich durchbohrend an. Dabei flattert ihr Haar in einer plötzlichen Brise, und eine Strähne blonder Seide verfängt sich in den Stoppeln meines Ein-Tage-Barts. Sie schnappt nach Luft, und als sie die Hand heben will, komme ich ihr zuvor und streiche ihr die weiche Seide hinters Ohr.
»Warum berühren Sie mich?«, fragt sie, aber sie bewegt sich nicht weg, und diese Spannung zwischen uns ist jetzt zehnmal provokativer als vor einigen Minuten, weil meine Hand auf ihrem Gesicht liegt und ich an all die Stellen denke, die ich als Nächstes berühren möchte.
»Es ist erheblich besser, als Sie nicht zu berühren«, erwidere ich.
»Mein Pech könnte Sie mitreißen.«
»Mitreißen?«, wiederhole ich, und das Wort erinnert mich einmal mehr daran, warum ich hier bin, warum ich diese Frau wirklich vögeln will. »Mitreißen klingt ein bisschen extrem, wobei es eine interessante Wortwahl ist.«
»Pech ist meistens extrem, wenn auch uninteressant für alle Kreaturen außer den Tigern dieser Welt, die es erschaffen. Sie berühren mich immer noch.«
»Jeder braucht einen Tiger an seiner Seite. Vielleicht wird mein Glück Sie mitreißen.«
»Ihr Glück soll mich mitreißen?«, fragt sie.
»Viele Menschen würden alles für Glück tun, sogar sich mitreißen lassen.«
»Ja«, pflichtet sie mir bei und senkt die Wimpern, aber nicht bevor ich die Schatten in ihren Augen sehe. »Ich nehme an, da haben Sie recht.«
»Was würden Sie für Ihr Glück tun?«
Sie hebt die Wimpern und sieht mir wieder in die Augen. »Was haben Sie für Ihr Glück getan?«
»Ich bin heute Abend hierhergekommen«, sage ich.
Sie mustert mich mit schmalen Augen, als ob sie nicht ganz begreifen könnte, was ich mit meiner Antwort im Sinn habe. »Sie berühren mich immer noch«, bemerkt sie, diesmal schwingt ein Hauch von Tadel in ihren Worten mit.
»Ich halte nur das Glück fest«, sage ich.
»Es fühlt sich an, als würden Sie sich an meinem Pech festhalten.«
Mit dieser Beobachtung, die der Wahrheit, die zu offenbaren ich noch keine Lust habe, allzu nah kommt, lasse ich meine Hand langsam auf ihre hinabsinken und ergreife sie. Ihre üppigen, verführerischen Lippen öffnen sich, als ich ihre Wange freigebe. Sie sind viel zu perfekt für jemanden, von dem ich weiß, dass er es nicht ist. Ein Anflug von Erleichterung liegt in ihren Augen, der mir verrät, dass sie mich ebenso will, wie sie mich fürchtet.
In der Tat, ein überaus provokativer Moment.
»Trinken Sie etwas mit mir«, schlage ich vor.
»Nein«, antwortet sie, ihr Ton unerbittlich, und obwohl mir diese Entscheidung nicht gefällt, weiß ich es zu schätzen, wenn ein Mensch entschieden auftritt.
»Warum nicht?«
»Glück und Pech lassen sich nicht vermischen.«
»Sie würden vielleicht einfach Glück ergeben.«
»Oder Pech«, kontert sie. »Ich bin nicht in einer Lage, in der ich das Risiko eingehen kann, mir noch mehr Pech aufzuladen.« Sie senkt den Kopf. »Genießen Sie den Rest Ihres Besuches.« Sie hält inne, dann fügt sie hinzu: »Tiger.«
Ich reagiere nicht, überlege aber kurz, ob sie meinen Spitznamen zum Zeichen benutzt hat, dass sie bereits wusste, wer ich bin und warum ich hier bin. Ich verwerfe diesen Gedanken schnell. Ich hätte es in diesen hellgrünen Augen gesehen, und das habe ich nicht.
Aber als sie sich umdreht und davongeht, schaue ich ihr nach und verfolge ihre Schritte, während sie den Weg entlang verschwindet. Ihr schneller Abgang verwundert mich, genau wie die Furcht, die ich in ihren Augen gesehen habe. Waren die Wurzel dieser Furcht doch Schuldgefühle?
Dieser Gedanke sollte genügen, um das Feuer in mir erlöschen zu lassen, das diese Frau entfacht hat, aber stattdessen schürt er es nur noch. Alles Männliche in mir will ihr erneut folgen, und nicht weil ich aus einem Grund hier bin, der schon lange vor unserer Begegnung existiert hat, als es nur diesen Grund gab, nicht mehr.
Doch da ist mehr. Ich bin erregt und fasziniert von dieser Frau. Sie hat mich verstanden, wie kein anderer mich versteht. Das ist keine gute Voraussetzung, wenn man bedenkt, dass ich hergekommen bin, um zu beweisen, dass sie meinen Vater getötet hat und vielleicht sogar ihre eigene Mutter.
