„Sie stehen nicht auf der Liste“ - Amonte Schröder-Jürss - E-Book

„Sie stehen nicht auf der Liste“ E-Book

Amonte Schröder-Jürss

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sätze, die ein Leben für immer verändert haben.
Und die Geschichten dahinter


»Ein ukrainisches Sprichwort lautet: ›Die Rakete, die dich tötet, wirst du nie hören.‹ Ich habe die Rakete nicht gehört. Ich habe nur die Musik gehört. Dann das Geräusch der einstürzenden Decke, Fliesen, Staub, Metall, von Beton. Das Nächste, was ich höre, sind die Schreie von Menschen.«
WOJCIECH GRZĘDZIŃSKI, KRIEGSFOTOGRAF

»›Dass ich immer nur wegwill von euch, macht mein Leben so schnell.‹ Das beschreibt meine ganze Biografie. Man musste da raus – und ist dadurch beschleunigt worden. Ich bin durch diesen Satz wirklich extrem ins Rennen gekommen, jahrelang habe ich viel zu viel gemacht, bis heute. Bis hin zu einem Beinahe-Burn-out.«
SCHORSCH KAMERUN, SÄNGER DER PUNKBAND DIE GOLDENEN ZITRONEN, THEATERREGISSEUR UND AUTOR

»Ich habe mich gefragt, als ich von dieser Buchidee hörte, ob das oft vorkommt. Dass ein einziger Satz so einflussreich ist, wie es bei mir der Fall war: ›Versuche, dein Leben zu machen.‹ Wie fängt man so etwas an?«
MARGOT FRIEDLÄNDER, ÜBERLEBENDE DES HOLOCAUST

Manchmal braucht es nur einen Satz – und das Leben nimmt eine Wendung. Das kann ein einfacher Satz sein, ein Alltagssatz. Einer, der politisch ist, Mut macht oder verletzt. Amonte Schröder-Jürss hat 24 Lebenssätze aus den Erinnerungen prominenter und nicht-prominenter Menschen zusammengetragen. Die Geschichten, die sich dahinter verbergen, sind schön und traurig, stimmen mal hoffnungsvoll, mal wütend. Und: Sie alle sind einzigartig. Die letzte Nachricht einer Mutter, der Kriegsoffizier im sibirischen Winter, der Polizist, der den Reichstag verteidigte. Unvergessliche Sätze, über Jahre aufgezeichnet.

»Was der Duden heimlich verschweigt, belegt dieses Buch: Hinter einem wahrhaft großen Satz steht kein Punkt, sondern ein Doppelpunkt.«
TILMAN RAMMSTEDT

»Ich wünschte, ich hätte dieses Buch geschrieben.«
RONJA VON RÖNNE

»Das wollte ich auch schreiben.«
CHARLOTTE GNEUSS

»Jeder Satz in diesem Buch verdient den Textmarker.«
YASMINE M‘BARECK

»Ein ganzes Buch voller kluger, schöner, schwerer, flirrender, goldener Sätze. Wo sonst gibt es sowas?«
MICHAEL EBERT

»Amonte Schröder-Jürss hat Sätze und Geschichten zusammengetragen, die man nicht mehr vergisst. Kann man etwas Besseres über ein Buch sagen?«
SIMON URBAN

»Das Tolle an diesem Buch ist, dass jeder Satz einen weiteren nach sich zieht, dass sich dieses auf wenige Worte verdichtete Leben zu einer Geschichte weitet, zu einer Welt.«
JAN BRANDT

»Hemingway wäre stolz.«
MARLENE KNOBLOCH

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 179

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Manchmal braucht es nur einen Satz – und das Leben nimmt eine Wendung. Das kann ein einfacher Satz sein, ein Alltagssatz. Einer, der politisch ist, Mut macht oder verletzt. Amonte Schröder-Jürss hat 24 Lebenssätze aus den Erinnerungen prominenter und nicht prominenter Menschen zusammengetragen. Die Geschichten, die sich dahinter verbergen, sind schön und traurig, machen hoffnungsvoll und wütend. Und: Sie alle sind einzigartig.

Die letzte WhatsApp-Nachricht einer Mutter, der Kriegsoffizier im sibirischen Winter, der Polizist, der den Reichstag verteidigte. Unvergessliche Sätze, über Jahre aufgezeichnet.

