Jetzt erst recht! - Christoph Kloft - E-Book

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Christoph Kloft

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Beschreibung

Der aus dem Westerwalddorf Ruppach stammende Pallottinerpater Richard Henkes wurde am 8. April 1943 wegen einer Predigt von der Gestapo verhaftet und nach mehreren Wochen im Gefängnis in das KZ Dachau gebracht. Er musste dort wie alle anderen unter menschenunwürdigen Bedingungen Zwangsarbeit leisten. Richard Henkes blieb stark im Glauben und bewahrte sich die Menschlichkeit: Seine Lebensmittelpakete teilte er mit anderen, er sprach den Mitgefangenen Mut zu, predigte und lernte Tschechisch, weil er nach dem Krieg als Seelsorger im Osten bleiben wollte. Als Ende 1944 im KZ die zweite Typhusepidemie ausbrach, ließ er sich bei den Kranken von Block 17 einschließen. Nach einigen Wochen der Pflegearbeit und der Seelsorge infizierte er sich. Am 22. Februar 1945, drei Monate vor seinem 45. Geburtstag und wenige Wochen vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges, starb er an Typhus.

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© 2019 RHEIN-MOSEL-VERLAG Zell/Mosel Brandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel Tel 06542/5151 Fax 06542/61158 Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-89801-880-7 Ausstattung: Stefanie Thur Fotos Titelcollage: Briefe: Free-Photos/pixabay.com Wachturm Dachau: lapping/pixabay.com Richard Henkes: Pallottiner (pater-richard-henkes.de)

Christoph Kloft

Jetzt erst recht!

Pater Richard Henkes – Ein Leben für die Menschlichkeit

Brief-Roman

Rhein-Mosel-Verlag

Für die Unterstützung bedanke ich mich herzlich bei:

Gerold Sprenger, Leiter der »Arbeitsgemeinschaft Seligsprechung Pater Henkes« und ehemaliger Ortsbürgermeister von Ruppach-Goldhausen

Schönstattpater Vinzenz Henkes, Neffe von Pater Richard Henkes

Pater Alexander Holzbach SAC

Klaus Henkes, Großneffe von Pater Richard Henkes und ehemaliger Ortsbürgermeister von Ruppach-Goldhausen

Pfarrer Peter Hofacker, Bezirksdekan für den Westerwald

Mein besonderer Dank gilt Prof. em. P. Dr. Manfred Probst SAC, Vizepostulator der Causa Henkes, für die vielfältigen Hintergrundinformationen und das geduldige Beantworten meiner Fragen.

Hinführung

Am 8. April 1943 wird der aus dem Westerwalddorf Ruppach stammende Pallottinerpater Richard Henkes wegen einer Predigt von der Gestapo verhaftet und nach mehreren Wochen im Gefängnis in das KZ Dachau gebracht. Er muss dort wie alle anderen unter menschenunwürdigen Bedingungen Zwangsarbeit leisten. Richard Henkes bleibt stark im Glauben und bewahrt sich die Menschlichkeit: Seine Lebensmittelpakete teilt er mit anderen, er spricht den Mitgefangenen Mut zu, predigt und lernt Tschechisch, weil er nach dem Krieg als Seelsorger im Osten bleiben will. Als Ende 1944 im KZ die zweite Typhusepidemie ausbricht, lässt er sich bei den Kranken von Block 17 einschließen. Nach einigen Wochen der Pflegearbeit und der Seelsorge infiziert er sich. Am 22. Februar 1945 stirbt er an Typhus.

Das vorliegende Buch über Pater Richard Henkes ist als Briefroman verfasst, also eine Sammlung fiktiver Briefe, die in ihrer Summe die Handlung und das Leben dieses aufrechten Westerwälders wiedergeben. Berühmt wurde die Gattung des Briefromanes spätestens durch Goethes »Leiden des jungen Werther«, eine heutige Sonderform ist der E-Mail-Roman. Im Buch »Jetzt erst recht!« wird der klassische Ansatz gewählt: Es handelt sich um fiktive Briefe einer Person, die im Leben des Pater Henkes tatsächlich vorgekommen ist.

Sein geradliniges Wesen zeigte sich nämlich nicht erst in der Nazi-Diktatur, denn er eckte damit auch früher bereits hin und wieder an, wenn natürlich auch bei Weitem nicht in dem Ausmaß wie später. Der unkonventionelle Umgang mit den Menschen zeichnete den Pater ein Leben lang aus, und wenn ihm hier Grenzen gesetzt waren, dann suchte er sie zu überwinden. Ende der zwanziger Jahre führte er eine Korrespondenz mit einem bis heute unbekannten »Fräulein aus Ahrweiler«. Eine solche Beziehung war vom Orden seinerzeit nicht erlaubt, selbst wenn sie noch so harmlos war, so dass Pater Henkes, der nicht von dem Briefwechsel lassen wollte, schließlich eine kanonische Ermahnung ausgesprochen wurde.

