Shattermoon – Der zerbrochene Planet - Dominic Dulley - E-Book

Shattermoon – Der zerbrochene Planet E-Book

Dominic Dulley

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Beschreibung

Zusammen mit ihrem Vater und ihrem Bruder bildet Orry das erfolgreichste Gauner-Trio in der gesamten Galaxis. Doch bei ihrem jüngsten Coup geht etwas schief, und plötzlich ist der einzige Enkelsohn eines mächtigen Grafen tot – und Orry auf der Flucht. Nicht genug damit, dass sie eines Mordes beschuldigt wird, den sie nicht begangen hat, sie ist auch noch im Besitz eines ebenso geheimnisvollen wie mächtigen Artefakts. Deshalb ist nun nicht nur die imperiale Flotte hinter ihr her, sondern auch der skrupelloseste Weltraumpirat, den die Sterne je gesehen haben ...

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Seitenzahl: 560

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Das Buch

Aurelia Kent, genannt Orry, bildet mit ihrem Vater Eoin und ihrem Bruder Ethan das erfolgreichste Gaunertrio des gesamten Dominiums. Ihr Trick ist ebenso simpel wie effizient: Sie verkaufen dem Adel gestohlene antiquarische Bücher – und das zu wahrhaft astronomischen Preisen. Bis die Geprellten den Betrug bemerken, sind die drei schon längst wieder an Bord ihres Raumfrachters Bonaventure und auf dem Weg zu einem anderen Planeten. Doch bei ihrem jüngsten Coup geht etwas schief, und plötzlich ist der Enkel des einflussreichen Grafen von Delf tot – und Orry auf der Flucht. Nicht genug damit, dass sie eines Mordes beschuldigt wird, den sie nicht begangen hat, sie ist auch noch im Besitz eines geheimnisvollen Steins. Deshalb wird Orry nun nicht nur von der gesamten imperialen Flotte gejagt, sondern auch von dem skrupellosesten Weltraumpiraten, den die Sterne je gesehen haben …

Der Autor

Dominic Dulleys Kurzgeschichten wurden in verschiedenen Anthologien und Magazinen veröffentlicht. Mit Shattermoon hat er nun seinen ersten Roman vorgelegt. Wenn er nicht gerade schreibt, arbeitet Dominic Dulley als Softwareentwickler. Er lebt mit seiner Frau und den gemeinsamen beiden Kindern in Warwick.

Mehr über Dominic Dulley und seinen Roman auf:

diezukunft.de

DOMINIC DULLEY

SHATTERMOON

DER ZERBROCHENE PLANET

Roman

Aus dem Amerikanischenübersetzt von Irene Holicki

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe

SHATTERMOON

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 05/2019

Redaktion: Ralf Dürr

Copyright © 2018 by Dominic Dulley

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe undder Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,unter Verwendung von Motiven von Shutterstock,(tsuneomp, Amanda Carden, Vadim Sadovski)

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-23757-8V001

www.diezukunft.de

Für meine Familie

1

Der Büchertrick

Im Ballsaal drängten sich zu viele schwitzende Menschen. Es herrschte eine drückende Schwüle. Nach Moschus duftende Parfüms und der strenge Geruch nach einheimischen Gewürzen machten Orry Kent das Atmen schwer. Sehnsüchtig schaute sie zu den offenen Balkontüren hinüber. Draußen hing Tyrs aufgeblähte gelbe Sonne tief über dem Horizont, makellos gespiegelt im unbewegten Wasser des künstlichen Sees, der in den Schlosspark eingebettet war. Nach mehr als einer Woche auf dem Planeten hatte sich Orry zwar an die Schwerkraft von weniger als einer Standardeinheit gewöhnt, doch mit der Hitze kam sie immer noch nicht zurecht.

Während sie sich noch Luft zufächelte, rissen zwei livrierte Diener die prächtigen Doppeltüren auf, und der Graf von Delf trat ein. Milan Larist Soltz war ein hochgewachsener, überschlanker Mann in einer eng anliegenden dunklen Tunika, in fortgeschrittenem Alter, aber noch von aufrechter Haltung. Die hagere Gestalt mit dem kurzen, grauen Haar und dem glatt rasierten Gesicht stand in krassem Gegensatz zu den beleibten Herren, die ihm nun, demonstrativ ihre trotz der niedrigen Schwerkraft steif abstehenden Schnurr- und Backenbärte streichend, entgegeneilten. Auch Frauen drängten herbei und präsentierten voller Stolz ihr unnatürlich jugendliches Aussehen, das sie den neuesten Genbehandlungen verdankten.

Spöttisch verzog Orry den Mund beim Anblick dieser verwöhnten Musterschüler, die sich nicht genug hervortun konnten, um dem Grafen ein schmales Lächeln zu entlocken. Für sie war klar, dass das Dominium hier auf der Hauptwelt mehr als irgendwo sonst vom Weg abgekommen war; Delf war in seiner asketischen Nüchternheit eine Rarität in der dekadenten Ruuz-Aristokratie, wo Zurückhaltung eine mehr oder weniger vergessene Tugend war.

Er ist hier, subvokalisierte sie, während sie beobachtete, wie Madame Costanza, die Haushofmeisterin des Grafen, Kleinadlige, Wirtschaftsbosse und hochrangige Mitglieder des Administrats routiniert von ihm fernhielt. Die ältere Frau mit dem strengen Blick hob sich in ihrem düsteren anthrazitfarbenen Hosenanzug, der nur von dem gestärkten weißen Stehkragen aufgelockert wurde, von all den Paradiesvögeln deutlich ab.

Ja, ich weiß. Ich bin schon in der Sicherheitsschicht. Orrys Integuar gab Ethans Worte so klar und deutlich wieder, als stünde ihr Bruder neben ihr, anstatt in einem Graben jenseits der fernen Grenzmauer des Anwesens zu kauern. Bereit, Schwesterherz?

Wo ist Konstantin? Sie suchte in dem überfüllten Ballsaal nach dem Enkel des Grafen.

Immer noch bei seinen perversen Kumpanen. Er hat nicht mitgekriegt, dass du zu früh gekommen bist.

Nachdenklich sah sie zu Delf hinüber. Okay, es geht los.

Programm läuft …

Costanza zögerte. Die Augen der Haushofmeisterin wurden glasig, sie konzentrierte sich auf ihr Integuar, dann schaute sie zu einem der Ausgänge aus dem Ballsaal, beugte sich zu Delf und raunte ihm etwas zu. Der Graf nickte, und Costanza entfernte sich.

Orry machte sich um die Tanzfläche herum auf den Weg. Das dunkle Holzparkett sah sehr alt aus; vermutlich war es zusammen mit dem Rest des Anwesens von der Erde hierher transportiert worden.

Der Ballsaal zog sich der Länge nach durch das gesamte Palais Delf. Durch die hohen Fenster sah man auf die ausgedehnten, sorgsam gepflegten Parkanlagen. Kristalllüster hingen von der hohen Decke, der Schein der brennenden Lichter fiel auf die reich gedeckten Tische an den Wänden; die Mitte der langen Galerie hatte man frei gelassen, damit die Aristos in ihrer maßgeschneiderten Garderobe zu den Klängen eines Streichquintetts tanzen konnten. Nachdem Orry den Tänzern eine Stunde lang zugesehen hatte, war sie zu der Überzeugung gelangt, dass es ratsam wäre, ihnen den Besenstiel aus dem Rücken zu ziehen.

Bevor sie an den Grafen herantreten konnte, stellte sich ihr ein junger Mann in der Uniform eines Unterleutnants in den Weg. Sein gewachster Schnurrbart ließ in der Hitze die Spitzen hängen, und das Gesicht über dem Stehkragen mit den silbernen Abzeichen der Großen Flotte war auffallend gerötet. Er nahm ruckartig Haltung an, knallte die Stiefelabsätze aneinander und senkte den Kopf zu einer steifen Verbeugung.

»Ergebenster Diener, Miz. Leutnant Warin Iwtschenko steht zu Diensten.« Sie wollte um ihn herumgehen, aber er ließ sie nicht vorbei. »Darf ich mir erlauben, Sie um diesen Tanz zu bitten?«

Orry knirschte mit den Zähnen; sie musste Delf im Auge behalten. Wie kam dieser Schwachkopf überhaupt dazu, sie anzumachen? Jede Einzelne von diesen Gänschen aus der feinen Ruuz-Gesellschaft würde angesichts all der Goldtressen und erst recht angesichts des Säbels, der ihm vom Gürtel hing, ein nasses Höschen bekommen. Warum konnte er nicht eine von denen belästigen?

»Ich fühle mich geschmeichelt, Leutnant«, sagte sie in ihrem vornehmsten Akzent, »aber ich muss leider ablehnen.«

Sie trat zur Seite, er ging jedoch mit, und sein Lächeln erlosch.

»Ich muss Ihnen sagen, Miz, dass ich gewöhnt bin zu bekommen, was ich will.«

Sie tätschelte ihm leicht die Wange. »Diesmal nicht, Schätzchen.« Damit drängte sie sich an dem verdutzten Offizier vorbei.

Probleme? Orry hörte die Anspannung in der Stimme ihres Vaters und runzelte die Stirn.

Nur ein Ruuz, der glaubt, er sei ein Geschenk des Himmels, antwortete sie.

Glauben sie das nicht alle? Okay, du weißt, was du zu tun hast. Verschaff Ethan einfach so viel Zeit, wie er braucht.

Ich weiß, gab sie gereizt zurück. Ihr Vater hatte ihnen den Plan eine volle Woche lang eingebläut, und das war beunruhigend – sie konnte sich nicht erinnern, wann Eoin zum letzten Mal vor einer Aktion so nervös gewesen war.

