Sie werden dich töten - Berkan Arslan - E-Book

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Berkan Arslan

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Beschreibung

Der Sonderermittler Niklas Stahlberg überlebte die Kugel, die seinen Schädel durchschlug. Nach vier Monaten im Koma erfuhr er, dass seine Mörder auch seine Frau und seine kleine Tochter getötet hatten. In der schwierigsten Phase seines Lebens lernte er Kathrin kennen. Als er mit ihr eine neue Zukunft plante, holte ihn seine Vergangenheit ein. Frieden, so schien es, würde er nur finden, wenn sich seinen Dämonen stellte. Oder wenn er tot war... Er beschloss, den einfachen Weg zu gehen.

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Sie werden dich töten

Berkan Arslan

Thriller

Impressum:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Veröffentlicht bei Infinity Gaze Studios AB

1. Auflage

Juni 2024

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2024 Infinity Gaze Studios

Texte: © Copyright by Berkan Arslan

Cover & Buchsatz: Valmontbooks

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung von Infinity Gaze Studios AB unzulässig und wird strafrechtlich verfolgt.

Infinity Gaze Studios AB

Södra Vägen 37

829 60 Gnarp

Schweden

www.infinitygaze.com

Hoffnung heißt, zu wissen,

dass es ein Meer geben muss,

wenn man einen Bach sieht.

(Zitat von Anonym)

Prolog

Plötzlich Stimmen in stiller Dunkelheit.

Anschließend Worte.

Nach einer Weile sogar ganze Sätze.

„Nein, bitte nicht!“

„Dummes Arschloch, bringst deine Familie ins Grab!“

„Nicht meine Familie!“

„Ich hatte dich gewarnt!“

„Bitte nicht!“

„Zu spät, hörst du? Viel zu spät!“

Kapitel 1

„Seit vier Monaten keinerlei Reaktion“, erklärte Martin Moosbach, Stationsarzt im Zentralkrankenhaus. Er zeigte ein bekümmertes Gesicht, als täte es ihm unsagbar leid, dass er nicht helfen konnte. „Ich weiß, wie furchtbar das klingt“, setzte er fort. „Aber es ist nur noch ein vergebliches Hoffen auf ein Wunder, verstehen Sie? Selbst wenn er aufwachen sollte, was ich nicht annehme, würde er kein normales Leben mehr führen können. Er würde nur noch vor sich hinvegetieren und auf Betreuung rund um die Uhr angewiesen sein. Er würde nicht mal mehr wissen, wer er ist oder wer er war.“

„Hören Sie auf, verdammt!“, knirschte Kadinski. Ein 1.95m großer, muskelbepackter Hüne mit strohblondem Haar. Er hatte seinen massigen Körper gegen die Tür gelehnt, als wenn er den Mediziner daran hindern wollte, durch diese zu verschwinden. Seine grünblau gesprenkelten Augen funkelten zornig. Es fehlte nicht allzu viel, bis er seine riesigen Pranken ausfuhr, um den dürren Hals seines Gegenübers zu ergreifen. „Sie dürfen ihn nicht sterben lassen!“, setzte er energisch nach. „Selbst dann nicht, wenn er nie mehr derselbe sein würde, der er war. Sie haben nicht das Recht dazu.“

„Hier geht es nicht um Recht oder Unrecht“, entgegnete Moosbach. Er hatte gerade zwei unsichere Schritte Richtung Tür gesetzt. „Sondern darum, dass keine Hoffnung mehr besteht. Vier Monate, das ist eine sehr lange Zeit, meinen Sie nicht auch?“

„Es sind keine vier Monate!“, widersprach Kadinski laut. Er war sich sicher, dass, wenn er jetzt Schwäche zeigte oder nur geringfügig nachgab, alle seine bisherigen Kämpfe, die er gegen die zahlreichen Bestimmungen des Krankenhauses ausgefochten hatte, für die Katz gewesen wären. Aber er war noch nicht bereit aufzugeben. Er hatte in den vergangenen Monaten so viel zusätzliche Energie aufbringen müssen, dass er an manchen Tagen das Gefühl hatte, zusammenzubrechen. Und jetzt, wo seine Kämpfer-Mentalität am dringendsten benötigt wurde und man sich auf ihn verließ, durfte er nicht einfach alles hinschmeißen. Dass er resignierte und aufgab, weil er am Ende war, würde ihm eh keiner glauben. Schon gar nicht sein bester Freund, um den es hier ging; um den es in den vergangenen Monaten ausschließlich ging. Er sah sich gezwungen, durchzuhalten, bis es vorbei war. Obwohl er nicht wusste, wann das sein würde. Natürlich konnte er sagen: In Ordnung, machen Sie es, ziehen Sie den Stecker raus! Das wäre der einfachste Weg, womöglich für alle Beteiligten. Aber das hätte auch bedeutet, dass er zuließ, dass man seinen Freund tötete, vor seinen Augen. Wie hätte er anschließend in seinen Alltag zurückkehren können, immerzu mit diesem grässlichen Wissen in seinem Hinterkopf, dass er letztendlich hinnahm, dass eine ganze Familie ausgelöscht wurde? Und Julia, seine Frau. Ihm war klar, dass diese Entscheidung, falls sie jemals ausgesprochen werden sollte, sie zu Grunde richten würde. Er hatte sie vor seinem geistigen Auge. Drei Köpfe kleiner, zart, sanft. Ihre kleinen Hände auf ihre Hüftknochen gestützt. Tränen, Trauer, Verständnislosigkeit, aber auch maßloser Zorn in ihren wunderschönen Augen.