Faith
Ich stehe am Fenster der Bibliothek im ersten Stock des Herrenhauses, das ich mein Leben lang als mein Elternhaus bezeichnet habe, aber nicht als mein Zuhause.
Nick Rogers verlässt das Gebäude, strahlt puren Sex und Arroganz aus. Er bleibt stehen, um mit dem Pförtner zu sprechen, und beide Männer lachen, bevor Nick dem anderen Mann ein Trinkgeld in die Hand drückt und dann seinen glänzenden schwarzen BMW umrundet, der mit ziemlicher Sicherheit eine Sonderedition ist.
Er macht Anstalten einzusteigen, zögert jedoch und schaut sich auf dem Gelände unmittelbar um ihn herum um, dann hebt er zu meinem maßlosen Erschrecken den Blick und schaut zu meinem Fenster.
Ich bin benommen, und mein Herz beginnt von Neuem zu rasen, so wie eben, als er mich im Garten berührt hat, aber es ist unmöglich, dass er mich sieht. Ich weiß, dass es unmöglich ist, doch irgendwie steht außer Frage, dass er weiß, dass ich hier stehe.
Er richtet mehrere Herzschläge lang den Blick auf das Fenster, hinter dem ich stehe, eine Zeit, in der ich nicht atmen kann. Dann hebt er zwei Finger und winkt mir zu, bevor er in seinem Wagen verschwindet. Sekunden später fährt er davon, und ich stoße den Atem aus, den ich angehalten habe.
Ich schlinge die Arme um mich, und mir ist gleichzeitig heiß und kalt, ich bin erregt und beunruhigt, genau wie ich es war, als ich mich mit ihm im Garten aufgehalten habe. Jeder Blick und jedes Wort, die ich mit diesem Mann ausgetauscht habe, waren gleichzeitig erotisch und abstoßend.
Ich drehe mich um, hocke mich auf den Fenstersitz der großen Bibliothek, die einst meinem Vater gehörte und die voller Regale mit jahrzehntelang zusammengetragenen Büchern ist. Sie säumen die Wände links und rechts, und alle Bücher enthalten Antworten auf Fragen, die wir vielleicht niemals auch nur stellen werden.
Das ist der Grund, warum ich unablässig lese und warum ich wünschte, ich wüsste, welches Buch ich öffnen muss, um die richtigen Antworten auf die Frage zu finden, warum Nick Rogers sich so richtig und gleichzeitig so falsch angefühlt hat und warum so vieles irgendwie falsch ist und ich keine Ahnung habe, wie ich es in Ordnung bringen kann.
Aber einfach ein Buch öffnen wäre zu simpel, und ich fühle mich plötzlich an ein Gedicht erinnert, das ich vor langer Zeit in der Schule geschrieben habe. Es hat mit den Worten begonnen: Die Äpfel fallen von den Bäumen. Der Wind bläst in die Bäume.
Ich habe es stolz der Lehrerin überreicht und wurde schnell gescholten für mein simples Geschreibsel. Ich habe es nicht verstanden. Was war daran auszusetzen, simpel zu sein? Die Worte und die Vorgänge passten zusammen. Das ist es, was zählt. Das war wichtig für mich. Die Art, wie Einzelteile sich zusammenfügen. Die Art, wie sie einen Sinn ergeben.
Es kam mir so einfach vor, obwohl im Leben in Wahrheit nur wenig einfach ist. Und genau das ist der Grund, warum ich dieses Gedicht mit Reißzwecken an die Wand meines Schlafzimmers geheftet habe. Um mich daran zu erinnern, dass nichts einfach ist.
Bis auf den Tod, denke ich, und mein Hals schnürt sich zu. In der einen Minute ist man lebendig, und in der nächsten ist man tot. Tod ist so einfach wie nichts sonst. Zumindest für die Person, die er holt. Für jene von uns, die zurückbleiben, ist er kompliziert und quälend. Mysteriös und vielleicht sogar gefährlich. Und der Tod, so habe ich gelernt, ist niemals mit einem fertig, bis man ebenfalls gestorben ist.
Meine Gedanken kehren zu Nick Rogers zurück und wie er gewusst hat, dass ich am Fenster stand, wie er zu mir heraufgeschaut und mir dann zugewinkt hat. Jeder Instinkt, den ich besitze, sagt mir, dass Nick Rogers große Ähnlichkeit mit dem Tod hat. Er ist auch noch nicht mit mir fertig.
Faith
Ich schnappe nach Luft und richte mich im Bett auf, eine Hand am Hals, bevor ich mein Herz dazu zwingen kann, sich zu beruhigen. Einatmen. Ausatmen. Atmen. Einfach atmen. Endlich werde ich ruhiger und schaue mich im Raum um, betrachte die schweren Vorhänge, die überall in dem Herrenhaus hängen, in dem ich aufgewachsen bin, und die es in Schatten hüllen.