Delf war nicht sehr viel weiter gegangen, aber die getürkte Sicherheitswarnung, die Ethan in die Trägerschicht des Palais eingeschleust hatte, würde Costanza nicht lange aufhalten. Seit die Haushofmeisterin anderweitig beschäftigt war, suchte bereits eine ganze Reihe von aufgedonnerten Pfauen Delfs Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, also schnappte sich Orry eine Silberplatte mit Meeresfrüchten von einem Tisch und bahnte sich damit einen Weg zum Grafen.

»Rotflosse in Butter, Euer Gnaden?«

Er schaute über seine lange Nase hinweg finster auf sie herab. »Nein, danke.«

Sie drehte sich um und reichte die Platte einem fettleibigen Herrn mit Walrossschnurrbart und einer kohlschwarzen Schutzbrille über den Augen. Der Mann griff automatisch zu und lächelte – nur um empört loszupoltern, als sie sich wieder dem Grafen zuwandte.

Du musst näher ran, verlangte Ethan.

»Mögen Sie keine Rotflosse, Euer Gnaden?«, fragte sie und schob sich vor. Delf roch nach teurem Kölnisch und nach dem einheimischen Brandy, den er gerade trank.

Schon besser, sendete Ethan. Das Muster wird jetzt übertragen. Bleib, wo du bist.

Orry verbarg ihre Gereiztheit und lächelte den Grafen an.

»Wer sind Sie?«, fragte Delf. Ein anderer Mann hätte sich über ihre Aufdringlichkeit vielleicht amüsiert oder sie für einen Annäherungsversuch gehalten. Den Grafen schien sie nur zu irritieren.

Sie sank in einen Knicks. »Lady Jade Flint, Eure Lordschaft.«

Er kniff die Augen zusammen. »Sie kommen mir bekannt vor«, sagte er. »Kenne ich Sie?«

»O nein, Euer Gnaden«, antwortete sie mit mädchenhaftem Kichern. »Dafür bin ich viel zu unbedeutend.«

Delf starrte sie noch etwas länger an, als wollte er sie irgendwo einordnen, dann blinzelte er. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, Lady Flint …« Er wollte sich an ihr vorbeischieben.

Halt ihn am Reden!, sendete Ethan.

»Der Ball ist wunderschön«, sagte sie schnell, ohne sich von der Stelle zu rühren.

Delf nahm seufzend einen Schluck Brandy. »Ihr erster, nehme ich an?«

»Merkt man das?«

»Ein wenig vielleicht. Aber jetzt …«

»Sie sollten öfter ein solches Fest veranstalten«, stieß sie hervor und krümmte sich vor Verlegenheit, als das leise Gemurmel ringsum verstummte. Seit dem Tod seines Sohnes vor zehn Jahren war Milan Soltz aus Trauer zum Einsiedler geworden. Orry hatte dafür wenig Verständnis. Auch ihre Mutter war vor zehn Jahren gestorben, und sie war darüber hinweggekommen.

Delf schielte auf sie hinab. »Wer, sagten Sie, sind Sie noch mal?«, fragte er gefährlich ruhig.

Sie schenkte ihm noch ein zuckersüßes Lächeln, während sie sich das Gehirn zermarterte, wie sie aus der Nummer wieder herauskommen sollte. Doch dann kam von unerwarteter Seite die Rettung.

»Da sind Sie ja«, sagte eine vertraute Stimme hinter ihr. Sie drehte sich um. Vor ihr stand Konstantin und verzog die vollen Lippen zu einem gezwungenen Lächeln. Der junge Viscount trug einen Gehrock und eine raffiniert geschnittene Weste, die seinen üppigen Bauch weitgehend kaschierte. Er verneigte sich vor seinem Großvater.

»Hast du die junge Dame eingeladen?«, wollte Delf wissen.

»Ja, Großvater.« Er warf ihr einen strafenden Blick zu. »Wenn sie dich belästigt hat, tut es mir leid.«

Der Graf wandte sich mit einer wegwerfenden Handbewegung ab.

Ich brauche noch eine Minute, sendete Ethan.

Konstantin beugte sich vor und küsste Orrys weißen Handschuh. Dann schaute er ihr ins Gesicht und murmelte: »Verdammt, was fällt dir ein?« Die Wut in seinen Augen strafte den höflichen Singsang Lügen.

»Ich wollte doch nur höflich sein.« Sie spielte die Gekränkte und tat so, als spürte sie nicht, wie Konstantin seine Finger in ihren nackten Oberarm bohrte, als er sie zu einem Seitenausgang schob.

Ich habe Delf verloren, sendete Ethan.

Hast du alles?, fragte ihr Vater drängend.

Nein.

Verdammt, Orry. Du musst noch einmal zurück.

Sie drehte den Kopf von Konstantin weg, um ihren stumpfen Blick während des Integuar-Kontakts zu verbergen. Machst du Witze? Lass uns den Büchertrick zum Abschluss bringen, danach sortieren wir uns neu. Es gibt sicher noch andere Gelegenheiten.

Und wann? Ich habe Jahre gebraucht, um … Er unterbrach sich, dann fauchte er: Verdammte Scheiße! Orry hatte ihren Vater noch nie so wütend erlebt. Er schwieg ein paar Sekunden, dann erklärte er: Okay, du hast recht. Wir sollten dieses Fiasko beenden. Aber bemühe dich, nicht noch etwas zu vermasseln.

Sie wurde rot und unterdrückte entschlossen jeden Widerspruch.

2

Der Giga-Roller

»Hast du es?«, fragte Konstantin leise. Sein Atem roch nach Wein und Duftrauch.

Orry rang sich ein Lächeln ab. »Natürlich«, sagte sie. Er öffnete eine Tür und ließ ihr den Vortritt. Sofort umfing sie ein Nebel aus parfümiertem Dampf. Sie musste husten, und Tränen schossen ihr in die Augen. Der Raum war klein, Jagdtrophäen hingen an den holzvertäfelten Wänden. Sie erkannte einige seltene Arten unter den Köpfen und Geweihen, hätte jedoch vermutlich Mühe gehabt, sie ihrer Heimatwelt zuzuordnen.

Drei Ruuz-Junker lümmelten in Sesseln um einen runden Tisch im Zentrum des Raumes und begafften ein Gewirr von zuckenden Gliedmaßen. Die beiden jungen Frauen, die sich so eng umschlungen hielten, hatten nichts am Leib außer ein paar Fetzen reiner Seide, die sie womöglich noch nackter aussehen ließen. Obwohl sie ihre schweißnassen Körper mit lustvollem Wimmern aneinanderrieben, sah Orry die Leere in ihren Augen. Sie hatte solche Menschen, die von ihrem knurrenden Magen zur Verzweiflung getrieben wurden, schon auf mehr als einem Dutzend Welten beobachtet – aber hier, im Herzen der schamlos reichen Welten des Urquells, erfüllte sie der Anblick mit Zorn. Voller Abscheu wandte sie den Blick ab.

»Kostja!«, rief ein betrunkener junger Mann. »Schon zurück?«

»Raus mit euch«, fauchte Konstantin.

Der Mann zögerte, dann trat ein wissendes Lächeln in sein Gesicht. Orry sah seinen lüsternen Blick und hatte das Gefühl, als bohrten sich diese Augen durch ihr Gewand und könnten ihren nackten Körper sehen. Sie widerstand dem Drang zurückzuweichen – oder dem Junker die Nase zu Brei zu schlagen – und hielt den Blick unverwandt auf den Fliesenboden gerichtet. Plötzlich spürte sie den dringenden Wunsch nach einer Dusche. Die drei Männer strebten mit unsicheren Schritten einer Tür am anderen Ende des Raumes zu. Die Mädchen nahmen sie mit.

Orry setzte sich und beobachtete Konstantin, der sich mit flammenden Augen ihr gegenüber in einen Sessel fallen ließ. Der Viscount war ein auffallender junger Mann, hätte er sich nicht so gehen lassen, er wäre vielleicht sogar attraktiv gewesen. Durchaus ebenmäßige Züge, überlegte sie, aber verdorben durch die fahle, schwammige Haut und die tiefen Schatten unter den Augen.

»Zeig her«, fuhr er sie an.

Sie griff unter ihre vielen Röcke, zog unter ihrem Strumpfband ein Bündel heraus und legte es auf den Tisch.

Konstantin ignorierte das kurz aufblitzende Bein, schnappte nach dem Päckchen wie ein Verdurstender und nestelte mit seinen langen Fingern ungeschickt an der Schutzhülle aus Stoff herum. Endlich riss er das Buch heraus, starrte den eselsohrigen Umschlag an und trank sich an den verblichenen Farben satt.

Orry dachte an die weißen Baumwollhandschuhe, die sich der Kurator in der Tannhauser-Stiftung auf Manes jedes Mal geradezu ehrfürchtig übergestreift hatte, bevor er das Buch berührte. Sie hatte die gefühlt längste Woche ihres Lebens als Assistentin des Alten verbracht, ständig auf der Flucht vor seinen zudringlichen Händen, während sie auf eine Gelegenheit lauerte, den kostbaren Band zu stehlen. Konstantin befeuchtete sich den nackten Zeigefinger mit Spucke, um die vergilbten Seiten durchzublättern, und als Orry sich den entsetzten Blick des Kurators angesichts dieser Achtlosigkeit vorstellte, zuckte es um ihre Mundwinkel.

