Sie war eine von uns - Christoph Kloft - E-Book

Sie war eine von uns E-Book

Christoph Kloft

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Beschreibung

Die Westerwälder Historikerin Katharina erhält den Auftrag, über eine Jüdin aus der Nachbarstadt Westerburg zu schreiben. Bei der Recherche für das Buch taucht sie ein in die Briefe und Erinnerungen der jungen Frau, die den Holocaust nur dank unglaublicher Zufälle überlebte. Während dieser Arbeiten wird sie damit konfrontiert, dass auch ihre eigene Familie ein dunkles Geheimnis hütet. Sie trifft auf eine Mauer des Schweigens und muss sich eingestehen, dass sie sich in vielen Menschen aus ihrem Umfeld gründlich getäuscht hat.

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© 2022 – e-book-AusgabeRHEIN-MOSEL-VERLAGZell/MoselBrandenburg 17, D-56856 Zell/MoselTel 06542/5151 Fax 06542/61158Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-89801-922-4Lektorat: Beate KohmannAusstattung: Stefanie ThurTitelfoto: Tunatura/shutterstock.com

Die Edition Schrittmacher wird herausgegeben von Michael Dillinger, Sigfrid Gauch, Arne Houben und Gabriele Korn-Steinmetz.

Christoph Kloft

Sie war eine von uns

Das Leben der Westerwälder Jüden Irmgard Schaumburger

Edition Schrittmacher Band 38

Rhein-Mosel-Verlag

Sie war eine von uns

Fürchterlich! Sie musste weg. Weg vom Schreibtisch, von den Aktenbergen, von der bedrückenden Stimmung in ihrem engen Arbeitszimmer. Draußen strahlte die Sonne und Katharina rannte so schnell sie konnte. Völlig außer Atem stützte sie sich an einem Baum ab und ließ ihren Blick über die Wiesen streifen. Das Manuskript wollte einfach nicht wachsen, und sie quälte sich mühsam Zeile um Zeile voran. Es gab Momente, da fühlte sie sich von ihrer Aufgabe schlichtweg überfordert. Sie, die Kriegsenkelin, sollte ein Buch schreiben über eine Jüdin, die vor über siebzig Jahren gequält, gefoltert worden und am Ende nur knapp dem Tod entgangen war. Die Akten türmten sich auf ihrem Schreibtisch: Alte Briefe, Fotos, Zeitungsausschnitte. Manchmal machte ihr der riesige Berg nur noch Angst, und die Zweifel wurden übermächtig: Sie gehörte zum Volk der Täter. Irmgard Schaumburger war sie nie begegnet, denn die war Anfang der neunziger Jahre gestorben, und Katharina war sich nicht einmal sicher, ob sie viel miteinander hätten anfangen können, wenn sie sich denn einmal getroffen hätten.

Irmgard schrieb in ihren Briefen so altmodisch, so hausbacken, war immer auf Ausgleich und Versöhnung bedacht, und das war alles andere als Katharinas Ding. In ihrem Geschichtsverein machte sie sich dafür stark, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten schonungslos aufgearbeitet wurden, Gnade für die Familien der Täter kannte sie nicht, und in ihren Veröffentlichungen nannte sie stets Ross und Reiter.

Dann dieser fast harmonische Ton von Irmgard. »Die Zeiten waren für uns alle schwer«, schrieb sie an Freundinnen in Deutschland, und allein schon dieser Satz machte Katharina wütend: Nein, die Leiden der Juden waren doch nicht vergleichbar mit denen der anderen Deutschen!

Und jetzt sollte sie ein Buch über diese jüdische Frau ­schreiben, die durch Glück, Zufall und vielleicht etwas Hilfe von außen der Deportation nach Auschwitz dreimal entkommen war.