Sechs dieser Sätze sind bereits im Magazin der Süddeutschen Zeitung, im ZEITmagazin und stern erschienen.

Autorin

Amonte Schröder-Jürss ist Journalistin und Autorin. Sie studierte am Hildesheimer Literaturinstitut. Ihre Reportagen wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Hansel-Mieth-Preis und dem Axel-Springer-Preis. Nach Stationen beim Süddeutsche Zeitung ­Magazin und der ZEIT, arbeitet sie seit 2023 beim stern.

Schröder-Jürss lebt in Hamburg.

Amonte Schröder-Jürss

»Siestehennichtauf derListe«

Sätze, die ein Leben verändert haben

Mit Illustrationen von Maya Brenner

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Namen der in diesem Buch vorkommenden Personen, die anonym von ihren Sätzen berichten wollten, sind mit einem Stern gekennzeichnet.

Triggerwarnung: In einigen Kapiteln werden Themen behandelt, die retraumatisierend wirken könnten: »Das Eis sieht irgendwie schön aus« (Suizid), »Deine einzig wahre Freundin Ana« (Magersucht), »Sie werden dich nicht anfassen« (Kindstod).

Copyright © 2024: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Doreen Fröhlich

Illustrationen: Maya Brenner

Cover: Uno Werbeagentur, München

Covermotiv: Alekstana Tanasijenko, Maya Brenner

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

IJCB

ISBN 978-3-641-31658-7V001

www.goldmann-verlag.de

Für meine Eltern.

Und für Nicola. Weil jede Chance einen Menschen braucht, der sie einem gibt.

Sätze, die ein Leben verändert haben. Und die Geschichten dahinter.

Erinnert sich nicht jeder an einen solchen Satz?

Inhalt

»Du brauchst dein Abitur nicht nachmachen. Kochen ist ein geiler Beruf«

»Versuche, dein Leben zu machen«

»Reich mir den Schlumpf«

»Die Rakete, die dich tötet, wirst du nie hören«

»Dass ich immer nur wegwill von euch, macht mein Leben so schnell«

»Sie stehen nicht auf der Liste«

»Ich war verheiratet, bis das Krokodil mich angriff«

»Sind Sie verkleidet, Herr Kellermann?« – »Nein, ich bin eine Frau«

»Mit mir nicht«

»Okay, wir gehen heute Abend zum Entenessen«

»Jetzt mach mal normal«

»Du bist jetzt ein 30 000-Mark-Mann«

»Lieber einen Sohn am anderen Ende der Welt als einen auf dem Friedhof«

»Es waren einmal ein Junge und ein Mädchen«

»Das Eis sieht irgendwie schön aus«

»Weißt du, wie man Soup-e Djo kocht?«

»Die Freibeuter der Liga und HSV, die Pfeffersäcke«

»Ich möchte, dass du runtergehst«

»Kannst du eigentlich deine eigene Wäsche waschen?«

»So einfach, meine Damen, ist das eben nicht, und wenn Sie noch so laut stöhnen!«

»Deine einzig wahre Freundin Ana«

»Sie werden dich nicht anfassen«

»Ich glaube, wir haben hier ein Problem«

»Einmal Gyros zum Mitnehmen?«

Disclaimer

Dank

»Du brauchst dein Abitur nicht nachmachen. Kochen ist ein geiler Beruf«

Max Strohe (42) Sternekoch und Restaurantbesitzer, Berlin

Das Leben meines Vaters und seiner Entourage, meinen Halbbrüdern und anderen Geschwistern, spielte sich in seiner Küche ab. Wenn es eine Sitcom wäre, wäre diese Küche gleichzusetzen mit dem Wohnzimmer von Al Bundy. Die Küche ist groß, wuchtig. Es gibt einen Metzgertresen, der irgendwie reingehievt worden ist.

Dort habe ich einen Steinbutt auseinandergenommen. Da soll man mit dem Messer nicht so reinwichsen, wie man in der Küchensprache sagen würde. Man kommt dem Fisch sehr nahe, geht in das Innere, den Bauchbereich, über den Hals, bis in den Kopf, zieht alles raus. Ein Fisch riecht nach Salzwasser, nach Meer. Wenn man so einen Fisch ausnimmt, riecht es, als würde man noch tiefer eintauchen ins Salzwasser.