„Gott Verfluchter, polnischer Bastard, wie konntest du nur!“

„Geben Sie bitte die Tür frei“, verlangte Moosbach, womit er Kadinski in die Gegenwart zurückholte.

„Ich sagte, es sind keine vier Monate!“, wiederholte er mit finsterer Stimme, ohne von seinem Standort abzurücken.

„Ich habe es vernommen“, gab der Mediziner zurück. „In einer Woche wären wir dann soweit. Lassen Sie mich Ihnen sagen, dass Sie mit Ihrem rebellischen Verhalten nicht viel erreichen werden“, erklärte er. Er hatte zuvor kurz innegehalten und sich gefragt, wie viel Fortkommen er wohl damit ernten würde.

„Es gibt Richtlinien für Fälle wie diese. Und wir sind gezwungen, uns an diese zu halten. Überreaktionen, tiefgreifende Emotionen können wir uns dabei nicht leisten, weil die Dinge, die sich aus jahrelanger Erfahrung und Wissen entwickelt haben und für uns richtungweisend sind, in einer Sackgasse enden würden. Und das wäre, weder für den Patienten, noch für den reibungslosen Ablauf in unserem Haus von Vorteil. Ich bitte Sie ernsthaft, uns keine unnötigen Schwierigkeiten zu machen. Jeder von uns möchte tadellose Arbeit präsentieren. Das können wir natürlich nur dann, wenn man uns gewähren lässt.“

„Wenn Sie tadellose Arbeit abliefern wollen, dann dürfen Sie auch nicht zulassen, dass er stirbt!“, betonte Kadinski auch jetzt ziemlich schroff.

„Ich habe es nicht mehr in meiner Hand“, gestand Moosbach. „Wenn ich hierzu die nötige Macht besäße, glauben Sie mir, hätte ich ihn wachgerüttelt und ihn dann nach Hause geschickt. Bedauerlicherweise gibt es Dinge, die wir, weder Sie, noch ich, trotz unseres guten Willens und unserer Fortschrittlichkeit, nicht beeinflussen können. Diese Tatsache habe ich bereits vor Jahren akzeptieren müssen, und fühlte mich in der Folgezeit sehr kränklich. Auch wenn es Ihnen in diesem Augenblick äußerst schwerfällt und es Ihnen schmerzvollen Kummer bereitet, sollten Sie dennoch Einsicht zeigen.“

Kadinski schwieg, wobei sein breites Gesicht einen seltsamen Ausdruck zeigte. Als hätte er Angst, etwas Falsches zu tun, das er später bereuen würde. Schließlich gab er seine Beharrlichkeit auf und bewegte sich, wenn auch zögerlich, zur Seite.

„Denken Sie über meine Worte nach“, empfahl ihm Moosbach. Er war inzwischen auf den Korridor getreten. „Und Sie werden erkennen, dass ich recht habe, mit dem, was ich sagte – und, dass ich keine herzlose Ratte bin, die nur ihr berufliches Abschneiden vor Augen hat. Das Leben ist eine verlogene Schlampe, mein Herr. Sie verspricht uns den Himmel auf Erden und im nächsten Augenblick tritt sie uns in den Hintern. Wissen Sie, was das Schlimme dabei ist? Dass wir gezwungen sind, den Weg zu gehen, den sie uns vorgibt und wir keine Möglichkeit haben, uns davonzustehlen.“

Moosbach war gegangen, als Kadinski sich gegen die Wand neben der Tür lehnte. Plötzlich registrierte er, wie kraftlos er doch war. Dazu kam, dass seine Füße geschwollen waren, sodass sie schmerzhaft kribbelten. Er stieß sich von der Wand ab. Näherte sich dem Stuhl, der am Kopfende des Bettes, in dem sein Freund lag, stand. Sein steifer Rücken veranlasste, dass er ein tiefes Stöhnen ausstieß, als er sich langsam niederließ. Ohne Frage, er wurde älter. Obwohl er noch zahlreiche Jahre vor sich hatte, freute er sich auf den Tag, an dem man ihn in Pension schickte. Seine Frau machte sich jedes Mal lustig über ihn, wenn er dieses Thema anschnitt.