Aus Sicht dieses »Fräuleins aus Ahrweiler« ist der Roman verfasst, und hier mischt sich nun Realität mit Fiktion: Die Dame hat gehört, dass Pater Henkes von den Nazis verhaftet wurde und macht sich – ob berechtigt oder unberechtigt, sei dahingestellt – große Vorwürfe. Ohne sie und die verbotenen Briefe von einst hätte der Pater keine Ermahnung erhalten, und, so glaubt sie, er wäre dann nicht in den Osten versetzt worden und vielleicht nie in seine aktuelle Lage gekommen.

Sie holt Erkundigungen ein, und es gelingt ihr, in Kontakt mit der Schwester des Inhaftierten zu kommen.

Die Dame aus Ahrweiler teilt ihr Wissen mit einer Freundin aus Montabaur, die den Pater ebenfalls verehrt und wegen der Nähe zu seinem Heimatort Ruppach bei den Nachforschungen behilflich ist.

Für die Schreiberin war Richard Henkes ein väterlicher Freund, Berater und Seelsorger, der ihr in einer schwierigen Zeit zur Seite stand. In den Briefen an ihre Freundin gibt sie nicht nur ihre Sorgen und den jeweiligen Stand der Dinge, sondern auch die fiktiven Gespräche mit dem Pater wieder. Sie reflektiert ferner die Briefe des Inhaftierten, die er tatsächlich an seine Vertrauten und Verwandten geschrieben hat und von deren Inhalt sie im Roman durch Richard Henkes’ Schwester Regina erfährt.

Puzzleartig fügen sich so die Ereignisse vor und nach der Inhaftierung, aber auch Stationen seines vorherigen Lebens zusammen. Notgedrungen wird durch die Briefform und die Angst vor Entdeckung die ein oder andere Information gefiltert, doch bieten auf der anderen Seite erst die Subjektivität der Briefe und die damit verbundene Nähe zu ihrer Verfasserin wiederum die Möglichkeit einer besonderen persönlichen Nähe zu Pater Richard Henkes.

12. Mai 1943

Liebe Anna,

dein Brief beunruhigt mich zutiefst. Es ist also wahr? Pater Henkes ist verhaftet worden? Dann hat diese flüchtige Bekanntschaft, die ich zufällig in der Stadt getroffen habe, also nicht gelogen? Und ich hatte so gehofft, sie wollte sich mit ihrem Wissen nur hervortun. Was soll dieser aufrechte Mensch schon getan haben? Aber nein, du weißt es von einem, der wieder einen kennt, der in Verbindung steht mit der Familie in Ruppach. Verzeih mir, aber das ist mir alles etwas zu vage. Kann es vielleicht doch sein, dass diese Informationen nicht richtig sind? Ich hoffe es so sehr, ja, ich bete, dass das Ganze nur ein falsches Gerücht ist. Weißt du, die es mir erzählt hat, machte keinen besonders glaubwürdigen Eindruck. Und wenn die Verwandten, die sie in eurer Gegend hat, genauso sind, so hatte ich bis eben zumindest gehofft, wird schon nichts dran sein an ihrem Bericht. Aber nun gibst du mir eben genau die gleiche Antwort, und deine Quelle scheint viel zuverlässiger zu sein. Die Gedanken fahren in meinem Kopf Karussell, was kann ich bloß tun? Kannst du vielleicht mehr in Erfahrung bringen?

Gewiss, es gibt bei dir natürlich keine Veranlassung, direkt an die Familie heranzutreten. Das ist verständlich, denn du hast den Pater niemals persönlich kennengelernt. Bei mir dagegen ist der Fall anders gelagert. Du weißt, dass der Pater und ich einst ein freundschaftliches Verhältnis pflegten und ich habe dir schon einmal angedeutet, welche Probleme sich für ihn daraus ergeben haben. Nun möchte ich diese alte Geschichte nicht wieder aufwärmen, sie wühlt mich gerade in Verbindung mit dem, was ich gehört habe, zu sehr auf. Und dir, meiner lieben Freundin, habe ich vor vielen Jahren ja schon einmal in Ansätzen davon erzählt. Du erinnerst dich, es geht um diese unsäglichen Briefe. Diese alte und im Grunde so harmlose Geschichte ist es, die mich heute umtreibt und wegen der ich unbedingt wissen muss, dass es dem Pater gut geht. Niemals würde ich mir verzeihen, wenn ihm letztlich durch mich ein Leid zugefügt würde. Hätte er damals nicht mit mir korrespondiert, so wäre er letztlich nicht dorthin gekommen, wo er dann in solche Schwierigkeiten geraten ist. Dieser Gedanke lässt mich nicht los, deshalb muss ich unbedingt erfahren, was mit ihm ist. Verstehe deshalb, dass ich beabsichtige, mich an seine Familie zu wenden. Vielleicht erfahre ich dort etwas. Du hast von einer Schwester erzählt, die ein äußerst gutes Verhältnis zu dem großen Bruder pflegen soll. Ihr ist ja auch die Information zu verdanken, die über Mittelsmänner und dich dann letztlich mich hier im fernen Ahrweiler erreicht hat. Es ist mir nun gelungen, die Anschrift dieser Schwester herauszufinden, und deshalb möchte ich mir einfach ein Herz fassen und sie direkt fragen, wie es um ihren Bruder steht. Ich habe auch bereits einen Text aufgesetzt, nur bin ich mir noch unsicher, ob ich ihn so auf die Reise schicken kann. Ich lege ihn diesem Brief bei, würdest du ihn einmal lesen und mir möglichst bald Bescheid geben, ob er so gut ist und nichts enthält, das die Familie verletzen könnte? Ich danke dir ganz herzlich dafür und warte freudig auf deine hoffentlich positive Nachricht!