Mein Vater hat jede einzelne Bewegung mit dem Messer honoriert: Ho! Ha! Ah ja!

Er hat auch gelobt, dass ich die Physiognomie des Fisches verstünde.

Dann hat er mich, 21 Jahre alt, angeblickt:

»Max, du brauchst dein Abitur nicht nachmachen. Kochen ist ein geiler Beruf.«

Diesen Mann habe ich im Alter von 15 Jahren kennengelernt, auf einer gemeinsamen New-York-Reise, die meine Mutter initiiert hatte. Da ich eine lange Zeit zu kompensieren hatte, wuchs natürlich das Vorhaben, einen stolzen Vater zu haben, ins Unermessliche. Potenzierte sich in eine unerträgliche Begehrlichkeit. Das macht seinen Satz so besonders für mich.

Mein Vater hat natürlich Abitur gemacht, Medizin studiert, spricht Griechisch und all diese Sachen. Er ist Antiquitäten- und Kunsthändler, liest hauptsächlich, guckt Arte und kein Netflix. Er hält Menschen, die ein Wohnzimmer haben, für kleinbürgerlich. Mein Vater ist Ästhet und Exzentriker. Kunstbesessen, ein unverbesserlicher Idealist. Viele verschiedene Frauen, viele verschiedene Kinder mit eben diesen verschiedenen Frauen.

Dieser Steinbutt hat meinen Vater, um dessen Stolz es mir ging, um dessen Stolz ich buhlte, dazu verleitet, mir zu sagen, wie toll das sei, was ich in meiner Ausbildung lernen würde. Was für ein schöner Beruf das wäre. Dass, wenn er noch mal geboren würde, er sicherlich auch Koch werden würde.

Und da dieser Mensch in keiner Weise berechnend ist oder plant, was er sagt, konnte ich das so wahnsinnig ernst nehmen. Wenn dieser Mann sagt – und er war ja alles, was ich mal werden wollte –, das sei ein geiler Beruf, dann ist es vielleicht gar nicht so ein Scheißberuf. Und dann habe ich mich nicht mehr so sehr geschämt dafür.

Ich bin achtkantig von allen Schulen geflogen. Zuletzt vom Gymnasium. Auf der Berufsschule gab es die Leute, die Maler und Maurer geworden sind. Und dann gab es noch irgendwelche Menschen, die in die Gastronomie gegangen sind, die untersten, anspruchslosesten Ausbildungen.

Quasi letzter Bildungsweg.

Damals war Kochen noch nicht so Rock ’n’ Roll Da fing das mit Mälzer und Konsorten erst an. Bis mein Vater diesen Satz sagte, habe ich immer gedacht: Mensch, hättest du doch mal dein Abitur nachgemacht.

Ich habe mit 17 meine Ausbildung angefangen in einem Landgasthof im kleinen Ortsteil Koisdorf. Sinzig in Rheinland-Pfalz hat 17 500 Einwohner, inklusive Koisdorf. Auf der Berufsschule waren alle auf Drogen. 1000 Schüler, einer fertiger als der andere. Ecstasy, Speed, Amphetamine, Haschisch oder Piece. Kein Gras. Ich habe damals angefangen, auf der Berufsschule Kräuter der Provence als Marihuana zu verticken, das ist relativ schnell aufgeflogen, und ich habe aufs Maul bekommen.

Ich habe immer nur mit Drogennehmen kokettiert. Ich war ein sehr feiger junger Mann, habe immer nur Sachen dahingesponnen und erzählt von Dingen, die schon passiert gewesen seien, die aber noch nie passiert waren. Bis ich irgendwann in eine Situation kam, in der ich tatsächlich dafür sorgen musste, dass Dinge, von denen ich erzählt hatte, dass sie passiert waren, auch wirklich passierten. Deswegen habe ich mit vermeintlich sehr hohen Dosierungen angefangen, weil ich ja immer so getan habe, als hätte ich Ahnung.

Ich war dann verliebt. Sehr verliebt in eine Frau. Drei, vier Jahre älter als ich. Das war eine neue Dimension der Zuneigung, die ich empfunden habe. Und auch da war so eine Verzweiflung drin, weil ich gedacht hab, wenn ich jetzt nicht genügend Zeit habe, um sie mit dieser Frau zu verbringen, dann läuft sie mir weg. Aus diesem Grund habe ich mir die Fingerkuppe abgeschnitten.

