Shitstorm als Social Media-Phänomen. Wie entsteht der digitale Wutausbruch und wie kann ich ihn verhindern? - Corinna Gronau - E-Book

Shitstorm als Social Media-Phänomen. Wie entsteht der digitale Wutausbruch und wie kann ich ihn verhindern? E-Book

Corinna Gronau

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Beschreibung

Kaum eine Woche vergeht, ohne dass in den Medien über einen Shitstorm berichtet wird. Doch was genau ist ein Shitstorm? Und welche Rolle spielen Social Media für die Dynamik einer „digitalen Empörungswelle“? Dieses Buch gibt einen fundierten Einblick in das Thema Shitstorm und beleuchtet das Phänomen aus verschiedenen Blickwinkeln. Neben unterschiedlichen Definitionsansätzen, die bei Begriffen wie Protest, Konflikt, Skandal und Masse ansetzen, werden Maßnahmen des Reputationsmanagement und der Krisenprävention vorgestellt und diskutiert. Damit liefert der Band Antworten auf die Frage: Was ist ein Shitstorm und wie kann ich verhindern, in einen „Sturm der Entrüstung“ zu geraten? Aus dem Inhalt: - Soziale Medien; - digitale Empörungswelle; - Sturm der Entrüstung; - Skandal; - Konflikt; - Massenphänomen; - Reputationsmanagement und Krisenprävention

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Impressum:

Lektorat: Corinna Gronau

Copyright © 2016 ScienceFactory

Ein Imprint der GRIN Verlag GmbH

Druck und Bindung: Books on Demand GmbH, Norderstedt, Germany

Coverbild: pexels.com

Shitstorm als Social Media-Phänomen. Wie entsteht der digitale

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Das Phänomen Shitstorm. Eine systemtheoretische Betrachtung nach Niklas Luhmann

1.Einleitung

2.Der Shitstorm: Erste Eingrenzung des Phänomens

3.Allgemeine Einführung in die Systemtheorie Luhmanns

4.Der Shitstorm als Protestbewegung?

5.Kommunikationsmedium Internet versus Massenmedien: Der Shitstorm als Social Media-Phänomen

6.Wenn das Interaktionssystem in Konflikt gerät: Der Shitstorm als Konflikt?

7.Der Shitstorm als digitaler Skandal?

8.Fazit und Ausblick

9.Literaturverzeichnis

Sprachliche Phänomene und Strategien bei Shitstorms im Netz. Til Schweiger auf Facebook im Januar 2016

1.Einleitung

2.Hauptteil

3.Fazit

4.Bibliographie

5.Abbildungsverzeichnis

Masse und Aktion. Vergleichende Betrachtung zweier Massenphänomene. Revolutionäre Volksmasse und Shitstorm

1.Einleitung

2.Massekategorien nach Canetti

3.Begriffsgeschichte

4.Sozialgeschichtliche Betrachtung der Masse

5.Historische Masse: Französische Revolution

6.Moderne Masse: SHITSTORM

7.Auswertung

8.Fazit und Ausblick

9.Abbildungsverzeichnis

10.Literaturverzeichnis

Xavier Naidoo im Shitstorm. Möglichkeiten und Grenzen der Reputationswiederherstellung

1.Einleitung

2.Praktische Herleitung: Erläuterung und Herleitung des zugrunde liegenden Sachverhalts

3.Theoretische Ableitung der praktischen Grundlegung

4.Maßnahmen der Reputationswiederherstellung am Beispiel Xavier Naidoos im Kontext der Mediengesellschaft

5.Schlussbetrachtung

6.Verzeichnis über verwendete Quellen

7.Anhang

Krisenprävention im Social Web durch Social Media Monitoring

1.Einleitung

2.Einführung in das Social Media Monitoring

3.Krisen im Social Web: das Issue Management

4.

Das Phänomen Shitstorm. Eine systemtheoretische Betrachtung nach Niklas Luhmann

Corinna Gronau, 2015

1. Einleitung

„Schlampe“, „Sollte man verbrennen.“, „Faschistenschwein!“, „Feuern! Sofort!“ – alles Kommentare, die während des Shitstorms gegen Barbara Eggert, eine freie Autorin der regionalen Tageszeitung Westfalen-Blatt, auf Facebook am 19.05.2015 gepostet wurden, nachdem sie in einer Ratgeberkolumne einen Vater darin bestärkt hatte, seine Kinder nicht zur Hochzeit seines homosexuellen Bruders mitzunehmen.[1]Unter anderen berichtete Ronja von Rönne für die Online-Zeitung Die Welt über den Eggert-Shitstorm. Sie appellierte mit ihrem Artikel an den Anstand der Menschen und richtete sich damit gegen das „menschenverachtende“ Phänomen Shitstorm.[2]Wenige Tage später ist es die Autorin und Bloggerin von Rönne selbst, die in einen „Sturm der Entrüstung“ gerät – Auslöser ist ein Artikel von ihr „Warum mich der Feminismus anekelt“[3].[4]Die Beispiele zeigen: Shitstorms sind ein aktuelles Phänomen – keiner scheint vor der Wut der Masse sicher. Doch was genau verbirgt sich hinter der Bezeichnung Shitstorm?

Der Begriff Shitstorm ist eine relativ neue Erscheinung im deutschen Sprachraum – seit 2010 taucht er in den Printmedien auf.[5]Vermutlich nahm die Verwendung des Wortes nach dem Vortrag des Bloggers Sascha Lobo auf der Web-2.0-Konferenz re:publica im April 2010 zu.[6]Der 2011 zum Anglizismus des Jahres gewählte Begriff wird im Duden als „Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht“[7]definiert. Geläufige Übersetzungen sind auch „Proteststurm“ oder „Empörungs-“ bzw. „Erregungswelle“.

Die Existenz zahlreicher Analysemodelle und Publikationen zum Thema Krisenmanagement für Unternehmen in den sozialen Medien lässt darauf schließen, dass Shitstorms vor allem Social Media-Consultants als Einnahmequelle dienen.[8]Behandelt werden in der Literatur vornehmlich mögliche Strategien zur Abwehr und zum Umgang mit Shitstorms auf Seiten der Unternehmen. Wissenschaftliche Arbeiten, die sich mit der Entstehung, den Merkmalen und der Dynamik von Shitstorms abseits der Consulting-Literatur beschäftigen, sind hingegen selten.[9]Diese Forschungslücke zu verkleinern und das Phänomen Shitstorm aus einer neuen, medientheoretischen Perspektive zu betrachten, ist Ziel der vorliegenden Arbeit.