Sie sollte das Buch schreiben – selbst das entsprach nicht der Wahrheit. Sie wollte es schreiben. Sollen sagte man gern, das klang wichtig – wenn man schon darum gebeten wurde, ein Buch zu schreiben, wie wichtig war man dann erst selbst? Die reine Koketterie, was sie da manchmal von sich gab. Oder war es vielleicht gar eine Rechtfertigung? Entschuldigte sie sich am Ende etwa dafür, dass sie sich schon wieder mit der unseligen Vergangenheit beschäftigte, die man – wie von so vielen gefordert – doch endlich einmal ruhen lassen sollte?

Bisweilen verunsicherten sie ihre Selbstzweifel so sehr, dass sie nicht in der Lage war, auch nur ein Wort in ihren Computer zu tippen. Dabei gab es doch durchaus den ein oder andern, der es gerne gesehen hätte, wenn Irmgards Geschichte nach all der Zeit endlich einmal festgehalten wurde, aber wirklich gedrängt dazu hatte sie niemand.

Aus freien Stücken hatte Katharina begonnen, sich mit dem Schicksal der jungen Jüdin aus der benachbarten Kleinstadt zu beschäftigen.

Anfangs hatte sie sich nicht gefragt, ob sie das konnte, sondern nur, ob sie es überhaupt durfte. Und je tiefer sie in Irmgards Leben eingedrungen war, umso mehr wuchsen die Zweifel. In ihren schlaflosen Nächten stand sie auf und setzte sich an den Schreibtisch. Es ging nicht anders, sie musste es niederschreiben. Tief sank sie dann ein in Irmgards Geschichte, so tief, dass sie sich manchmal dabei ertappte, wie sie mit dem Stoff zu hadern begann und schließlich laut mit Irmgard redete: »Unsere Väter und Großväter waren es doch, die dir all das angetan haben. Warum sollte also gerade ich dazu berufen sein, dein Schicksal aufzuschreiben? Das kannst du doch unmöglich gut finden!« Sie wusste, dass sie die Antwort selbst finden musste. Sie, Heimatforscherin mit recht überschaubarer Reputation, die vor vielen Jahren einmal Geschichte studiert hatte und heute für eine Tageszeitung über Lokalpolitik und Kulturveranstaltungen schrieb. Sie brachte für eine solche Aufgabe höchstens ein ehrliches Interesse an der Wahrheit mit und konnte mit Blick auf die eigene Familie allenfalls wie so viele andere sagen: »Meine Großeltern waren zwar nicht im Widerstand, aber mit den Nazis hatten sie dennoch nichts am Hut.«

Vom Holocaust erfahren hatte Katharina erst spät. In ihrer Jugend war das Thema tabu gewesen. In der Schule genauso wie zu Hause. Mutter und Vater waren wie alle anderen Eltern immerzu fleißig gewesen. Ob hinter dem Herd oder in der Fabrik. Heute wusste Katharina, warum sie so viel gearbeitet hatten: Um zu vergessen, um nicht erinnert zu werden. Heute konnte sie die Eltern nicht mehr fragen – Vater war tot, Mutter hochgradig dement.

Und auch wenn sie selbst aus dem Tal der Ahnungslosen kam, wollte Katharina den Versuch wagen, Irmgards Geschichte festzuhalten. Dieses Schicksal durfte nicht einfach untergehen. Ob sie jemals damit an die Öffentlichkeit gehen würde, stand noch in den Sternen.

Aus und vorbei, ich war verloren. Ende der Flucht. Endstation Eisenach.

Der Schraubstock, in dem meine Schulter steckte, ließ mir nicht den Hauch einer Chance.

»Du beschissene Jüdin!«, brüllte ein kleiner SS-Mann und schlug mir immer wieder ins Gesicht. Wegducken ging nicht, nur aushalten. Zuerst schlug er mit der flachen Hand zu, dann mit der Faust – immer wieder traf er mich. Ich hatte das Gefühl, mein Kopf platzte. Jedes Mal traf er eine andere Stelle. Der Schmerz war überall. Er bohrte sich immer tiefer in meinen Schädel, übernahm die Macht über meinen Körper.