Die Daumenkuppe. Das geht relativ problemlos, man schneidet schnell, die Messer sind scharf. Ich habe mich einfach dafür entschieden, den Daumen nicht wegzuziehen. Wenn ich eine krasse, blutende Verletzung habe, dann werde ich sofort nach Hause geschickt und habe Zeit für sie, dachte ich. In der Küche ist das aber nicht so, man wird dann noch härter, wächst über sich hinaus, Schützengraben, Kriegsvergleiche, Kameradschaft. Dann haben die mir gesagt, setz dich mal kurz hin, halt den Finger hoch, trink einen Wodka. Kannst gleich wieder loslegen.

Wir hatten immer diese Reste von den Lachsen, die wir auseinandernehmen mussten. Weil der Meister, der Chef, in der hauseigenen Räucherei viel Räucherlachs gemacht hat. Wenn man so möchte, könnte man sagen, ich habe meinen Finger durch die Reste der verwesenden Salmoniden gezogen, damit sich eine schöne Entzündung bildet. Mein Freund Büchse hat mich nach dieser Schicht in einem rotorangen Opel Corsa abgeholt. Wir haben uns mächtig Drogen reingestellt, und zwar so lange, bis der Finger zu explodieren drohte. Dann sind wir ins Krankenhaus. Alles für diese Frau.

Nachdem dieser Satz meines Vaters in seiner Küche fiel und ich mich viel offener dafür begeistern konnte, was der Beruf so mit sich bringt, habe ich überlegt, ob ich irgendwo Fuß fassen könnte, in der gehobenen Küche vielleicht. Ich habe Bewerbungen geschrieben, ins Hamburger H’ugo’s, ins Berliner Rutz. Keiner hat mich genommen. Ich war zu alt. Und ich hatte erhebliche Lücken im Lebenslauf, weil ich ja auch schon mal ein Jahr lang irgendwo rumgelegen und gekifft habe.

Schon immer habe ich viel von Äußerlichkeiten abhängig gemacht. Das ist bis jetzt nicht anders: Für Basketball – brauchte ich die neusten Sneaker, fürs Schreiben eines Buches – ein MacBook. Fürs Kochen – da habe ich erst mal ein eigenes Restaurant gebraucht.

Ich habe dann gejobbt von Kaschemme zu Kaschemme. Viel Schweineschnitzel gemacht, bis tief in die Nacht. Ein harter Job. Mit dem Geld, das ich verdiente, habe ich mir die Produkte gekauft, die ich eigentlich verarbeiten wollte. Und dann habe ich angefangen, zu Hause zu kochen: Foie gras, Austern, Krustentiere. Die Kochbücher dafür habe ich zunächst geklaut. In Bonn hatte ich früher schon Reclam-Büchlein aus dem Fenster einer Buchhandlung geworfen: Nietzsche, Baudelaire. Und mein Kumpel Holland hat sie gefangen.

Mein erstes geklautes Kochbuch war VAU von Kolja Kleeberg, 58 Euro, da war ich schon in Berlin. Dort gab es einen Buchladen mit Baugerüst, da ließ ich die Kochbücher drauffallen. Ich habe mit meinen geklauten Kochbüchern, Tim Raue oder Aromen, kochen geübt. Später habe ich sie gekauft.

Mein Vater hat mir immer davon abgeraten, mich selbstständig zu machen. Nicht weil er es mir nicht zugetraut hat, sondern weil er mir unheimlich viel Stress ersparen wollte. »Du kannst doch einfach schön kochen, irgendwo ein paar Fische auseinandernehmen. Lecker. Muss die ganze Scheiße denn sein? Muss das sein mit dem Stern?«

2015 habe ich mit meiner damaligen Partnerin unser Restaurant eröffnet. Dann haben wir überlegt: Wer hat denn viel gefressen und gern gut? Und da ist uns nur mein Vater eingefallen und Gérard Depardieu. Das ging nicht, was sollte man damit anfangen?

Ich habe früher ein Kochbuch geschenkt bekommen von Henri de Toulouse-Lautrec. Das war ein französischer Maler. Und er war bekennender Alkoholiker, einen Meter dreißig groß. Lautrec hat gern Dinnerpartys gegeben. Ein sehr durchmischtes Publikum: Bordsteinschwalbe, Bürgermeister, alle konnten rumhängen, sich wohlfühlen. Und wegen der viel zitierten Schwellenangst bei Sternerestaurants haben wir gedacht: Da wollen wir mal hin – es soll aber keiner merken. Wir haben es dann »Tulus Lotrek« genannt.

