Shattered Bonds - Lisa-Katharina Hensel - E-Book
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Lisa-Katharina Hensel

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Beschreibung

Eine gespaltene Welt
Ein junges Mädchen mit einzigartigen Fähigkeiten
Eine Regierung, die ihre Geheimnisse um jeden Preis verteidigt


Ein verheerender Krieg hat die Welt verändert und die Gesellschaft gespalten.
Die einen werden in Äußere Zonen fernab der Städte abgeschoben, die anderen leben wohlbehütet unter einer Kuppel - so auch die 16-jährige Ava.
Doch Ava besitzt eine besondere Fähigkeit: Sie kann mit ihrem Geist in die Virtuelle Welt eintauchen, in der alle Daten und Geheimnisse gespeichert sind. Auch die der Regierung. Und keine Firewall kann Ava aufhalten.
Als sie dort aber etwas Ungeheuerliches über ihre eigene Vergangenheit erfährt, macht sie sich auf die Suche nach Antworten und gerät dabei in die gefährlichen Slums ...

Zero lebt als Außenseiter in der Äußeren Zone. Als Ava seinen Weg kreuzt und er ihr das Leben rettet, wird seine Welt völlig auf den Kopf gestellt. Gegen seinen Willen ist er beeindruckt von Ava, deren ganzes Leben eine Lüge war und die dennoch unermüdlich nach Antworten sucht.

Doch mit ihrer Suche erregt Ava unerwünschte Aufmerksamkeit und bald macht nicht nur die Regierung Jagd auf sie und Zero ...

ONE. Wir lieben Young Adult. Auch im eBook!

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Seitenzahl: 456

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Prolog

Kapitel 1 – Ava

Kapitel 2 – Zero

Kapitel 3 – Ava

Kapitel 4 – Ava

Kapitel 5 – Ava

Kapitel 6 – Zero

Kapitel 7 – Zero

Kapitel 8 – Zero

Kapitel 9 – Ava

Kapitel 10 – Ava

Kapitel 11 – Ava

Kapitel 12 – Zero

Kapitel 13 – Zero

Kapitel 14 – Zero

Kapitel 15 – Ava

Kapitel 16 – Ava

Kapitel 17 – Ava

Kapitel 18 – Zero

Kapitel 19 – Zero

Kapitel 20 – Zero

Kapitel 21 – Ava

Kapitel 22 – Ava

Kapitel 23 – Ava

Kapitel 24 – Zero

Kapitel 25 – Zero

Kapitel 26 – Zero

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Impressum

Über dieses Buch

Eine gespaltene Welt

Ein junges Mädchen mit einzigartigen Fähigkeiten

Eine Regierung, die ihre Geheimnisse um jeden Preis verteidigt

Ein verheerender Krieg hat die Welt verändert und die Gesellschaft gespalten.

Die einen werden in Äußere Zonen außerhalb der Städte abgeschoben, die anderen leben wohlbehütet unter einer Kuppel – so auch die 16-jährige Ava.

Doch sie hat eine besondere Fähigkeit: Sie kann mit ihrem Geist in die Virtuelle Welt eintauchen, in der alle Daten und Geheimnisse gespeichert sind. Auch die der Regierung. Und keine Firewall kann Ava aufhalten.

Als sie dort aber etwas Ungeheuerliches über ihre eigene Vergangenheit erfährt, macht sie sich auf die Suche nach Antworten und gerät dabei in die gefährlichen Slums ...

Zero lebt als Außenseiter in der Äußeren Zone. Als Ava seinen Weg kreuzt und er ihr das Leben rettet, wird seine Welt völlig auf den Kopf gestellt. Gegen seinen Willen ist er beeindruckt von Ava, deren ganzes Leben eine Lüge war und die dennoch unermüdlich nach Antworten sucht.

Doch mit ihrer Suche erregt Ava unerwünschte Aufmerksamkeit und bald macht nicht nur die Regierung Jagd auf sie und Zero ...

Lisa-Katharina Hensel

Eine fesselnde YA Dystopie über Geheimnisse, Verrat und eine Liebe, die alles überwindet

Für meine Eltern, die mich immer darin bestärkt haben, die Welt mit eigenen Augen zu entdecken.

Für meinen Bruder, mit dem ich gemeinsam diese Welt entdecken durfte und darf.

Prolog

Mit einem festen Ziel vor Augen schwebte Ava in ihrem transparenten Körper durch den schimmernden Gang. Eisern ignorierte sie die abzweigenden Tunnel, die sich sowohl links und rechts als auch über und unter ihr befanden, und die sie sonst mit ihren noch unerforschten Geheimnissen lockten. Denn heute wollte sie bis ans Ende der einen, farbenprächtigen, wie Öl in der Sonne schillernden Röhre. Heute wollte sie herausfinden, was dort auf sie wartete – oder vielmehr, wer. Herausfinden, zu wem die leise, aber so eindringliche Stimme gehörte, die sie seit Wochen immerzu in ihrem Kopf hörte, sobald sie sich an diesen Ort begab. Die Stimme, die unermüdlich nach ihr rief, und die sie auch jetzt wieder aufforderte, zu ihr zu kommen.

»Ava ...«

So sanft. So voller Sehnsucht.

»Ava ...«

Die bunten, wabernden Farben um Ava herum zogen Fäden, warfen zähflüssige Blasen auf wie dicker, kochender Sirup, während sie dem Ursprung der Rufe näher zu kommen schien. Obwohl die mittlerweile vertraute Stimme nur in ihrem Kopf erklang, wurde sie nun lauter, deutlicher. Klarer.

Ohne es zu merken, wurde Ava schneller, flog förmlich durch den Gang, bis die Wände nur noch als unscharfe Farbschlieren vorbeirauschten, bevor sie mit einem Mal von einem Hindernis gestoppt wurde.

Verblüfft prallte Ava von der ungewohnt harten Oberfläche in der sonst konsistenz- und temperaturlosen Welt ab, brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Mit durchscheinenden Händen betastete sie die Barriere vor sich, die sich unter den Fingern ihres lediglich erdachten Körpers glatt und kühl wie Glas anfühlte.

Milchig weiß und schwach leuchtend verhinderte die Wand, dass Ava hindurchsehen konnte. Doch die Stimme kam von der anderen Seite, da war sie sich sicher.

»Ava ...«

Instinktiv setzte Ava zu einer Antwort an, zögerte dann jedoch. Plötzlich war sie nervös.

»Ava ...«

Bisher war sie in dieser Welt nur stille Beobachterin gewesen, hatte nie etwas verändert, nie auf sich aufmerksam gemacht. Ihr war bewusst, dass ihre Ausflüge an diesen Ort nicht normal, nicht richtig waren. Was, wenn sie durch eine Kontaktaufnahme Probleme bekommen, die ganze Sache schlimme Folgen nach sich ziehen würde?

Andererseits war sie in dieser Welt noch nie einem Menschen begegnet. Das hier war ihre Chance, mehr über sie – und damit über sich selbst – herauszufinden!

Bevor sie es sich anders überlegen konnte, fasste Ava einen Entschluss. Da sprechen hier an diesem Ort nicht möglich war, konzentrierte sie sich und formulierte eine Antwort im Kopf, konnte das mulmige Gefühl dabei jedoch nicht unterdrücken.

»Ich bin hier.« Sie zögerte. »Wer bist du?«

Unsicher wartete Ava auf eine Antwort, und als auch nach mehreren Sekunden keine kam, war sie beinahe erleichtert. Vielleicht hielt sie sich bereits zu lang in dieser Welt auf, bildete sich die Stimme nur ein. Woher sollte sie wissen, welche Folgen ihre Anwesenheit auf ihren Körper und ihre Psyche hatte? Es war an der Zeit zu verschwinden.

Bereit, sich auszuklinken, hätte Ava bei dem Anblick, der sich ihr nun bot, vor Schreck aufgeschrien – wenn es ihr hier möglich gewesen wäre. Unmittelbar vor ihr wurde ein kleiner Fleck der Wand durchsichtig, aus dem ein transparentes, hellblaues Auge sie anblickte. Nun erkannte Ava, dass es sich bei der Verfärbung der Barriere nicht um eine Art Milchglas handelte, sondern um unzählige, winzige Schneekristalle, die die Wand von innen überzogen und auf Höhe des Auges getaut waren.

Kurz darauf ertönte die bekannte Stimme laut und klar in ihrem Kopf. »Endlich habe ich dich gefunden, Ava. Ich bin Ice.«

Vorsichtig schwebte Ava näher. Noch konnte sie nicht mehr erkennen als das sehr helle, leuchtend blaue Auge unter den langen, weißen Wimpern.

»Wieso ... kann ich dich nicht sehen?«, wollte sie wissen.

Sie hatte so viele Fragen, dass sie nicht wusste, mit welcher sie anfangen sollte.