Herangezogen wird dafür die Systemtheorie Niklas Luhmanns, einem der bedeutendsten Vertreter der Soziologie. Luhmann untersucht die Gesellschaft und ihre Teilbereiche als soziale Systeme, die sich ausschließlich aus Kommunikation zusammensetzen. Dabei ist es Luhmann selbst, der den Universalitätsanspruch seiner funktionalistischen Theorie sozialer Systeme betont und damit eine universelle Anwendbarkeit.[10]Im Rahmen von Luhmanns Theorie soll nicht nur definiert werden, was genau ein Shitstorm ist bzw. was ihn auszeichnet, sondern vor allem die gesellschaftliche Funktion desselben herausgearbeitet werden. Warum entsteht dieses neue Phänomen Shitstorm? Können wir es mit etwas anderem vergleichen?

Grundlage der Untersuchung bilden zum einen Luhmanns Ausführungen zum Thema Protest bzw. soziale Bewegungen. Hier steht zur Diskussion, ob ein Shitstorm mit einer Protestbewegung im Sinne Luhmanns gleichzusetzen ist, bzw. ob ein Shitstorm Merkmale mit einer Protestbewegung teilt. Da der Shitstorm ein Internet-Phänomen ist, liegt ein weiterer Schwerpunkt auf den Kommunikationsmedien. Wie unterscheidet sich das Medium Internet in seinen Kommunikationsgegebenheiten von anderen Medien – speziell den Massenmedien? Ändert sich durch das Internet der Protest? Zum anderen wird die Art der Kommunikation eines Shitstorms genauer untersucht. Die Tatsache, dass sich die Kritik während eines Shitstorms in Richtung Beschimpfung, Beleidigung und Missachtung verschiebt, rückt den Shitstorm in den Bereich der Moralkommunikation. In diesem Zusammenhang wird Luhmanns Moralbegriff herangezogen, sowie sein Konfliktbegriff. Außerdem wird die These diskutiert, dass es sich bei einem Shitstorm um einen digitalen Skandal[11]handelt oder anders ausgedrückt: um eine durch die Kommunikationsrealitäten des Internet bedingte, aktualisierte Version des medialen Skandals. Der klassische Medienskandal als komplexes Kommunikationsverfahren zeichnet sich dadurch aus, dass eine moralische Verfehlung einer Person die Grundlage für die kollektive Empörung des Publikums bildet.[12]Inwiefern diese Definition auf den Shitstorm zu übertragen ist, wird im Verlauf der Arbeit zu klären sein.

Ausgeklammert wird das Verhältnis zu anderen Systemen, die evtl. von einem Shitstorm irritiert werden bzw. in denen weitere Kommunikation angestoßen wird. Der Fokus der Arbeit liegt auf der Definition des Phänomens Shitstorm und seiner Funktion in der bzw. für die Gesellschaft und nicht auf den möglichen Auswirkungen und Folgen.

Für die Definition des Shitstorms werden bekannte Beispiele herangezogen, die in den Massenmedien als ein solches Phänomen bezeichnet werden. Auf eine eigene empirische Analyse wird verzichtet. Mithilfe der Beispiele sollen die Merkmale des Shitstorms herausgearbeitet und anschließend vor dem theoretischen Hintergrund Luhmanns eingeordnet und diskutiert werden.Im Mittelpunkt steht somit die theoretische Erörterung des Phänomens.

3. Allgemeine Einführung in die Systemtheorie Luhmanns

Um die herausgearbeiteten Merkmale des Shitstorms vor dem Hintergrund der Luhmannschen Systemtheorie einzuordnen und zu bewerten, muss sein Theoriegebäude in den Grundzügen bekannt sein. Die Definitionen verschiedener gesellschaftlicher Bereiche und Phänomene – wie Protestbewegungen, Massenmedien oder Moral – werden erst auf der Grundlage von Luhmanns Theorie sozialer Systeme verständlich.

3.1 Theorie sozialer Systeme

Luhmann ist Systemtheoretiker und Konstruktivist. Für ihn ist Gesellschaftstheorie die „Theorie des umfassenden sozialen Systems, das alle anderen sozialen Systeme in sich einschließt.“[89]Wirtschaft, Politik, Massenmedien, aber auch Familien und jegliche soziale Kontakte sind für Luhmann soziale Systeme.[90]Diese bestehen bzw. konstituieren sich wiederum ausschließlich aus Kommunikationen[91], wobei nur soziale Systeme kommunizieren können und nicht Menschen: „Nur die Kommunikation kann kommunizieren.“[92]So unterscheidet Luhmann drei[93]autopoietische Systemtypen: biologische, psychische und soziale Systeme. Unter den ersten Systemtypus fallen lebende Organismen, Zellen, Nervensysteme und Immunsysteme, unter den zweiten das menschliche Bewusstsein und unter den letzten – wie schon beschrieben – Kommunikationen.[94]Der Mensch ist demnach kein System, sondern es finden sich am Menschen eine Vielzahl von eigenständigen Systemen, wie das organische oder psychische System. Der Mensch ist somit kein systemtheoretischer Begriff und bleibt in der Folge in Luhmanns Theorie außen vor.[95][96]Deshalb wird Luhmanns Ansatz auch als „anti-humanistisch“ bezeichnet.[97]

Systeme sind autopoietisch, das heißt, sie erzeugen sich selbst. Dabei ist die autopoietische Basisoperation immer gleich: Sie müssen operieren, also im Fall von sozialen Systemen kommunizieren[98], sodass sich weitere Operationen bzw. Kommunikationen anschließen können. Kommunikationen bewirken ständig neue Anschlusskommunikationen. Dies ist die Konsequenz aus ihrer operationalen Schließung, also dem Umstand, dass nichts von außen in das System eindringt.[99]Die System/Umwelt-Differenz ist ein weiteres konstitutives Merkmal von Systemen: Soziale Systeme ermöglichen durch die Abgrenzung des Systems von der Umwelt die Komplexität der Welt[100]zu reduzieren:

„[…] die Welt ist ein unermeßliches Potential für Überraschungen, ist virtuelle Information, die aber Systeme benötigt, um Information zu erzeugen, oder genauer: um ausgewählten Irritationen den Sinn von Information zu geben.“[101]

Die Umwelt eines Systems ist also immer die ganze Welt ohne das System selbst – dazu zählen auch andere soziale Systeme, die allerdings für das System als Systeme weder erkennbar noch zugänglich sind.[102]Dennoch gibt es die Möglichkeit des gegenseitigen Einflusses von System und Umwelt und zwar durch „Irritationen“[103]. Diese Form der „Umweltoffenheit“ widerspricht dabei nicht der These der operativen Geschlossenheit autopoietischer Systeme. So betont Luhmann, dass mit Geschlossenheit nicht „thermo-dynamische Abgeschlossenheit“ gemeint sei, sondern nur die Tatsache, dass Systeme ihre Elemente in einem rekursiven Prozess selbst herstellen, sich also selbst produzieren und reproduzieren.[104]Im Fall sozialer Systeme bedeutet dies: Kommunikation folgt auf Kommunikation, usw.