Ich gab nicht einen einzigen Laut von mir. Den Gefallen würde ich den Schweinen nicht tun. Sollten sie mich doch totschlagen. Es tat auch schon gar nicht mehr weh. Seltsam, die Schmerzen waren plötzlich nicht mehr da, aber tot konnte ich doch auch nicht sein – ich sah ihn schließlich vor mir, den Mann, der verbissen wieder und wieder ausholte und dabei immer kurz zu überlegen schien, wo seine Faust mich noch nicht getroffen hatte.

Der Riese, der mich festhielt, zuckte während der ganzen Zeit nicht einmal – so fest die Schläge auch waren, sie vermochten es nicht, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er hielt mich mit seinen Pranken fest umklammert. Könnte ich mich doch nur ein bisschen rühren, irgendetwas tun, damit sie mich auf der Stelle töteten! Tausendmal hatte ich mir diese Situation ausgemalt. Treten, hauen ging nicht, ich stand da wie in Beton gegossen – beleidigen, anspucken war ebenfalls nicht möglich, dazu hätte ich wenigstens einmal tief Luft holen müssen, aber die Schläge auf den Mund ließen das nicht zu. So blieb mir nur, ihre Beschimpfungen und ihre Schläge über mich ergehen zu lassen und zu hoffen, dass mein Körper es irgendwann nicht mehr aushielt und tot zusammenbrach. Die Schmerzen merkte ich schon lange nicht mehr, spürte nur ganz weit weg diesen tauben Klumpen Fleisch, auf den eingeprügelt wurde wie auf einen Sandsack. Woher kam das ganze Blut? Plötzlich war es überall.

Nach einer Ewigkeit ließ der Riese los und stieß mir so heftig in die Rippen, dass meine Beine sich unwillkürlich in Bewegung setzten. Sie wussten, dass ich keine Anstalten mehr machen konnte, ihnen zu entkommen. Jeden Gedanken an eine Flucht hatten sie aus meinem Kopf geschlagen. In mir herrschte völlige Leere: Ich konnte mich nicht einmal wundern, dass ich keine Angst mehr hatte.

Der Riese prügelte mich durch die Stadt, und ich stolperte dem kleinen SS-Mann nach, der mit hocherhobenem Haupt wichtig voranging. Das konnte ich noch erkennen, wenn ich meine zugeschwollenen Augen ein wenig aufbekam, vom Instinkt angetrieben, nicht über meine Füße zu fallen. Stolpern bedeutete Schläge, und Schläge waren schlecht. Durch einen Schleier drang in diesen Momenten Licht zu mir, schemenhaft nahm ich Menschen wahr. Passanten, deren neugierige Blicke ich auf mir spürte, aber von ihnen durfte ich mir keinen Beistand erhoffen.

Ich war Jüdin, Aussätzige – ein Geschöpf, kein Mensch. Wieso sollte dem ein Mensch helfen? Einer Fliege hilft auch niemand, wenn sie erschlagen wird. Ich trug zwar keinen Judenstern, doch die Beschimpfungen der beiden Männer sorgten dafür, dass die Leute wussten, wer das widerliche, blutige Miststück war, das sie so erbarmungslos vor sich hertrieben. Deshalb versuchte ich erst gar nicht, Blickkontakt aufzunehmen. Irgendwann ging es unter Schlägen eine steile Treppe hinauf, und dann plötzlich ein gewaltiger Fausthieb aus dem Nichts. Es wurde augenblicklich dunkel.

Als ich zu mir kam, war ich mir sicher: Irmgard, du bist im Himmel! Doch die Hoffnung verflog schnell, denn im Himmel gab es bestimmt keinen harten Steinboden.