»Weil ich auf der anderen Seite bin.« Ein glockenhelles Lachen ertönte, das mädchenhaft niedlich, aber gleichzeitig so eisig klang wie die Kristalle auf der von Ava abgewandten Seite der Wand.

»Auf der anderen Seite? Du meinst ... außerhalb der Kuppel?«

»Richtig, Ava. Ich komme nicht hinein. Und du kommst nicht heraus.« Die Stimme verstummte, doch als Ava zur nächsten Frage ansetzen wollte, fuhr sie fort: »Ich bin wie du.«

»Wie ... ich?«, wiederholte Ava überrascht, aber gleichzeitig voller Hoffnung; denn, dass sie anders war, war ihr klar, seit sie sich das erste Mal in die schillernde Welt eingeklinkt hatte. Doch jemandem anvertraut hatte sie sich bisher nie – zu groß war die Angst vor den Reaktionen und den unabsehbaren Folgen.

»Ja, Ava. Dass du hier bist – dass du hier sein kannst –, macht dich zu etwas Besonderem. Nur du kannst uns helfen.«

Nun war Ava vollends verwirrt. »Helfen? Wobei?«

»Wir sterben, Ava. Mein Zwillingsbruder und ich. Unser Geist zerfällt.« Die Worte der Fremden erschienen nun schwächer und voller Schmerz.

»Ich verstehe nicht, was ... Und wieso fragst du ausgerechnet mich?«, stammelte Ava in Gedanken, bevor Ice' nächste Aussage sie völlig aus der Bahn warf.

»Weil wir uns kennen, Ava. Du erinnerst dich nicht, doch wir haben eine gemeinsame Vergangenheit. Finde uns, bevor es zu spät ist.«

Ava wusste nicht, wo ihr der Kopf stand, dabei hatte sie noch keine zehn Sätze mit Ice gewechselt. So hatte sie sich ihre Antworten nicht vorgestellt. Doch obwohl sie sich keinerlei Reim auf die Worte der jungen Frau machen konnte, war sie sich sicher, dass sie die Wahrheit sagte. Ice. Ihre Stimme berührte etwas in Avas Innerem, wodurch sie sich seltsam traurig fühlte. Da war etwas, eine verloren gegangene Erinnerung, ein Verlust, den sie nicht zu greifen vermochte. Wie ein alter Splitter, der zu tief eingedrungen war, um ihn zu fassen, und an dessen Schmerz man sich gewöhnt hatte.

»Wo seid ihr?«

»Das kann ich dir nicht sagen. Ich weiß nicht, wer noch mithört.« Plötzlich schimmerte Angst in der eisblauen Iris. »Es ist gefährlich genug, dass ich hier bin und mit dir spreche.«

Blasse, feingliedrige Finger schoben sich vor das Auge, pressten sich von innen gegen die Wand. »Ich muss gehen. Ava, bitte, versprich mir, dass du uns finden wirst. Ich kann dir alles erklären. Bald.«

Zögerlich hob Ava ihre eigene, durchscheinende Hand und legte sie an das Glas. Für einen Moment erwartete sie, dass die Barriere verschwinden, sich ihre Hände berühren würden – doch nichts dergleichen geschah. Die Wand unter ihren Fingern blieb so kalt, hart und undurchdringlich wie zuvor.

Bevor Ava noch etwas sagen konnte, hörte sie aus weiter Ferne ein Klopfen und eine vertraute Stimme. Sie brauchte einen Moment, um sie als die ihres Vaters zu identifizieren.

»Ava? Schatz? Abendessen!«

Mit dem Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, fuhr Ava in der realen Welt zusammen, was sie ihre Konzentration verlieren ließ. Sofort brach die Verbindung ab, woraufhin ihr Geist brutal aus der zeit- und raumlosen Welt gerissen wurde und zurück in ihren so eng erscheinenden Kopf fiel.

Mit heftig klopfendem Herzen starrte sie benommen auf ihre Konsole, während sich ihr Geist nur widerwillig an den trägen und an die Schwerkraft gefesselten Körper gewöhnen wollte.

Doch so durcheinander und verunsichert sie auch war, wusste sie eine Sache ganz genau: Sie musste Ice finden, koste es, was es wolle!

Kapitel 1 – Ava

Neo Berlin 2114

Imposante sieben Stockwerke umfasste das in sterilem Weiß gehaltene, kugelförmige Gebilde, dessen Inneres so hell erleuchtet und glänzend sauber war, dass es Ava blendete. Während sie wartete, strich sie sich wiederholt das halblange, honigblonde Haar hinters Ohr, nur, um es unmittelbar darauf wieder ins Gesicht zu zupfen.

Schließlich hielt Cleo verärgert Avas Arm fest. »Hörst du jetzt bitte mal auf damit? Du machst mich noch wahnsinnig!« Laut hallten ihre Worte in der riesigen Halle wider.

Entschuldigend blickte Ava ihre beste Freundin an, bevor sie die Hände in die Hosentaschen steckte. »Tut mir leid. Ich bin wohl etwas ... aufgeregt.«

Mit einem Anflug von Enttäuschung musterte Cleo Ava. »Aufgeregt? Ich dachte, wir sind uns einig, dass wir von dem Ausflug nichts halten?«

Sie runzelte die Stirn, bevor sie zu einer der ihr eigenen Reden ansetzte, bei denen ihr kurz geschnittenes, schwarzes Haar, im Gegensatz zu ihrer sonst so frechen Art, besonders streng wirkte, und die eigentlich verständnisvollen, haselnussbraunen Augen gefährlich blitzten. Voller Inbrunst ließ sie sich über die Ungerechtigkeiten des Systems aus – das eine Thema, das sie garantiert auf die Palme brachte und für das Ava im Moment überhaupt keinen Kopf hatte.

»Die Expedition ist absolut erniedrigend für die Bewohner der Äußeren Zone, sie werden zu bloßen Objekten degradiert! Wir beobachten sie, wie früher die Menschen wilde Tiere bei Safaris beobachtet haben, erheben uns dadurch über sie und fühlen uns besser durch ihr Elend!«

»Cleo, bitte. Wenn du diese ganze Leidenschaft nur mal in deine Klausuren investieren würdest«, unterbrach sie eine belustigte Stimme.

Ihr Klassenlehrer war unbemerkt hinter sie getreten und hatte ihr Gespräch offenbar mitangehört. Im Prinzip war er in Ordnung; bis auf die Tatsache, dass er sie – obwohl selbst noch jung – als Sechzehnjährige, die in nicht einmal zwei Jahren die Schule abgeschlossen haben würden, kaum ernst nahm. So auch jetzt.

»Cleo, wie du bereits wissen müsstest, da wir das ausführlich besprochen haben, dient die Exkursion lediglich dazu, euch einen Eindruck einer anderen Art von Lebensmodell zu verschaffen. Euch die Erfahrung selbst machen zu lassen. Und euch die Vorzüge einer stabilen, geordneten Gesellschaft zu verdeutlichen.«

»Na klar«, grummelte Cleo, bevor sie Ava mit sich zog, um ein Stück entfernt von ihrer Klasse stehen zu bleiben. »Vor allem aber, um uns Angst zu machen. Damit wir niemals widersprechen oder etwas infrage stellen, falls wir nicht so enden wollen!«

Ava, die nur mit halbem Ohr zugehört hatte, antwortete nicht, war bereits wieder in ihre eigenen Gedanken versunken. Von dem heutigen Tag hing so viel ab ... Doch das konnte sie Cleo vorerst nicht sagen. Sie liebte sie und vertraute ihr, fürchtete gleichzeitig aber, dass ihre Freundin durch ihre laute, rebellische und damit häufig unüberlegte Art zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde, wenn Ava ihr von ihrem heutigen Vorhaben erzählte. Denn dazu würde sie Cleo auch erklären müssen, weshalb sie Kontakt zur Äußeren Zone suchte. Was zwangsläufig auf die Offenlegung ihrer mysteriösen Fähigkeiten hinauslaufen würde.

Doch dafür war Ava noch nicht bereit. Denn ihre Möglichkeit, in die Virtuelle Welt –das interaktive Netzwerk zu Datenspeicherung und -austausch, Kommunikation und der Steuerung und Aufrechterhaltung der gesamten Infrastruktur; kurzum, die Erweiterung des ursprünglichen Internets –einzutauchen, unterschied sich so grundlegend von der anderer Menschen, dass sie ihr Angst machte. Dass sie sich in der Datenwelt frei bewegen konnte, hatte rein gar nichts mit technischen Hilfsmitteln oder Modifikationen wie Brillen, Kontaktlinsen, Sensoren oder Implantaten in Haut und Körper zu tun – abgesehen davon, dass sie diese Art der körperlichen Verbesserungen überhaupt nicht besaß. Auf Selbstbestimmung über ihren eigenen Körper und die nötige Reife für technische Implantate jeglicher Art hatten ihre Eltern großen Wert gelegt, weshalb sich Ava nach dem Schulabschluss in knapp zwei Jahren und dem Erreichen ihrer Volljährigkeit selbst dafür oder dagegen entscheiden konnte.