„Es dauert nicht mehr lange und ich muss dir wohl lange Wollunterhosen besorgen“, hatte sie letztens gemeint. „Am besten eine mit einem Eingriff, damit der alte Mann seine Schnecke rechtzeitig herausbekommt, wenn er pinkeln muss.“

An anderen Tagen hätte er über solche oder ähnliche Sprüche Julias gelächelt. Dieses Mal jedoch nicht. In ihm war etwas, das periodisch seine Gedärme attackierte, wodurch er keine Ruhe fand. Hoffentlich hatte er keine Fehler gemacht, indem er dem Drängen Moosbachs nicht konsequenter entgegengewirkt hatte und sich zum Schluss wankelmütig verhielt, als würde er schon bald einknicken.

„Aber du weißt, dass ich bis zum letzten Atemzug um dich kämpfen werde, nicht wahr?“, sagte er. Sein Blick auf das magere, blasse Gesicht vor ihm gerichtet. Das blonde Haar, das man dem Liegenden vor der Operation abrasiert hatte, war wieder gewachsen. Auch die Eintrittsstelle auf seiner rechten Stirnseite, die die Kugel verursacht hatte, hatte sich komplett geschlossen. Lediglich eine kreisförmige Vertiefung wies auf die Geschehnisse hin, die ausschließlich Trauer und Schmerzen ausgelöst hatten. Längst vergessen geglaubte Erinnerungen kehrten zurück.

Kadinski wusste noch, wie sie sich zum ersten Mal begegneten. Es war an einem Montagmorgen gewesen.

Er hatte hinter seinem Schreibtisch gesessen, als Stahlberg zu ihm kam. Die Hände lässig in die Hosentaschen eingegraben. „Sag mal, guter Mann, wie kommt man in dieser Abteilung am schnellsten nach oben?“

Es war Stahlbergs erster Arbeitstag gewesen. Er hatte der Drogenfahndung den Rücken gekehrt und war bei der erst kürzlich ins Leben gerufenen Abteilung für die Sonderfälle eingestiegen. Kadinski lächelte. Auch deshalb, weil es ihm einfiel, dass es an diesem Julitag höllisch heiß gewesen war. Bereits um zehn Uhr vormittags hatte die Sonne einem das Hirn nahezu weichgekocht. Selbst an so einem Tag, trug Stahlberg ein weißes Hemd mit langen Ärmeln und eine Krawatte. Versnobter Lackaffe, hatten Kadinskis Gedanken damals gelautet und er hatte dem Frischling erklärt: „Aus der Tür raus, rechts halten, dann die Treppe nach oben. Du kannst natürlich auch den Fahrstuhl benutzen.“

Er wusste noch, dass Stahlberg daraufhin säuerlich reagiert hatte.

„Sehr witzig, wirklich!“, hatte er geknirscht.

„Du hast gefragt und ich habe dir, so freundlich wie ich bin, den Weg beschrieben“, hatte Kadinski ungerührt geantwortet. Und gleich im nächsten Atemzug hatte er versucht, den scheinbar übereifrigen jungen Mann auf die richtige Fährte zu lenken: „Heute ist dein erster Tag, und du willst wissen, wie du nach oben kommst? Bleibt erst einmal auf dem Teppich, ja? Mach langsamer, immer kleine Schritte. Zeig uns allen, was du draufhast, wie du tickst. Was sind deine Stärken oder Schwächen.“

„Habe ich nicht, ich meine, Schwächen.“

Verdammtes Großmaul!

Stahlberg hatte Schwächen, hatte Kadinski später erfahren. Zudem war er ein wenig großspurig, manches Mal voreilig und überaus eitel. Das war das Bild von ihm, das er säuberlich verpackt seinem Kollegen präsentierte.