Werte Frau Kremer,

vielen Dank, dass Sie sich dieses Briefes annehmen, selbst wenn Ihnen der Name der Absenderin unbekannt ist. Auch sind wir uns weder schon einmal begegnet, noch standen wir jemals in brieflicher Korrespondenz. Dennoch habe ich ein Anliegen an Sie, das mir sehr am Herzen liegt. Es geht um Ihren Bruder, den Pater Richard Henkes, nach dem ich mich freundlichst erkundigen möchte. Sie müssen wissen, dass wir vor Jahren eine sehr gute Freundschaft zueinander unterhielten und wir auch danach noch lange eine briefliche Korrespondenz pflegten, die leider irgendwann abgebrochen ist. Letzteres habe ich immer sehr bedauert, zumal uns die gemeinsame Zeit einander sehr nahegebracht hat. Doch das Leben spielt leider Gottes manchmal so. Nun dürfen Sie nicht den Eindruck haben, als sei unser Verhältnis anders als eines rein platonischer Natur gewesen. Dafür war ihr Bruder damals bereits Priester und es wäre uns niemals eingefallen, uns auf anderer Ebene zu unterhalten als eben nur auf der rein geistigen. Aber diese Ebene war dafür eine um so intensivere. Ich habe Ihren Bruder stets geschätzt für seine aufrechte Art, seine Geradlinigkeit, sein Vermögen, komplizierte Dinge gleich zu erfassen und einfach wiederzugeben. Mehr als einmal hat er mir, dem jungen, unbedarften Mädchen einen guten Ratschlag erteilt, den ich gerne mit ins Leben genommen habe. Und nun höre ich von Bekannten aus dem Westerwald, die es wieder von Freunden aus Ihrer Gemeinde wissen, dass man Ihren Bruder verhaftet und fortgebracht hat. Sicher darf ich mir nicht anmaßen, Ihre Sorge um ihn zu teilen, aber erlauben Sie mir, Ihnen mitzuteilen, dass ich in meinem Gedanken nicht mehr loskomme von ihm und seinem Schicksal. Bitte – würden Sie mir mitteilen, was mit ihm geschehen ist und vor allem, wie es ihm geht? In Zeiten wie diesen kann ja bereits ein einziges Wort dazu führen, dass wir unseres Lebens nicht mehr froh werden und so, wie ich Ihren Bruder in Erinnerung habe, wird er auch jetzt nicht davor zurückgescheut sein, Dinge zu sagen, die andere einfach nicht hören wollen.

Ich bitte nochmals um Entschuldigung, dass ich mich so direkt und frei heraus an Sie wende, aber es würde mir eine große Sorge nehmen, wenn Sie mich über das einigermaßen Wohlergehen und vor allem den guten Gesundheitszustand Ihres Bruders unterrichteten.

19. Mai 1943

Liebe Anna,

vielen Dank für deine ehrlichen Zeilen. Und wie rasch sie bei mir waren! Aber das hatte ja seinen Grund, denn da hätte ich doch fast einen Bock geschossen! Danke, dass du mich davor bewahrt hast! In welche Bedrängnis hätte ich die arme Frau mit meinem Brief gebracht! Ich habe wirklich nicht daran gedacht, was daraus erwachsen könnte, nicht in Betracht gezogen, dass der Familie ja jederzeit die Sippenhaft droht. In welcher Angst sie leben müssen! Sie würden ja schon aus reiner Vorsicht nicht antworten, wenn ihnen ein so naives Schreiben wie das meine ins Haus flatterte. Du hast vollkommen Recht! Wie dumm ich doch bin!

Natürlich werde ich jetzt deine Ratschläge befolgen und so in Rätseln schreiben, wie du es mir angedeutet hast. Ich werde mich nach einem Nachbarn erkundigen, der uns vor vielen Jahren hier in Ahrweiler besucht hat. Du meinst ja, bei diesem Ort müsste ihr eigentlich ein Licht aufgehen. Und die damalige Krankheit des Paters werde ich auch noch unterbringen, auch wenn ich sie einer anderen Person zuschreibe. Vielleicht noch die ein oder andere Andeutung, die nur meine Adressatin versteht, da fällt mir schon was ein.

Nachdem du mir nun mit Fug und Recht einen gehörigen Rüffel erteilt hast, bin ich dir noch die Antwort schuldig auf die Frage, die du mir im zweiten Teil deines Schreibens stellst. Warum ich denn eigentlich meinem Mann den Brief nicht zu lesen gebe, dann hätte ich mir doch den Umweg über dich und Montabaur sparen können, merkst du verständlicherweise an. Er hätte doch sicherlich auch gewusst, dass ich so nicht vorgehen kann. Wenn du das schon einmal so schreibst, muss ich dir auf deine offene Frage leider eine ebenso offene Antwort geben: Zwischen uns gibt es in solchen Angelegenheiten kein Vertrauen, denn leider ist mein werter Gatte einer von denen geworden! Du glaubst nicht, wie schwer es mir fällt, dir dies zuzugeben, aber es ist leider so. Wir beide haben uns ja lange nicht mehr gesehen, deshalb sah ich keine Veranlassung, dich über die Gesinnung meines Mannes zu informieren, zumal ich ja nicht gerade stolz darauf bin.