Das Folio-Fieber war eine kostspielige Leidenschaft unter den Söhnen der Adelshäuser, obwohl außerhalb der superreichen Urquellsysteme kaum jemand die Mittel besaß, um sich daran zu beteiligen. Ihr war das Steckenpferd unverständlich; eines von vielen Beispielen dafür, dass die privilegierten Klassen über mehr Zeit und Geld verfügten, als es irgendjemandem von Rechts wegen zustand. Wenn sie an die Ausschweifungen innerhalb des Urquells dachte, kam ihr das große Kotzen. Was sie gerade tat, mochte kriminell sein, aber ein viel größeres Verbrechen wäre es in ihren Augen gewesen, diese von Inzucht verdorbenen Schweine nicht um möglichst viel von ihrem ererbten Vermögen zu erleichtern.

»Mein Honorar?«, mahnte sie sanft.

Konstantin riss sich von dem Buch los und blinzelte so überrascht, als hätte er nicht erwartet, sie immer noch hier zu sehen. Er zog einen Beutel aus weichem Leder aus seinem Gehrock und schob ihn über den Tisch, dann wandte er sich sofort wieder dem Buch zu und starrte gebannt auf die alten Seiten. Ein Anhänger, den er um den Hals trug, streifte die Tischplatte, und Orry taxierte ganz automatisch den mattgrünen Stein in der schlichten Goldfassung – antik, dachte sie, mindestens hundert Jahre alt, doch eigentlich war es der Stein, der ihr Interesse geweckt hatte. Als sie ihn nun genauer betrachtete, schlug ihr Herz schneller. Er sah exotisch aus, stammte mindestens aus der Zeit vor dem Allgemeinen Rückzug.

Alles klar, Schwesterherz? Deine Herzfrequenz hat sich erhöht.

Sie stoppte den biometrischen Feed, den ihr Integuar an Ethan sendete.

Und jetzt bist du tot, bemerkte er trocken.

Mir geht es gut, erklärte sie. Mach du deine Arbeit, anstatt mich ständig abzulenken.

Sie löste die Schnur und ließ den Beutel auf dem Tisch auseinanderfallen. Von der Prise des feinen braunen Pulvers mit den leuchtend grünen Einsprengseln stieg ihr ein exotischer Duft in die Nase. Dann legte sich das schwere Aroma von Spice Extrafein auch auf ihre Zunge, und ihr lief das Wasser im Mund zusammen.

Bellonna war in Botanikerkreisen dafür berüchtigt, dass es sich allen Züchtungsversuchen außerhalb seines natürlichen Lebensraums tief in den reflektierenden Höhlen des Mondes Hestor widersetzte. Die Pflanze blühte nur einmal in sieben Jahren, wenn der Mond in der richtigen Position stand. Deshalb war das aus den Staubgefäßen gewonnene Spice Extrafein eine der seltensten und kostbarsten Substanzen im gesamten Dominium.

In Orrys Augenwinkel liefen Ziffern ab. Ihr Integuar projizierte die Ergebnisse seiner Analyse des Spice auf ihren visuellen Kortex. Sie lächelte frostig, war beinahe erfreut, dass Konstantin nicht voll bezahlt hatte.

»Das ist nicht so viel, wie wir ausgemacht hatten«, sagte sie.

Er schaute verärgert auf. »Ich bin in diesem Monat etwas knapp bei Kasse. Mein Großvater« – finsteres Stirnrunzeln – »hat meine Apanage nicht gerade üppig bemessen.«

»Nicht mein Problem.« Sie führte im Kopf eine schnelle Berechnung durch und musste sich beherrschen, um sich ihre Wut nicht anmerken zu lassen: Konstantins nicht allzu üppige monatliche Apanage überstieg das, was die meisten Bürger in einem Jahr verdienten.

»Du kannst doch wohl eine Woche warten?« Er deutete auf das luxuriöse Mobiliar und lächelte höhnisch: »Ich kann Sicherheiten stellen.«

Halt dich an den Plan, Orry, befahl ihr Vater. Übertreib es nicht. Nimm das verdammte Spice, und hau ab.

Sie griff nach dem Buch.

»Warte!« Konstantin hielt den Band fest.

Orry sah ihn erwartungsvoll an. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und warf einen Blick durch den Raum. »Such dir etwas aus … irgendwas. Mein Großvater wird es nicht vermissen.«

Orry … mahnte Eoin.

»Ich möchte Ihren Anhänger sehen«, sagte sie.

»Nein.« Konstantin umschloss den grünen Stein mit der anderen Hand. »Den nicht.«

»Schön.« Sie schnappte sich den schmalen Band und wollte ihn wieder in die Hülle stecken.

»Wenn du Schmuck magst, meine Mutter hatte Hunderte von viel schöneren Stücken – davon kannst du haben, was du willst.« Konstantin sah das Buch in der Hülle verschwinden und runzelte drohend die Stirn. »Mach dich nicht lächerlich – ich befehle dir, mir das Buch zu geben.«

Orry verschloss den Spice-Beutel mit der Zugschnur und schob ihn zu Konstantin zurück.

Aurelia Kent!, donnerte Eoin, und sie kam sich vor, als wäre sie wieder fünf Jahre alt.

Ohne den Beutel eines Blickes zu würdigen, beugte sich Konstantin zu ihr. »Du weißt doch, wer ich bin«, sagte er leise. »Du würdest gut daran tun, mich nicht zu deinem Feind zu machen.«

Sie sah ihn ungerührt an. »Drohungen, Eure Lordschaft? Wollen Sie wirklich so tief sinken?« Sie lächelte. »Was würde wohl Ihr Großvater sagen, wenn er erführe, wo wir uns kennengelernt haben oder wie viel Sie für Ihre diversen Laster ausgeben?«

Die Augen des Viscount blitzten auf. Orry wartete, bis er seine Wut wieder unter Kontrolle hatte.

»Du lästige kleine Fotze.« Er griff sich in den Nacken, nahm den Anhänger ab und legte ihn oben auf den Beutel.

Costanza ist im Anmarsch, meldete Ethan. Und zwar in deine Richtung.

Orry schnappte sich ihre Beute und warf Konstantin das Buch zu. »War mir ein Vergnügen, mit Ihnen Geschäfte zu machen. Ich finde selbst hinaus.«

»Tu das. Verpiss dich in deine elende Hütte.«

»Charmant wie immer.« Sie knickste und huschte aus dem Raum.

Ihr Integuar markierte Costanza sofort und lieferte ihr die biografischen Daten, während die Frau über die Tanzfläche schritt. Sie schien erbost zu sein.

Orry drängte sich durch die Menge und schlängelte sich am Rand des Ballsaals entlang. Als sie die Doppeltüren zur Eingangshalle passierte, warf sie einen Blick zurück und sah, wie Costanza das Rauchzimmer betrat.

Die Abendluft war drückend schwül und mit Orangenblütenduft gesättigt. Der Himmel war von einem dunkleren Rot als sonst bei Dämmerung, und Perun, der größere der beiden Tyr-Monde, stand bereits als riesige Sichel über den Bäumen. An ihrem Rand flimmerten die Lichter der Habitate und der Fertigungsanlagen; Abgasfackeln markierten den Weg an- und abfliegender Schiffe. Am Himmel über der Hauptwelt herrschte reger Betrieb.

Orry stellte sich unter die Terrasse, tippte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden und vertrieb sich die Zeit damit, die Gäste zu beobachten, die jetzt erst eintrafen. Ein älteres Paar kletterte steifbeinig aus einer fahrerlosen Limousine, die sich summend entfernte und dem nächsten Fahrzeug Platz machte: dem insektenähnlichen Autocar, das Ethan am Nachmittag unterwandert hatte. Mit einem Lächeln der Erleichterung stieg sie hinten ein und drapierte sorgsam ihre Röcke um sich.

Nach Hause, James, befahl sie ihrem Bruder.

Jawohl, Modom.

Lasst den Unsinn, ihr beiden, sendete Eoin.

Das Autocar setzte sich in Bewegung und fuhr mit seinen luftlosen Wabenreifen knirschend über den Kies. Die brennenden Fackeln zu beiden Seiten der langen Auffahrt warfen unruhige Schatten.

Okay, Costanza und Konstantin haben sich wieder auf den Weg gemacht, berichtete Ethan. Sie steuern das Tor an, genau wie wir vermutet hatten. Verdammt, sind wir nicht gut?

Vor sich sah Orry die Lichter des zinnenbewehrten Torhauses auftauchen. Ein Privatflieger kauerte neben dem Steingebäude im Gras, und auf der Straße standen drei Gestalten und versperrten ihnen den Weg. Das Autocar kam langsam zum Stehen. Seine Scheinwerfer erfassten Costanza und Konstantin. Begleitet wurden die beiden von einem Muskelprotz von Diener, der einen ausfahrbaren Schlagstock in der Hand hielt.

Orry holte tief Luft und ließ den Atem langsam ausströmen, während die drei auf das Autocar zugingen. Dann ließ sie das Fenster herunter.

»Ich glaube, Sie haben etwas, das uns gehört«, sagte Costanza.

»Darf ich fragen, wer Sie sind?«, erkundigte sich Orry.

»Ich bin Madam Costanza. Ich vertrete Seine Gnaden, den Grafen von Delf.«

Konstantin trat vor. »Gib ihn einfach zurück …«, begann er.

Costanza hielt zwei Finger in die Höhe, und der junge Mann wurde rot und verstummte.

»Geben Sie den Anhänger und das Spice zurück, und Sie können ungehindert gehen«, sagte sie zu Orry.

»Wohl nicht scharf darauf, dass der Graf davon erfährt?«, fragte Orry, um Zeit zu gewinnen. Verdammt, wo bleibt Dad denn so lange?