2017 gab es den ersten Stern. Dieser Stern war das Höchstmöglichste, was aus meinem Satz hätte entspringen können. Weil ich nie damit gerechnet habe, in meinen kühnsten Träumen nicht. Am Alexanderplatz hat man selten Empfang. Und ich kannte die Nummer nicht. Diese Person fragte mich, ob sie mit Max Strohe sprechen würde, und ich sagte: »Na ja, Sie rufen mich ja an, also können Sie erst mal sagen, wer Sie sind.«

Der Chef des Guide Michelin.

»Versuche, dein Leben zu machen«

Margot Friedländer (102) Überlebende des Holocaust, Berlin

Ich habe mich gefragt, als ich von dieser Buchidee hörte, ob das oft vorkommt. Dass ein einziger Satz so einflussreich ist, wie es bei mir der Fall war: »Versuche, dein Leben zu machen«. Wie fängt man so etwas an? Wie habe ich angefangen? Ich meine, mit nichts.

Ich war auf dem Weg von der Nachtschicht nach Hause zu meiner Familie, meiner Mutti und meinem Bruder Ralph. Wir wollten fliehen. Nach Schlesien zu Verwandten. Eine letzte Möglichkeit. Zu der Zeit wohnten wir schon nicht mehr daheim, sondern in einer »Judenwohnung« in der Skalitzer Straße, Haus Nummer 32. Seit zwei Jahren musste ich bei den Deuta-Werken in Berlin zwangsarbeiten. In der Nachtschicht waren alles Juden. Es war der 20. Januar 1943. Ich hatte mit Mutti verabredet, dass ich mich nach der Nachtschicht krankmelden würde. Man sollte mich am nächsten Tag nicht in der Fabrik erwarten.

Die Deuta-Werke waren in einer Nebenstraße von der Skalitzer Straße, also konnte ich laufen. Den Brief mit meiner Krankmeldung hatte ich bereits bei der Fabrik in den Kasten geschmissen. Um diese Zeit, 12, vielleicht 13 Uhr, war es mittags eher ruhig. Ich war also auf dem Weg nach Hause. Und sah dann diesen Mann, der anders aussah als die Menschen, die die Skalitzer Straße sonst hochkamen. Er trug einen Mantel und einen Hut. Wenn der ins Haus geht, sei vorsichtig, dachte ich. Und als er hineinging, in die Hausnummer 32, da sagte ich mir: Was mache ich?

In dem Haus wohnten viele Leute, er hätte auch zu jemand anderem gehen können. Ich muss nach Hause, dachte ich, die Mutti erwartet mich, wir sind verabredet. Er ist ins Treppenhaus, genau wie ich, und ich immer eine halbe Etage unter ihm. Dann sah ich, dass er vor unserer Tür stehen blieb. Ich konnte mich nicht mehr umdrehen, ohne dass er es mitbekommen hätte. Es war ja nur eine halbe Etage zwischen uns. Ich bin also kühn an ihm vorbeigegangen und dann eine Etage höher, von der zweiten in die dritte, obwohl ich die Bewohner nur vom Sehen kannte. Man hat damals keinen Kontakt mit Nicht-Juden gehabt, das war ja alles verboten. Die Nachbarin wusste nicht, wer ich war, aber sie kannte Frau Meißner, die uns aufgenommen hatte. Die Familie hatte früher ein Geschäft in dieser Straße. Eine jüdische Frau, deren Mann und Sohn in diesen Transport nach Polen gezwungen worden waren. Eine Aktion, die noch vor der Kristallnacht stattfand, die Polenaktion. Nur Frau Meißner und ihre Tochter, die durften in Berlin bleiben. Sie hat nie mehr von ihnen gehört.

Ich klingelte bei der Nachbarin. Sie erzählte, dass es sehr laut gewesen war in dem Haus, nur ein paar Stunden vorher. AUFMACHEN, AUFMACHEN. Treppengepolter. Dann lief sie ans Fenster und sah, dass Frau Meißner, ein junger Mann, eine junge Frau und mein Bruder Ralph in den Polizeiwagen gestoßen wurden.