Gleichzeitig versuche ich mir den Horror zu vergegenwärtigen, der mich mit seiner eigenen Art von Dunkelheit geweckt hat. Jedes Bild, von dem ich zuerst denke, ich könne es identifizieren, entzieht sich mir, dann verblasst der Albtraum einfach, wie allzu viele andere Dinge in meinem Leben momentan.
Plötzlich bin ich mir der allgegenwärtigen Kälte des alten Hauses bewusst, einer Kälte, der man unmöglich entfliehen kann und die tief in meine Knochen einzudringen scheint. Ich reiße mir die Decke bis ans Kinn hoch und nehme den Blumenduft des Gartens wahr, den meine Mutter so geliebt hat und der der Wäsche und mir unentrinnbar anhaftet.
Ich schaue zum Wecker auf dem schweren antiken weißen Nachttisch rechts von mir. Acht Uhr, ein neuer Morgen, der vor einer ganzen Weile über den gewellten Berggipfeln heraufgezogen ist und diese Region umhüllt, die sich meilenweit erstreckenden Weinberge beleuchtet, die uns umgeben. Es ist außerdem der Morgen meines dreißigsten Geburtstages, und warum sollte dieser nicht mit einem Albtraum beginnen? Ich schlafe im Bett meiner verstorbenen Mutter.
Es ist ein unbehaglicher Gedanke, aber kein emotionaler, ein Gedanke, der mich noch unbehaglicher fühlen lässt. Als mein Vater vor gerade erst zwei Jahren starb, habe ich geweint, bis ich nicht mehr weinen konnte, und dann wieder. Und wieder. Und wieder. Aber jetzt weine ich nicht.
Was stimmt nicht mit mir? Ich habe nicht einmal bei der Beerdigung geweint, aber ich bin mir sicher gewesen, dass ich danach, endlich allein, weinen würde. Jetzt, acht Wochen später, sind da immer noch keine Tränen. Ich hatte meine Probleme mit meiner Mutter, aber es ist nicht so, als würde ich nicht um sie trauern. Ich tue es, aber ich habe auch schon zu ihren Lebzeiten um sie getrauert, damals vielleicht zu sehr, um jetzt noch zu trauern. Ich weiß es einfach nicht.
Ich rolle mich auf die Seite, schalte das Licht ein und klicke auf meine Fernbedienung, die den Kamin direkt vor meinem Bett entzündet. Dann richte ich mich auf und starre in die Flammen, während sie prustend und stotternd zum Leben erwachen.
Aber ich finde die Antworten, nach denen ich suche, nicht dort, noch finde ich sie irgendwo sonst in diesem Raum, wie ich es mir erhofft hatte, als ich aus dem fast identischen Zimmer am anderen Ende des Flurs hierhergezogen bin. Ich war mir sicher, dass ich, wenn ich mich hier befände, mitten im persönlichen Raum meiner Mutter, umweht vom Duft des Gartens, den sie so geliebt hat und der buchstäblich allem anhaftet, mich eingeschlossen, endlich Tränen vergießen könnte.
Aber nein. Tage später weine ich immer noch nicht und habe Albträume. Und wovon auch immer diese Albträume handeln, sie lassen mich stets zornig erwachen. Tja, immerhin. Ich habe doch ein Gefühl, das ich benennen kann.
Zorn. Ich weiß nicht genau, worum es sich bei diesem Zorn dreht, aber im Moment kann ich nichts anderes hören als meine Mutter, die mich anschreit: Du bist genau wie dein Vater. Ihrer Meinung nach eine Beleidigung, aber die Worte trafen nicht zu. Ich war nie wie mein Vater. Ich habe immer gesehen, wer und was sie war, wohingegen er nur die Frau gesehen hat, die er dreißig Jahre lang geliebt hat, die ganze Zeit, die ich auf der Welt gewesen bin.
Schließlich schlage ich die Decke zurück, setze mich auf und stelle die Füße auf den Hocker, der notwendig ist, um aus dem Bett zu steigen. Mein Blick fällt auf Nick Rogers’ Visitenkarte, die ich am vergangenen Abend auf dem Nachttisch liegen gelassen habe, nachdem ich die Minuten vor dem Einschlafen damit verbracht hatte, im Geiste noch einmal jedes Wort Revue passieren zu lassen, jeden Blick und jede Berührung dieses Mannes.
Ich gestehe mir ein, was ich gestern Abend nicht zugeben konnte. Er hat mich aufgerüttelt, und seinetwegen ist da zumindest noch ein weiteres Gefühl, das ich empfinden kann: Lust. Wenn Lust überhaupt als Gefühl betrachtet werden kann. Aber es gibt kein anderes Wort für das, was die Luft zwischen mir und diesem Mann aufgeladen hat, für das, was ich empfunden und in seinen Augen gesehen habe, als er mich berührt hat. Es gibt dafür kein anderes Wort als Lust.