»Seine Gnaden braucht nicht über jedes Detail in diesem Haus informiert zu werden.«

»Und wenn ich die Sachen nicht zurückgebe?«

Der Diener fuhr mit einer schnellen Bewegung seines Handgelenks den Schlagstock auf volle Länge aus. Ein lautes Knacken war zu hören. Konstantin grinste, Costanza verzog keine Miene.

»Verstehe«, sagte Orry. »In diesem Fall …«

Sie hielt inne. Grelles Scheinwerferlicht fiel auf die Szene. Costanza und die beiden Männer hielten sich die Hände vor die Augen. Ein schwarzer Giga-Roller bog um die Ecke und fuhr, nur knapp den oberen Rand des steinernen Bogens verfehlend, durch das offene Tor. Die Lauffläche des einzigen riesigen Rades erinnerte mit ihren ineinandergreifenden Platten an den gepanzerten Rücken eines Hummers. Das Gefährt hielt an, die Platten glitten mit öligem Schnarren übereinander, das Rad verformte sich und senkte die kleine Kabine in der Mitte bis zum Boden ab. Eine Flügeltür öffnete sich zischend, und ihr Vater trat heraus. Er trug einen schneidigen grauen Anzug und hatte sich ausnahmsweise sogar rasiert. Auch das sonst so wirre rote Haar war ordentlich zurückgekämmt.

»Sie befinden sich auf einem privaten Grundstück«, erklärte Costanza. »Sie können hier nicht bleiben.«

Eoin griff in seine Jacke – was den Diener veranlasste, seinen Schlagstock zu heben – und holte die goldene Plakette eines Schlichters hervor. Der Diener erbleichte und ließ die Waffe sinken.

Costanza trat zurück, als Eoin auf Orry zuging. Er sah sie scharf an, offenbar war er stocksauer, dann richtete er sich auf. »Diese Frau steht unter Arrest«, sagte er.

Konstantin schaute Costanza auffordernd an.

»Was wirft man ihr vor?«, fragte sie.

»Handel mit gestohlenen Antiquitäten. Wir sind schon seit Wochen hinter ihr her.« Er streckte Konstantin die Hand im schwarzen Handschuh hin. Der Viscount starrte sie verständnislos an, und Eoin seufzte. »Geben Sie mir das Buch, dann können wir Ihren Namen – und den Seiner Gnaden – sicher aus den Newsfeeds heraushalten.«

Konstantin richtete sich auf. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«

»Geben Sie es ihm«, herrschte ihn Costanza an.

»Aber …« Er zuckte zurück, als sie näher trat und in seine Manteltasche griff. Sie zog das Buch in seiner Schutzhülle heraus und reichte es Eoin.

»Wie ich sehe, haben Sie in politischen Dingen ein feines Gespür«, murmelte sie. »Im Besitz dieser Person befinden sich ein kostbarer Schmuck – ein Familienerbstück – und eine größere Menge Spice Extrafein. Das Spice können Sie als Beweismittel behalten, aber auf der Rückgabe des Anhängers muss ich bestehen.«

Eoin warf Orry einen Blick zu. Sie hielt den Atem an. Ihrem Vater war durchaus zuzutrauen, dass er das Ding tatsächlich zurückgab, nur um ihr eine Lektion zu erteilen. Es zuckte um seine Mundwinkel, dann wandte er sich an Costanza.

»Ist das ein Versuch, ein Mitglied des Schlichter-Corps zu bestechen?«

»Wie? Nein!« Costanza schien zum ersten Mal unsicher zu werden.

»Alles, was die Gefangene bei sich trägt, wird registriert und als Beweismittel gekennzeichnet. Nach dem Prozess können Sie gerne in schriftlicher Form die Rückgabe aller Gegenstände beantragen.«

Costanza gab sich geschlagen. »Na schön«, sagte sie mit schwerer Stimme.

Eoin öffnete die Tür des Autocars, und Orry stieg aus. Sie hielt den Blick zu Boden gerichtet und gab sich kleinlaut. Er führte sie zur Kabine des Giga-Rollers und verfrachtete sie auf den Rücksitz.

»Vielen Dank für Ihre Unterstützung«, sagte er noch zu Costanza. »Sie hören von mir.«

Das Fahrzeug schwankte, als er einstieg. Orry hielt den Mund, während das Rad zu seiner alten Form zurückkehrte und die Kabine einen Meter in die Luft hob. Der Motor summte, der Giga-Roller drehte sich auf der Stelle und setzte sich langsam in Bewegung. Als sie durch das Tor fuhren, konnten sie als Letztes beobachten, wie Costanza lautstark auf Konstantin einredete, während der sichtlich verlegene Diener so tat, als wäre er gar nicht da.

Die Anspannung begann zu weichen. Sie ließ sich tiefer in den Sitz sinken.

»Selbst die zu kleine Menge Spice ist mindestens zwanzig Riesen wert«, bemerkte sie voller Genugtuung. »Nicht schlecht für ein paar Wochen Arbeit.«

Eoin stellte die Steuerung auf Automatik, drehte sich zu ihr um und sah sie finster an. »Es ging nie um das verdammte Spice. Ich wollte Delfs Integuar-Muster.«

»Wozu?«, rief Orry wütend. »Du hast uns immer noch nicht gesagt, wozu – aber es war sowieso nicht möglich …«

»Schon gut.« Er schob den Unterkiefer vor und wandte sich ab.

»Hör zu, ich habe getan, was ich konnte, ja? Die ganze Sache war von Anfang an viel zu kompliziert. Was ist aus der Devise ›möglichst einfach‹ geworden? Das hast du uns immer eingeschärft – also, was hat sich geändert?«

»Vergiss es«, sagte er. »Wir müssen eben einen anderen Weg finden, um an das Muster des alten Dreckskerls zu kommen.«

Orry betrachtete das schüttere Haar an seinem Hinterkopf. Der kahle Fleck, der immer größer wurde, ließ ihn irgendwie verletzlich aussehen, nicht länger unfehlbar und unverwundbar wie in ihren Kindertagen.

»Ist alles in Ordnung, Dad? Seit wir hier gelandet sind, benimmst du dich seltsam.«

»Alles bestens.« Er drehte sich wieder zu ihr um. »Und außerdem: Was zum Teufel hatte das mit dem Anhänger zu bedeuten? Was habe ich dir zum Thema ›Abweichen vom Plan‹ gesagt?«

»Komm schon, es war nicht genug«, verteidigte sie sich. »Wenn ich das Spice einfach genommen hätte, wäre er misstrauisch geworden.«

»Erzähl mir nichts! Du wolltest den Anhänger einfach haben. Wetten, dass er exotisch ist. Aus welcher Zeit? Von den Verschwundenen?«

Sie rasten an der Grenzmauer entlang. Das weiche Licht der Scheinwerfer des Giga-Rollers fiel auf die alten Steine.

Orry zog einen Flunsch. »Ich weiß nicht, was du hast, Daddy. Wir haben das Spice, und wir haben das Buch zurück. Der Anhänger kommt als Prämie obendrauf. Vielleicht lässt sich damit ein weiteres Treffen mit Delf erreichen.«

»Nenn mich nicht Daddy. Du bist nicht mehr acht Jahre alt, Orry.«

Sie sank auf ihren Sitz zurück.

»Allerdings«, fügte er mit dem Hauch eines Lächelns hinzu, »könnte das nicht die schlechteste Idee sein, die ich heute gehört habe.«

Sie grinste.

Darf ich darauf hoffen, dass ihr mich in absehbarer Zeit aus diesem Graben rausholt?, erkundigte sich Ethan über den Familienkanal.

Ist uns jemand gefolgt?, fragte Eoin.

Nein. Sie sind ins Haus zurückgegangen. Ethan lachte leise. Ich möchte nicht in Konstantins Schuhen stecken.

Du könntest dir Konstantins Schuhe gar nicht leisten, gab Orry zu bedenken.

Nicht einmal mit meinem Anteil?

Vielleicht einen davon.

Ihr Bruder seufzte. Im Moment bin ich schon zufrieden, wenn ich nicht mehr in diesem Graben zu hocken brauche.

Fünf Minuten, versprach Eoin.

Orry zog den Anhänger hervor und betrachtete ihn. Dann streifte sie einen ihrer langen Handschuhe ab und strich mit dem Daumenballen über die Oberfläche des Steins. Er fühlte sich seidig an, vollkommen reibungsfrei. Eindeutig exotisch – konnte er ein Werk der Verschwundenen sein? Der Gedanke war verlockend.

Sie hob die Arme und legte sich die Kette um.

3

Konstantins Ende

Konstantin Larist Soltz, 3. Viscount Huish, stolperte auf den Rasen hinter seinem Familiensitz, drehte sich ruckartig um und schaute hinauf zu den hell erleuchteten Fenstern des Ballsaals. Hier draußen war die Musik nur gedämpft zu hören und hatte Mühe, gegen das ständige Gezwitscher der Stängelhüpfer anzukommen.

Er hob die Flasche und prostete lautlos den fernen Gestalten zu, die auf dem Balkon standen, um frische Luft zu schnappen. Sein Gehrock und die Weste lagen irgendwo zwischen ihm und dem Haus; sein Hemd bekam Rotweinflecken, sooft er die Flasche an die Lippen setzte und trank.

Konstantin kehrte dem Palais den Rücken und taumelte auf den See zu. Der Mond Perun stand in der Ferne noch über dem Horizont und erhellte die Nacht mit seinem geisterhaft bläulichen Schein, während hinter den verschnörkelten Schornsteinen des Palais Veles, sein kleinerer Begleiter, aufging und die Landschaft in ein surreales Rostrot tauchte.