»Und meine Mutter?«, fragte ich.

»Deine Mutter war nicht dabei.«

Sie war, wie ich, nicht zu Hause gewesen, um sich von einer Cousine zu verabschieden, die ebenfalls fliehen wollte. Die Nachbarin erzählte, dass sie auf meine Mutter gewartet habe. Als diese nach Hause kam, habe sie ihr sofort alles berichtet. Meine Mutter hätte dann gesagt, dass es hier nicht sicher sei und sie zu Bekannten gehen würde. Zwei Häuser weiter in der Skalitzer Straße. Jüdische Leute, die Einzigen, die wir kannten.

Stundenlang saß ich dort oben. Es wurde Nachmittag, es war Januar, und es ist zeitig dunkel geworden. Als ich mich schließlich eine Etage tiefer, in den zweiten Stock, gewagt habe, hat der Mann da nicht mehr gewartet. Und ich sah, dass die Tür versiegelt worden war.

Unsere jüdischen Bekannten wohnten im Hochparterre. Von draußen sah ich ihre dunklen Schatten. Nicht aber den meiner Mutter. Nur Schatten. Die Freundin meiner Mutter machte die Tür auf. Wartete, bis ich drin war.

»Sie ist gegangen«, hat sie dann gesagt.

»Hat sie mir was hinterlassen?«, fragte ich. »Eine Nachricht?«

»Ich soll dir etwas ausrichten.«

Mutter hätte sie gebeten, sie solle mir sagen: »Ich habe mich entschlossen, zur Polizei zu gehen. Ich gehe mit Ralph, wohin auch immer das sein mag. Versuche, dein Leben zu machen.«

Das war’s.

Ich weiß nicht mehr, wie ich mich gefühlt habe, als ich diese Nachricht bekommen habe: »Ich gehe mit Ralph. Versuche, dein Leben zu machen.« Habe ich geweint? War ich entsetzt? War ich böse? Ich weiß es nicht. Ich habe, glaube ich, mir gesagt: Ich will’s versuchen. Doch wie fängt man das an, wenn man dasteht, 21 ist, nichts hat? Ich hatte noch nie eine Entscheidung alleine getroffen. Ich hatte noch kein eigenes Leben, mein Leben war das Leben mit meiner Familie, mit meiner Mutter und meinem Bruder.

Im Korridor, an der Tür, gab sie mir Muttis Handtasche. Darin das Notizbuch und die Bernsteinkette meiner Mutter. Ein kleines Heftchen aus Karopapier. Die Adressen mit Füllfederhalter geschrieben, andere schnell hingekritzelt: Visastellen, Reisebüros, Konsulate. Kontakte, die mir helfen könnten. Die Kette bestand aus goldgelben Bernsteinen, manche waren auch dunkler, fast rötlich. Die Tasche, die ist verloren gegangen. Aber bei der Kette und dem Heft ist es mir gelungen, sie durch alles zu retten, durch das Lager und Amerika zu bringen. Bis heute.

Mein Bruder war anders als ich. Ruhig, nachdenklich, hochintelligent. Als Hitler an die Macht kam, war ich zwölf und er noch klein. Wir waren vier Jahre auseinander. Als er abgeholt wurde, war er 17. Er soll absolut brillant gewesen sein. Klassenbester. Er ging mit Hans Rosenthal, dem späteren Moderator der Fernsehsendung Dalli Dalli, in die Klasse. Auch ein Jude. Von dem weiß ich, dass Ralph anderen Schülern immer geholfen hat. Er hat sehr schön Geige gespielt. Und er war im Makkabi-Boxclub. Wie kann man boxen, wenn man die Hände zum Geigespielen braucht?, habe ich mich gefragt. Als er ein kleiner Junge, ein kleiner Steppke, drei oder vier war, hat mein Lieblingsonkel immer gesagt: »Da geht der Herr Verwalter.« Schritt für Schritt ist er mit den Händen auf dem Rücken dahingestolpert. Der Jüngste und doch der Älteste, in der ganzen Familie. Ich habe immer gesagt, in den Jahren danach, wenn wir gewusst hätten, wie wenig Zeit wir miteinander haben, hätte ich mich bemüht, ihn besser kennenzulernen. Doch er hatte seine Freunde, und ich hatte meine.