Neben dem Operieren, also Kommunizieren, besteht die Grundoperation jedes (sozialen) Systems im Beobachten. Beobachten ist eine besondere Operationsweise: „Beobachten heißt […] Unterscheiden und Bezeichnen.“[105][106]Allerdings ist auch diese Operation vor dem Hintergrund der operativen Geschlossenheit des Systems zu verstehen: Beobachtung ist eine systeminterne Operation ohne unmittelbaren Kontakt zur (jeweiligen) Umwelt.[107]Und an dieser Stelle kommt der Konstruktivismus ins Spiel, eine Kognitionstheorie mit der Grundannahme, dass jegliche Erkenntnis bzw. alle Realitätsbeschreibungen Konstruktionen sind. Dabei bestreitet Luhmann nicht, dass es Realität gibt – er postuliert lediglich, dass diese unerreichbar sei.[108]„Und deshalb bleibt keine andere Möglichkeit als: Realität zu konstruieren und eventuell: Beobachter zu beobachten, wie sie die Welt konstruieren.“[109][110]Erkenntnisse sind also keine Abbildungen, sondern lediglich Beobachtungen der Realität. Diese Konstrukte beruhen auf Beobachtungen mithilfe von Unterscheidungen[111], die je nach Beobachter anders ausfallen können, also in der Realität so nicht vorhanden sind.[112]Dabei kann zwischen Umwelt- und Selbstbeobachtung unterschieden werden, wobei alle Umweltbeobachtung Selbstbeobachtung stimuliert.[113]Das Paradoxe an jeder gesellschaftlichen (Selbst-) Beobachtung bleibt jedoch, dass alle Beobachter Teil der Gesellschaft sind und sich selbst bzw. ihre Operation des Beobachtens nicht beobachten können. Luhmann prägt hierfür den Begriff des „blinden Flecks“.[114]

3.2 Kommunikation als dreistelliger Selektionsprozess

Zurück zur Kommunikation als zentraler Kategorie der Luhmannschen Gesellschaftstheorie. Kommunikation ist eine „Synthese aus drei Selektionen“[115]: Information, Mitteilung und Verstehen.[116]Selektion bedeutet, dass die Kommunikation zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen muss, wobei jede Selektionsentscheidung „kontingent“, also auch immer anders möglich ist.[117]

Information wird durch einen Beobachter konstituiert, der eine Unterscheidung trifft (vgl. 3.1) – hier findet also die erste Selektion auf Seiten des Mitteilenden bzw. Alters statt: Was ist informativ? Mitteilung steht für die Selektion der Intention bzw. Absicht: Welche von den vielen Informationen teilt der Beobachter bzw. Alter anderen mit? Es entsteht also zwangsläufig eine Differenz von Information und Mitteilung. Verstehen, die dritte Selektion, erfolgt erst, wenn diese Differenz von Information und Mitteilung vom Adressaten oder wie Luhmann formuliert Ego[118], verstanden wird – erst mit Abschluss im Verstehen kommt Kommunikation zustande.[119][120]Die Annahme bzw. Ablehnung der Kommunikation entspricht der vierten Art von Selektion, die an jede Kommunikation anschließt. Nach dem Akt des Verstehens, dass etwas mitgeteilt wurde, folgt die Anschlusskommunikation bzw. der Anschlussakt des Entscheidens: Nimmt Ego die Selektion als „Prämisse eigenen Verhaltens“[121]an oder lehnt er sie ab?[122]Nach Luhmann ist es genau diese eben beschriebene prinzipielle Kontingenz, also die Beliebigkeit der Selektionen bzw. die gleichzeitige Kombination aller drei kontingenten Selektionen, die Kommunikation hochgradig unwahrscheinlich macht.[123]Luhmann führt hier den Begriff der doppelten Kontingenz ein, der ausdrücken soll, dass mit Ego und Alter immer zwei Instanzen beteiligt sind, die ihre Selektionen wechselseitig als kontingent beobachten.[124]

Es sind die Medien, die Kommunikation dennoch möglich bzw. wahrscheinlich machen: „Diejenigen evolutionären Errungenschaften, die an jenen Bruchstellen der Kommunikation ansetzen und funktionsgenau dazu dienen, Unwahrscheinliches in Wahrscheinliches zu transformieren, wollen wir Medien nennen.“[125]Medien sind dabei nicht mit Massenmedien gleichzusetzen, sondern sie sind dadurch definiert, dass sie den Selektionsspielraum begrenzen.[126]Dazu zählen Sprache als Medium der Kommunikation, Sinn als Universalmedium[127], aber auch Geld, Liebe, Wahrheit oder die elektronischen Medien als Medien der Verbreitung von Kommunikation[128].[129]So stellt das Medium Sprache einen begrenzten Wortschatz und eine begrenzte Grammatik zur Verfügung, in deren Rahmen Sätze gebildet werden können. Sinn wiederum stellt eine weitere Begrenzung für die Sprache dar: Alles Geäußerte unterliegt dem Sinnzwang.[130]Bei den genannten Medien Geld, Liebe und Wahrheit handelt es sich um „Spezialmedien“, um „symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien“, die weit über den konventionellen Kommunikationsbegriff hinaus gehen. Diese Einrichtungen der modernen Gesellschaft dienen der „Einschränkung von Kontingenz durch Verknüpfung von Konditionierung und Motivierung“[131]. Beispielsweise ist Geld die Voraussetzung dafür, dass Menschen arbeiten oder eigene Güter abgeben. Geld dient hier als Motivationsmittel zur Annahme des Kommunikationsangebots und damit für den Erfolg der Kommunikation.[132]Letztere, die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, sind an spezielle gesellschaftliche Funktionsfelder wie Wirtschaft, Politik oder Wissenschaft gebunden.

3.3 Funktional differenzierte Gesellschaft: Das Funktionssystem der Massenmedien

Aufgrund der steigenden Komplexität der Welt sowohl in räumlichen als auch in zeitlichen Dimensionen entstehen neue Situationen, auf die sich die Kommunikation einstellen muss.[133]

„Die Gesellschaft hilft sich […] einerseits mit Systemdifferenzierungen, andererseits mit der Ausbildung von Spezialmedien […], eben den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, wobei die Differenzierung dieser Medien zugleich die Systemdifferenzierung vorantreibt, nämlich den Anlaß bildet für die Ausdifferenzierung wichtiger gesellschaftlicher Funktionssysteme.“[134]

Nach Luhmann zerfällt die moderne Gesellschaft in verschiedene soziale Teilsysteme, was er mit dem Begriff „funktional differenzierte Gesellschaft“[135]beschreibt.[136]Beispiele für solche autopoietischen, operativ geschlossenen Funktionssysteme sind Wirtschaft, Recht, Politik und die Massenmedien. Letzteres soll etwas genauer betrachtet werden, da es für das Phänomen Shitstorm eine wichtige Rolle spielt.