»Schlampe«, lallte er, dann lachte er auf. Er hatte nicht vorgehabt, das laut zu sagen. »Verdammte Gaunerin«, fuhr er fort. »Beschissene … beschissene läufige Hündin.«

Er hätte gern geglaubt, er hätte von Anfang an gemerkt, dass mit ihr etwas nicht stimmte, doch tatsächlich hatte er nicht den leisesten Verdacht geschöpft. Er lebte für diese alten Bücher – auch wenn sie zur neuesten Marotte des Adels geworden sein mochten, nicht einmal seine sogenannten Standesgenossen wussten den Geruch zu schätzen, das Gefühl, wenn seine Fingerspitzen das Papier berührten, die Einbände und Illustrationen – und die Worte. Natürlich waren viele der Texte elektronisch verfügbar, einige sogar noch als Druckausgaben, aber darauf kam es schließlich nicht an: Diese Bände waren auf der Erde entstanden, die seltensten noch vor der Ersten Expansion. Der Gedanke ließ sein Herz trotz der betäubenden Wirkung des Weins schneller schlagen.

Hoffentlich brachten die Schlichter das Weibsstück zu den verdammten Säuberern. Bei der Vorstellung verzogen sich seine Lippen zu einem schiefen Lächeln. Costanza hatte ihm die übliche Standpauke gehalten und unmissverständlich klargestellt, dass die ganze Sache unter der Decke zu bleiben hatte, um den alten Herrn nur ja nicht in Verlegenheit zu bringen. Ein Jammer. Er wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, eine Aussage zu machen, das Messer in der Wunde zu drehen und ihr eine saftige Strafe zu verpassen. Bedauerlich, dass Antiquitätenschmuggler nicht mehr hingerichtet wurden.

Seltsamerweise hatte sich Costanza besonders über den Verlust des Anhängers aufgeregt – warum auch immer. Sicher, es war ein Familienerbstück, aber im Palais lagen die verdammten Dinger massenweise herum – und außerdem war er schließlich der Erbe. Allerdings mochte er dieses Stück besonders gern. Der mattgrüne Stein verlieh ihm – was eigentlich? Vermutlich ein Gefühl von Macht, wenn er ihn um den Hals trug. Hoffentlich würden die Schlichter ihn zurückgeben, sobald sie diese diebische Schlampe für den Rest ihrer Tage hinter Schloss und Riegel gebracht hatten.

Ein warmer Wind fuhr durch die Bäume, als er den See erreichte. Das Ufer war mit Schilf bestanden, und in einiger Entfernung konnte Konstantin die dunklen Umrisse des Bootshauses erkennen. Wieder setzte er die Flasche an den Mund, nahm einen zu großen Schluck des samtig weichen Weins und musste husten. Er spuckte den Bodensatz aus und warf die Flasche auf den See hinaus. Sie beschrieb einen trägen Bogen, dann spritzte das Wasser im Dunkeln weiß auf.

Verdammt, diese Kopfschmerzen waren die Hölle. Er zog die Brauen zusammen, als das Hämmern in seinem Schädel plötzlich noch stärker wurde: Das hatte er noch nie erlebt, auch wenn er zu viel getrunken hatte. Ein stechender Schmerz hinter den Augen ließ ihn zusammenzucken, er fasste sich an die Stirn, drehte sich um und wollte zum Haus zurück – aber seine Beine gaben nach, und er stürzte stöhnend zu Boden. Der Druck in seinem Kopf baute sich weiter auf, bis er fürchtete, der Schädel würde ihm platzen. Seine Finger krallten sich in den feuchten Schlamm, das Hemd klebte ihm am Leib. Er wollte schreien, aber seine Stimme gehorchte ihm nicht. Sein Blick verschwamm, die Welt färbte sich allmählich grau.

Zwischen den Bäumen erregte ein roter Fleck seine Aufmerksamkeit. Er bewegte sich träge und zog einen Lichtschweif hinter sich her. Ihm stockte der Atem. Eine hochgewachsene Gestalt in einem Umhang trat aus den Schatten und betrachtete ihn mit Augen, die glühenden Kohlen glichen. Ein kleiner Mann trat neben die dunkle Gestalt und richtete ein stumpfes Ding auf Konstantin, eine Art von Pistole.

Der Viscount machte den Mund auf, doch der füllte sich sofort mit schlammigem Wasser. Er brachte noch ein gurgelndes Wimmern hervor, dann wurde es dunkel um ihn.

Der Druck war noch da, als Konstantin erwachte, aber wenigstens waren die Kopfschmerzen jetzt halbwegs erträglich. Er öffnete die Augen und blinzelte ein paarmal schnell. Alles kam ihm komisch vor, und sein verwirrtes Gehirn brauchte ein paar Sekunden, um zu verarbeiten, was er sah. Plötzlich ergaben die Benommenheit und die heftigen Schmerzen in den Fußknöcheln einen Sinn: Er hing mit dem Kopf nach unten – allem Anschein nach im Bootshaus –, etwa dreißig Zentimeter über dem Bretterfußboden.

Er zappelte wild und stellte dabei fest, dass man ihm die Hände hinter den Rücken gefesselt hatte. »Heda!«, schrie er. »Was zum Teufel soll das? Lasst mich runter!«

Hinter ihm scharrten Stiefel auf dem Holzboden. Er verstummte, doch als er sich zu drehen versuchte, um zu sehen, wer da stand, fuhr es ihm wie mit Messerstichen durch die Beine. Seine Wut legte sich, stattdessen fraß nun eine dumpfe Angst wie Säure an seinen Eingeweiden.

»Wer sind Sie?«, polterte er los, um diese Angst zu kaschieren. »Was wollen Sie? Wissen Sie denn nicht, wer ich bin?« Etwas berührte ihn leicht am unteren Rücken. Er zuckte zusammen.

Vor ihm erschien ein Mann und strich mit der Hand über seinen Körper. »Still, Eure Lordschaft«, sagte er lächelnd und zeigte sein makelloses Gebiss. Die Zähne wirkten eine Nummer zu groß für sein Gesicht. Ein Zahn war aus Gold und glänzte matt im schwachen Licht. Der Mann war von eher mickriger Statur und sah in seiner wattierten Jacke aus wie ein Kind, das sich den Mantel seines Vaters angezogen hatte. Ein kümmerlicher Spitzbart klebte an seinem Kinn; die eingefallenen Wangen waren mit Aknenarben übersät. Das kurz geschorene Haar war bis auf eine schwarze Strähne in der Mitte schlohweiß gebleicht.

Konstantin machte den Mund auf, um dem Rattengesicht mitzuteilen, was er von ihm hielt, aber etwas an den tief liegenden Augen des Mannes schnürte ihm die Kehle zu. Sie waren so tot wie die Augen eines Flusshais. Unmenschlich.

»Schon besser«, sagte der Mann. »Und nun …« Er hielt inne und schlug sich mit der flachen Hand gegen die hohe Stirn. »Wo bleiben meine Manieren! Ich habe mich Eurer Lordschaft noch gar nicht vorgestellt.« Er vollführte eine miserable Karikatur einer Verbeugung. »Morven Dyas zu Ihren Diensten. Meinen Begleiter Jericho haben Sie schon am See gesehen. Ich habe ihn draußen gelassen.« Er beugte sich zu Konstantin und senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Unter uns gesagt, er ist nicht ganz richtig …« Er tippte sich an die Schläfe. »… im Oberstübchen. Sie verstehen, was ich meine?«

Er versetzte Konstantin einen Rippenstoß und zwinkerte ihm zu. Der Viscount sah sich um, fast schon in Panik. Wo ist Costanza? Hat mich denn noch niemand vermisst? Verdammte Scheiße, immerhin bin ich der Enkel des Grafen!

Morven Dyas sah ihn erwartungsvoll an.

»S-sehr erfreut, Sie kennenzulernen«, würgte Konstantin heraus.

Der Mann starrte ihn kurz an, dann brach er in schallendes Gelächter aus. »Bei Belladonnas verkrusteten Zitzen, das wird ja einfacher, als ich dachte.« Er packte Konstantin an seinem besudelten Frackhemd und riss es auf. Die Knöpfe rollten klappernd über den Boden. Dann lag die schlammverschmierte Brust des Viscounts offen vor ihm.

»Was machen Sie da?«, fragte Konstantin mit zitternder Stimme.

Dyas griff an ihm vorbei und zog ein langes Messer mit gebogener Klinge hervor. Dann kauerte er sich vor Konstantin nieder und tippte mit dem Zeigefinger auf die Spitze der Klinge. »Sie müssen mir etwas geben, Eure Lordschaft.«

»Alles, was Sie wollen«, hauchte Konstantin. Er konnte den Blick nicht von der Messerschneide wenden.

»Einen Anhänger – Sie wissen sicherlich, welchen ich meine: ein grüner Stein in goldener Fassung. Ich muss zugeben, ich war etwas erstaunt, als ich ihn nicht finden konnte. Man hatte mir versichert, Sie würden ihn bei sich tragen. Wo ist übrigens Madam Costanza? Ich hatte erwartet, sie hier anzutreffen.«

Konstantin lief der Schweiß in die Augen, und sie begannen zu brennen. Costanza! Verräterisches Miststück! Kein Wunder, dass sie so scharf darauf gewesen war, den Anhänger zurückzubekommen. Wieder blinzelte er schnell. »Ich habe ihn nicht mehr.«

Dyas ließ die Klinge in Ruhe und starrte Konstantin mit seinen Schweinsäuglein an. »Keine Lügen, Eure Lordschaft. Ich weiß alles über diesen Klunker. Nicht einmal Sie würden ihn jemals verkaufen.«

»Ich habe ihn nicht verkauft – sie hat ihn mir gestohlen!«

»Wer?«

»Ein Mädchen … eine junge Frau. Sie ist vor ein paar Wochen an mich herangetreten und hat mir einen Folioband angeboten. Heute Abend kam sie damit hierher und hat mir den Anhänger weggenommen.«

Der Mann musterte ihn prüfend. »Name?«

»Lady Jade Flint – aber das nützt Ihnen nichts. Die Schlichter haben sie mitgenommen.«

Die Messerspitze bohrte sich mit einem satten Geräusch in den Holzboden. Dyas stand auf und ging zum Fenster. Das Messer ließ er, wo es war. Es sah gefährlich aus, wie ein Werkzeug, mit dem man ein Schwein schlachten würde. Konstantin verspürte einen schier überwältigenden Drang zu urinieren.