Und je mehr ich über diese Begegnung nachdenke, umso klarer wird mir, dass an unserer Verbindung nichts Romantisches oder Süßes war. Sie fühlte sich dunkel und hart an. Es war eine Anziehung, die in ihren Forderungen unversöhnlich ist. Eine Anziehung, die alles verzehrt, was die Tatsache bescheinigt, dass ich selbst jetzt, noch Stunden nach unserer Begegnung, seine Hand auf meinem Arm fühlen kann. Eine Berührung, die sich durch mich hindurchgebrannt hat. Ich kann das Summen meines Körpers immer noch spüren, das er und nur er allein erschaffen hat.
Und obwohl ich nicht sagen kann, ob dieser Mann mein Freund oder mein Feind ist, weiß ich doch, wohin ein solcher Kollisionskurs aus dunkler, harter Lust führt.
Ich habe dort gelebt, und es ist kein Ort, an den man mit jemandem gehen will, dem man nicht vertraut. Ich bin mir nicht sicher, ob es ein Ort ist, den man mit jemandem, dem man wirklich vertraut, überhaupt finden kann. Ich glaube, der Ort ist dunkel, weil er geboren ist aus etwas Dunklem in einem oder in beiden Personen, und dass sie diese Dunkelheit vielleicht beim anderen hervorlocken.
Das bedeutet, dass es ein Ort ist, an den sich niemand begeben sollte, und doch weiß ich, dass man der Dunkelheit, wenn man sie spürt, nicht widerstehen kann. Man kann ihr nicht entfliehen, ebenso wenig wie der Person, die das Gefühl in einem weckt.
Das ist genau der Grund, warum ich weiß, dass ich Nick Rogers, obwohl ich ihn gestern Abend zurückgewiesen habe, wiedersehen werde, was meine Gedanken erneut zu einem Wortwechsel zwischen uns lenkt, der in meinem Kopf in einer Endlosschleife läuft.
Sie berühren mich immer noch.
Vielleicht wird mein Glück Sie mitreißen.
Logischerweise hat er angedeutet, die Begegnung mit mir sei ein Glücksfall. Er hatte bereits verkündet, dass es Glück gewesen sei, dass er hierher auf das Weingut gekommen war. Es war ein schlichtes Geplänkel gewesen, ein Flirt. Warum also hat dieser Flirt mich gestern berührt, und warum berührt er mich jetzt?
Zufallsbegegnung oder nicht? Das Timing ... die Männer ... die dunkle Lust. So etwas kommt niemals von ungefähr. Vielleicht irre ich mich in ihm. Ich habe im Moment jede Menge eigene Dunkelheit in mir. Vielleicht hat meine Energie unsere gemeinsame Energie genährt. Aber es spielt keine Rolle. Er ist gefährlich. Er ist tabu.
Er wird mich nicht wieder berühren.
Mein Handy klingelt, und ich greife danach, während ich darum bete, dass es sich nicht um irgendeine Krise auf dem Weingut handelt. Dann schaue ich auf die Nummer des Anrufers auf dem Display. Beim Anblick der Nummer meines Rechtsanwalts und in dem Wissen, dass seine Kanzlei gerade erst geöffnet hat, rast mein Herz, und ich nehme den Anruf entgegen. »Frank? Hast du Neuigkeiten für mich?«
»Ich bin es, Betty«, höre ich. Betty, Franks Sekretärin. »Frank will wissen, ob Sie um elf hier sein können.«
»Gibt es ein Problem?«
»Er ist bei Gericht. Er will Sie sehen, und er hat gesagt, es müsse heute sein. Mehr weiß ich nicht. Können Sie um elf hier sein?«
»Kann er mich früher empfangen?«, frage ich, denn meine Nerven liegen bei den Worten »es muss heute sein« blank.
»Er ist bei Gericht.«
»Ja, klar. Also dann um elf.«
Mein Handy klingelt abermals, und ich betrachte die unbekannte Telefonnummer und klicke auf Anruf ablehnen. Zumindest haben die Gläubiger bis heute Morgen gewartet. Drei Sekunden später fängt es von Neuem an zu klingeln, und diesmal ist es eine Nummer aus San Francisco. Ich wiederhole, was ich zuvor getan habe, und klicke auf ablehnen, und diesmal gönne ich mir den Luxus, die Nummer zu sperren.
Ich brauche nicht mit dem Anrufer zu reden, um zu wissen, dass er ein Stück von mir haben will, das er nicht kriegen kann, und ein weiterer Wortwechsel mit Tiger fällt mir ein. Ich hatte gefragt: Ihr Glück soll mich mitreißen?
Viele Menschen würden alles für Glück tun, sogar sich mitreißen lassen.
Ist das nicht das, was mein Vater getan hat? Sich mitreißen lassen? Und sich dann hinreißen lassen?
Und warum habe ich das Gefühl, dass im Moment ich selbst mitgerissen werde?
Und warum erinnert mich dieser Gedanke an Tiger?