„Mit dem Begriff der Massenmedien sollen […] alle Einrichtungen der Gesellschaft erfaßt werden, die sich zur Verbreitung von Kommunikation technischer Mittel der Vervielfältigung bedienen.“[137]Luhmann nennt als Beispiele Bücher, Zeitungen und Kopierverfahren jeder Art, wobei die definitorische Einschränkung darin liegt, dass sie „Produkte in großer Zahl mit noch unbestimmten Adressaten“ erzeugen und „daß keine Interaktion unter Anwesenden zwischen Sender und Empfänger stattfinden kann“[138]. Die Interaktion wird durch die zwischen Sender und Empfänger geschaltete Technik verhindert – Massenkommunikation gelingt nur durch „Kontaktunterbrechung“.[139]Erst damit kommt es zur operativen Schließung des Systems, was wiederum zur Folge hat, dass das System die eigenen Operationen aus sich heraus produziert (vgl. 3.1). Ein Funktionssystem operiert unter Verwendung einer Leitdifferenz, anders ausgedrückt unter einem funktionsspezifischen binären Code, durch den das System Unabhängigkeit von anderen Systemen gewinnt.[140]Der Code als interne Grenze des Systems der Massenmedien ist Information/Nichtinformation, wobei mit dem positiven Wert Information operiert wird, da nur dieser anschlussfähig ist.[141]Diese Grundunterscheidung leitet die Beobachtungen des Systems. Alles wird mit dieser Form der Unterscheidung erfasst und fällt damit dem einen oder dem anderen Wert zu – etwas Drittes gibt es nicht.[142]Um zwischen Information und Nichtinformation zu unterscheiden, bildet das System „Entscheidungsregeln“[143]aus, sogenannte Programme. Der Einheit des invarianten Codes entspricht eine Pluralität der Programme: Nachrichten und Berichte[144], Werbung und Unterhaltung sind die drei Selektions- bzw. Programmbereiche, die Luhmann für das System der Massenmedien ausmacht.[145]Dabei impliziert Information als Leitdifferenz ein besonderes Verhältnis zu der Zeit:

„Informationen lassen sich nicht wiederholen; sie werden, sobald sie Ereignis werden, zur Nichtinformation. […] Insofern bewirken Massenmedien gesellschaftsweite soziale Redundanz, also den unmittelbar anschließenden Bedarf für neue Information.“[146]

Über die Themen der Kommunikation[147]sind die Massenmedien mit anderen Gesellschaftsbereichen bzw. Funktionssystemen „strukturell gekoppelt“.[148]Dahinter steht die Annahme, dass sich verschiedene autonome Systeme[149]gegenseitig zwar nicht instruieren, aber irritieren können und dort, wo sich an Grenzstellen dauerhafte Beziehungen herausbilden, spricht Luhmann von „struktureller Kopplung“[150].[151]

Die Operationsweise wirft die Frage nach der Funktion der Massenmedien für die Gesellschaft auf.[152]Allen Funktionssystemen gemeinsam ist, wie der Name schon sagt, dass sie für die Gesellschaft eine spezifische Funktion übernehmen, indem sie für ein bestimmtes Problem zuständig sind, dass von gesamtgesellschaftlicher Relevanz ist.[153]Funktionssysteme betrachten Gesellschaft unter einem bestimmten Gesichtspunkt – gemäß ihrer funktionsspezifischen Codierung: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“[154]Die Massenmedien beobachten und beschreiben also die Realität für die Gesellschaft – anders ausgedrückt sie konstruieren sie (vgl. 3.1). Das System erfasst die Realität aus seiner Perspektive mit den ihm eigenen Unterscheidungen, wobei die System/Umwelt-Differenz als Schema der Beobachtung bzw. Berichterstattung fungiert. Die Welt zerfällt damit in distinkte, teilsystemspezifische Beobachtungsverhältnisse, was dazu führt, dass es keine zentrale Instanz mehr gibt, keinen Punkt, von dem eine wahre Beschreibung der Welt möglich wäre – die Welt als „Einheitsformel aller Unterscheidungen“ wird zur „unbeobachtbaren Einheit“[155].[156]Dem Pluralismus der Funktionen entspricht die Pluralität der Gesellschaftsbeschreibungen der Systeme.[157]So ist auch die Systemtheorie nur eine Beobachtung unter vielen.[158]Daher ist es erstaunlich, dass die Gesellschaft die „konstruierte Realität“ der Massenmedien als die wirkliche Realität akzeptiert.[159]Dabei werden von den Massenmedien allein die Themen vorgegeben als ein für die Gesellschaft verbindliches Hintergrundwissen, das in der weiteren Kommunikation vorausgesetzt werden kann – jeder Mensch hat die Freiheit eigene Einstellungen, Meinungen und Bewertungen zum jeweiligen Thema zu entwickeln: „Die jeweils behandelten Realitätsausschnitte (Themen) werden so durch eine zweite, nicht konsenspflichtige Realität überlagert.“[160]Dieser Umstand – die „Doppelstruktur von Thema und Meinung, Begrenzung und Offenheit“[161]– ist auch charakteristisch für das Medium „öffentliche Meinung“[162], welches  im System der Massenmedien „geformt“ wird. Der Begriff öffentliche Meinung bezieht sich auf das politische System, das von den Massenmedien von außen beobachtet wird und dieses „Beobachtet-Werden“ wiederum reflektiert.[163]Dabei handelt es sich um eine Beobachtung zweiter Ordnung: Die Politik beobachtet die öffentliche Meinung, die wiederum nichts anderes als eine Beobachtung der Politik (vor allem) durch die Massenmedien darstellt. Es ist genau diese Grundoperation der Beobachtung zweiter Ordnung, also die Beobachtung von Beobachtern[164], welche zur vorherrschenden Art, Welt wahrzunehmen, geworden ist – und zwar in allen Funktionssystemen.[165]„Die Realität der Massenmedien, das ist die Realität der Beobachtung zweiter Ordnung.“[166]Indem wir Zeitung lesen, beobachten wir wiederum, was die Presse schreibt, also die Beobachtungen der Presse.[167][168]„Die Funktion der Massenmedien liegt […] im Dirigieren der Selbstbeobachtung des Gesellschaftsystems […].“[169]Die Beobachtungen des Funktionssystems der Massenmedien ermöglichen es, „in der Gesellschaft zwar nicht mit der Gesellschaft aber über die Gesellschaft zu kommunizieren“[170].[171]Was der modernen Gesellschaft jedoch fehlt, ist eine einheitliche Selbstbeschreibung, weil jede Selbstbeschreibung bzw. -beobachtung – oder anders ausgedrückt: Reflexion – kontingent ist. Genau das versuchen die Protestbewegungen zu leisten, indem sie Themen aufgreifen, die keines der Funktionssysteme als eigene erkennen würde: „Sie [die protestierende Reflexion] stellt sich quer zu dem, was auf Grund eines Primates funktionaler Differenzierung innerhalb der Funktionssysteme an Selbstbeschreibungen anfällt.“[172]

4. Der Shitstorm als Protestbewegung?

Auf den ersten Blick scheint ein Shitstorm mit einer Protestbewegung vergleichbar. Darauf deuten auch geläufige Begriffe wie „Proteststurm“ oder „Sturm der Entrüstung“ hin, die synonym für das Phänomen Shitstorm verwendet werden. Ob diese Einordnung bzw. dieser Vergleich sinnvoll und gerechtfertigt ist, wird in diesem Teil der Arbeit untersucht.