Dyas legte beide Hände auf das Fensterbrett und starrte in die Dunkelheit hinaus. Konstantin konnte einen matten Schein erkennen, vielleicht von den Lichtern des fernen Hauses.

»Erzählen Sie mir alles, was Sie über dieses Mädchen wissen«, verlangte der Mann.

»Lassen Sie mich dann gehen?«

Der Mann drehte sich langsam um und lächelte. »Selbstverständlich, Eure Lordschaft.«

Ein Fünkchen Hoffnung glomm auf und drängte Konstantins Angst ein wenig zurück. Selbstverständlich würde dieser Mann ihn freilassen; schließlich war er der künftige Graf von Delf. Dyas würde nicht wagen, ihm ein Haar zu krümmen. Konstantin warf einen Blick auf das Messer und schluckte. Schaden konnte es trotzdem nicht, ihm zu sagen, was er wissen wollte. Mit etwas Glück würde er diese Schlampe von Flint schlachten wie eine Sau. Und wenn Konstantin erst frei war, konnte er sich um Costanza kümmern.

Der Mann hörte sich schweigend an, wie Konstantin seine erste Begegnung mit Lady Jade Flint in seinem bevorzugten Bordell in Utz beschrieb. Konstantin kam sich immer mehr wie ein Dummkopf vor. Er erzählte, wie diese Flint behauptet hatte, im Auftrag des Besitzers des Buches zu handeln, der nur für eine Nacht auf dem Planeten sein würde – ausgerechnet in der Nacht, in der der Ball stattfand. Es war das erste Mal seit Jahren, dass sein Großvater einen Ball gab, und den durfte Konstantin keinesfalls versäumen, deshalb hatte er ihr eine Einladung verschafft, damit sie ihm das Buch bringen konnte. Im Rückblick betrachtet, hatte sie es wahrscheinlich genau darauf angelegt. Sie hatte ihn zum Narren gehalten, zur Hölle mit ihr. Konstantin schilderte noch, wie der Schlichter in seinem Giga-Roller davonfuhr, dann verstummte er und sah seinen Entführer ängstlich an.

»Ich glaube Ihnen«, sagte Dyas, und Konstantin wäre wohl erleichtert zusammengesunken, hätte er nicht kopfüber von der Decke gehangen.

Der Mann stieß sich vom Fenstersims ab, ging auf Konstantin zu, riss das Messer aus dem Holzboden und stieß es seinem Opfer tief in die Seite.

Konstantin schnappte nach Luft und starrte entsetzt auf den Griff, der aus der Speckrolle über seiner rechten Hüfte ragte. Warmes Blut floss aus der Wunde und tropfte von seinen schwarzen Brusthaaren auf den Boden.

Der Schmerz setzte erst einen Augenblick später ein.

Konstantin schrie aus voller Kehle. In seinem Bauch loderte ein Feuer, und die Hitze strahlte nach außen ab, bis er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte.

»Ich glaube Ihnen«, wiederholte Dyas, »aber ich muss sichergehen.« Damit packte er die Klinge und drückte sie mit sägenden Bewegungen langsam nach unten.

Konstantin spürte, wie Haut und Muskeln durchtrennt wurden, und schrie, bis er heiser war.

4

Die Bonaventure

Die Bonaventure war zwanzig Jahre vor Orrys Geburt in einer kleinen Werft über Endymion auf Stapel gelegt worden, und man sah dem alten Frachter jedes einzelne seiner vierzig Jahre an. Ungeachtet der Schäden am Komposit und der Kratzer im Anstrich waren die Systeme des Schiffs jedoch in ausgezeichneter Verfassung. Orry sorgte dafür.

Ihre Kabine war klein, sie wollte es nicht anders. Das Schiff beförderte schon seit Jahren keine Passagiere mehr, und ihr Vater hatte es aufgegeben, ihr eine der geräumigeren Kabinen auf dem Beobachtungsdeck anzubieten. Hier war ihr Reich, hier schlief sie, seit sie ein Jahr alt war, und sie konnte sich nicht vorstellen, ihr müdes Haupt anderswo niederzulegen.

Sie zog den Reißverschluss ihrer braunen Fliegerkombination über dem sauberen weißen T-Shirt zu und hielt kurz vor dem gerahmten Bild ihrer Mutter inne, das neben der schmalen Koje stand. Katerina Kents feingliedrige Schönheit und Eleganz hatte sie zwar nicht geerbt, aber Dad versicherte ihr immer wieder, sie hätte die Augen ihrer Mutter. Orry konnte sich Katerina nicht in einer Fliegerkombi mit Ölflecken vorstellen – das smaragdgrüne Ballkleid, das jetzt an der Tür eines der Spinde an der Kabinenwand hing, passte viel besser zu ihr.

Orry betrachtete erst das Ballkleid und dann in dem Hochglanzbildschirm neben dem Bett ihr eigenes Spiegelbild. Sie hielt ihr Haar, das so orange war wie eine Sonneneruption, mit einer Hand über dem Nacken in die Höhe. So hatte sie es auf dem Ball getragen. Sie stieß einen melancholischen Seufzer aus, bevor sie ihren albernen Gesichtsausdruck bemerkte und die Stirn runzelte.

Voller Verachtung über sich selbst riss sie das Ballkleid von seinem Bügel und faltete es zusammen, um es in seine Schutzhülle zu stecken. Höchste Zeit, dass es in den Kostümfundus zurückkam, vielleicht musste sie es eines Tages noch einmal anziehen. Sie verschloss die Hülle, drückte auf den Türöffner – und prallte gegen ihren Bruder.

»Pass doch auf!«, fuhr sie ihn an.

»Hoho, hast du schon wieder deine Tage, Schwesterherz?«

»Geh mir aus dem Weg, Ethan.«

Er rührte sich nicht von der Stelle. Mit seinen vierzehn Jahren schoss er in die Höhe wie eine Bohnenstange und war schon fast so groß wie sie. Wenn sein schlaksiger Körper erst kräftiger wurde, gäbe er vielleicht sogar einen würdigen Gegner auf dem Kickballfeld ab, das sie sich im Frachtraum eingerichtet hatten.

Er strich sich eine Haarsträhne aus den Augen und grinste. »Wir sollen zu Dad kommen. Planungssitzung.«

»Schön.« Sie warf das Kleid auf ihr Bett, zog die Tür zu und verriegelte sie mit einem Befehl aus ihrem Integuar. Dann sah sie Ethan misstrauisch an. »Falls du es jemals wagen solltest, mein Schloss zu unterwandern, stoße ich dich aus der Luftschleuse, das ist dir hoffentlich klar?«

Er legte eine Hand aufs Herz. »Du kränkst mich, Schwesterchen. So etwas würde ich doch niemals tun.«

Sie warf ihm noch einen drohenden Blick zu und drängte sich an ihm vorbei.

Die Messe der Bonaventure war darauf eingerichtet, eine vollständige sechsköpfige Besatzung sowie bis zu einem Dutzend Passagiere zu verköstigen. Die Kombüse befand sich in einer Nische an einer Seite des ovalen Abteils. Eoin saß bereits an dem runden Smart-Tisch in der Mitte, eine Trinkblase mit heißem Kaffee vor sich. Daneben lag das antiquarische Buch in seiner Stoffhülle. Er war dabei, mit einer Hand virtuelle Notizen und Bilder auf der Tischplatte neu anzuordnen. Der große Multimedia-Schirm war auf stumm geschaltet und durchsuchte gerade die Newsfeeds im näheren Umkreis.

»Wird allmählich Zeit«, sagte er. »Können wir an die Arbeit gehen?«

Orry ließ sich stöhnend auf einen der Stühle fallen, die auf dem Deck angeschraubt waren. Ethan ging zur Kombüse und schnappte sich zwei Utz-Schokoriegel. Einen warf er Orry zu.

»Warum hast du es so eilig?«, fragte sie und riss die Verpackung auf. »Wenn wir Konstantins Spice verkaufen, haben wir genug Gild für die nächsten Monate.« Sie biss von dem Riegel ab und schwenkte den Rest vor der Nase ihres Vaters herum. »Ich schlage vor, wir machen erst einmal Urlaub.«

»Ausnahmsweise hat sie recht«, sprang ihr Ethan bei. »Nach allem, was man hört, ist es auf Halcyon das ganze Jahr über schön.«

Orrys Vater schlürfte seinen Kaffee und beobachtete dabei seine Kinder. »Ich finde es zwar großartig, dass ihr euch einmal einig seid, aber wir sind auf Tyr noch nicht fertig.«

Sie seufzte. »Delf.«

»Du magst die letzte Aktion als Erfolg betrachten, ich aber nicht. Wir müssen einen neuen Plan entwerfen, um an sein Integuar-Muster zu kommen.«

»Aber was ist mit dem Büchertrick?«, fragte Ethan. »Das Folio-Fieber wird nicht ewig anhalten. Wir sollten so viel wie möglich aus der Sache rausholen, bevor sich die feinen Pinkel ein anderes schwachsinniges Hobby zulegen.«

»Vergiss den Büchertrick«, rief Eoin scharf. »Delfs Integuar-Muster brauchen wir nötiger, glaub mir.«

»Man kann eine Menge mit jemandem machen, wenn man sein Muster hat«, sagte Orry nachdenklich. »Was hast du im Sinn? Und wieso gerade Delf?«

»Ich habe meine Gründe.«

»Darf man die erfahren?«

»Noch nicht. Wir konzentrieren uns zunächst darauf, an das Muster dieses Dreckskerls zu kommen, dann können wir vielleicht an einen Kurzurlaub denken, bevor wir uns Delf vornehmen.«

»Halcyon?«, schlug Ethan hoffnungsvoll vor.