Sie seufzte leise. Sie verstand noch immer nicht, was vor einem Jahr, zu Beginn ihrer Streifzüge, genau geschehen war, als sie sich unversehens in der Virtuellen Welt wiedergefunden hatte. Nach ihrem anfänglichen Schock hatte sie sich dort nur langsam zurechtgefunden, erkannt, dass an diesem Ort sämtliche im Netz verfügbare Daten existierten, gespeichert in den unsteten Farben, aus denen diese Welt bestand. Eine leichte Berührung reichte aus, um sie abzurufen, wobei die Informationen direkt vor ihrem geistigen Auge auftauchten, sich in ihrem Kopf zu manifestieren schienen.

Doch nicht alle Datensätze waren frei zugänglich, und während manche Verschlüsselungen mit gesteigerter Konzentration zu knacken waren, hatte Ava bei vielen der gesicherten Informationen noch nicht herausgefunden, wie sie auszulesen waren – und ob sie das überhaupt wollte. Denn die Daten waren sicher nicht ohne Grund verschlüsselt, ob dem nun private oder geschäftliche Motive zugrunde lagen. Ähnlich schien es sich mit einer Vielzahl an Abzweigungen und Durchgängen zu verhalten, die versperrt und nicht zu öffnen waren. Aber das störte Ava kaum, existierte doch eine schier unendliche Anzahl an Wegen, die sie noch nicht untersucht hatte.

Aber nun schien die Chance, mehr über diese Welt und damit sich selbst zu erfahren, zum Greifen nah! Das wollte sie unter keinen Umständen vermasseln, weshalb sie ihr Geheimnis noch ein wenig länger hüten musste – selbst vor Cleo.

Diese boxte Ava nun gegen die Schulter, womit sie sie schlagartig aus ihren Gedanken riss. »Hey, Träumerin! Guck mal, da!«

Als Ava ihrem Blick folgte, entdeckte sie ein Dutzend Männer in dunklen Schutzanzügen, die die Halle betraten. Schwarzer Stoff verbarg den Großteil ihrer Gesichter und ließ lediglich die Augenpartie frei. Im Gleichschritt durchquerten sie das Gebäude, das den Übergang zu den Schleusen in die Äußere Zone bildete, bevor sie sich in der Mitte sammelten.

Die Anzüge der Neuankömmlinge glichen denen der Schüler, die sie extra für die Exkursion bekommen hatten, wirkten jedoch schwerer und robuster. Das grüne Emblem der Dome Federation –ein Halbkreis, den ein Band umschlang – zierte ihre Schultern. Ausnahmslos alle waren schwer bewaffnet; gut sichtbar, aber zweifellos auch weniger offensichtlich. Ava wusste aus dem Unterricht, dass dieser Personengruppe – neben den für Militärangehörige vorgeschriebenen Authentifizierungschips – eine Vielzahl technischer Modifikationen zur Verfügung stand, um sowohl die körperliche als auch die geistige Leistungsfähigkeit zu steigern.

»Sieht aus, als wäre unsere Eskorte da. Ein Lächeln würde denen aber auch nicht schaden! Die gucken so finster, als würden wir gleich in den Krieg ziehen«, ätzte Cleo.

Tatsächlich blickten die Männer äußerst kühl, fast schon abweisend in die Runde, woraufhin sich Ava wünschte, dass Cleo leiser sprechen würde. Die Truppe wirkte nicht nur Respekt, sondern regelrecht Furcht einflößend.

Einer von ihnen, ein durchtrainierter, hochgewachsener Mann Mitte zwanzig, trat vor und zog sein Tuch vom Gesicht. Ernste Augen, die ebenso dunkel wie sein kurz geschorenes Haar waren, setzten sich deutlich von seinem olivfarbenen Teint ab. Die drei grünen Halbkreise auf seiner Uniform wiesen ihn als höherrangiges Militärmitglied aus.

Soweit sich Ava erinnern konnte, gab es fünf Stufen, außerdem diverse Spezialisierungen. Doch ganz sicher war sie sich nicht. Bisher hatte sie keinerlei Berührungspunkte mit dem Militär gehabt und das wenige, das sie wusste, hatte sie über ihre Eltern erfahren. Sie waren im Auftrag der Regierung als Forschende tätig und hatten daher hin und wieder mit den Kräften der Exekutive zu tun.

»Willkommen im Programm der Dome Federation zur Förderung der Jugend für eine stabile Gesellschaft und Zukunft. Ich freue mich, Ihnen allen als einer weiteren, ausgewählten Klasse in unserem Förderprogramm die Wichtigkeit der Arbeit, der Gesetze und des Leitbildes der Federation verdeutlichen zu dürfen«, begann der Mann.

Seine Körperhaltung war akkurat, seine Stimme hatte die genau angemessene Lautstärke und sein autoritärer Tonfall forderte Gehorsam – den er auch bekam. Überrascht bemerkte Ava, dass selbst die größten Querulanten ihrer Klasse verstummten und den Blick auf den Sprechenden richteten. Dass er trotz seines jungen Alters bereits den dritten Militärgrad innehatte, hatte offensichtlich seine Gründe.

»Mein Name ist Kirian Wintermoor, Kommandant der Grenzpolizei, dritter Rang. Das ist meine Truppe«, fuhr er fort, wobei er in Richtung der schwarz gekleideten Männer nickte – und der Frau, wie Ava erst jetzt bemerkte. Ebenso wie Cleo, die Ava in die Seite stieß.

»Krass!«, zischte Cleo ihr zu. »Ich dachte, bei der Grenzpolizei arbeiten nur testosterongesteuerte Arschlöcher! Ich kann mir nicht vorstellen, dass man als emotional begabtes Wesen freiwillig zu dieser Truppe will!«

Leider war Cleo nicht bekannt dafür, ihre Lautstärke im Griff zu haben, wenn sie sich ärgerte. Noch ehe Ava sie darauf hinweisen konnte, fingen sie sich die Blicke ihrer Klasse sowie des begleitenden Lehrpersonals ein – und die des Militärs.

Augenblicklich verspannte sich Ava, während ihr das Blut in die Wangen schoss. Doch anstatt des zu erwartenden Donnerwetters aufgrund ihrer Respektlosigkeit, musterte Kirian sie einen Moment lang nur stumm, bevor er sich an die einzige Frau in seiner Einheit wandte.

»Ariadne, würdest du während unserer Exkursion bitte dieser wissbegierigen jungen Dame mehr über deine Arbeit in unserer Abteilung erzählen und all ihre Fragen beantworten?« Kirians Worte waren weniger eine Bitte als ein Befehl.

Ariadne, deren langes, dunkles Haar zu einem strengen Knoten gebunden und deren Gesichtsausdruck nicht minder grimmig war als der ihrer männlichen Kollegen, nickte knapp. Damit schien das Thema für den Kommandanten erledigt und er fuhr mit seinen Ausführungen zu ihrem Ausflug in die Äußere Zone fort.

Neben Ava atmete die sonst so taffe Cleo hörbar aus. Es kam selten vor, dass sie Nervosität oder gar Angst zeigte, doch unter diesen Umständen konnte Ava es ihr nicht verdenken. Dennoch vermied sie jegliche Mitleidsbekundungen, denn sie wollte die Aufmerksamkeit nicht noch einmal auf sie beide ziehen. Um ihrer eigenen Pläne willen war es notwendig, so unauffällig wie möglich zu bleiben.

»Ich bitte Sie darum, genau zuzuhören und unseren Anweisungen unter allen Umständen Folge zu leisten«, lenkte Kirian Avas Aufmerksamkeit zurück auf das Hier und Jetzt. Ernst sah er die Schüler an, bevor er fortfuhr. »Viele von Ihnen werden bereits mit der einen oder anderen Person aus der Übergangszone zu tun gehabt und durchaus positive Erfahrungen gemacht haben. Die Menschen aus diesen Zonen unterscheiden sich insofern von jenen aus der Äußeren Zone, als dass sie sich anpassen wollen! Sie wollen dazugehören, wollen ein besseres Leben führen und sind bereit, sich dafür zu integrieren und ihren Beitrag zu leisten. In der Äußeren Zone sieht die Sache jedoch anders aus: Zwar gibt es auch hier offene, hilfsbereite Personen, die eine solche Art von Leben dem unseren einfach vorziehen. Jedoch werden Ihnen einige Individuen ganz und gar nicht freundlich gesinnt sein, weshalb es für Sie wichtige Regeln zu beachten gilt ...«

Kirian zählte in seiner ruhigen, eindringlichen, allerdings auch furchtbar monotonen Art immer weitere Vorschriften auf, an die sich die Schüler bei der Exkursion zu ihrer eigenen Sicherheit halten sollten, woraufhin Ava zunehmend abschweifte.