Nein, ich befand mich noch auf der Erde, und dass ich lebte, machten mir schon die Schmerzen klar, die im gleichen Augenblick wieder da waren. Mein Kopf dröhnte, es pochte in meinem Gesicht, die Augen, die Nase, nichts, was mir nicht schrecklich wehtat. Ich sträubte mich dagegen, wach zu werden, denn dann würden die Schmerzen nur noch heftiger, das wusste ich ganz genau. Konnte ich nicht wieder in die Dunkelheit entfliehen, aus der ich gerade gekommen war? Mein Bewusstsein kehrte Stück für Stück zurück, auch wenn ich mich noch so wehrte.

Der Boden unter mir – er war kalt, aber trotzdem hatte er etwas, das mir Geborgenheit gab. Der Stein schützte mich vor den Schlägen, an die ich mich jetzt wieder genau erinnerte. Ich schmiegte mich an den Boden, um ihm ein wenig Wärme zu entlocken. Aber er blieb nur kalt und unbeweglich. Im selben Moment spürte ich meine Fesseln. Lange Ketten mussten es sein, denn sie waren schwer, ließen meinen Armen und Beinen nur wenig Raum und machten ein rasselndes Geräusch, wenn ich mich auch nur einen Millimeter bewegte. Die Augen hielt ich geschlossen. Panik stieg in mir auf bei dem Gedanken an die unbarmherzige Visage des Riesen. Wenn der erst mitbekam, dass ich aufgewacht war, würde er gleich wieder mit den Schlägen beginnen. War ich vielleicht doch schon tot? Ein schöner Gedanke. Aber konnte das hier der Himmel sein? Und kam man dorthin mit dem Mund voller Blut? Nein, ihre Schläge waren nicht kräftig genug gewesen. Wie ein Ball, der nicht fest genug geworfen wird und in die eigene Spielhälfte zurückfällt, war ich ins Leben zurückgefallen. Du elendes Leben! Warum nur konntest du mich nicht loslassen? Ich könnte jetzt auf der anderen Seite sein, aber nein, ich musste hier liegen und warten, bis mich einer aufhebt und noch einmal in die Luft wirft!

Der Blutgeschmack war ekelhaft. Ausspucken ging nicht, sie sollten keine Regung von mir sehen. Ganz still blieb ich liegen, in mir tobte die Angst, dass sie den Rest Leben in mir entdeckten. Aber die Ketten, die Ketten hatten doch gerasselt! Warum hatten sie nicht sofort zugeschlagen? Ob vielleicht doch keiner da war? Oder hatten sie es nur überhört? Es war wie früher daheim in meinem dunklen Zimmer. Meine Freundinnen und ich hatten uns Angst gemacht, Angst vor dem schwarzen Mann. Wie der genau aussah, das wussten wir nicht, nur eben schwarz und unheimlich. Manchmal hatten wir es so übertrieben, dass ich ihn bei Dunkelheit im Zimmer atmen hörte. Und wenn ich mich in einem solchen Augenblick auch nur ein klein wenig bewegte, dann würde er sich auf mich stürzen und mich sofort mit Haut und Haaren auffressen. Also wartete ich völlig angespannt in der Dunkelheit, um dann irgendwann erschöpft einzuschlafen.

Genauso regungslos lag ich auch jetzt da, doch Schlaf wollte keiner kommen. Es war anders als früher, ich lag nicht in meinem gemütlichen Bett. Und da musste ich auch nicht diese ekelhafte Flüssigkeit schmecken, die mir den Mund immer mehr füllte. Immer mehr Blut kam von irgendwoher hinzu, und urplötzlich musste ich würgen und dann erbrach ich mich. Warm drang es aus meinem Inneren auf den Steinboden, ich fühlte und roch es, ließ es gewähren, ließ es sich ausbreiten, denn ich war immer noch zu angespannt, als dass ich den kleinsten Versuch unternommen hätte, mich von meinem Erbrochenen fortzubewegen – steif und starr blieb ich darin liegen, und ich spürte, wie es meinen Hals hinab lief, roch die Säure, die sich in meine Nase fraß und mich erneut zum Würgen brachte. Warum schlugen sie mich nicht, sie mussten doch gesehen haben, dass ich bei Bewusstsein war?