Ich schaue auf meine geballte Faust hinunter, öffne sie und stelle fest, dass ich seine Visitenkarte in der Hand zu einem Ball zerknüllt habe.
Mein Telefon hat fünf weitere Anrufe von Unbekannt aufgezeichnet, als ich nach der fünfzehnminütigen Fahrt bei der Kanzlei meines Rechtsanwalts ankomme, die einer meiner Lieblingsorte in der Stadt ist. Sie liegt im malerischen Stadtzentrum, wo gepflasterte Gehwege, überdacht von Bögen mit Hängepelargonien, an Läden, Restaurants und einigen Geschäften entlangführen.
Ich parke am Straßenrand direkt vor der Gasse zu Franks Kanzlei, aber ich steige nicht aus, denn ich bin nervös und das aus gutem Grund. Das Weingut hat meinem Vater alles bedeutet, und um es zu retten, habe ich Dinge getan, die ich nicht tun wollte, Dinge, die ich bereue. Und die Schuldgefühle, die ich empfinde, sind überwältigend. Vielleicht kann ich nicht weinen, weil sie mich auffressen wie Säure, die einfach nicht aufhören will, meine Gefühle wegzuätzen.
Ich zupfe meinen beerdigungsschwarzen Bleistiftrock zurecht, den ich mit einem beerdigungsschwarzen Pullover und schwarzen kniehohen Stiefeln kombiniert habe und mit dicken Strumpfhosen, um gegen die Kälte eines Oktobertages in den Bergen gewappnet zu sein.
Aber nichts kann die Kälte des Todes vertreiben, die der Grund ist, warum ich heute Trauerkleidung gewählt habe. Ich erinnere mich nicht an den Tag, die Woche oder den Augenblick, als ich aufgehört habe, mich nach dem Tod meines Vaters so anzuziehen. Das passiert wohl, wenn es sich richtig anfühlt, und das tut es diesmal noch nicht.
Wieder klingelt mein Handy, und ich nehme es aus meiner abgegriffenen, ebenfalls schwarzen Aktenmappe, die mir auch als Portemonnaie dient. Das Display verrät mir, dass der Teilnehmer aus San Francisco mich jetzt anscheinend schon zweimal angerufen hat. Genau wie diese blockiere ich eine weitere Nummer, nach zwei Wochen in der Hölle fest davon überzeugt, dass jede Sekunde ein weiterer Anrufer auf meinem Display auftauchen wird.
Ich stelle das Telefon stumm und lasse es zurück in sein Fach in der Mappe gleiten. Mein Blick fällt auf das goldene Chanel-Logo auf ihrer Außenseite, und ich streichele die Buchstaben. Die Aktenmappe war ein Geschenk meines Vaters, als ich mit meinem Studium an der University of California in L.A. fertig war, in der Absicht, meine Kunstwerke zu verkaufen und jede Menge Dinge von Chanel zu erwerben.
Mein Vater hat diese Mappe als einen »Vorgeschmack von Luxus« bezeichnet, um mich zu inspirieren. Und sie war eine Inspiration, aber dann ist einiges passiert und ...
»Verdammt«, murmele ich und presse die Augen zusammen. »Jetzt kommen mir die Tränen? Was stimmt nicht mit mir?«
Ich hänge mir meine Tasche über die Schulter und öffne die Tür meines schwarzen BMWs, den ich von meinem Vater geerbt habe, während der weiße Mercedes meiner Mutter immer noch in der Garage des Herrenhauses steht. Selbst ihre Autos waren gegensätzlich, denke ich. Sie waren in allen Dingen gegensätzlich.
Ich richte mich auf, und die Karte, die ich vorhin in der Hand zerknüllt habe, fällt aufs Pflaster. Ich bücke mich und hebe sie auf und lese: Nick Rogers, Rechtsanwalt. Mr Rogers. Genau. Nun, er ist definitiv kein süßer, Pullis tragender Fernsehtyp für Kindersendungen.
Nachdem ich beschlossen habe, meinen Anwalt nach dem berüchtigten »Tiger« zu fragen, schiebe ich die Karte in ein Fach meiner Aktenmappe und setze mich in Bewegung. Ich steige aus dem Wagen, eile durch einen der Bögen mit Hängepelargonien, an einem Süßigkeitenladen und einem Kerzenladen vorbei, bis ich endlich die Kanzlei erreiche. Ich betrete das Büro und werde von der Empfangsdame begrüßt.
»Hallo, Süße«, sagt Betty, deren Haar kastanienbraun glänzt, während es in der vergangenen Woche eher einen Orangeton aufgewiesen hat. Ihr gewagter Stil steht im Kontrast zu dem ihres Chefs – ein Fall von Gegensätzen, die sich anziehen.
Aber meine Gedanken kehren zum Tiger und mir zurück. Ich glaube nicht, dass wir Gegensätze sind. Daher die dunkle Energie.