4.1 Definition Protest(-bewegungen)

Luhmann definiert Proteste als „Kommunikationen, die anandere adressiert sind und deren Verantwortung anmahnen. Sie kritisieren Praktiken oder Zustände, machen sich aber nicht selber anheischig, an die Stelle dessen zu treten, der für Ordnung sorgen sollte.“[173][174]Die Protestierenden wollen also nicht selber die Position der Adressaten ihres Protestes einnehmen – zum Beispiel als politische Opposition – sondern „es geht vielmehr um Ausdruck von Unzufriedenheit, um Darstellung von Verletzungen und Benachteiligungen, nicht selten auch um wildes Wünschen“[175].

In einem nächsten Schritt differenziert Luhmann zwischen Protest und Protestbewegungen:

„Ein Protest […] ist eine Kommunikation – und zunächst nicht mehr als das. […] Von Protestbewegungen wollen wir nur sprechen, wenn der Protest als Katalysator einer eigenen Systembildung dient. Der Protest rekrutiert dann gleichsam eigene Anhänger.“[176]

Das Protestthema muss eine gewisse „organisatorische Kraft und Dauer“ in Aussicht stellen, damit es zur Generierung eines Systems kommt, sonst bleibe es bei einer „kurzfristigen Verärgerung“.[177]Die so entstandenen Protestbewegungen zeigen die Eigenschaften von Systemen: also Autopoiesis, operationale Schließung, einen Code und Programme.

„Erst die Autopoiesis der sozialen Bewegung konstruiert das Thema, findet die dazugehörige Vorgeschichte, um nicht als Erfinder des Problems auftreten zu müssen, und schafft damit eine Kontroverse, die für die andere Seite im Routinegeschäft des Alltags zunächst gar keine Kontroverse ist.“[178]

Die Einheit des Systems ergibt sich aus der zweiseitigen Form des Protestes, die mit dem Code der Funktionssysteme verglichen werden kann: auf der einen Seite die Protestierenden, auf der anderen Seite die Nicht-Protestierenden bzw. die, gegen die protestiert wird.[179]„[…] die Form des Protestes ist […] eine Form, die eine andere Seite voraussetzt, die auf den Protest zu reagieren hat. Mit dem Kollaps dieser Differenz kollabiert auch der Protest.“[180]Die Themen entsprechen dabei den Programmen von Funktionssystemen. Sie ermöglichen es dem System, zwischen zugehörigen und nicht zugehörigen Kommunikationen zu unterscheiden: „Wie in den Funktionssystemen eine Codierung Programme erfordert, die die Zuweisung der positiven bzw. negativen Werte regeln, so erfordert die Form des Protestes Themen, die spezifizieren, weshalb und wogegen protestiert wird.“[181]Damit verbunden ist eine „Mobilisierung auf Ziele hin“[182].

Luhmann schließt aus, dass es sich bei Protestbewegungen um Organisationen handelt, weil sie keine Entscheidungen organisieren, sondern Motive und Commitments bzw. Bindungen und nicht dem Prinzip der Mitgliedschaft folgen, sondern auf die Unterstützung eines unbestimmten Kreises von Sympathisanten angewiesen sind. Dazu kommt, dass Protestbewegungen nicht hierarchisch nach Positionen, sondern heterarchisch und netzwerkförmig und nicht auf Dauer angelegt sind: Erfolg oder Aussichtslosigkeit führen zur Auflösung.[183]Ebenso wenig können Protestbewegungen in ihrem Systemstatus als Interaktionssysteme beschrieben werden, weil es kein Prinzip der Anwesenheit gibt – der Sinn des Zusammenseins liege eher in der Selbstverwirklichung der Mitglieder.[184]Kennzeichnend für Protestbewegungen ist zudem, dass sie immer in „Bewegung“ sind – durch Fluktuationen, das Aufgreifen einer Fülle von Themen, Reaktionen auf Erfolge und Misserfolge – sich also in fortwährender Veränderung befinden, über die sie allerdings keine Kontrolle besitzen.[185][186]

Die Leistung von Protestbewegungen liegt laut Luhmann darin, dass sie die Gesellschaft beobachten und mit Realität versorgen.[187]Sie haben also auf den ersten Blick eine ähnliche Funktion für die Gesellschaft wie die Massenmedien. Die Besonderheit liegt darin, dass diese „sozialen Bewegungen“, wie Luhmann sie auch nennt, die Beobachtungstechnik des Teufels verwenden: Sie ziehen eine Grenze gegen die Einheit der Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft[188]– oder anders formuliert: „Man denkt […] in der Gesellschaft für die Gesellschaft gegen die Gesellschaft.“[189]Damit verbunden ist die Illusion der Protestbewegungen, die Welt besser als alle anderen Systeme beobachten zu können, nämlich die Gesellschaft als Ganzes, als Einheit.[190]Mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in einzelne autonome Funktionssysteme sei genau diese Fähigkeit verlorengegangen, weil jedes Funktionssystem Gesellschaft nur unter einem bestimmten Gesichtspunkt, der durch den Code vorgegeben ist, betrachtet (vgl. 3.3).[191]Auf die Folgeprobleme funktionaler Differenzierung aufmerksam zu machen, indem Themen aufgegriffen werden, die keines der Funktionssysteme als eigene erkennt, darin liegt eine Funktion von Protestbewegungen. Sie kompensieren damit deutliche Reflexionsdefizite der modernen Gesellschaft.[192]„Die Protestkommunikation erfolgt zwar in der Gesellschaft, sonst wäre sie keine Kommunikation, aber so, als ob es von außen wäre.“[193]Tatsächlich liefern die Protestbewegungen jedoch nur eine weitere kontingente Selbstbeschreibung der Gesellschaft in der Form des Protestes gegen sich selbst, weil sie immer ein Teil der Gesellschaft sind und bleiben und keine andere Perspektive einnehmen können. Hier liegt auch der Grund, warum Protestbewegungen kein vollwertiges Funktionssystem bilden: weil sie keine Selbstreflexion betreiben. Wenn sie sich selbst reflektieren würden, könnten sie nicht beanspruchen, kein Teil der Gesellschaft bzw. des Systems zu sein – hier liegt ihr blinder Fleck. Dieses Defizit hat zur Folge, dass Protestbewegungen ihre Funktion für die Gesellschaft nicht anerkennen können.[194]