Nun drohten gleich wieder die Schläge, denn sie hatten gesehen, dass ich bei mir war! Doch nichts geschah. Ich wartete eine halbe Ewigkeit, bis ich es wagte, die Augen zu öffnen. Schon das tat wahnsinnig weh, denn bei der kleinsten Bewegung glaubte ich, zwei riesige Kürbisse im Gesicht zu haben. Langsam, ganz langsam schaffte ich es zu blinzeln, jetzt war alles egal, ich gab meinen Augen einen Ruck – ein stechender Schmerz, und ich sah … nichts. Um mich herum war es stockfinster. Offenbar war ich allein und niemand war da, der mich schlagen konnte. Jedenfalls im Moment nicht. Ohne mich zu rühren, sah ich mich um. Nein, da war wirklich niemand, kein Mensch. Spätestens das laute Klirren der Ketten hätte sie jetzt aufgerüttelt.

Ich versuchte mich aufzurichten, wollte mehr sehen. Vorsichtig stützte ich mich auf meinen Ellenbogen, der Schmerz schoss durch meinen Arm, und ich biss mir auf die Lippe, um nicht laut aufzuschreien. Gab es denn wirklich keine Stelle an meinem Körper, an der sie mich nicht getroffen hatten? Es dauerte unendlich lange, bis ich meinen Oberkörper ein wenig aufgerichtet hatte. Da war nichts, keine Stiefel, nur das Rasseln der Ketten – ich war wirklich allein.

Ich entdeckte einen schwachen Lichtstreifen am Boden. Er musste von einer Tür kommen. Von dort war also mit ihnen zu rechnen. Daher kamen neue Schläge zu mir. In meinem Rücken spürte ich eine Wand, da war schon wieder Ende. Ich wollte weg von diesem Gestank, dem Gestank, der aus mir selbst gekommen war. Ich ekelte mich vor mir selbst. Wie weit war ich gekommen? War ich überhaupt noch ein Mensch? Hatten sie nicht recht mit ihren Beschimpfungen, war ich nicht wirklich eine stinkende Ratte, eine erbärmliche Kreatur, die es nicht wert war, ihr jämmerliches Dasein auf dieser Welt zu fristen? Würde es nicht höchste Zeit, dass man diesem elenden Kampf ums Überleben endlich ein Ende setzte? Aber wie? Wie sollte ich es nur anstellen? Sie hätten es doch viel leichter gehabt! Vielleicht schlugen sie beim nächsten Mal nur ein bisschen fester zu, das müsste reichen.

Oder konnte ich selbst etwas tun? Gab es irgendetwas, das mir dabei helfen konnte, ein Leben weit von hier wegzukommen? In Berlin hatten sie davon geredet, dass man immer Gift dabei haben sollte. Ich hatte meine Ohren auf Durchzug gestellt, denn ich war jung und wollte nicht über den Tod nachdenken. Was hatte ich noch alles vor im Leben! Ich wollte Lehrerin werden, eine richtig gute, die mehr die Freundin der Kinder war als ihre Erzieherin. Wie oft hatte ich mir ausgemalt, was ich alles mit den Kleinen unternehmen würde. Es kam mir unendlich lange her vor.

Mein Wunsch, Lehrerin zu werden … ich hatte ihn auch später noch nicht aufgegeben, hoffte ich doch immer noch, dass mir das einst irgendwann und irgendwo erlaubt sein würde! Was war ich doch für ein dummes Huhn gewesen! Hätte ich jetzt nur eine dieser Ampullen gehabt! Aber nein, ich hatte ja vom Leben spinnen müssen!