Der heutige Tag war die Chance, Ice zu finden! Ihr Treffen an der undurchdringlichen Wand war keine Woche her und Ava vermutete inzwischen, dass es sich bei der vereisten Barriere um die Firewall zwischen dem Netz der Kuppel und dem Netz der Äußeren Zone handelte. Zugriffe auf das Innere Netzwerk waren streng gesichert und reglementiert, was aufgrund der nicht allzu fernen Vergangenheit kein Wunder war: Der Dritte Weltkrieg mit all seinen verheerenden Folgen für und insbesondere durch die Virtuelle Welt war noch keine achtzehn Jahre her.

So gehörte Ava zur ersten Generation, die in dem neuen, friedlichen System aufgewachsen war. Ihr Zuhause war hier, ihr Leben spielte sich innerhalb der Kuppel ab, die sie bisher nie verlassen hatte. Warum auch? Sie hatte keinerlei Verbindungen in die Zonen, andere Städte oder gar Länder. Ihrer Familie ging es gut, sie waren integriert und angesehen, womit Ava eine vielversprechende Zukunft bevorstand. Behütet war sie mit dem Credo groß geworden, dass jede Person die Ziele erreichen und das Leben leben konnte, das sie wollte, wenn sie sich genügend Mühe gab – auch, wenn Cleo da hin und wieder anderer Meinung war.

Dabei war es durchaus logisch: Wer in der Äußeren Zone lebte, strengte sich entweder nicht genug an, hatte schlichtweg kein Interesse daran, seinen Beitrag zu leisten, oder aber hatte aktiv versucht, der Gemeinschaft zu schaden – ob direkt durch Gewalt oder indirekt, indem sich die Person nicht an Gesetze hielt, wie beispielsweise die Null-Toleranz-Politik gegenüber Drogen. Denn die Regierung, repräsentiert durch die führende Partei BUG –das Bündnis der universellen Gemeinschaft –unter der langjährigen Leitung der Präsidentin der Dome Federation Germany, Medina Lichtenfels, gab jedem eine Chance, sich in die Innere Zone zu integrieren. Allein die zahlreichen Menschen, die sich in der Übergangszone bewiesen und es in die Kuppel geschafft hatten, bestätigten das.

Da die Äußere und die Innere Zone so strikt getrennt waren, kam Ava die seit fünf Jahren obligatorische Schulexkursion gerade recht. Sie hatte zwar noch keine Ahnung, wie sie vorgehen sollte, sobald sie in der Äußeren Zone war, doch sie würde es schaffen! Sie musste einfach, denn dieser Ausflug war ihre einzige Chance auf Informationen – ohne dem Militär anzugehören oder einen offiziellen Bescheid war es nahezu unmöglich, in die Zonen zu gelangen.

Derart in Gedanken vertieft, bemerkte Ava nicht, dass Kirian mit seinen Ausführungen am Ende angelangt war und die Gruppe sich auf den Abmarsch vorbereitete. Zwei der Grenzpolizisten verteilten Luftfiltermasken, falls notwendig: die hygienischen und medizinischen Zustände in der Äußeren Zone waren zuweilen schwierig, die Luftqualität fragwürdig. Währenddessen kontrollierten vier weitere – unter ihnen Ariadne – mit unbewegten Gesichtern die Taschen der Schüler. Es war verboten, bestimmte Gegenstände in die Äußeren Zonen zu bringen; allem voran hochwertige Technik, sofern sie sich nicht bereits im Körper befand.

Elektronische Linsen, die Aufnahmen machen, Informationen zum Gesehenen liefern oder im Militärbereich sogar Körperfunktionen scannen und analysieren konnten, sowie im Ohr eingepflanzte Akustikchips für eine durchgängige Erreichbarkeit, waren nur einige der üblichen Erweiterungen des menschlichen Körpers. Was bei Ava aktuell noch ihr Smart-Band übernahm – Identifikation, Kommunikation, Bezahlung und diverse Freigaben –, funktionierte bei vielen bereits über einen im Handgelenk verpflanzten Chip. Ausgefeilte Prothesen halfen Menschen nicht nur, wieder ein normales Leben zu führen, sondern wurden neuerdings in der Militärforschung eingesetzt, um Soldaten effizienter zu machen – wie auch die ersten Chip-Prototypen, die durch verschiedene Impulse beispielsweise die Konzentration fördern oder Schmerzen lindern sollten. Zumindest war das den Medien nach der Plan für die Zukunft.

All diesen kleinen, technischen Errungenschaften gemein war jedoch, dass sie mit dem Gehirn des jeweiligen Nutzers gekoppelt und auf es abgestimmt waren, um ein perfektes Zusammenspiel von Körper und Technik zu gewährleisten.

Als Ariadne Cleos und Avas Rucksäcke durchforstet und nichts Problematisches gefunden hatte, blieb sie stehen, um Cleo mit ihren unergründlichen braunen Augen zu mustern. Unwillkürlich musste Ava an die wachsamen Augen einer Katze denken. Aufgrund der geringen Entfernung waren die elektronischen Linsen deutlich zu erkennen, die der Polizistin womöglich gerade sämtliche Daten zu ihrem Gegenüber lieferten. Ihr abschätzender Blick wurde mit jeder verstreichenden Sekunde unangenehmer, woran auch ihr jugendliches Erscheinungsbild nichts änderte. Denn hinter der unnahbaren Fassade, stellte Ava fest, war die durchtrainierte junge Frau mit dem dunklen, bronzefarbenen Teint wunderschön.

»Du bleibst während der gesamten Exkursion an meiner Seite.« Damit nahm Ariadne endlich ihren Blick von Cleo und verschwand, um die nächsten Taschen zu kontrollieren.

Mürrisch verzog Cleo das Gesicht und äffte Ariadne leise nach, sobald sie außer Hörweite war. Doch Ava war sich sicher, dass Cleo sich der Anordnung nicht widersetzen würde. So leid es ihr für ihre Freundin auch tat, hätte es für Ava im Hinblick auf ihre eigene Mission nicht besser laufen können! Denn wenn einer Person sofort auffallen würde, dass sie nicht da war, dann war das Cleo.

Mitfühlend legte Ava ihrer Freundin die Hand auf die Schulter, woraufhin Cleo seufzte. »Klasse. Jetzt hab ich auch noch den Roboter an der Backe. Hast du gesehen, wie ausdruckslos ihre Augen sind? Ich hab es doch gesagt: Wehe, du äußerst einmal deine Meinung in dieser ach so perfekten Gesellschaft!«

Sie warf Kirian einen giftigen Blick zu, der jedoch zu beschäftigt damit war, sich mit dem Lehrpersonal zu besprechen, um von alldem etwas mitzubekommen – oder dem es schlichtweg egal war, was eine einzelne Schülerin dachte.

Kurz darauf wurden die Schüler angewiesen, sich in Zweierreihen aufzustellen, um sich dem obligatorischen Scan zu unterziehen. Danach ging es für sie durch die streng bewachten, inneren Schleusen in einen der großen Aufzüge, der sie von der Kuppel viele Stockwerke hinab an den Fuß des Turms und zu den Zonenschleusen bringen würde.

Während der sanften, nahezu geräuschlosen Fahrt im rundum geschlossenen Fahrstuhl konnte sich Ava nicht vorstellen, dass dieser Turm, der Kuppel und Äußere Zone miteinander verband, früher das Wahrzeichen der Hauptstadt gewesen war. Damals, vor dem Dritten Weltkrieg, bevor die Leute in die Ballungszentren flohen, weil das Leben auf dem Land nicht mehr möglich war. Bevor die Kuppeln über den Großstädten errichtet und abgeschottet wurden. Einerseits, um vor der zunehmenden Strahlenbelastung aufgrund der schwächelnden Ozonschicht zu schützen, ein stabiles Klima und saubere Luft in Zeiten zunehmender extremer Wettersituationen zu bieten, inklusive eines simulierten Himmels, falls die echte Sonne sich zu lange nicht zeigen wollte. Andererseits aber auch, um durch den geschützten, überschaubaren und kontrollierten Raum der Kuppel Sicherheit für die Gesellschaft zu bieten; Schutz vor äußerlichen Faktoren, zu denen auch die Menschen zählten ...

Doch vor der Gründung der Dome Federation hatten Touristen Schlange gestanden, um von der Plattform in gut 200 Metern Höhe die Aussicht über die Stadt zu genießen und in einer der Etagen des kugelförmigen Gebildes einen Kaffee zu trinken! Nun bildete der gut gesicherte Turm mit seinen Aufzügen neben dem neuen Regierungsgebäude den wichtigsten Ort in der Kuppel Neo Berlins –und für viele Menschen den einzigen Zugang zu einem besseren Leben.