»Frank hat gerade eine Konferenzschaltung«, sagt sie und holt mich damit ins Hier und Jetzt zurück, weg vom vergangenen Abend. »Er sollte jeden Moment fertig sein.«
»Danke«, antworte ich und setze mich in einen der sechs Ledersessel in dem kleinen vertrauten Warteraum. In meiner Jugend war ich oft mit meinem Vater hier und habe hier gewartet, bis er mit seinen Besprechungen fertig war und wir uns ein Eis geholt haben. Für gewöhnlich, wenn meine Mutter mal wieder nirgends zu finden war. Bei dieser Erinnerung schnürt sich mein Hals zu.
Ich will gerade meine Tasche auf den Boden stellen, als Frank in der Tür erscheint. Er sieht sportlich aus und jünger als seine sechzig Jahre in seinem gut sitzenden schwarzen Anzug, mit adrett geschnittenem grauem Haar und seinem von feinen Fältchen durchzogenen Gesicht.
»Komm herein, Faith.« Er kehrt in sein Büro zurück, um mir Platz zu machen, damit ich eintreten kann.
Ich bin auf den Beinen, bevor er mit diesem Satz fertig ist, durchquere den Warteraum und trete in sein bescheidenes Büro, das mit einem Schreibtisch und zwei Stühlen möbliert ist. Es ist schlicht, hat jedoch mit einer Sammlung von Erinnerungsstücken von der Universität von Texas und seinem Diplom einen persönlichen Touch. Aber er braucht kein schickes Büro. Er ist in Sonoma aufgewachsen und hat die renommierte Kanzlei seines Vaters übernommen, die ungefähr zur Zeit meiner Geburt als die beste in der Region galt.
Frank bleibt zögernd hinter mir stehen und schließt die Tür, was meine Nervosität steigert. Immerhin. Ich empfinde durchaus etwas. Ich bin nur taub, wenn es um den Tod meiner Mutter geht. Mit dieser Erkenntnis nehme ich Platz, und Frank umrundet den Schreibtisch, um sich ebenfalls zu setzen, dann stützt er die Ellbogen auf die Holzplatte und mustert mich aus seinen grauen Augen. »Wie geht es dir?«
»Besser, sobald ich weiß, worum es bei diesem Treffen geht«, sage ich. »Hat der Staat dich endlich als Nachlassverwalter meiner Mutter anerkannt?«
»Ich fürchte, nein«, antwortet er. »Die Bank hat einen förmlichen Widerspruch eingelegt, weil ich dein Anwalt bin, was, wie sie behauptet, gegen ihre Interessen verstoßen würde.«
Ich rutsche bis zur Kante meines Stuhls vor. »Aber ich bin die rechtmäßige Besitzerin des Gutes, mit dem Testament meiner Mutter oder ohne. Sie hat das Gut von meinem Vater geerbt, mit der schriftlichen Anweisung, dass ich es als Nächstes erbe.«
»Die Bank behauptet etwas anderes«, erwidert er.
»So steht es in seinem Testament.«
»Die Leute bei der Bank behaupten, die Schulden würden es ihnen erlauben, diese Anweisung zu übergehen.«
»Die Verbindlichkeiten, die mein Vater eingegangen ist, sind erheblich, aber nicht annähernd so hoch wie der Wert des Weinguts. Können sie diesen Anspruch überhaupt erheben?«
»Sie können behaupten, das Weiße Haus gehöre ihnen«, erklärt er. »Das heißt nicht, dass es so ist. Dass deine Mutter kein Testament gemacht hat, verkompliziert die Angelegenheit, aber das Testament deines Vaters legt unzweifelhaft fest, dass sie das Gut unter der Bedingung geerbt hat, dass du die Nächste in der Reihe sein würdest. Aber du musst die Bankschulden bezahlen, die deine Mutter hinterlassen hat. Wir liegen damit sechs Monate im Rückstand.«
»Fünf«, korrigiere ich ihn. Meine Rolle als amtierende CEO unterscheidet sich nicht sehr von meiner Rolle während der vergangenen beiden Jahre. Nur eine Sache ist merkwürdig. Ich habe immer noch keinen Zugang zu den geleerten Bankkonten. »Ich habe eine Zahlung geleistet.«
»Wirft das Weingut Geld ab?«
»Ja. Ich leite das Gut seit dem Tod meines Vaters und führe auch seine Bücher.«
»Warum war deine Mutter dann vier Monate mit ihren Zahlungen an die Bank im Verzug, als sie gestorben ist?«
»Ich weiß es nicht. Und es geht nicht nur um den Kredit meines Vaters. Es geht um alles. Jeder unserer Lieferanten will Geld. Ich kann nicht jeden sofort zufriedenstellen. Ich brauche Zeit. Oder ich brauche Zugang zu den persönlichen Konten meiner Mutter. Dort muss das Geld sein.«
»Ich habe ein Gesuch bei Gericht eingereicht, einen neutralen Nachlassverwalter zu ernennen, der der Bank nicht verbunden ist«, berichtet er. »Aber es kann jederzeit jemand benannt werden, den wir dann zurückweisen müssen.«
»Was genau das ist, was die Bank will«, mutmaße ich, und plötzlich sehe ich ein Licht am Ende des Tunnels. Noch nicht zwangsläufig eine Lösung, aber ein Licht. »Die Bank spekuliert darauf, dass ich mit der Zeit solche Schulden anhäufe, dass ich das Gut aufgeben muss. Das wäre verrückt, und das bin ich nicht. Es wäre einfacher, wenn wir an das Geld meiner Mutter kämen, aber wie gesagt: Das Weingut wirft Geld ab. Wenn wir genug Zeit gewinnen können, werde ich den Kredit ablösen können. Zögern wir es hinaus.«
»Bist du dir sicher?«
»Hundertprozentig«, antworte ich entschieden.