Alles war leer, in mir und um mich, und ich wünschte mir nichts sehnlicher als den Tod. »Beten«, hätte meine Oma gesagt: »Du musst beten!« Aber zu wem sollte ich beten? Mir half niemand, auch der Herr im Himmel nicht.

Der Gestank meines Erbrochenen hing tief in meiner Nase und er ließ mich immer wieder aufs Neue würgen. Ich wischte meine Finger so gut es ging am Steinboden ab. Widerlich! Warum konnte ich nicht einfach sterben?

Ich hielt die Luft an, lange tat ich das, in der Hoffnung zu ersticken. Aber immer, wenn ich glaubte, kurz davor zu sein, hielt ich es nicht durch und schnappte heftig nach Luft. Wütend ärgerte ich mich über mich selbst, wusste aber nicht, wie ich diesen dämlichen Instinkt abschalten konnte. Und dann machte sich ein weiteres Bedürfnis bemerkbar: Ich hatte Durst! Erst schleichend, doch stieg er unbarmherzig in mir hoch, erst langsam, dann immer heftiger, machte sich breit, überall, beherrschte alles, was von meinen Sinnen noch übrig war – ich konnte an nichts anderes mehr denken. Nur einen Tropfen Wasser, einen winzigen Tropfen! Ich fuhr mir mit der Zunge über meine zerschlagenen Lippen, doch brachte das jedes Mal nur ganz kurz ein bisschen Linderung. Ich begann den Steinboden abzulecken, so weit ich an ihn herankam. Die Kälte wirkte fast wie Flüssigkeit. Ab und zu glaubte ich sogar einen winzigen Wassertropfen zu erwischen, während ich unter dem Geräusch der rasselnden Ketten mit meinen zerschlagenen Gliedern umherkroch – wie ein langsames Reptil, nur wenige Zentimeter, mehr erlaubten meine Fesseln nicht, Finger und Zunge am Boden, um ihn nach feuchten Stellen abzusuchen.

Plötzlich waren draußen schwere Schritte zu hören – ich fuhr zusammen. Gleich hagelte es neue Schläge. Bitte, lieber Gott, hilf mir!

Rasch näherten sich die Schritte der Tür, der Schlüssel drehte sich.

Dann blendete mich eine Flut von Licht, und ich senkte meinen Blick, um überhaupt noch irgendetwas sehen zu können. Zwei Paar riesige Stiefel kamen auf mich zu.

»Das Judenschwein hat sich bekotzt!«, polterte eine Stimme, die mir bekannt vorkam. »Pfui Teufel!«

Ich spürte einen heftigen Tritt in der Seite: »Hey, du Sau, lebst du noch?«

»Du siehst doch, dass sie noch lebt. Hat ja die Augen auf.«

»Das will nichts heißen. Haben sie auch, wenn sie eingegangen sind.«

»Aber die hier bewegt sich noch, guck doch mal!«

Ein weiterer Tritt in meine Rippen und das Zucken, das er auslöste, bewiesen dem SS-Mann, dass er recht hatte.

»Von mir aus. Aber mitnehmen können wir sie so nicht! Die stinkt uns oben alles voll.«

»Dann bleibt nur eins: Wir verpassen ihr eine Dusche!« Hämisches Lachen folgte. Ich schloss die Augen, hörte, wie sich zwei Stiefel rasch entfernten, während die beiden anderen gelangweilt im Zimmer auf und ab traten.

Dann war der zweite Mann wieder zurück.

»Hier hast du deine Ladung«, rief er und im nächsten Augenblick wurde ich klatschnass – er hatte einen Eimer Wasser auf mich geschüttet.

Wie tat … das gut! Nein, foltern konnten sie mich damit nicht, im Gegenteil: Das Wasser war die reine Wohltat für mich! Dass ich nach Luft ringen musste, störte mich dabei nicht im Geringsten, und wenn ich ertrunken wäre, so hätten sie mir bloß einen Gefallen getan. Hastig schluckte ich runter, was in meinen Mund gelangt war, immer in der Angst, sie könnten es mir wieder wegnehmen. Ich musste würgen und fing erneut an, mich zu übergeben.