Mit jedem Meter, den es abwärts ging, stieg Avas Nervosität: Bisher hatte sie sich nur auf ihre Mission konzentriert, die Chance, sich unbemerkt absetzen zu können. Doch war das alles nicht ganz schön leichtsinnig? Die Äußere Zone und ihre Bewohner waren unbekanntes Terrain für sie, mysteriös und mitunter gefährlich, und ihr gesamtes Wissen über sie basierte auf Erzählungen und Nachrichtenbeiträgen.

Kirians Warnungen kamen ihr in den Sinn. Die strengen Verhaltensregeln gab es sicher nicht ohne Grund. Plötzlich hatte Ava das Gefühl, einen furchtbaren Fehler zu begehen.

Diese Angst nahm ihr die Luft zum Atmen und auch Cleos warme Hand, die ihre fest umschloss und aufmunternd drückte, kam nicht gegen die lähmende Panik in ihrem Inneren an, die sich stetig ausbreitete und bis zu ihrer Ankunft am Boden jeden Zentimeter ihres Körpers erfüllte. Tat sie wirklich das Richtige oder beging sie gerade eine schreckliche Dummheit?

Kapitel 2 – Zero

Vor dem Fenster herrschte trübes nasskaltes Wetter, und Zero war froh, dass er heute keinen Fuß mehr nach draußen setzen musste. Der permanente Nieselregen, der Schmutz und giftige Dämpfe aus der Luft wusch und als graue Schlieren auf der Haut zurückließ, drang durch alle Kleiderschichten. Vor Jahren wäre diese Witterung wohl als typisches Novemberwetter bezeichnet worden, nur, dass jetzt September und damit Spätsommer war.

Seufzend trat Zero von der fleckigen Scheibe zurück, drehte sich um und ließ den deprimierenden Anblick hinter sich. Trübsal blasen brachte ihn nicht weiter – die Elektronikteile zu seinen Füßen hingegen schon.

Gespannt widmete er sich den neusten Fundstücken, die er den Schrottsammlern abgekauft hatte. Die Ausbeute war, wie bereits in den letzten Wochen, nicht besonders groß, doch es schienen sich einige höherwertige Stücke unter dem Altmetall und Plastik zu befinden.

Während Zero die einzelnen Gerätschaften, Elektronik- und Metallteile auf dem Betonboden ausbreitete und eines nach dem anderen inspizierte, drängte sich ihm die Frage auf, ob diese Tendenz nur eine vorübergehende Durststrecke oder tatsächlich der Anfang vom Ende war. Wenn wirklich immer weniger Elektroschrott seinen Weg in die Äußere Zone fand und sie nur noch ihre alte Technik recyceln konnten, dann wäre das nicht nur für ihn und seinen Lebensunterhalt fatal ...

Kopfschüttelnd erhob er sich wieder, atmete tief ein und streckte den Rücken, bis die Wirbel knackten, während er die unheilvollen Gedanken von sich schob. Noch war es nicht so weit und bisher hatte er sich immer irgendwie durchgeschlagen. Er würde auch in Zukunft einen Weg finden. Aber jetzt brauchte er erst mal einen Kaffee.

Auf dem Weg in die Küche meinte Zero plötzlich, undeutliche Stimmen von draußen zu vernehmen. Doch als er daraufhin stehen blieb, drang bis auf das gleichmäßige Prasseln des Regens kein Laut an sein Ohr. Er wollte bereits weitergehen – eine der wichtigsten Regeln in der Äußeren Zone für ein unbehelligtes Leben war, sich niemals in die Probleme anderer einzumischen –, als die Stimmen erneut einsetzten. Nun handelte es sich jedoch eindeutig um Hilferufe, die kurz darauf im grölenden Gelächter mehrerer Personen untergingen.

Die verzweifelte Stimme schien einer Frau zu gehören und kam Zero nicht bekannt vor. Bei den offenkundig amüsierten Männern verhielt es sich hingegen anders: Zero hatte die dumpfe Vermutung, dass er die Gruppe nur allzu gut kannte ...

Er seufzte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Scheiße. Er hatte keine Lust auf Ärger, konnte jedoch die Hilferufe nicht einfach ignorieren.

Bevor er seine Entscheidung überdenken konnte, schnappte er sich die dunkelgrüne, aus robusten Synthetikfasern gefertigte Jacke, stellte den Kragen hoch und trat in seinen schweren Stiefeln hinaus in das nasskalte Nieselwetter. Wenigstens seine Füße würden trocken bleiben.

Ratlos sah sich Zero um, als er die Rufe erneut vernahm. Sie kamen wider Erwarten nicht aus dem Volkspark Rehberge, dem typischen Ort für Probleme. Also folgte Zero der Transvaalstraße weiter nach Nordosten. Die Stimmen wurden lauter. Angestrengt blickte er in die Richtung, konnte in dem Dunst allerdings nichts erkennen. Bereits nach wenigen Sekunden kroch ihm der feuchte Nebel unter die Jacke, während sich einzelne Regentropfen in seinem kurzen schwarzen Haar verfingen, das dringend einen neuen Schnitt benötigte.

Unentschlossen ging Zero einige Schritte weiter, ehe er um eine Hausecke bog – und mit einem Mal das ganze Drama nur wenige Meter entfernt vor Augen hatte. Inklusive des größten Problems an der Sache.

»Die Dome Federation«, entfuhr es ihm, bevor er darüber nachdenken konnte, wieder zu verschwinden.

Daraufhin wandten sich ihm sechs Gesichter zu, womit er die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Beteiligten bekam und gleichzeitig jegliche Chance verlor, sich doch noch aus der Sache herauszuhalten.

Zero kannte Marek und seine Schlägertruppe nur zu gut – wie wahrscheinlich der Großteil der Bewohner der Äußeren Zone. Mehr oder minder regelmäßig hatte er ... geschäftlich mit ihnen zu tun. Solange alles nach Plan verlief und den Jungs keiner auf die Füße trat, konnten sie durchaus vernünftig sein – sofern man in der launischen Art von Marek so etwas wie Vernunft sehen wollte.

Doch in der jetzigen Situation stellte Zero eindeutig einen Störfaktor dar, und als solcher wurde er nun von fünf grimmigen Mienen unverhohlen wütend gemustert.

Lediglich das sechste Gesicht in der Runde blickte ihn nicht feindselig, sondern gleichermaßen verängstigt wie hoffnungsvoll an. Es gehörte einer zierlichen Jugendlichen mit kinnlangem, blondem Haar in einem schwarzen Schutzanzug, dessen Schulterbereich das Emblem der Dome Federation zierte. Sie schien etwas jünger als er selbst zu sein – er schätzte sie auf höchstens sechzehn oder siebzehn – und damit definitiv nicht alt genug, um dem Militär anzugehören, weshalb sich Zero fragte, was zur Hölle sie hier zu suchen hatte.

Doch diese Frage würde wohl für immer unbeantwortet bleiben, denn nun schien Marek beschlossen zu haben, dass es an der Zeit war, etwas gegen den ungebetenen Gast zu unternehmen. Mit zwei schnellen Schritten war er bei Zero und packte ihn ebenso am Kragen, wie einer seiner Kumpane bereits das blonde Mädchen festhielt und gegen eine Hauswand drückte. Die Jugendliche wehrte sich erfolglos, was die vier, im Halbkreis um sie herumstehenden, bulligen, glatzköpfigen und mit – handwerklich eher mäßig gestochenen – Tattoos bedeckten Männer nur zu weiteren anzüglichen Bemerkungen anspornte.

Als der zwei Köpfe größere und dreimal so breite Marek seinen Griff verstärkte, schnürte er Zero umgehend die Luft ab – und stellte damit eindrucksvoll unter Beweis, dass sein gewaltiger Körper nicht Fett, sondern purer Muskelmasse geschuldet war. Zero schnappte nach Luft, woraufhin Marek seinen kantigen, kahl rasierten und mit verschlungenen Symbolen gezeichneten Schädel mit einem zufriedenen Grinsen ganz nah an sein Gesicht heranbrachte.

»Zero, mein Freund«, dröhnte er, und Zero konnte die Quelle seines schlechten Atems direkt in Form der von Karies zerfressenen Zähne ausmachen. »Lange nicht gesehen. Was macht die Gesundheit? Du hast schon lange keine Medizin mehr gekauft.« Er lachte laut über seinen eigenen Witz, woraufhin auch von seinen Lakaien zustimmendes Gelächter ertönte – ob aus tatsächlichem Amüsement oder reinem Pflichtbewusstsein heraus, da war sich Zero nicht sicher.

Mareks Anspielung ignorierend, fragte er sich stattdessen, wie lange er wohl den säuerlichen Gestank in seiner Nase ertragen konnte.

»Alles bestens.« Seine Stimme klang gepresst, dennoch zwang er sich zu einem gequälten Lächeln. »Und selbst?«

»Könnte nicht besser sein!« Marek hielt Zeros Kragen noch immer wie ein Schraubstock umklammert. Plötzlich verschwand sein Grinsen, die Augen verengten sich. »Du willst uns doch nicht unser neues Spielzeug wegnehmen?«

Der Stoff seiner Jacke schnürte sich noch enger um seinen Hals, woraufhin Zero kaum genügend Luft übrighatte, um zu antworten. Ein Kribbeln breitete sich in seinen Händen und Füßen aus und es fiel ihm zunehmend schwer, klar zu denken.