Doch jetzt, wo du danach fragst, kann ich mit der Wahrheit nicht mehr hinter dem Berg halten. Gab er anfangs noch an, dass es bestimmte Sachzwänge seien, die ihm keine andere Wahl ließen, so ist er jetzt ein glühender Verehrer derer da oben, wie man so sagt. Wir sparen das Thema aus, unsere Ehe ist entsprechend. Mehr kann, mehr möchte ich nicht dazu sagen. Höchstens das eine noch, denn das fällt mir in diesem Moment als Entschuldigung für mein unbedachtes Schreiben in den Westerwald ein: Vielleicht liegt es an der Stellung meines Gatten, dass ich in diesen Dingen so unbedarft bin, denn wir sind ja alles andere als verdächtig und haben noch keine Einschränkungen erfahren. Eine Dummheit bleibt mein Vorhaben aber trotzdem, zum Glück hast du mich davon abgehalten!

Jedenfalls weißt du jetzt Bescheid über meine Situation. Eine Situation, an der ich selbst schuld bin, denn ich habe mich einst selbst und gegen den Willen derer, die mir gut wollten, dafür entschieden. Aber lassen wir es dabei, ich merke schon, wie mir die Tränen kommen!

Zumindest habe ich dich jetzt über die Gesinnung meines Ehemannes aufgeklärt, und da bitte ich dich um eines: Verfalle deshalb nicht in irgendeine Form von Zurückhaltung mir gegenüber, denn ich verspreche dir hiermit hoch und heilig, dass ER deine Nachrichten niemals zu Gesicht bekommen wird!

Ich melde mich, wenn ich Antwort habe aus dem Westerwald, darauf kannst du dich verlassen, denn ich bin ja froh, wenn ich meine Gedanken und Sorgen mit dir teilen darf.

10. Juni 1943

Liebe Anna,

sie hat geschrieben, sie hat mir wirklich geschrieben! Du glaubst nicht, welche Freude sie mir damit gemacht hat. Viel ist es nicht, aber sie lässt mich wissen, dass sie verstanden hat, worum es mir geht, und ich glaube auch herauszuhören, dass sie meinem Ansinnen gegenüber nicht ganz ablehnend eingestellt ist. Unsere Korrespondenz muss allerdings ab jetzt über einen Dritten laufen. Wie ich es verstanden habe, wird meine Post ihr dann gleich weitergereicht und sie schickt mir dann über diese Person gegebenenfalls ihre Antwort zurück.

Da ich ja nun sicher sein kann, dass ich kein Blatt mehr vor den Mund nehmen muss, habe ich gleich wieder einen Brief aufgesetzt und auch bereits abgeschickt. Meine Ungeduld ließ es nicht zu, dir das Schreiben vorher zu übermitteln, es wird schon richtig gewesen sein. Aus der Erinnerung heraus schreibe ich aber gerne noch einmal auf, was ich Frau Kremer ungefähr mitgeteilt habe.

Werte Frau Kremer,

ich wende mich heute mit einem Anliegen an Sie, das mir eine Herzensangelegenheit ist. Dabei kann ich ja gut verstehen, dass Ihnen der Brief einer wildfremden Frau zu denken gibt, und ich schätze mich schon glücklich, dass Sie mir überhaupt die Gelegenheit geben, mit Ihnen in Kontakt zu treten. Bitte seien Sie deshalb versichert, dass ich keine falschen Absichten dabei hege, wenn ich mich nach dem Befinden Ihres Bruders erkundige. Es liegt mir fern, Ihnen oder ihm zu schaden, ganz im Gegenteil: Mich treiben die sorgenvollen Gedanken an ihn um, zumal wir uns einst unter unglücklichen Umständen aus den Augen verloren haben. Wenn Sie anhand meines Wohnortes erraten, dass wir uns in einer Zeit begegnet sind, in der es Ihrem Bruder gesundheitlich nicht sonderlich gut ging, so liegen Sie natürlich richtig damit. Er war damals im Krankenhaus hier bei uns in Ahrweiler, das ist jetzt fast fünfzehn Jahre her. Gerne werde ich Ihnen mehr darüber erzählen, wenn es Sie denn interessiert, doch darf ich an dieser Stelle schon vorweg schicken, dass ich Ihren Bruder als einen äußerst freundlichen, klugen und immer hilfsbereiten Menschen kennengelernt habe. Er war mir Freund, Lehrer und Beichtvater zugleich, ein Mensch, der in seiner Offenheit und Lebensfreude einzigartig war und vor allem erfüllt von einem bewundernswerten Glauben. Sein festes Vertrauen in Gott war es, das mir damals gefehlt hat, doch kann ich heute sagen, dass ich es durch die Begegnung mit ihm wiedergefunden habe und dafür werde ich ihm ein Leben lang dankbar sein. Wenn man in einer so entscheidenden Phase des Lebens auf einen solchen Menschen trifft, und nicht nur das, sondern dieser auch alle Kraft daran setzt, das verlorene Schaf wieder auf den rechten Weg zurück zu führen, dann wird man ihn niemals wieder vergessen können, da geben Sie mir bestimmt recht. Verzeihen Sie meine Offenheit, aber ich kann mir ja denken, dass es bei Ihnen in dieser Zeit viel Misstrauen einer Fremden gegenüber gibt, die sich einfach so und aus heiterem Himmel bei Ihnen meldet. Fürs Erste sei Ihnen mein herzlicher Dank übermittelt für das Lesen meiner Zeilen und ich schließe die Hoffnung an, nunmehr doch vielleicht bald eine Auskunft über Ihren Bruder von Ihnen zu erhalten. Auf meine Verschwiegenheit können Sie sich dabei ganz fest verlassen! Wenn Sie sich aber dazu entschließen sollten, den weiteren Kontakt mit mir abzulehnen, so darf ich Ihnen zumindest meine besten Wünsche in den fernen Westerwald senden und meiner Hochachtung für Sie und Ihre Verwandten Ausdruck geben. Wenn jemand so gefestigt ist in seiner Person wie Ihr Bruder, so ist das sicher auch auf seine Familie zurückzuführen, und deshalb – die Freiheit nehme ich mir einmal – bitte ich Sie: Empfinden Sie das, was Ihrem lieben Verwandten widerfahren ist, nicht als Schmach, denn eine solche ist es keineswegs. Sie können vielmehr stolz sein auf ihn, der er sich mit geradem Rücken gegen die gestellt hat, die alles, was uns lieb und teuer ist, zunichte machen wollen.