»Die Sau, die kotzt schon wieder«, rief der mit dem Eimer. »Widerlich, das Judenbiest! Soll ich ihr noch eins verpassen?«

»Nein, das gefällt dieser Kreatur am Ende noch«, sagte der andere. »Lassen wir sie liegen. So wollen die sie oben nicht haben, und wer weiß … vielleicht ist sie ja bald von selbst verreckt.«

Beide lachten sie laut, versetzten mir jeder noch einen kräftigen Tritt und gingen hinaus.

Die Tür fiel ins Schloss und es wurde wieder dunkel.

Da hatte ich also noch einen kleinen Aufschub!

Doch was hieß das schon? Es konnte für mich nur noch schlimmer kommen. Ich haderte mit mir: Warum nur hatte ich den Mund nicht aufbekommen? Ich hätte sie doch leicht dazu bringen können, mich zu töten! Eine kleine Beleidigung, ein Schuss von ihnen, und es wäre vorbei gewesen. Warum nur war ich so ein erbärmliches Häufchen Mensch, das nach ein paar Wassertropfen mehr lechzte als nach dem Tod? Ich verfluchte mein jämmerliches Dasein. Nun würde es wieder dauern, bis die nächste Gelegenheit kam. Gebannt stierte ich auf die Tür, hoffte und betete irgendwann, dass sie bald wiederkämen, dass sie die Beherrschung verlören und endlich die Pistole zögen.

Doch hörte ich nicht das leiseste Geräusch. Hinter dieser Tür war die Hoffnung, die Erlösung, die für mich nur Tod heißen konnte.

Doch mit den Minuten, die vergingen, begann allmählich das Leben wieder an mir zu zerren. Ich spürte die Kälte, die an mir hoch kroch – die nassen Kleider lagen schwer auf mir. Und dann meldete sich auch der Durst zurück, wobei ich gegen den jetzt ein einfaches Mittel hatte: Ich sog einfach an meinem nassen Ärmel – das Kettengerassel war mir egal – , und als der nichts mehr hergab, zog ich mein nasses Hemd zum Mund.

Plötzlich sah ich das Gesicht meines kleinen Bruders, hatte das Gefühl sein Gewicht auf meinem Arm zu spüren … Rolfi war dreizehn Jahre jünger als ich, und ich hatte ihn oft mit der Flasche gefüttert. Wie gierig der niedliche kleine Kerl immer daran gesogen hatte, genauso gierig wie ich jetzt. Manchmal hatte ich die Flasche zurückgezogen, doch war er ihr mit dem ganzen Kopf gefolgt und hatte sie nicht hergegeben. Gemein war das von mir gewesen. Noch genau erinnerte ich mich an den Tag, als ich den Kleinen das letzte Mal gesehen hatte.

Es war der 27. August 1942. Rolfi war sechs Jahre alt. Ich war zu einem Kurzurlaub nach Hause gekommen. Das war nur deshalb möglich, weil ich gut bei unserer Lagerführerin dastand und mich sogar mit ihr angefreundet hatte. Sie war eine von denen, die noch Mensch geblieben waren. Als meine Familie zum Bahnhof musste, wollte Mama nicht, dass ich dabei war. Einen Tag vor dem Abtransport schickte sie mich zurück nach Berlin. Schon da hatte ich Angst, dass ich sie niemals wiedersehen würde.

Aber vielleicht lebten sie ja noch? Nein, Unsinn, das konnte nicht sein. Ich wusste inzwischen doch, wohin man sie gebracht hatte. Theresienstadt war nur die Durchgangsstation.