4.2 Protestkommunikation im Shitstorm

Luhmann beschreibt Protest als Kommunikation, die einen Gegner adressiert und an dessen Verantwortung appelliert. Legt man diese Definition den unter 2.1 beschriebenen Shitstorms zugrunde, so ergibt sich ein klares Bild: Alle Shitstorms als Kommunikationen adressieren einen Gegner – ob dieser nun ein Unternehmen ist, wie beim Nestlé, Amazon-, und Pril-Shitstorm oder eine Person wie beim Justine Sacco-Shitstorm. „Nie wieder Amazon! Menschenverachtende Firmenpolitik!!!!! Schämt euch!!!!!“[195]Beim Amazon-Shitstorm wird das Unternehmen direkt in der zweiten Person Plural adressiert und dadurch gleichzeitig personalisiert. Mit „Schämt euch!!!!!“ – man beachte die vielen Ausrufezeichen – wird zudem eine deutliche Mahnung an das Unternehmen, das seiner Verantwortung für seine Mitarbeiter nicht nachgekommen ist, formuliert. Das Vertrauen der Verbraucher in Amazon wurde verletzt und diese Unzufriedenheit bricht nun hervor und nimmt dabei teilweise aggressive Formen an, wenn Amazon als „Naziverein“ oder „Drecksladen“ diffamiert wird. Hier stellt sich die Frage, ob die zuletzt zitierten Kommunikationen, welche die Form von Beschimpfungen bzw. Attacken annehmen, noch als Protest zu bewerten sind. Wenn keine Forderungen mehr an den Gegner formuliert werden, sondern die Kommunikation unsachlich und beleidigend wird, handelt es sich dann noch um Protestkommunikation im Sinne Luhmanns? Diese Frage soll im Verlauf der Arbeit wieder aufgegriffen werden, wenn es um die Art der Kommunikation geht (vgl. 6.).

Um zu einer Bewegung zu werden, muss Systembildung stattfinden, muss sich der Protest verselbstständigen. Luhmann bleibt hier allerdings sehr vage, wie die Autopoiesis im Einzelnen vor sich geht und verweist lediglich auf die Rolle des Protestthemas, das systemgenerierende Kraft haben müsse, was er mit „organisatorische Kraft und Dauer“[196]ausdrückt. Gleichzeitig betont Luhmann, dass es sich um ein temporäres System handelt aufgrund der Tatsache, dass sowohl Erfolg als auch Aussichtslosigkeit zur Auflösung der Bewegung führen und sie nicht auf das Prinzip der Mitgliedschaft zu bringen ist.

Wie ordnet sich nun das Phänomen Shitstorm in diese Definition ein? Zunächst ist festzuhalten, dass Shitstorms mit vereinzelten Kommunikationen bzw. Kommentaren in sozialen Netzwerken wie Facebook beginnen – doch nach kurzer Zeit kommt es zu einem immensen Anstieg der Zahl der Anschlusskommunikationen, die sich viral auf den verschiedenen Kommunikationsplattformen verbreiten. Dieser massenhafte Anstieg von Protestkommunikationen in einem so kurzen Zeitraum und die große Streuung der Beiträge in den „Kommunikationsräumen“ des Internets könnten als Verselbstständigung des Protestes und damit als Autopoiesis interpretiert werden, was für die Bewertung des Shitstorms als Protestbewegung sprechen würde. Zieht man allerdings die weiteren Ausführungen Luhmanns zu Protestbewegungen heran, kann man präzisieren, dass sich diese in ständigem Wandel befinden, sei es in Bezug auf die Sympathisanten, die Themenwahl oder den Umgang mit Erfolgen oder Misserfolgen. Diese Darstellung impliziert, dass Protestbewegungen für eine gewisse Dauer existieren und kein flüchtiges Phänomen sind – wobei dies nicht dem Umstand widerspricht, dass Protestbewegungen ein temporäres System sind, verglichen mit „vollwertigen“ Funktionssystemen. Dies spricht wiederum gegen die Einschätzung des Shitstorms als eine Bewegung, weil die Protestkommunikation nur an wenigen Tagen gehäuft auftritt und nach spätestens zwei Wochen – im Fall der DB sogar schon nach drei Tagen – vollständig erloschen ist. Hinzu kommt, dass Protestbewegungen mit ihrem Protest eine bestimmte Absicht verfolgen, meist in Form von konkreten Forderungen, die sie an ein bestimmtes Funktionssystem – in der Regel die Politik als Entscheider – richten, in Erwartung einer Reaktion dieses Systems. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass sich etwas verbessert durch den Protest, dass andere Entscheidungen getroffen bzw. Entscheidungen zurückgenommen werden. Diese Absicht ist bei den Kommunikationen eines Shitstorms nicht nachzuweisen. Sie stellen in der Masse keine klaren Forderungen, weder an die Politik noch an das jeweilige Unternehmen oder die Person, die Ziel des Shitstorms sind. Die meisten Kommentare erschöpfen sich im Ausdruck von Unzufriedenheit – „Urwald zerstören, Menschen vertreiben, Tiere umbringen – da schmeckt kein Riegel mehr.“[197], „Nie wieder Pril!“[198]– bis hin zur Feindseligkeit – „Faschistenschwein!“[199]. In diesem Zusammenhang ist der Begriff des Commitment bzw. der Bindung aufschlussreich. Luhmann versteht darunter eine „Art Selbstverpflichtung des Individuums“[200]. „Gemeint ist [mit Bindungen] das, was relativ zufälligen Ereignissen (früher eher: Geburt; heute eher: eigene Wahl) Dauer schafft und als Prämisse eigenen Verhaltens beibehalten wird.“[201]Commitments kommen durch Selektion zustande, haben eine sich selbst verstärkende Tendenz und nehmen die Form von „Gefühl“ oder „rechtfertigenden Bewertungen“ an.[202]Für Protestbewegungen ist Commitment entscheidend, weil es ohne die Bindungsbereitschaft der Protestierenden, ohne ihr persönliches Engagement und ihre anhaltende Protestbereitschaft keine Bewegung gibt.[203]Die Kürze der Beiträge und der Umstand, dass der Großteil der „Protestierenden“ nicht mehr als einen Beitrag zum Thema zu verfassen scheint, spricht dafür, dass es beim Shitstorm weniger darum geht, für ein Thema einzutreten, als darum seine Meinung loszuwerden – bis hin zu beleidigenden Äußerungen und Attacken (vgl. 6.3). Natürlich gibt es Ausnahmen, aber die Masse der Beiträge genügt dieser Beobachtung: Einen einmaligen Kommentar schreiben, womöglich noch mit Boykott drohen und dann zum Alltag übergehen. Oder anders formuliert: Eine große Anzahl von Menschen ist noch keine Massen- bzw. Protestbewegung, weil ein gemeinschaftliches Interesse, eine gemeinsam verfolgte Absicht und Commitment fehlen. Diese These korreliert mit der Auswertung der Facebook-Fanzahlen von amazon.de durch die socialBench GmbH: Anders als die große Berichterstattung über den Shitstorm in den Massenmedien vermuten lässt, sank die Anzahl der Fans lediglich um 6.368 – von 2.815.000 am 14.02.2013 auf 2.808.632 Fans am 26.02.2013.[204]