19. Juni 1943

Liebe Anna,

du glaubst es nicht, sie hat schon geantwortet! Offenbar hält sie mich für vertrauenswürdig genug, um mir zu schreiben. Dann werde ich doch wohl nicht alles falsch gemacht haben. Leider nur gibt der Inhalt ihres Briefes allen Grund zur Sorge. Stell dir vor, es ist wahr: Sie haben den guten Pater tatsächlich verhaftet und ins Gefängnis gesteckt! Unerhört ist das! Was ist das für eine Zeit, in der man nicht einmal davor zurückschreckt, Geistliche einzusperren! Ich kann es mir gut vorstellen, wie er da aufrecht und mutig auf seiner Kanzel stand und gepredigt hat. Ehrlich und mit ein wenig Stolz schreibt mir meine Absenderin vom Mut ihres Bruders: Auch wenn er wusste, dass da Leute unter den Kirchenbesuchern waren, die ihm alles andere als gut wollten, gab es für ihn nur eines – die Wahrheit!

Ich kenne das Auftreten des Paters aus vergangenen Zeiten und ich weiß, dass er zu denen gehört, die kein Blatt vor den Mund nehmen. Ich vermag mir genau das Bild auszumalen, wie er da vor der Menge der Kirchenbesucher steht, wie er ohne Furcht und mit allem Nachdruck seinen und den Standpunkt der Kirche verteidigt und unseren Oberen seine Verachtung entgegenschleudert! Was für ein mutiger Mann! Einmal, so schreibt mir meine Quelle, wie ich sie fortan nennen will, hat er beim Predigen sogar die Kanzel verlassen, sein Manuskript weitergereicht und dabei auf einen gezeigt, der ganz fleißig mitgeschrieben hat, einen Spion also, der die Notizen dann an entsprechender Stelle zum Nachteile des Pfarrers einsetzen wollte. »Hier. Geben Sie es dem Herrn dort. Dann braucht er nicht mitzuschreiben!«, hat er dabei gesagt – das ist wahrhaftig eines Pater Henkes würdig! Und dann kam diese eine Predigt, die letztlich den Ausschlag gegeben haben soll, und danach nahmen die unseligen Dinge ihren Lauf. Nicht wahr, was ich dir hier weitergebe … du behältst es für dich? Ich wurde zur Verschwiegenheit verpflichtet, und ich habe dieses Versprechen auch gerne gegeben. Aber bei dir ist es – denke ich – etwas anderes. Du bist keine, die ihr und mir falsch spielt. Und sie hat mich inständigst gebeten, den Brief nur ja niemandem zu zeigen – und genau dies tue ich auch nicht. Mit einer Seelenverwandten wie dir aber darf ich den Inhalt teilen, zumal ich – schon um mein Gewissen zu beruhigen – dafür sorgen werde, dass er keinem anderen in die Hände fällt, und du weißt inzwischen, wen ich da an allererster Stelle meine! Der Brief, er existiert nicht mehr, denn er ist ins Feuer gewandert, und so wird es allen nachfolgenden Schreiben ebenfalls ergehen.

Die Quelle berichtet, dass nur wenige Nachrichten von Ihrem Bruder zu ihr dringen. Die Arme, welche Sorgen wird sie sich machen! Ob es ihm einigermaßen gut geht? Ob man ihn wenigstens seines Standes würdig behandelt? Es will mir das Herz brechen, wenn ich mir ihre Zeilen in Erinnerung rufe. Ich kann sie auswendig, sicher hundert Mal habe ich den Brief gelesen. Was hat der Pater schon Schlimmes getan außer die Wahrheit zu sagen? Aber das ist heute schon gerade schlimm genug!