Hoffentlich nur hatten sie nicht leiden müssen. Schon damals hatte ich geahnt, was auf sie zukam. Heute wusste ich es. Auch Juden haben ihre Quellen. Der Kleine konnte manchmal so schreckliche Angst haben. Ich selbst hatte ihn einmal mit einem weißen Laken über dem Kopf aus dem Schlaf gerissen, um ihn zu erschrecken. Das würde mir für alle Zeiten leidtun. Mama hatte mich fürchterlich geschimpft, und das war richtig so gewesen. Warum auch hatte ich mich vor meiner Freundin so aufführen müssen, nur um ihr zu imponieren? Der dumme Einfall war nicht von ihr, sondern von mir gekommen. Ich war zu diesem Zeitpunkt fast fünfzehn Jahre alt gewesen, und da sollte man anderes im Kopf haben, als aus purer Langeweile kleine Kinder zu ärgern.

Jetzt würde ich meine Schuld wahrscheinlich niemals wiedergutmachen können, und vielleicht hatte ich es deshalb gerade auch verdient, hier in diesem dunklen Keller meinem Ende entgegenzuvegetieren. Vielleicht konnte ich Rolfi mit meinem Leiden ein bisschen was abnehmen, redete ich mir ein, und wenn, dann war es doch gar nicht schlecht, wenn das so viel wie möglich war und ich hier unten mit meinen zerschlagenen Knochen liegen musste und auf den Tod wartete. Vielleicht war wenigstens der Kleine noch am Leben, und wenn das so war, würde er dann vielleicht sogar geschont und das Schicksal war ihm am Ende doch noch gnädig.

Ich helfe dir, kleiner süßer Bruder, und wenn wir uns wiedersehen, werde ich dich niemals wieder ärgern!

In meiner Einbildung bekam das alles hier plötzlich Sinn, und ich war tatsächlich ein wenig dankbar für die Qualen, die sie mir bereitet hatten, und für all das, was sie mir noch antun würden. Ich blieb ganz ruhig, als ich draußen erneut ihre Schritte hörte. Sollten sie doch mit mir machen, was sie wollten, wenn nur der kleine Rolf nicht litt. Jeder einzelne meiner Schmerzen war für etwas gut, denn er würde meinem kleinen Bruder helfen, zu überleben, das stand für mich nun felsenfest! Wenn ich die Augen schloss, sah ich ihn vor mir, wie er dalag in seinem kleinen Bett und ich ihm sein Lieblingsmärchen erzählte. Immer wieder wollte er die Geschichte vom kleinen Muck hören, Abend für Abend, und damit mir nicht langweilig wurde, erzählte ich sie jedes Mal ein wenig anders. Das Märchenbuch, das Oma uns geschenkt hatte, verlor schon seine Seiten, aber das machte nichts, denn ich brauchte es nicht mehr, um vom kleinen Muck zu erzählen.

Die Tür ging auf und ein riesiger SS-Mann kam hinein. Ob es wieder der war, der mich hergebracht hatte? Ich wusste es nicht, denn ich nahm durch meine zugeschwollenen Augen nur seinen Schatten wahr. Außerdem sahen sie für mich alle gleich aus. Die einen waren klein und gemein, die anderen groß und brutal. Die einen hielten fest, die anderen schlugen zu.

»Genug herumgelegen, du Missgeburt«, herrschte der Riese mich an. Es war der von eben … dieselbe Stimme.

Ganz anders, als ich es mir vorhin noch vorgenommen hatte, sparte ich mir eine Antwort. Es war gut, wenn ich litt, das war die neue Erkenntnis, auf die mich mein Gehirn eingestellt hatte, und danach würde ich mich nun verhalten.

Der Bulle packte mich am Arm und zog mich auf die Beine. Ich schrie vor Schmerz. Irgendwas stimmte mit meinem rechten Fuß nicht, vielleicht hatten sie mir mit ihren schweren Stiefeln den Knöchel zertreten.

»Willst du wohl das Maul halten!« Der Goliath brüllte und verpasste mir eine Ohrfeige.