Sein Vater verdrehte die Augen. »Wir werden sehen.«

Der Bildschirm stellte selbsttätig den Ton an. Stimmen erfüllten den Raum.

»… über den Tod seines Enkels und Erben Konstantin Larist Soltz, dem 3. Viscount Huish …«

Orry sah auf. Konstantins Gesicht erschien auf dem Bildschirm. Sie las die Schlagzeilen, die darunter abliefen, mit wachsendem Entsetzen.

»Was …?«, begann Ethan, doch Eoin zischte ihn nieder.

»Schlichter-Oberst Zaitsew gab folgende Erklärung ab«, fuhr die Bildschirmstimme fort. Konstantins Gesicht verschwand, an seine Stelle trat ein Mann in einer schwarzen Uniform mit Kragenspiegeln in Form einer silbernen Faust. Das Gesicht unter dem stahlgrauen Haar wirkte wie aus Stein gemeißelt.

»Die brutale Ermordung des Erben eines der großen Häuser des Dominiums hat den gesamten Urquell schockiert. Ich komme soeben von einer Audienz beim Imperator mit der Anweisung, alle Kräfte des Schlichter-Corps zu mobilisieren, um die Schuldigen an diesem abscheulichen Verbrechen vor Gericht zu bringen. Aus der Dienerschaft Seiner Gnaden, des Grafen von Delf, ergingen eine Reihe von vielversprechenden Hinweisen. Wir sind zuversichtlich, dass die Verantwortlichen schnell zur Rechenschaft gezogen werden können.«

Eoins Züge waren hart geworden. Er sah Orry an.

»Sie glauben, dass wir das waren«, sagte sie mit dumpfer Stimme.

Er nickte.

»Was machen wir jetzt?«, fragte sie.

Er strich sich über das Kinn. »Lass mir einen Moment …«

»Sie können nicht uns für die Täter halten«, rief Ethan. »Konstantin war noch am Leben, als du Orry verhaftet hast.«

Eoin winkte verächtlich ab. »Was glaubst du, wie lange die Schlichter brauchen, um die Unterlagen über ihre Festnahme einzusehen und dahinterzukommen, dass jemand mit einem gestohlenen Abzeichen unterwegs ist? Du weißt, wie dürftig unsere Tarnung war – sie war nie dafür gedacht, einer Mordermittlung standzuhalten.«

Orry griff mit ihrem Integuar auf den Bildschirmfeed zu und überflog die Metadaten. Als ihr Gehirn Worte wie gefoltert und ausgeweidet auffing, legte sie den halb aufgegessenen Schokoriegel auf den Tisch.

»Wer könnte so etwas tun?«, fragte sie.

»Wen kümmert das?«, fauchte ihr Vater. »Die glauben, dass du es warst, und nur darauf kommt es an.«

»Aber sie können uns nicht finden«, sagte Ethan mit zittriger Stimme. »Oder? Sie wissen doch nicht, wie wir wirklich heißen.«

Eoin sah ihn strafend an. »Hast du die Überwachungsvideos gesäubert?«

»Wie? Nein – warum hätte ich das tun sollen?«

»Dann wissen sie, wie Orry aussieht. Und was ist mit dem Autocar und dem Giga-Roller?«

»Was soll damit sein?«

»Du hast sie unterwandert – hast du in den Systemen Spuren hinterlassen? Etwas, das die Schlichter zu uns zurückverfolgen könnten?«

»Ich – ich weiß es nicht.« Ethan wirkte so betroffen, als würde er gleich in Tränen ausbrechen.

»Spar dir die Vorwürfe«, fuhr Orry ihren Vater an. »Du hast ihm nicht gesagt, dass er das alles tun soll – es war bisher noch nie erforderlich.«

»Aber so etwas sollte routinemäßig passieren. Jede professionelle Crew wüsste, dass …«

»Er ist erst vierzehn, Dad! Du hast uns ausgebildet – versuch jetzt nicht, die Schuld auf ihn abzuwälzen.«

Eoin sah aus, als würde er gleich explodieren. Er sah seine Tochter wütend an, dann stand er ohne ein weiteres Wort auf und stapfte davon.

»Wo gehst du hin?«, rief sie ihm nach.

»Auf die Brücke«, rief er über die Schulter. »Wir müssen sofort von diesem Felsen verschwinden.«

»Scheiße.« Sie schaute auf den Bildschirm. Der zoomte gerade eine Luftaufnahme des Delf-Anwesens heran. Rings um das Haus und auf den Rasenflächen dahinter wimmelte es von Schlichtern, und am See hatte man eine Tragluftkuppel aufgestellt. Sie sprang auf und eilte hinter ihrem Vater her.

»Was soll ich …?«, begann Ethan.

»Alles bereit machen für die Schwerelosigkeit«, rief sie ihm zu. Sie waren schon seit Wochen auf Tyr – lange genug, um beim Sichern von losen Gegenständen nachlässig zu werden.

5

Und wo bleibt der Spaß dabei?

Die Brücke der Bonaventure war für einen Frachter ihrer Größe eher klein, nur sechs Beschleunigungsliegen waren wie die Blütenblätter einer Blume um das holografische Planetenmodell des Navigationssystems herum angeordnet. Über jeder Position sorgten schräge Bildschirme für Redundanz für den Fall, dass die Integuar-Verbindung zu den Schiffssystemen versagte. Die Integuartechnik mochte seit dem Bau des Schiffes Fortschritte gemacht haben, aber die Verbindungsprotokolle waren immer noch die gleichen.

Ihr Vater lag bereits mit geschlossenen Augen auf der Kapitänsliege.

Orry nahm auf ihrer Liege Platz und wartete, bis sich das verformbare Polymer ihrem Körper angepasst hatte. Dann griff sie mit ihrem Integuar auf die Kernsysteme des Schiffes zu. Am Rand ihres Blickfelds erschienen Statusanzeigen, und ihre Miene verfinsterte sich. Eoin hatte die Checkliste vor dem Start bereits ohne sie nahezu abgearbeitet. Dabei war sie für die Triebwerke zuständig.

»Ich schließe das ab«, erklärte sie.

»Ich bin schon fertig. Ruf du den Tower an. Ich habe eben unseren Flugplan eingereicht.«

Sie sah sich den Plan an und registrierte mit einem trüben Lächeln, was er als Ziel angegeben hatte. Dann stellte sie eine Verbindung zum Kontrollturm her.

»Frachter Bonaventure an Utz Tower.«

»Sprechen Sie, Bonaventure.«

»Tower, wir sind zum Abheben von Platz Null-Fünf bereit. Erbitten Information und Genehmigung zur Zündung der Triebwerke.«

»Zündung genehmigt. Information Sigma abgesetzt. Startbereitschaft melden.«

Orry bestätigte. »Fahre Nummer zwei hoch«, teilte sie ihrem Vater mit. Über die Rumpfmikrofone der Bonaventure horchte sie auf das Schrillen der Warnsirene, zugleich kontrollierte sie über die Außenkameras des Schiffes, ob sich unterhalb des Rumpfes Menschen oder Fremdobjekte befanden.

Als sie die Anlaufsequenz eingab, erbebte ihre Liege unter den vertrauten Schwingungen des Masseninversionsantriebs. Sie wiederholte die Sequenz für die drei anderen Triebwerke, ohne dabei die Statusanzeigen aus den Augen zu lassen.

»Bonaventure mit Information Sigma an Tower. Erbitten Starterlaubnis von Null-Fünf für Transorbit-Flug und Kollaps nach Halcyon.«

»Bonaventure, erteilen Freigabe zum Start von Platz Null-Fünf für Transorbitaleinschuss und Übergang zum Kollaps nach Halcyon. Gute Reise.«

»Ende, Tower. Bonaventure hebt ab.«

Ihr Vater leitete Energie in die Triebwerke, deren Grollen die Brücke erfüllte. Orry konzentrierte sich auf die Statusindikatoren. Sie hoben ab. Eoin gab langsam mehr Schub, der breit geschwungene Rumpf der Bonaventure kämpfte sich durch die dichte Atmosphäre. Der Höhenmesser kroch erst allmählich, dann immer schneller nach oben. Der schwere Frachter wurde durchgerüttelt und Orry auf ihre Liege gedrückt – dann legte sich das Zittern, und unter ihr schrumpfte der Raumhafen, der den größten Teil einer der Inseln vor der Stadt Utz einnahm.

Utz, die Hauptstadt nicht nur von Tyr, sondern für das gesamte Dominium, breitete sich über das ganze aus Hunderten von Inseln bestehende Helion-Archipel aus. Zwischen den Inseln blitzten türkisgrüne Kanäle, die schmalen Verbindungsbrücken waren vom Rand des Weltraums aus kaum zu erkennen. Die Parks und Siedlungen auf den Provinzinseln leuchteten grün durch die sauerstoffreiche Atmosphäre.