»Hattest du auch nur das geringste Glück dabei, das Geld zu finden, das sie aus der Firma abgezogen hat?«
»Keine Chance«, antworte ich. »Hattest du Glück dabei, irgendetwas zu finden, was in die richtige Richtung deutet?«
Er greift in seine Schublade und legt eine Karte vor mich hin. »Du brauchst einen Privatdetektiv. Er ist gut und bezahlbar.«
»Ich kann es mir nicht leisten, einen Privatdetektiv zu engagieren.«
»Du kannst es dir nicht leisten, das nicht zu tun«, kontert er.
»Wir verdienen Geld. Ich brauche dich nur, damit du mir Zeit verschaffst.«
»Was ist, wenn noch eine Überraschung auf dich wartet, mit der du nicht rechnest?« Er schiebt die Karte näher zu mir heran. »Ruf ihn an. Rede mit der Bank über einen Ratenzahlungsplan.«
Ich greife nach der Karte und stecke sie ein. »Ich werde mich mit ihm in Verbindung setzen.« Meine Gedanken wandern zu meiner neuesten Überraschung. »Kennst du Nick Rogers?«
Er zieht eine Braue hoch. »Den Anwalt?«
»Ja. Den meine ich.«
»Warum?«
»Gestern Abend sind zwei Typen von der Bank aufgetaucht, und er war auf dem Weingut. Er hat eingegriffen und sie verschreckt.«
»Er ist ein guter Freund und ein übler Feind.«
»Könnte es sein, dass es eine eingefädelte Sache war und er ein Feind ist?«
»Nick Rogers hat es nicht nötig, solche Spielchen zu spielen. Er hat den Mut eines ...«
»... eines Tigers.«
»Ja«, bestätigt Frank. »Ein Tiger. Er wird ...«
»... einem die Kehle aufreißen, wenn man ihm oder seinem Mandanten in die Quere kommt«, ergänze ich. »Ich kenne seinen Ruf, aber ich verstehe nicht, warum ausgerechnet er als so überdurchschnittlich gilt.«
»Er ist einer der fünf staatlichen Rechtsberater im Land, und er stammt aus unserer Region.« Er mustert mich mit schmalen Augen. »Aber zurück zu dir. Hast du irgendwelche anderen Fragen zu dem, was ich dir heute mitgeteilt habe?«
»Im Moment nicht.«
»Dann lass uns zu wichtigen Dingen kommen. Alles Gute zum Geburtstag, Faith.«
»Danke«, sage ich, und meine Stimme bricht, sodass ich mich räuspern und wiederholen muss: »Danke.«
»Es ist kein schöner Zeitpunkt für einen Geburtstag, ich weiß«, fährt er fort. »Du hast deinen Vater ungefähr zur selben Jahreszeit verloren.«
»Das stimmt. Aber zumindest konzentriert sich das alles jedes Jahr auf einen Zeitraum.«
»Deinen Geburtstag.«
»Geburtstage sind etwas für Kinder.«
»Geburtstage sind dazu da, das Leben zu feiern«, entgegnet er. »Etwas, was du unbedingt tun musst. Ich bin froh, dass du deine Teilnahme an der Kunstausstellung nicht wegen des Todes deiner Mutter abgesagt hast. Es wird Zeit, dass du zu deiner Kunst zurückfindest und die Welt sehen lässt, was du tust. Und eine dreimonatige Ausstellung hier in der Stadt ist großartig, um wieder wahrgenommen zu werden.«
Wieder.
Ich vermeide, an die Geschichte zu denken, an die mich dieses Wort erinnert. Nicht heute.
»Dein Agent hat das Richtige getan«, fügt er hinzu.