»Versuche, dein Leben zu machen«, wie fängt man das an?

Der Tag, an dem mein Bruder abgeholt wurde und meine Mutter ihm folgte, war auch der Tag, als ich den Judenstern abnahm und in den Untergrund ging. Ich lief los mit der Handtasche und nichts weiter, wusste nicht, wohin. Geendet bin ich am Moritzplatz, bei einem Bekannten aus dem ehemaligen Kulturbund, eine Vereinigung jüdischer Künstler. Am nächsten Morgen um sechs bin ich die Straßen entlanggegangen. Vorsichtig. Um acht Uhr öffneten die Geschäfte. Ich kam an einem Friseurladen vorbei, das Mädchen hat gerade aufgemacht, da habe ich mir die Haare tizianrot färben lassen. Juden haben keine roten Haare, dachte ich.

Zwei Nächte bin ich am Moritzplatz geblieben. Dann gab mein Bekannter mir einen Zettel. »Das ist die Adresse, merk sie dir und schmeiß den Zettel weg.« So begann mein Verstecken im Untergrund bei verschiedenen Personen für mehr als 15 Monate.

Als meine Mutter mir den Satz ausrichten ließ, war mein Vater nicht bei uns. Meine Eltern hatten sich ein Jahr vor Kriegsbeginn scheiden lassen. Eine erste Trennung war bereits 1935, aber sie haben es dann noch mal versucht. In der Kristallnacht hatten wir nichts von Papa gehört. Als er ein paar Tage später zurückkam, er hatte sich versteckt, erzählte er: »Mein Geschäft gehört mir nicht mehr, es wurde arisiert.« Zweieinhalb Monate später bekam mein Vater einen Pass, da er Geschäftsbeziehungen nach Dänemark, Schweden und Holland hatte. Man wollte diese Beziehungen erhalten, um die Devisen weiter zu bekommen, und der Vater sollte die neuen Inhaber einführen. Vater sagte uns auf Wiedersehen. Wir haben ihn aber nie mehr gesehen. Erst nach dem Krieg erfuhr ich, was geschehen ist. Er ist nach der Reise am nächsten Tag direkt nach Belgien, später nach Frankreich gegangen.

Er hat uns alleingelassen. Mutti hat ihm einmal eine Postkarte geschrieben. Es gab diese Idee, dass ich einen jungen Mann heiraten sollte. Ein Mann, der uns helfen wollte. Viele sind damals Pseudoehen eingegangen. Aber dafür brauchte ich Papas Genehmigung, da ich noch nicht volljährig war. Vater hat die Karte nie bekommen. Im Nachhinein ein Glücksfall, dass wir nicht geheiratet haben, denn mein Pseudoehemann war in einem der ersten Züge nach Riga. Und ich wäre mit, wenn ich seine Frau gewesen wäre.

Nur durch die Wiedergutmachung 1953 weiß ich, dass mein Vater in Frankreich verhaftet wurde und in drei Lagern gewesen ist. Einen weiteren Brief hat Mutti ihm geschrieben, als wir eine Chance hatten, nach Schanghai auszuwandern. Er antwortete mit einer einzigen Postkarte: »Was willst du mit zwei Kindern in Schanghai? Verhungern kannst du auch in Berlin.« Es wäre die letzte Chance für uns gewesen rauszugehen. Doch da mein Vater seine Zustimmung nicht gegeben hat, sind wir in Berlin geblieben. Es hätte uns retten können.

Wie ich zu meinem Vater stehe, wie meine Gefühle sind, jetzt, nach all den Jahren? Es ist schwierig für mich. Zu viele Jahrzehnte sind vergangen. Mein Vater ist auch in Auschwitz ermordet worden. Und meine Gedanken sind natürlich immer: Was hatte er sich dabei gedacht? Warum hat er uns zurückgelassen? In den frühen Jahren, als man noch hätte gehen können, als andere Verwandte ins Ausland gegangen sind, war mein Vater erstaunt, dass sie ein gutes Geschäft aufgaben. »Ich bleib, das ändert sich.« Er hat noch 1935 nicht daran geglaubt, dass es ernst ist. »Die meinen uns nicht«, hat er gesagt. »Ich bin Deutscher, ich war im Ersten Weltkrieg, bin ausgezeichnet, habe meinen Bruder für Deutschland verloren.«