Ich habe bereits geantwortet, habe sie gebeten, mich auf dem neuesten Stand zu halten. Sie müsse sich auch keine Sorge machen, dass nur etwas von dem, was Sie mir weitergibt, an die falschen Leute gerät. Ich werde Ihren Brief ganz gewiss niemandem zeigen, das habe ich ihr felsenfest versprochen, und wenn ich dir, meiner lieben Freundin, hier den Inhalt wiedergebe, so ist das ja etwas anderes.

Ich habe ihr versichert, dass mit mir eine Freundin zu ihr spricht, die mit großer Sorge auf das Schicksal ihres Verwandten und meines väterlichen Freundes blickt. Ja, ich darf ihn tatsächlich als solchen bezeichnen, denn obwohl er nur ein paar Jahre älter ist als ich, war er mir doch damals schon an Weisheit weit überlegen.

Natürlich habe ich einige Fragen angeschlossen, die mir auf der Seele brennen: Was wird nun mit dem guten Pater geschehen? Besteht denn eigentlich die Möglichkeit, dass er einfach so und ohne Folgen für ihn wieder in Freiheit gelangt? Oder ist diese Möglichkeit nur meinem naiven und hoffenden Geiste geschuldet? Sie schreibt, dass der gute Pater auf eine Entscheidung aus Berlin wartet … Für ihn mache es in dieser Situation nur noch Sinn, so muss er geschrieben haben, sich radikal dem Herrgott zu überantworten.

Wann mit einer Entscheidung zu rechnen ist? Sie kann es mir nicht sagen. Furchtbar, diese quälende Ungewissheit! Sie muss einen Menschen doch zermürben!

Schließlich habe ich meine arme Absenderin noch richtig angefleht, mir alle – auch die negativsten – Nachrichten von unserem herzensguten Pater zukommen zu lassen. Ich werde diese verkraften, denn der Schmerz, den ich empfinde, kann dem ihren, die Sie dem Pater doch so viel näher steht, ja nicht im Ansatz nahe kommen.

31. Juni 1943

Liebe Anna,

sei mir nicht gram, weil ich in meinem letzten Brief an dich vielleicht nicht immer die richtigen Worte gefunden habe. Du schreibst, vor allem meine Äußerung, du würdest mir schon nicht falsch spielen, hat dich regelrecht empört, weil sie ja doch die Möglichkeit beinhalte, dass du genau dies tun könntest. Habe ich das wirklich so hart formuliert? Dann entschuldige bitte, es war wirklich nicht so gemeint. Ich war verwirrt, hin- und hergerissen zwischen meiner Zusage zur Verschwiegenheit und dem dann gewählten Weg, dich ins Vertrauen zu ziehen. Dieser Weg war richtig, dessen bin ich mir sicher, und um dir dies zu beweisen, will ich dir, meiner lieben Freundin, nicht nur sagen: Ja, sie hat wieder geschrieben!, sondern dir auch den Inhalt ihres Briefes wiedergeben.

Seine Vorgesetzten haben Pater Henkes vor zwei Jahren vor der Einberufung zur Wehrmacht schützen wollen und ihn deshalb in die Pfarrseelsorge genommen. Ein guter Schritt, wie ich meine. Ich kann mir denken, wie die Pfarrei von seinem Einsatz profitiert hat. Strandorf … ich musste mich erst kundig machen, wo dieser Ort liegt, bis ich herausfand, dass er zum Sudetenland gehört. Meine Quelle schreibt viel von dem segensreichen Wirken des Paters in seiner Gemeinde, und ich höre viel Stolz dabei heraus. Dass er sich an seiner neuen Wirkungsstätte gut bewährt hat, ist mir eine Selbstverständlichkeit. Ich kenne seinen Umgang mit den Menschen, seine offene Art, kann mir die Wärme vorstellen, mit der er den Leuten gerade jetzt, in diesen üblen Kriegszeiten, Zuspruch gegeben haben wird. Noch nie war er einer, dem die Vorschriften wichtig waren, dafür sind es aber immer die Menschen gewesen. Mir selbst hat er das in der Vergangenheit mehr als einmal bewiesen. Doch mag ich heute nicht darüber schreiben, zu tief sitzt der Schmerz über das, was ich in meiner jugendlichen Unwissenheit möglicherweise angerichtet habe. Gerne will ich in Zukunft einmal ausführlicher darüber berichten, nur gerade jetzt vermag ich es nicht. Wie lange wird es noch dauern, bis endlich eine Entscheidung getroffen ist? Ich bete, dass es die richtige ist, obwohl es die ja gar nicht sein kann, denn es war doch schon nicht richtig, ihn überhaupt in Haft zu nehmen. Ich habe meiner Absenderin geschrieben, dass ich – ihre Erlaubnis vorausgesetzt –, nun bei meinen eigenen Quellen Erkundigungen einziehen will. In äußerster Vorsicht natürlich, so dass es dem Pater nicht schadet. Damit habe ich natürlich dich gemeint, und wenn sie mir nichts Gegenteiliges schreibt, wäre damit der Zwiespalt, in dem ich mich befinde, auf eine gute Weise aufgehoben. Und dann ist mir noch etwas in den Sinn gekommen: Nun, da die Korrespondenz in Fluss gekommen ist, will ich dir treuen Seele immer gerne zusammenfassen, was mir aus deiner Nachbargemeinde geschickt wird. Den genauen Wortlaut aber darf ich für mich behalten, denn würde ich ihn wiedergeben, so wäre es ja eben so, als würde ich ihre Nachrichten doch gleich herzeigen. Sollte es also weitere Briefe geben, so lass mich ab jetzt nicht viel Aufhebens um ihre Herkunft machen, denn ich will die gute Seele doch nicht hintergehen. Außerdem herrscht zwischen dir und mir ja eine solche Seelenverwandtschaft, dass es sich bei uns sozusagen um eine Person handelt. Du merkst, welche Mühe ich mir gebe, mein Gewissen halbwegs zu beruhigen, doch habe ich meiner Quelle ja ein Versprechen gegeben, und du wirst meine Nöte gewiss verstehen. Um diese Gedanken abzurunden, halte ich dich deshalb mehr der Form halber zu äußerster Verschwiegenheit an, auch wenn ich weiß, dass dies nicht notwendig ist, denn bei dir wird ohnehin alles, was ich dir weitergebe, in den besten Händen sein. Du darfst mir deswegen wirklich nicht böse sein, denn du merkst ja, wie ich mich quäle.