»Nein«, stieß er mühsam hervor. »Will euch nur ... helfen ...«

Abrupt ließ Marek Zero los, woraufhin er keuchend in die Knie ging und Sekunden lang um Atem rang, bevor er wankend auf die Beine kam. Das kostete ihn zwar viel Kraft, doch der Boden war eine denkbar schlechte Verhandlungsposition. Sich den schmerzenden Hals reibend, blickte Zero Marek so entschlossen an, wie es ihm in seiner aktuell misslichen Lage möglich war.

»Hör mal, ich weiß, dass ihr mit der Federation einige Geschäfte unter der Hand laufen habt«, begann Zero so diplomatisch wie möglich und wich einen Schritt zurück, als sich Mareks Gesichtsausdruck verfinsterte. Er hob die Hände. »Mir ist das gleich. Jeder tut das, was er zum Überleben tun muss. Diese Federationtypen besorgen euch Rohstoffe, sind gute Abnehmer. Wollt ihr das alles wegen so einer«, er nickte abschätzig in Richtung der erstarrten Jugendlichen, »aufs Spiel setzen? Was glaubt ihr, wird hier los sein, wenn die da oben mitkriegen, dass einer der ihren etwas passiert ist? Wenn sie herausbekommen, wer das war? Kontrollen, Durchsuchungen, Verhaftungen – und keine Chance mehr auf Vorteile, geschweige denn Geschäfte irgendeiner Art.«

Zero war sich nicht sicher, wie Erfolg versprechend es war, bei einem einfach gestrickten Mann wie Marek an die Vernunft zu appellieren, aber er hatte keine andere Wahl. Während er auf seine Entscheidung wartete und hoffte, dass sich der Gangboss mit diversen aufputschenden Substanzen noch nicht sämtliche Gehirnzellen weggebrannt hatte, wünschte sich Zero inbrünstig Skadi oder Joris an seine Seite. Doch beide würde er frühestens am Abend wiedersehen. Vorausgesetzt, er überlebte das hier ...

Unvermittelt schlug Marek Zero so kräftig auf die Schulter, dass er beinahe wieder auf dem Boden landete und nur mit Mühe ein Stöhnen unterdrücken konnte.

»Überzeugt!« Zero fiel ein Stein vom Herzen. »Aber«, fügte Marek drohend hinzu, »wir haben was gut bei dir! Und: Keine Rabatte mehr für dich, Zero!«

Zero nickte stumm. Im Moment würde er alles abnicken, wenn Marek nur endlich mit seiner Schlägertruppe abzog! Über die Konsequenzen, die aus einem offenen Gefallen für Mareks Gang resultierten, konnte er sich später noch Gedanken machen – und vor allem Sorgen.

Doch zumindest für diesen Moment schienen Zeros Gebete erhört worden zu sein. Mit einem knappen Kopfnicken zog Marek seine Jungs ab. »Ihr habt es gehört. Wir verschwinden!«

Unter lautem Murren und letzten begehrlichen Blicken auf die noch immer erstarrte Fremde trotteten die vier dennoch ohne Widerworte hinter ihrem Boss her. Dieser warf Zero einen letzten, spöttischen Blick zu.

»Viel Spaß mit deiner neuen Freundin!« Er lachte bellend, bevor er mit seinem Gefolge endlich aus Zeros Blickfeld verschwand.

Gegen seinen Willen musste er Marek Respekt zollen: So impulsiv er war, so hatte er seine Truppe doch absolut unter Kontrolle ... Kurz darauf heulten hinter den grauen Regenschleiern fünf Motorräder auf und entfernten sich röhrend, bis sie sich schließlich in der Ferne verloren.

Als nur noch das Prasseln des Regens zu hören war, wagte es Zero endlich, sich wieder zu rühren. Langsam ging er auf das fremde Mädchen zu, das weiterhin gegen die Hauswand gepresst dastand und ihn aus großen, tiefblauen Augen ängstlich anstarrte. Im Vergleich zu Mareks hochgewachsenen, bulligen Schergen hatte sie geradezu winzig gewirkt, doch nun stellte Zero fest, dass sie nur etwa einen halben Kopf kleiner war als er. Er schätzte sie auf einen Meter fünfundsechzig.

Bei ihr angekommen, blieb Zero unschlüssig stehen. Was sollte er jetzt mit ihr machen? Was sollte er sagen? So weit hatte er nicht gedacht.

»Sie sind weg«, sprach er in Ermangelung einer besseren Idee das Offensichtliche aus.

Doch anscheinend war das genau das, was die Unbekannte gebraucht hatte. Mit einem Mal kam wieder Leben in sie, und nach einem tiefen, erlösenden Atemzug sank sie schluchzend und zitternd auf den nassen Boden.

Zero konnte es ihr nachfühlen, war die Situation doch alles andere als ungefährlich gewesen. Auch seine Hände bebten und das durch den Körper rasende Adrenalin machte ihn ganz kribbelig. Oder setzte bereits der Entzug ein ...?

Doch plötzlich stieg heiße Wut in ihm auf. Er hatte der Unbekannten gerade den Arsch gerettet und nun schaffte sie es noch nicht mal, sich zusammenzureißen?

Um das Zittern seiner Hände zu verbergen, steckte er sie energisch in seine Jackentaschen, während er auf die Jugendliche hinabsah. Der Regen nahm zu, rann aus ihrem durchnässten, honigblonden Haar über ihr Gesicht und verschmierte gemeinsam mit den Tränen die Reste der Wimperntusche. Eigentlich ein mitleiderregender Anblick, ließ er Zeros Zorn nur noch weiter aufflammen.

»Was hast du hier zu suchen?«, herrschte er sie an und löste damit vor allem seine eigene Anspannung.

Mit großen Augen sah das Mädchen auf, schlang schützend die Arme um den Körper. »Ich ... ich ...«

Zero hatte endgültig die Nase voll. Er war stinksauer, zum einen auf sich selbst, weil er wieder zu gutmütig gewesen war und gegen seine eigenen Prinzipien verstoßen hatte, aber ganz besonders auf die Unbekannte, die hier so leichtsinnig aufgetaucht war und damit nicht nur sich, sondern auch ihn in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht hatte!

»Was? Sprechen die feinen Herrschaften da oben jetzt noch nicht mal mehr unsere Sprache? Mach endlich den Mund auf und rede!«

Eingeschüchtert starrte das Mädchen ihn an, woraufhin Zero klar wurde, dass er auf diese Art nichts erreichen würde. Er atmete tief durch, versuchte runterzukommen.

»Du solltest nicht hier sein. Für Menschen wie dich«, sein Blick fiel auf das Dome-Federation-Emblem auf ihrem Schutzanzug und er konnte nicht anders, als verächtlich das Gesicht zu verziehen, »ist es hier nicht sicher.«

Die Jugendliche biss sich auf die Lippe.

»Tut mir leid«, murmelte sie und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, wodurch sie die schwarzen Schlieren auf ihrem Gesicht nur noch mehr verteilte. Sie schniefte ein letztes Mal, bevor sie sich erhob. »Wir sind auf einer Exkursion. Von der Schule.«

Überrascht sah Zero sie an. »Eine Exkursion?«, wiederholte er. »Hierher? In die Äußere Zone?«

Sie nickte und fixierte dann schnell den Boden. »Das ist seit einigen Jahren Pflicht in den höheren Klassen. Es soll uns zeigen, wie wichtig eine stabile Gesellschaft ist ... und Integration und Vorschriften und Gesetze ...«

Sie brach ab und hob vorsichtig den Blick.

Fassungslos starrte Zero zurück. Von diesen Maßnahmen hatte er noch nie etwas gehört. Jetzt schleppte das BUG die Schüler zur Abschreckung und Aufrechterhaltung ihrer kranken Ordnung schon in die Äußere Zone? Damit ja niemand Kritik am bestehenden System äußern würde oder sich auch nur traute, Fragen zu stellen?

Humorlos lachte er auf. »Was für eine Scheiße ...« Er nickte der Jugendlichen zu. »Und? Was hast du gelernt? Die Situation gerade war ja wie aus dem Lehrbuch! Jetzt kannst du allen erzählen, wie schrecklich böse, gefährlich und verrückt die Menschen hier sind. Dass sie es verdienen, so zu leben! Und ihr eure kleine, heile Welt da oben gegen diese Monster schützen müsst! Dass die Grenzen und Schikanen an den Kontrollen absolut richtig sind!«

Abermals hatte Zero Mühe, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken. Auch jetzt konnte er die körperliche Reaktion nicht genau zuordnen: Handelte es sich um bloße Wut, oder doch bereits den Entzug? Aber egal, was der Ursprung war, es wurde Zeit, die Sache hier zu beenden.