Worin die Funktion von Shitstorms für die Gesellschaft liegt, ist an diesem Punkt der Analyse noch nicht zu beantworten. Der Umstand, dass die Kritik während eines Shitstorms in Beleidigung und Missachtung umschlägt, lässt das Phänomen Shitstorm weiter von Protestbewegungen wegrücken. Protestbewegungen wollen die Gesellschaft auf Missstände in der Gesellschaft aufmerksam machen, sie verfolgen eine bestimmte Absicht und wollen mit ihrem Protest etwas ändern bzw. den Anstoß dazu geben, dass sich etwas ändert – diese „appellative und argumentative Funktion“[205]scheint bei Shitstorms nicht gegeben. Luhmann spricht von „Folgeproblemen funktionaler Differenzierung“, auf welche Protestbewegungen die Gesellschaft aufmerksam machen würden. Gemeint sind damit vor allem Gefahr- bzw. Risiko- und Umweltthemen[206]wie Umweltverschmutzung, Atomkraft oder andere Hochtechnologie – „Situationen, in denen man das Opfer des riskanten Verhaltens anderer werden könnte“[207].[208]Betrachtet man die Auslöseereignisse der vorgestellten Shitstorms, ergibt sich auch hier keine Parallele. So wurde der DB-Shitstorm mit Kundenbeschwerden losgetreten – Ausgangspunkt des massenhaften Protestes war hier also schlechter Service – und der Pril-Shitstorm entbrannte aufgrund der Disqualifikation eines Design-Vorschlags, den die Facebook-Nutzer in einer Mitmach-Aktion von Henkel zum Gewinner gekürt hatten – sie fühlten sich bevormundet. Gefahr durch riskante Entscheidungen anderer als Protestgrundlage ist bei den genannten Shitstorm-Beispielen nicht gegeben. Fraglich ist auch, ob wirklich ein großer Teil der Öffentlichkeit mit dem Protest erreicht wird, da sich Shitstorms auf sozialen Kommunikationsplattformen im Internet ereignen bzw. ob dies überhaupt ein Anliegen ist (vgl. 5.2.1). Doch es scheint auf den ersten Blick eine Ausnahme zu geben: Der Shitstorm gegen Nestlé begann im Rahmen einer öffentlichkeitswirksamen Greenpeace-Kampagne gegen den Konzern und seine Verwendung von Palmöl. Für den Anbau des Öls würde der Hersteller indonesischen Regenwald roden und damit eines der letzten Rückzugsgebiete bedrohter Orang-Utans zerstören. Der Appell war eindeutig: Nestlé soll aufhören, Palmöl für seine Produkte zu verwenden. Dennoch kann man auch in diesem Fall nicht vom Shitstorm als einer Protestbewegung sprechen, weil sich der Shitstorm verselbstständigte und damit von seiner Protestgrundlage entfernte – es überwogen Beleidigungen und wütende Kommentare statt konkreter Forderungen.

5. Kommunikationsmedium Internet versus Massenmedien:Der Shitstorm als Social Media-Phänomen

War die Straße lange Zeit der zentrale Ort von Protest, so verlagert sich der Protest zunehmend in den virtuellen Raum. Digitale Kommunikationstechnologien reduzieren nicht nur die Hindernisschwellen, indem Faktoren wie Zeit und Geld verringert werden, sondern bieten eine „Plattform des Sich-Organisierens […], Informierens und Alarmierens“[209]. Christoph Virgl hebt die Bedeutung des Web 2.0 für heutige Formen des Protestes hervor, durch das eine dynamische Nutzerpartizipation ermöglicht wird und damit eine neue Form der Informationsgestaltung.[210] Für das Phänomen Shitstorm, das sich ausschließlich im Internet, genauer in den sozialen Netzwerken abspielt, ist die Bedeutung des Kommunikationsmediums Internet umso größer. Die Frage ist, ob und inwiefern sich durch das Internet der Protest verändert.

Dafür werden zunächst die Begriffe Web 2.0 und Social Media genauer definiert. In einem nächsten Schritt wird die Interaktion unter Anwesenden in Form von mündlicher Kommunikation bei Luhmann auf das Internet übertragen, mit allen damit verbundenen Implikationen für das Phänomen Shitstorm. Dabei wird auch das Verhältnis zu den Massenmedien beleuchtet: Wie grenzt sich internetbasierte von massenmedialer Kommunikation ab und inwiefern braucht der Shitstorm die Massenmedien?

5.1 Social Media und Interaktion

Luhmann hat sich in seinem Werk ausführlich mit dem Funktionssystem der Massenmedien auseinandergesetzt – mit Büchern, Presse, Hörfunk und Fernsehen. Erst Ende des 20. Jahrhunderts kam es zur Kommerzialisierung des Internets und es dauerte noch ein paar Jahre, bis das Web 2.0 zu Beginn des neuen Jahrhunderts – Luhmann starb 1998 – die Nutzung des Internets veränderte und damit die Möglichkeiten der Kommunikation erweiterte.

5.1.1 Allgemeine Definition von Web 2.0 und Social Media

Es war Tim O´Reilly, der den Begriff Web 2.0 prägte, um auszudrücken, dass sich die Funktion des Internets verändert hat: hin zu einer Plattform der Partizipation und Kooperation.[211] Erst im „Zusammenwirken informationstechnologisch zur Verfügung gestellter Partizipationspotentiale und der konkreten Nutzungspraxen der Anwenderinnen und Anwender“[212] ergibt sich die Grundcharakteristik des Web 2.0. Im Vergleich dazu sei das Netz zuvor nichts weiter als eine „bessere Litfasssäule“ [sic!], ein „Medium der Verlautbarung und Veröffentlichung von Informationen“ gewesen, so Stefan Münker.[213] Für Social Media bzw. soziale Medien wiederum bildet das Web 2.0 die Plattform: „[…] Social Media is a group of Internet-based applications that build on the ideological and technological foundations of Web 2.0, and that allow the creation and exchange of User Generated Content.”[214] Es sind kollaborative Prozesse der Inhaltsgenerierung, welche die Social Media zu dem machen, was sie sind:

„Digitale Medien determinieren ihren Gebrauch nicht; digitale Medien entstehen erst durch ihren Gebrauch! Das lässt sich nirgends besser beobachten als bei den Sozialen Medien des Web 2.0 – die eben auch erst durch ihren Gebrauch, und zwar durch ihren gemeinsamen Gebrauch entstehen.“[215]