Aber nun genug geredet von mir und meinem Gewissen. Du kennst mich ja, ich habe mir da schon immer mehr Gedanken gemacht, als vielleicht nötig wäre. Tag und Nacht überlege ich, wie dem Pater zu helfen ist. Es muss doch möglich sein, ihn da heraus zu bekommen, damit er wieder seinem Dienst für Gott und die Menschen nachgehen kann.

Ich bete für ihn und ich bete für seine Schwester und die ganze Familie! Es muss im übrigen eine wunderbare Familie sein, denn auch jetzt – in dieser Not – halten alle zusammen und tun alles in ihren Kräften Stehende, um dem lieben Angehörigen zu helfen. Gott wird wissen, warum sie dieses große Opfer auf sich nehmen müssen!

11. Juli 1943

Liebe Anna,

du hast Recht, wenn du schreibst, dass ich mich nicht so viel mit meiner eigenen Befindlichkeit beschäftigen soll, und willst wissen, was denn nun genau geschehen ist. Du hast auch ein zweites Mal Recht, denn ich habe dir in der ganzen Auseinandersetzung mit meinen Gewissensnöten Einzelheiten vorenthalten, die man unbedingt wissen muss, um sich ein Bild von der Lage zu machen, in der sich Pater Henkes befindet. Von der verfänglichen Predigt hatte ich dir geschrieben? Aber bitte behalte es für dich, wenn ich es dir hier erzähle. Ich weiß, dass ich mich da wiederhole, aber ich werde ja von meiner Quelle ebenfalls um Verschwiegenheit gebeten. Also, was der Pater bei einem Einkehrtag in der Branitzer Pfarrkirche – das ist irgendwo im Osten – gesagt haben soll, ist, dass man heutzutage keine intelligenten Menschen mehr brauche, sondern den Herdenmenschen, den willenlosen Hammel, den man am liebsten noch in die Uniform gesteckt hätte. Er soll von einem Offizier aus dem Rheinland erzählt haben, der sich ganz stark für die Belange der Kirche einsetzte. Allerdings wäre so eine Person heute die Ausnahme, denn die meisten Offiziere würden kein gutes Beispiel geben. Im Wortlaut weiß meine Quelle auch nicht, was er gesagt hat, dafür ist der Inhalt der Predigt über zu viele Ecken an sie weitergegeben worden. Jedenfalls hat der Pater wohl ordentlich auf unsere Oberen geschimpft. Das hat er früher schon gemacht, und es war ihm auch da egal, ob es ihm Ärger einbrachte. Ja, und nach dieser Predigt ist er dann verhaftet worden. Nicht direkt, aber kurz darauf. Das letzte Beisammensein mit seinen pallottinischen Mitbrüdern war am 8. April 1943, an dem er mit ihnen seinen Namenstag nachfeiern wollte, der am 3. April ist. Pater Henkes soll bei dieser Runde sehr ernst gewesen sein. Erst als sich seine Gäste verabschiedeten, klärte er sie auf über den Grund seines schlechten Befindens. »Morgen muss ich zur Gestapo«, soll er da gesagt haben. Er wisse nicht, ob sie ihn wieder laufen ließen. Er sollte am nächsten Tag noch einen Vortrag halten, aber er hat den Patern gesagt, dass er dann vielleicht nicht mehr da ist. Und wenn das dann so wäre, dann würde er auch nicht wiederkommen. Alle waren sie sehr bedrückt, wahrscheinlich haben sie ihm ihre guten Wünsche dagelassen und versucht, ihm gut zuzureden – dass es schon nicht so schlimm kommen wird und was man eben so sagt in Situationen, in denen die Hoffnung auf der Strecke bleiben will. Als seine Mitbrüder dann am nächsten Tag auf ihn warteten, wurde ihnen nur kurz mitgeteilt, dass der Pater, der den Vortrag halten sollte, verhindert sei. Mehr wurde nicht auf die Sache eingegangen, auch wenn alle noch so gespannt waren. Auch über die eigentliche Verhaftung ist wenig oder gar nichts bekannt. Man vermutet aber, dass sie ihm sehr zugesetzt hat, denn der Pater ist immer schon ein Gemütsmensch gewesen und Ungerechtigkeiten – gleich von welcher Seite – gingen ihm schon früher gehörig gegen den Strich.