Betroffenheit machte sich auf dem Gesicht des Mädchens breit, was Zero verdeutlichte, wie sehr er ins Schwarze getroffen hatte. »Du bist nicht so ...« Unsicher sah es Zero an, während es sich das kinnlange Haar hinters Ohr strich. »Du hast mir geholfen.«

Zero schnaubte. »Glaub bloß nicht, dass die Hilfe umsonst war.« Zielstrebig steuerte er einen hellblauen Rucksack an, der einige Meter entfernt im Dreck lag. »Ist das deiner?« Er hob die durchweichte Tasche auf.

Noch bevor die Unbekannte antworten konnte, hatte Zero den Rucksack geöffnet und inspizierte den Inhalt: Getränke, Essen, eine Mütze, eine Luftfiltermaske – und ein Smart-Band. Zumindest nahm Zero an, dass es eines war: Die Modelle, die er kannte, waren älter, optisch schlichter und funktionaler als dieses modische weiße Band. Neben der obligatorischen Kommunikations-‍, Informations- und Bezahlfunktion besaß es garantiert weitere Zusätze. Sicher waren die Schüler angewiesen worden, ihre Bänder nicht offen am Arm zu tragen, um jeglichen Anreiz zum Diebstahl von vornherein zu unterbinden.

Neugierig betrachtete Zero das filigrane, moderne Gerät von allen Seiten, das normalerweise mit einer kompatiblen Linse im Auge und einem Akustiksensor im Ohr des jeweiligen Trägers gekoppelt war.

»Das lässt sich nur mit meiner Iris entsperren«, erklang plötzlich eine Stimme direkt neben ihm.

Zero fuhr herum, packte die Schülerin am Arm und konnte gerade noch verhindern, dass er sie aus Reflex zu Boden stieß. Sie war, ohne, dass er es bemerkt hatte, so nah an ihn herangetreten, dass er ihren frischen, blumigen und irgendwie sauberen Duft riechen konnte.

Einen Moment lang starrte er auf seine Hand, die noch immer ihr Handgelenk umklammert hielt, und die sich mit ihrem dunklen, olivfarbenen Teint deutlich von ihrer sehr viel helleren Haut abhob, bevor er sie hastig losließ.

Eilig trat er einen Schritt zurück. Sich so überrumpeln zu lassen, sah ihm gar nicht ähnlich. Er war nach der Sache mit Marek wirklich durch den Wind!

Seine Verlegenheit überspielend, schnaubte Zero spöttisch. »Das Teil entsperre ich auch so.« Er grinste. »Ich behalte es.«

Er streckte der Schülerin den Rucksack entgegen. Ohne Smart-Band.

Irritiert blinzelte sie. »Aber ... das gehört mir!«

»Das ist meine Bezahlung.« Zero ließ das Band in seiner Jackentasche verschwinden, um deutlich zu machen, dass er es ernst meinte. »Glaub mir, damit kommst du noch günstig weg.«

Ganz im Gegensatz zu mir, fügte er im Stillen hinzu.

Die Jugendliche wirkte für einen Moment, als wollte sie abermals widersprechen, öffnete den Mund, schloss ihn dann jedoch wieder. Sie musterte Zero und er konnte in ihren blauen Augen erkennen, dass sie Angst hatte. Das war gut, denn dann würde sie keine Probleme machen.

Da der Regen mittlerweile nicht mehr nur in seinen Kragen lief, sondern auch seinen Rücken hinabrann, und sich das Zittern seiner Hände auf seinen gesamten Körper auszuweiten begann, war es ohnehin an der Zeit zu verschwinden. Der Ärger mit Marek war mehr als genug Aufregung für einen Tag und er sehnte sich nach der kühlen Stille, die in Form einer bestimmten Substanz zu Hause auf ihn wartete.

»Na dann.« Zero nickte dem Mädchen zu, bevor er an ihm vorbeiging. »Viel Glück da oben.«

Weit kam er allerdings nicht.

»Warte!«

Ungeduldig drehte er sich um, hatte zunehmend Mühe, sich zu beherrschen. »Was? Du kriegst das Band nicht zurück!«

»Kennst du Ice?«, platzte es aus der Jugendlichen heraus, womit sie schlagartig Zeros volle Aufmerksamkeit hatte.

Ice? Hatte er gerade richtig gehört? Irritiert starrte er das Mädchen an, wie es da so nervös im Regen stand, den Rucksack fest umklammert und wie einen Schutzschild vor sich haltend: jung, hübsch, privilegiert.

»Du bist hier wegen ... Drogen?«

Nun war es an der Jugendlichen, verwirrt zu sein.

»Drogen? Nein, Ice ist eine Person.«

Zero lachte. Er konnte einfach nicht anders. Diese gut erzogene, vertrauensselige, naive Schülerin aus der Kuppel, in der Äußeren Zone auf der Suche nach dem nächsten Schuss – das wäre auch zu verrückt gewesen.

Bei seiner offenkundigen Belustigung verzog die Jugendliche ihre Lippen ebenfalls zu einem vorsichtigen Lächeln. Dieser Anblick löste in Zero für einen flüchtigen Moment ein seltsames, leises Gefühl der Verbundenheit aus.

Doch der Augenblick verging, und er wurde wieder ernst. »Ich kenne niemanden namens Ice. Außerdem kosten Informationen.«

Die Jugendliche setzte gerade zu einer Antwort an, als ganz in der Nähe die schnellen, schweren Schritte mehrerer Personen zu hören waren. Gleichzeitig ertönten laute Rufe, und bevor sich Zero aus dem Staub machen konnte, bog eine schwer bewaffnete Einheit der Grenzpolizei um die Ecke und verteilte sich so, dass an Flucht nicht mehr zu denken war.

Nach einer knappen Sondierung der Lage bedeutete der Anführer – ein drahtiger, hochgewachsener, aschblonder Mann Anfang dreißig – zweien seiner Männer, Zero festzunehmen, während sich die restlichen fünf in einem Halbkreis positionierten und wachsam die Umgebung im Auge behielten. Inklusive der Schülerin, die mit der aktuellen Entwicklung völlig überfordert zu sein schien.

Obwohl es in seiner gegenwärtigen Situation aussichtslos war, sich zu wehren, versuchte Zero aus bloßem Reflex heraus, dem Mann zu seiner Linken den Ellbogen in die Seite zu rammen. Das brachte ihm jedoch nur einen verdrehten Arm und einen stechenden Schmerz in der ohnehin lädierten Schulter ein. Die Grenzpolizisten umklammerten seine Arme nun wie Schraubstöcke, er konnte sich keinen Millimeter mehr rühren.

Kopfschüttelnd trat der Kommandant der Einheit vor und verzog das Gesicht. Er setzte zum Sprechen an, runzelte dann aber die Stirn.

»Ich kenne dich ...« Plötzlich erhellte sich seine Miene und er lachte bellend. »Deine Beteiligung in diesem Fall dürfte Kommandant Wintermoor aber nicht gefallen«, meinte er, wobei das verschlagene Grinsen auf seinem Gesicht nichts Gutes verhieß.

Zero verzog keine Miene, doch auch für ihn war der Mann kein Unbekannter. Er erinnerte sich an die heimtückischen, grauen Augen nur zu gut, die harten Gesichtszüge, die glatte, unbarmherzige Stimme, wenn er seine Befehle gab: Befehle, zu verhaften, zu bestrafen, so viel Gewalt anzuwenden, wie nötig – und noch ein bisschen mehr. Angeblich, um für Ordnung und Sicherheit zu sorgen, für das Wohl der Gesellschaft.

Für Zero war der Typ ein machthungriger Mistkerl, der seine Position ausnutzte, um eigene Unzulänglichkeiten zu kompensieren, und der alles tun würde, um ganz nach oben zu kommen! Für sein Empfinden patrouillierte der Polizist mit seiner Einheit viel zu häufig in seinem Viertel, war ihm dabei mehrfach über den Weg gelaufen – und nie waren diese Begegnungen ohne Ärger geblieben. Denn Zero scheute sich nicht, seine Meinung kundzutun und sich den Schikanen der angeblichen Beschützer zu widersetzen. Anlässe, die der Polizist nur allzu gern nutzte, um ein Exempel zu statuieren und den Umstehenden zu verdeutlichen, wo ihr Platz war – und, was ihnen blühte, falls sie es vergessen sollten.

Zero grinste. »Du musst ja nicht gleich bei Mami petzen.« Dann verzog er gespielt entschuldigend das Gesicht. »Oh, ich vergaß. Natürlich musst du das: als Schoßhund der wirklich wichtigen Leute hast du ja selbst nichts zu entscheiden!«

Am Gesichtsausdruck des Kommandanten erkannte Zero, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. Doch die Freude darüber währte nur bis zu dem harten Faustschlag in seinem Gesicht, der seinen Kopf zurückschleuderte und seine Lippe aufplatzen ließ.