Dazu zählen Video-, Foto-, Musikportale, Online-Communities, Textnetze der Blogosphäre und wissensbasierte Wikis, wobei die populärsten Web 2.0-Auftritte wie YouTube, Wikipedia und Facebook ihre Inhalte ausschließlich von ihren Nutzern beziehen.[216] Das Netz als „sozialer Handlungsraum“[217] ermöglicht neue Formen sozialer Interaktion. „Social media environments become a place where person-to-person conversations take place around user-generated content amidst potentially large audiences.“[218]

5.1.2 Definition Interaktion

Eine Interaktion entsteht nach Luhmann immer dann, wenn Anwesende sich wechselseitig wahrnehmen. Anders ausgedrückt: Sobald mindestens zwei Personen zur gleichen Zeit am gleichen Ort sind und wahrnehmen, dass sie wahrgenommen werden, entsteht ein Interaktionssystem. Dies impliziert gleichzeitig, dass das System mit dem Auseinandergehen der Teilnehmer aufhört zu existieren.[219][220] Luhmann fasst es so zusammen:

„Von ‚einfachem Sozialsystem‘ wollen wir nur dann sprechen, wenn Anwesenheit und wechselseitige Wahrnehmbarkeit Strukturmerkmal des Systems bleiben, die Grenzen des Systems also mit den Grenzen des Wahrnehmungsraums zusammenfallen.“[221]

Anwesenheit als „Konstitutions- und Grenzbildungsprinzip“[222] ist „[…] eine Form, also im Sinne unseres Begriffs eine Differenz. Sie hat ihren systembildenden Sinn nur vor dem Hintergrund einer anderen Seite, in Bezug auf Abwesendes.“[223][224] Sobald es zur Wahrnehmung des Sich-Wahrnehmens, also zur reflexiven Wahrnehmung kommt, handelt es sich um Kommunikation, denn es gilt, „daß man in Interaktionssystemen nicht nicht kommunizieren kann; man muß Abwesenheit wählen, wenn man Kommunikation vermeiden will.“[225] Dabei muss zwischen Wahrnehmung und mündlicher Kommunikation als zwei Prozessarten der Erlebnisverarbeitung unterschieden werden, die nebeneinander in Interaktionen benutzt werden, wobei es die Sprache ermöglicht, auch Nichtanwesendes zu thematisieren.[226]

Luhmann wählt die Bezeichnung „einfaches“ oder „kleines“ Sozialsystem[227], weil Interaktionen die einfachste Ausprägung sozialer Systeme darstellen – sie verfügen nicht über eine innere Differenzierung, dauern nicht an, sind also nicht auf Systembestand ausgelegt und sind in ihrer Größe begrenzt.[228] Dies wird besonders im Vergleich zu den beiden anderen Formen sozialer Systeme deutlich: Organisation und Gesellschaft. Während erstere auch unabhängig von gleichzeitiger Anwesenheit aller Beteiligten fortbesteht – man denke an die Organisation Schule im Gegensatz zu einer Schulstunde als Interaktion – schließt die Gesellschaft als umfassendes Sozialsystem Leistungen wie die Durchführung eigener Systemdifferenzierungen, das Einrichten eines Immunsystems, die Identifikation von Erwartungszusammenhängen und die Möglichkeit der Evolution ein.[229] Für Interaktionen hingegen ergeben sich „interaktionsspezifische Knappheiten“[230] bzw. strukturelle Beschränkungen. So gibt es immer nur ein Zentrum der Aufmerksamkeit, sowohl in Hinblick auf die anwesenden Personen als auch auf die Themen: Es kann nur jeweils einer etwas beitragen und es kann nur ein Thema gleichzeitig behandelt werden. Dieser Zwang zu seriellem Prozessieren, zum zeitlichen Nacheinander[231] begrenzt die Komplexität von Interaktionssystemen. Andererseits liegt hier auch ein spezifischer Vorteil: Nur in der Interaktion können alle Anwesenden an der Kommunikation teilhaben und diese deutlich irritieren. André Kieserling führt den Begriff der „undifferenzierten Inklusion“[232] ein, um auszudrücken, dass alle Beteiligten gleich nah am Geschehen sind.[233] Kommunikation in der Interaktion wird damit automatisch „interaktionsöffentliche Kommunikation“[234].[235] Dies impliziert jedoch eine weitere Leistungsschranke, die bereits genannt wurde: Die Größe von Interaktionssystemen ist begrenzt. So steigt mit der Zahl der Anwesenden der Anteil der Passivität, wodurch Reziprozität unmöglich wird. Zudem sind die Zusammenkünfte auch zeitlich begrenzt: Die Interaktion endet mit dem Auseinandergehen der Teilnehmer bzw. mit dem Ende des Kommunikationsprozesses. Sobald ein neues Treffen stattfindet, handelt es sich um eine weitere Interaktion mit einer eigenen Interaktionsgeschichte[236].[237]

Es ist der Zustand der doppelten Kontingenz, der die Systembildung in Gang bringt (vgl. 3.2) und es ist die doppelte Kontingenz, welche die Entstehung von Personen provoziert, um den Möglichkeitsspielraum einzuschränken. Personen als Teilnehmer an der Kommunikation stellen deshalb eine Voraussetzung für Interaktionssysteme dar – sie entstehen zwangsläufig, wenn kommuniziert wird. „Die Form der Person dient ausschließlich der Selbstorganisation des sozialen Systems, der Lösung des Problems der doppelten Kontingenz durch Einschränkung des Verhaltensrepertoires der Teilnehmer.“[238][239] Anders ausgedrückt: Durch Personen wird das Verhalten in einer Interaktion in einem gewissen Rahmen erwartbar, indem die individuellen Verhaltensoptionen begrenzt werden; eine unverzichtbare Bedingung für die Bildung eines sozialen Systems.[240][241] Soziale Situationen erfordern reflexive Erwartungsstrukturen, sie strukturieren sich durch Erwartungen, denn nur so können Situationen doppelter Kontingenz geordnet werden: „Ego muß erwarten können, was Alter von ihm erwartet, um sein eigenes Erwarten und Verhalten mit den Erwartungen des anderen abstimmen zu können.“[242][243]

5.1.3 Social Media als Interaktionssystem

Shitstorms ereignen sich vor allem auf Kommunikationsplattformen wie Facebook als Social networking site bzw. Online-Community[244]und Twitter als Mikroblog[245]. Diese beiden Dienste werden deshalb im Folgenden als Beispiele für die Argumentation herangezogen.[246]

Social Media wie Facebook bieten ihren Nutzern eine Plattform, um persönliche Profile – mit seinem wirklichen Namen oder einem Pseudonym – zu erstellen, um sich mit Freunden und Bekannten verbinden und austauschen zu können. Es besteht also die Möglichkeit, sich wechselseitig aufeinander zu beziehen, wobei dem Nutzer zahlreiche Kommentar- und Verlinkungsfunktionen – wie der Like