»Josh hätte nicht zusagen dürfen, und hätte er nicht bereits schriftlich gemacht, bevor ich davon erfahren habe, hätte ich das Ganze wieder abgesagt. Er sollte lediglich meine bereits vereinbarten Ausstellungen managen.«
»Abgesagt?«, fragt er ungläubig. »Das ist eine großartige Chance.«
»Die Galerie Le Sun befindet sich im Besitz eines unserer Konkurrenten, eines Weinguts, über das sich meine Mutter ziemlich aufgeregt hat.«
»Deine Mutter war egoistisch und hatte unrecht«, erwidert er. »Ich weiß, sie ist tot, aber ich sage nichts, das wir nicht beide wissen. Und Le Sun gehört einem Rockstar in der Kunstwelt und den Paten besagten Rockstars. Jeder Kunstliebhaber, der Sonoma besucht, will Chris Merits Werke in dieser Galerie sehen, und wenn die Leute seine sehen, werden sie auch deine sehen. Und du hast viel zu lange nicht richtig gelebt. Wenn du also das Weingut behalten willst ...«
»Das werde ich«, unterbreche ich ihn. »Es ist das Vermächtnis meiner Familie.«
»Bist du dir sicher, dass dein Onkel keinen Anteil daran haben will?«
»Ja«, bestätige ich. »Sehr sicher.« Und selbst wenn er es wollte, ergänze ich im Stillen, würde mein Vater sich im Grab umdrehen, wenn dieser Mann jemals wieder einen Fuß auf das Gut setzen würde. »Wenn eins klar ist«, füge ich energisch hinzu, »dann, dass ich das Weingut behalte.«
»Triff diese Entscheidung, wenn du mal durchgeatmet hast. Nach deiner Ausstellung und wenn du die Möglichkeit hast, dich an deine Träume zu erinnern, nicht an die deines Vaters.« Er greift wieder in die Schublade, holt eine Klappkarte heraus und hält sie hoch. »Und nachdem du das hier gelesen und dir ein wenig Zeit gegeben hast, es zu verarbeiten.« Er legt die Karte vor mich hin.
Mein Blick fällt auf meinen Namen und Glückwünsche zum Geburtstag, in der vertrauten Schrift meines Vaters. Ich schlucke, und mein Magen schlägt Purzelbäume, bevor ich den Blick hebe. »Was ist das?«
»Er hat mich gebeten, dir das an deinem dreißigsten Geburtstag zu geben, falls er davor sterben sollte.«
Ich lege meine Hände in den Nacken, unter mein Haar. Mein Hals ist wie zugeschnürt. Ich muss den Kopf abwenden und die Augen schließen, weil mich eine Woge der Gefühle überwältigt. »Und doch hatte meine Mutter nicht einmal ein Testament«, murmele ich.
»Manche Menschen wollen nicht glauben, dass sie sterben werden«, sagt er. »Das ist ziemlich weit verbreitet.«
Ich fahre wieder zu ihm herum, und Wut brennt in mir, Wut auf meine Mutter und Wut auf ihn, weil er sie beschützt. Wieder einmal. »Wenn man einen Besitz von diesem Wert hat, tut man, was verantwortungsbewusst ist. Man tut es einfach.« Ich greife nach der Karte, die mein Vater mir hinterlassen hat. »Bitte, verschaff mir einfach Zeit.«
Ich stehe auf und gehe auf die Tür zu, und gerade als ich den Raum verlassen will, sagt er: »Faith.«
Ich halte inne, drehe mich aber nicht um. »Ja?«
»Ich weiß, du bist wütend auf sie, und das bin ich auch, aber diese Wut wird wieder vergehen.«
Ich will ihm glauben. Ich will es wirklich. Aber er wäre nicht so zuversichtlich, wenn er alles wüsste, was es zu wissen gibt, was ich niemals zulassen werde. Und so nicke ich nur einfach zur Antwort und verlasse den Raum. Ich bin dankbar, dass Betty am Telefon ist und einen Boten vor sich stehen hat, was es mir ermöglicht, an ihr vorbeizugehen ohne obligatorische Nettigkeiten.
Als ich die Kanzlei verlasse, ist die kühle Luft ein willkommener Schock, etwas, worauf ich mich konzentrieren kann, abgesehen von dem Gefühlschaos, das die Karte in meiner Hand auslöst. Vielleicht will ich doch nicht wieder etwas fühlen.
Ich habe das Verlangen, allein zu sein, weswegen ich meinen Schritt beschleunige. Ich überquere die Straße unter einem Bogen mit Hängepelargonien und bleibe erst stehen, als ich auf der anderen Seite bin. Dann wende ich mich nach links.
Ich sehe mein Auto, das in der Querstraße parkt. Meine Lippen öffnen sich, während sich meine Füße beim Anblick von Mr Rogers, der daran lehnt, keinen Schritt weiterbewegen. Er lehnt nicht nur am Auto. Er lehnt an der Fahrertür, als wolle er mir sagen, dass ich hier nicht wegkomme, ohne vorher mit ihm gesprochen zu haben.
Faith
Ich weiß jetzt, dass die dunkle Lust und die ebenso dunkle Energie, die ich mit Nick Rogers verspürt habe, sich nicht nur aus Erotik speiste. Sondern aus Verrat.
Denn die Tatsache, dass Mr Rogers, nein, Tiger