Als sich der metallische Geschmack von Blut in seinem Mund ausbreitete und Schmerz seinen Kopf durchzog, fragte sich Zero, wieso er nicht ein Mal die Klappe halten konnte. Aber sein Gehirn schien zu summen, während sich die Gedanken im Kreis drehten und sein ganzer Körper vibrierte. Er konnte kaum noch klar denken, geschweige denn, sich konzentrieren. Zum Teil war das sicher dem heftigen Schlag geschuldet, doch der einsetzende Entzug trug ebenso dazu bei.

»Immer noch keinen Respekt vor Autoritätspersonen«, knurrte der Blonde.

»Ich sehe hier niemanden, der Respekt verdient.« Zero spuckte dem Grenzpolizisten das Blut, das sich in seinem Mund sammelte, vor die Füße.

Den hieraus resultierenden Schlag sah er zwar kommen, doch das verhinderte weder den stechenden Schmerz in seinem Bauch noch das schlagartige Entweichen sämtlicher Luft aus seinen Lungen. Hätten ihn die Männer zu seinen Seiten nicht so unerbittlich festgehalten, säße er heute wohl zum zweiten Mal auf dem Boden.

Zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch versuchte Zero Sauerstoff in seinen Körper zu pumpen, ohne sich die Blöße zu geben, nach Luft zu schnappen. Obwohl sein Sichtfeld zunehmend verschwamm, erkannte er, wie der Blonde zu einem dritten Schlag ausholte.

»Stopp!«

Überraschend fest drang die Stimme des Mädchens an Zeros Ohr. Einen Augenblick später tauchte es neben dem Kommandanten auf, sah erst Zero und dann ihn entsetzt an. »Er hat nichts getan!«

Als hätte er ihre Anwesenheit vergessen, blickte der Grenzpolizist die Jugendliche für einen Moment verwundert an. Er fing sich jedoch schnell wieder und setzte eine unverbindliche Miene auf. »Ava Sommerfeld?«

Die Jugendliche nickte, woraufhin der Mann fortfuhr. »Ich bin Rouven Sandstein, Kommandant der Grenzpolizei, zweiter Rang. Wir sind auf der Suche nach dir. Was ist passiert?«

»Ich hab mich wohl verlaufen ...«, murmelte Ava. Als sie den skeptischen Blick des Polizisten bemerkte, sah sie schnell zu Boden. »Als wir aus dem Fahrzeug gestiegen und zu Fuß weitergegangen sind, war ich kurz abgelenkt und plötzlich war die Gruppe weg, und es war neblig und alles sah gleich aus, und ...« Sie wurde immer leiser, was vermuten ließ, dass ihre Geschichte nicht der Wahrheit entsprach. Doch es war nicht an dem Polizisten, dem auf den Grund zu gehen – seine Aufgabe war es lediglich gewesen, sie aufzuspüren.

»So«, sagte er daraufhin nur unbestimmt. »Dann ist es ja gut, dass wir dich gefunden haben.« Plötzlich drehte er sich zu Zero und taxierte ihn. »Was ist mit ihm? Wie ist er in die Sache involviert? Hat er dir etwas angetan? Dich überfallen? Bestohlen? Bedroht?«

Für einen Moment trafen sich die Blicke von Zero und der Schülerin namens Ava. Die Jugendliche zögerte, woraufhin sich Zero sicher war, dass sie ihn verraten würde. Doch dann veränderte sie kaum merklich ihre Haltung und ihre erstaunlich blauen Augen leuchteten auf, bevor sie blinzelte und den Kommandanten direkt ansah.

»Er hat mich nicht bestohlen. Er hat mich gerettet.« Ihr Tonfall unterband jede weitere Befragung.

Der Grenzpolizist verzog zwar ein letztes Mal unwillig das Gesicht, nickte dann aber in Richtung der beiden Männer, die Zeros Arme noch immer umklammert hielten. Vorschriften und Befehle konnten zwar interpretiert, aber nicht gänzlich ignoriert werden. Auch nicht von ihm. »Lasst ihn gehen.«

Er bedeutete der Jugendlichen, mit ihm zu kommen, würdigte Zero dabei keines Blickes mehr. Zero konnte sein Glück kaum fassen, als die Einheit an ihm vorbeiging und ihrem Kommandanten die Straße entlang durch den Regen folgte.

Bereits ein gutes Stück entfernt, warf die Schülerin einen letzten Blick zurück, und Zero konnte in ihren Augen erkennen, wie erschüttert sie war. Vielleicht hatte das ganze Drama doch etwas Gutes: Die Jugendliche würde ihre vordergründig so heile Welt nun sicher mit anderen Augen sehen. Er machte sich zwar keine falschen Hoffnungen, denn verändern würde das nichts. Doch zumindest einen kleinen Zweifel würden Politiker, Polizei, Eltern und Freunde ihr nicht mehr nehmen können, und ihr schönes Leben würde für immer mit einem feinen Makel behaftet sein.

Zero wartete, bis die Truppe außer Sichtweite war. Er wagte es nicht, sich vorher zu bewegen, da er nicht wusste, ob ihm sein Körper noch gehorchen würde. Doch nach einigen tiefen, schmerzhaften Atemzügen hatte er sich so weit unter Kontrolle, dass er den Heimweg antreten konnte.

Als er durchnässt, mit schmerzendem Kiefer und zitternden Händen das Haus betrat, erfüllte lediglich ein einziger Gedanke, grell leuchtend und alles andere verdrängend, seinen Kopf: Er brauchte Ice!

Zero wusste nicht, wie lange er weg gewesen war. Doch irgendetwas störte seinen entspannten Zustand, drang in sein benebeltes Hirn. Aber er wollte noch nicht zurück. Wollte noch für eine Weile die Stille genießen, in der absoluten Schwärze versinken, weich gebettet wie auf frisch gefallenem Schnee, immer weiter einsinkend, mit schweren Gliedern, in das kühle, sanfte Vergessen ...

»Zero.«

Nichts denken, nichts fühlen: keine Sorgen, keine Ängste. Keine Schmerzen. Alles verschwunden, in dem großen Nichts ...

»Zero!«

Er hörte einen Namen. Seinen Namen. Doch er konnte und wollte sich nicht bewegen. Nicht die Augen öffnen und den angenehmen Zustand verlassen. Nur noch ein wenig länger ...

»Zero, verdammt!«

Ein leichter Schlag auf die Wange ließ ihn blinzeln. Über sich sah er eine wilde, flammend rote Lockenmähne, die besorgt blickende, moosgrüne Augen umrahmte.

»Wie Feuer ...«, murmelte Zero, während er langsam den schweren Arm hob, um herauszufinden, ob er sich an den lodernden Locken wohl die Finger verbrennen würde.

»Sag mal, spinnst du?« Überrascht schlug die rothaarige Frau seine Hand weg.

Zero zuckte zusammen, als daraufhin ein stechender Schmerz den benebelten Zustand durchdrang und in seine linke Schulter fuhr.

»Skadi«, erkannte Zero, nun mit einigermaßen klarem Kopf. Er öffnete endgültig die Augen. »Entschuldige.«

Vor dem abgewetzten Sofa kniend, auf dem er lag, musterte Skadi ihn besorgt.

»Wie viel hast du genommen?«

Zero kannte diesen mitleidigen Blick gut – und er hasste es, ihn insbesondere an Skadi zu sehen. Er fühlte sich ... schwach. Schuldig.

»Das Übliche.« Ächzend versuchte er, sich aufzurichten. »Okay, vielleicht ein bisschen mehr ...«, gab er zu, als er Skadis Miene bemerkte. Sie wusste immer, wenn er log. »Ich hatte es aber auch echt nötig!«

»Das sagen sie alle.« Skadi klang halb spöttisch, halb tadelnd, während sie ihm half, sich hinzusetzen.

Zero tat alles weh, auch wenn die Schmerzen seinen Zustand dumpf und wie aus weiter Ferne durchdrangen. Dafür war sein Kopf umso klarer. Fokussiert. Unliebsame, störende Gedanken und Erinnerungen wurden in den Hintergrund gedrängt.

»Du siehst furchtbar aus«, stellte Skadi auf ihre direkte Art unumwunden fest.

»Vielen Dank. So fühle ich mich auch.« Seufzend fuhr sich Zero durch das mittlerweile wieder trockene Haar und bemerkte, dass er noch immer Jacke und Stiefel trug.

»Was ist passiert?« Vorsichtig strich Skadi mit dem Zeigefinger über Zeros blutverkrustete Lippe.

Er lächelte leicht und genoss die sanfte Berührung, die die Rothaarige nur sehr sparsam verteilte, was vor allem ihrem aufbrausenden Wesen geschuldet war.

»Frag lieber, was nicht passiert ist«, entgegnete er, als sie die Hand zurückzog.

Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete Skadi ihn. »Also?«