Im Süden der Stadt ragte eine dünne schwarze Linie aus der Atmosphäre. Jedes der Haltetaue für den Weltraumfahrstuhl, die wie Bänder vom Äquator nach oben führten und dem Transportsystem ihren Namen gaben, schloss mit einem Orbital-Dock für nicht atmosphärentaugliche Schiffe ab. Als Orry die Wölbung des Planeten überblicken konnte, sah sie auch die riesigen Marinewerften um die nächsten Andockstationen am Ende des Bandes und die Hunderte von Schiffen der Heimatflotte, die dort vertäut waren.

Der Druck auf ihrer Brust ließ nach, sobald sie durch die letzte Atmosphärenschicht brachen und die Bonaventure ihre Beschleunigung auf angenehme 1 GE konsolidierte.

»Fliegen wir wirklich nach Halcyon?«, fragte sie.

»Sag du es mir.«

Er stellt mich mal wieder auf die Probe. Sie überlegte. »Nein«, sagte sie dann.

»Warum nicht?«

»Dass man mich auf den Überwachungsvideos identifizieren wird, ist eher unwahrscheinlich, aber wenn doch, dann könnte man mich mit der Bonnie in Verbindung bringen, folglich ist der letzte Ort, zu dem wir fliegen, der, wo man uns vermutet. Wir müssen den Urquell verlassen und uns ein Ziel suchen, das der Imperator nicht ganz so fest im Griff hat. Einen Ort, an dem wir neue Registrierungsdokumente bekommen und unsere falschen I.D.s aktualisieren können.«

»Es besteht doch noch Hoffnung für dich«, brummte er. Dann richtete er sich auf und sah sich das Planetenmodell an. Die dreidimensionale Darstellung des Tyr-Systems schwebte in der Mitte des Rings von Beschleunigungsliegen und zeigte die Bahnen von Planeten, Monden und anderen Himmelskörpern als leuchtende Linien.

Sie nagte an ihrer Unterlippe. »Wie du Ethan vorhin angegangen bist – das war nicht fair.«

»Ich weiß.« Er nahm sich das Display vor, rotierte es und zoomte den Bereich um den Urquell heran. Ausgewiesene Kollapspunkte für Ein- und Austritt wurden hervorgehoben und mit durchlaufenden Daten versehen. »Meine Schuld, ich habe ihn nicht richtig ausgebildet.«

»Er ist gut, Dad – er ist bloß noch jung. Er kann nicht alles wissen. Vielleicht verlangst du zu viel von uns.«

»Du hast mit vierzehn mehr gewusst als er.«

»Nicht, wie man Systeme unterwandert.«

»Aber über unsere Gaunertricks.« Er seufzte. »Du bist ein Naturtalent, Orry – vielleicht habe ich deshalb zu hohe Erwartungen. Dein Bruder ist ziemlich gut, aber dir wird er niemals das Wasser reichen können.«

»Gib ihm eine Chance! Nachdem wir in der nächsten Zeit nicht an Delf herankommen, sollten wir vielleicht eine Pause einlegen und etwas von unserem Ruuz-Gild ausgeben.«

»Vielleicht.«

»Und bitte lass uns als Nächstes eine einfache Aktion planen. Ethan zuliebe.«

»Botschaft angekommen und verstanden.« Er wandte sich wieder dem Planetenmodell zu. Zufrieden wirkte er immer noch nicht.

»Also, wo soll es hingehen?«

»An einen Ort, wo es ruhig ist.« Sie lächelte. »Ethan wird stocksauer sein, dass du Halcyon von der Liste gestrichen hast.«

»Habe ich das?« Ein Lächeln, als könnte er kein Wässerchen trüben. »Das ist mir nie in den Sinn gekommen.« Er sah zu ihr hinüber. »Wohin gehst du?«

»Maschinenraum. Ich möchte mich vergewissern, dass mit den Triebwerken nach einem Monat auf dem Planeten noch alles in Ordnung ist.«

»Das kannst du doch auch von hier oben.«

Sie war schon an der Tür und drehte sich grinsend um. »Und wo bleibt der Spaß dabei?«

Ethan hatte in der Messe auf sie gewartet. »Ist er sauer auf mich?«, fragte er und lief neben ihr her.

»Alles klar. Er hat eingesehen, dass er im Unrecht war.«

Sein Bruder zupfte mit seinen langen Fingern am Ärmel ihrer Fliegerkombi. »Orry?«

Sie blieb stehen. Er sprach sie so gut wie nie mit ihrem Namen an.

Er schaute auf seine Stiefel nieder. »Glaubst du, Dad hat recht? Habe ich die Sache vermasselt?«

»Soweit ich das sehe, vermasseln wir uns andauernd das ganze Leben.« Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und schaute ihm in die Augen. »Was wir sind, was wir tun … wir wissen, dass es riskant ist und dass dabei hin und wieder etwas schiefgeht. Dann lernen wir aus unseren Fehlern und machen es beim nächsten Mal besser. Es war nicht deine Schuld, Ethan. Der Plan war viel zu kompliziert – du warst nicht darauf vorbereitet, und ich auch nicht.«

»Du bist immer auf alles vorbereitet«, murrte er. »Du bist in allem spitze.«

Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und sah ihn mit gespielter Besorgnis an. »Du meine Güte. Was für eine Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«

Er verkniff sich mit Mühe ein Lächeln und schüttelte sie ab.

»Wir haben alle unsere Stärken«, erklärte sie ihm, »und deshalb können wir als Crew funktionieren. Ich kann gut schauspielern, und ich kann die Bonnie am Laufen halten, aber was du machst, würde ich in einer Million Jahre nicht hinkriegen. Wenn ich ein Integuar unterwandern müsste, wüsste ich nicht, wo ich anfangen sollte.« Sie schnaubte. »Außerdem weißt du, dass ich im All keinen Schritt aus dem Schiff tun kann, ohne einen Nervenzusammenbruch zu erleiden.«

Sein Lächeln wurde breiter.

»Schön, dass du das so lustig findest.«

»Das ist es doch auch. Danke, Schwesterherz.«

»Bloß nicht rührselig werden.«

»Ha!« Er boxte sie in den Arm und hüpfte davon.

»Du kleiner Penner.«

Er war schon auf halbem Weg zu seiner Kabine. »Versager«, rief er noch über die Schulter zurück.

Sie stieg über den mittleren Niedergang hinunter zum Technikbereich, der sich unter den höhlenähnlichen, weitgehend leeren Frachträumen auf dem vierten Deck der Bonaventure befand. Als sie den Maschinenraum erreichte, rang sie bereits nach Luft, aber der Geruch nach Metall und Ozon war beruhigend. In diesem Teil des Schiffs hielt sie sich am liebsten auf; wenn sie verstört war oder sich Sorgen machte, beschwichtigte sie das stetige Summen, mit dem die Masseninversions-Triebwerke den Frachter durch die Leere des Alls bewegten. Orry kannte jede Anzeige, jeden Regler, jedes Rohr und jeden Rechner. Ihr Vater hatte seinen beiden Kindern klargemacht, wie unerlässlich es war, dass sie das Schiff steuern und warten konnten, falls es zum Schlimmsten käme. Sie brauchten nicht zu fragen, was mit »das Schlimmste« gemeint war; das Weltall war von jeher voller Gefahren – von Meteoren über Sonnenfackeln bis hin zu Raumpiraten und Handelsstörern –, gelegentlich traf man sogar auf ein kadiranisches Spalterschiff.

Sie kontrollierte gerade Triebwerk Nummer vier, als das schrille Geheul des Annäherungsalarms die Stille zerriss.

Sie aktivierte sofort ihr Integuar. Dad? Was ist los?

Sie wartete einen Augenblick, dann nahm sie einen neuen Anlauf. Dad? Ethan?

Sie wollte auf den Sensorkern des Schiffs zugreifen, musste jedoch erkennen, dass ihr Integuar blockiert wurde. Ihre Sorge schlug um in Angst.

Piraten.

Während sie sich noch so schnell sie konnte zwischen den brummenden Maschinen hindurchtastete, verstummte der Alarm.

Wenige Sekunden später erzitterte die Bonaventure unter dem unverkennbaren Aufprall eines andockenden Schiffes.

6

Raumpiraten

Orry erreichte die Innentür der steuerbordseitigen Frachtschleuse, fand sie aber verschlossen. Sie spähte durch die Inspektionsluke und sah, dass auch die Außentür zu war. Durch die Luke auf der Gegenseite konnte sie die Sterne sehen. Sie wandte den Blick ab, Schweiß trat ihr auf die Stirn. Wer auch immer die Bonaventure geentert hatte, er hatte hier angedockt, davon war sie überzeugt; die Geräusche, die sie auf dem Weg vom Maschinenraum nach oben gehört hatte, waren für irgendeine der anderen Luftschleusen zu laut gewesen. Wo also war derjenige?

Wieder versuchte sie mit ihrem Integuar auszugreifen und fluchte. Zum ersten Mal seit Jahren war sie ganz und gar auf sich allein gestellt.

Sie zuckte zusammen. Aus den Tiefen des Schiffes drangen Stimmen. Dieser Teil des äußeren Frachtraums war voll mit beliebig konfigurierbaren Regalen, auf denen sich, von Molekularhaken gehalten, leere Frachtcontainer aller Größen stapelten. Ihr Vater redete manchmal davon, ihren Unterhalt eines Tages mit ehrlicher Arbeit verdienen zu wollen, aber sie wusste genau, dass es dazu niemals kommen würde.