Liebe Anna, mehr weiß ich dir für heute nicht zu berichten. Ich hoffe, du kannst die Wahrheiten ertragen, die ich dir in diesen Zeilen mitteile. Mir selbst wollen sie das Herz brechen. Ich denke an so viele wunderbare Gespräche mit dem Pater zurück, denke an seine klugen Ratschläge, die er mir seinerzeit gegeben hat. Es ist eine wahre Schande, wenn sie sich heute an einem so edlen Menschen vergreifen, der nichts, und zwar gar nichts anderes getan hat, als nur die Wahrheit zu sagen. Beten wir zum Herrgott, dass er ihm in dieser schweren Zeit beisteht, beten wir, dass das alles bald zu Ende ist.

Ich lasse von mir hören, wenn ich weitere Nachrichten erhalte. Vielleicht kannst du ebenfalls versuchen, das ein oder andere in Erfahrung zu bringen, du bist ja näher dran.

21. Juli 1943

Liebe Anna,

ich danke dir für deinen lieben Brief. Man redet bei euch über den Pater? Das ist gut. Natürlich muss dies meist hinter vorgehaltener Hand geschehen, das wäre bei solchen Angelegenheiten hier nicht anders. Und ich selbst kann ja schon im eigenen Haus nicht offen reden! Weißt du eigentlich, wie schwer es ist, sich mit dem, der dir doch am nächsten stehen sollte, nicht über das austauschen zu können, was dir im Moment am wichtigsten ist? Aber nein, ich will nicht klagen, andere haben ein viel schwereres Los zu ertragen.

Du schreibst, dass die Leute nicht viel wissen über den Pater, das kann ich mir denken. Ob du nicht einmal versuchen solltest, in direkten Kontakt mit der Familie zu treten? Du könntest ja sagen, dass du von mir kommst, mich kennen sie ja … wenigstens von den Briefen her.

Nein, ich selbst habe nichts mehr gehört, und gerade diese Unwissenheit ist es, die mich mehr quält, als würden die schlechtesten Nachrichten zu mir dringen. Obwohl, das ist natürlich nur so dahergesagt, denn die schlechteste Nachricht, die mag ich gar nicht hören, und dann ist es natürlich immer noch besser, gar nichts zu erfahren.

Wir hören wieder voneinander, meine Liebe, das müssen wir uns versprechen! Auch wenn wir nichts für ihn tun können, vielleicht spürt es der gute Pater in der Ferne doch, wenn so viele Menschen sich Gedanken um ihn machen.

Seit Wochen ist er alleine. Einzelhaft im Gestapogefängnis Ratibor. Seine Nerven sind bis aufs Äußerste strapaziert. Außer zweimal in der Woche kann er jeden Tag zur Heiligen Kommunion gehen, das gibt ihm Trost. Neuerdings darf er zur Arbeit wenigstens in eine andere Halle gehen, wo er sich unterhalten kann. Hier hat er viel Zeit zum Nachdenken, aber an seiner Einstellung ändert das nichts. Im Gegenteil. Er muss aufpassen, dass er nicht zu hassen beginnt. Er will versöhnen, hat immer die Nächstenliebe gepredigt, Hass ist da fehl am Platze.

Oft denkt er an die letzten Tage in Freiheit, einen seiner letzten Besuche in Strandorf. Am späten Abend klopfte er in seiner Unruhe bei lieben Bekannten im Ort an, sagte ihnen: »Ich muss morgen zur Gestapo, diesmal wird es aber ernst, ich ahne etwas Schlimmes.« Magenkrämpfe plagten ihn, der Angstschweiß stand auf seiner Stirne, die armen Leute waren so hilflos angesichts des Häuflein Elends, das er abgegeben haben muss.

Ob er sie zu sehr beunruhigt hat? Ob er dies nicht mit sich alleine hätte ausmachen müssen? Gewissensbisse plagen ihn. Er versucht sich abzulenken, denkt an die schöne Kinderzeit in Ruppach. Sie hatten zu Hause ein kleines Lebensmittelgeschäft. Er selbst war nur Krämersch Richard. Eines Tages schickte seine Mutter ihn mit Waren zu einer Nachbarin. Unterwegs stürzte er und schlug mit dem Kinn auf. Sofort merkte er, dass da noch mehr war – er hatte sich die Zunge abgebissen. Wie immer, so wussten seine Eltern auch jetzt, was zu tun war. Weil es in Ruppach keinen Arzt gab, brachten sie ihn gleich nach Montabaur. Dort nähte ein Arzt ihm das Stückchen Zunge wieder an, und es blieb zum Glück kein Schaden.