Aber diejenigen, die er an sich heranließ, erkannten auf Anhieb, dass an ihm sehr viel mehr war, als er vorgab. Er hatte einen aufrichtigen Charakter. Er wurde niemals fies oder falsch, weil er vielleicht jemanden verletzen wollte. Er war stets hilfsbereit, verlässlich und ehrlich. Kameradschaft war für ihn nicht bloß ein Wort, das er nach Belieben missbrauchte. Aus Kollegen wurden nach einer Weile die engsten Freunde. Sie verbrachten sehr viel Zeit miteinander, fuhren sogar mehrmals gemeinsam in den Urlaub. Und sie genossen es, auf dem Liegestuhl im Garten des einen oder des anderen zu liegen, Bier zu trinken und sämtliche Probleme dieser Welt zu lösen. Auch aus ihren Frauen waren Freundinnen geworden, die sich regelmäßig zum Kaffeeklatsch oder zu Shoppingtouren verabredeten.

Und ganz plötzlich änderte sich alles. Die hellen, freundlichen Tage zogen davon. Zurück blieben nur noch Kälte und Finsternis. Die Grämlichkeit kam, trieb Kadinski die Tränen in die Augen. Seine Unterlippe zitterte, als er mit seiner rechten Stahlbergs Hand ergriff. „Wach auf, verdammt!“, sagte er flehentlich. „Wach endlich auf. Sie haben beschlossen, dich zu töten. Hast du gehört? Mach deine Augen auf, zeig ihnen, dass noch Leben in dir ist, dass du nicht sterben willst.“...Zufall oder nicht. Genau in diesem Augenblick geschah etwas, womit er überhaupt nicht gerechnet hatte. Die knorrigen Finger Stahlbergs schlossen sich um seine Hand. Kadinski fuhr regelrecht zusammen. Verflucht nochmal! War das zu fassen? Als hätte er mit seinen Worten tatsächlich das Bewusstsein des Patienten, der bis jetzt nicht ein einziges Mal ein Lebenszeichen von sich gegeben hatte, erreichen können. Und er hätte beinahe geschrien, als er beobachtete, wie auch die Lider seines Freundes wild flatterten. „So ist gut, ja!“, rief er. Seine Freude veranlasste, dass seine Zähne aufeinander schlugen. Während er mit einer Hand Stahlbergs festhielt, versuchte er, mit der anderen an den Pieper zu gelangen. Das Scheißding war vom Bett hinuntergerutscht. Um ihn zu erreichen, musste er sich auf die andere Seite hangeln. Dafür hätte er die Hand seines Freundes loslassen müssen, was er auf keinen Fall wollte.

„So ist gut!“, wiederholte er, knetete die Hand, die sich an seine klammerte. „Komm wieder zurück, komm zu uns zurück!“ Himmel! Wenn er nur die Möglichkeit gehabt hätte, jemanden herbeizuholen. Diese Person hätte dem freudigen Ereignis beiwohnen und später auch darüber berichten können. Sieht euch das an, diese Kraft, dieses Leben! Und es ebbte genauso unerwartet wieder ab, wie es eintrat, als hätte irgendwer einen Hebel umgelegt. Die Finger Stahlbergs lockerten sich. Die Kraft, die sie innegehabt hatten, entwich wie der letzte Atem aus dem Körper eines Sterbenden.

„Nein, nein!“, stieß Kadinski bestürzt aus, als er sah, dass auch die Lider Stahlbergs ihre Aktivitäten einstellten. Solange sie in Bewegung waren, sei alles in bester Ordnung, hatte er angenommen. „Komm schon, Mann, tu mir das nicht an!“ Er sprang auf die Beine, warf dabei den Stuhl um, ergriff mit beiden Händen das Gesicht seines Freundes. „Ich sage dir, wag es ja nicht wieder auf stur zu schalten, du Mistkerl!“ Einen Moment später jedoch gab er auf. Er hatte begriffen, dass er mit diesem wilden Gezerre an einen völlig widerstandslosen Körper nichts mehr bewirken konnte. Stahlberg war fort. Er hatte sich in seine Welt zurückgezogen. „Was ist dort, wo du gerade bist, so schön, hm?“, fragte Kadinski, strich über das Haar seines Freundes. Seine Stimme, die noch immer zitterte, hatte ihre Eindringlichkeit abgelegt. Sie war nun flach, nahezu sanft. „Da ist nichts schön, wirklich nicht. Siehe dich doch mal um. Nur Dunkelheit, nicht wahr? Nur Scheiß-Dunkelheit. Ich weiß, du willst zu uns zurückkommen, du versuchst es. Das habe ich deutlich gespürt, als du meine Hand gehalten hast.“ Demnach hatte Stahlberg sich selbst noch nicht aufgegeben. Er kämpfte um sein Leben. Und das bedeutete, dass niemand das Recht besaß, über ihn zu bestimmen. Keiner hatte die Macht, ihn einfach sterben zu lassen! Kadinski verließ das Zimmer.

Auf dem Korridor entdeckte er die Stationsschwester. Brünett, mittelgroß, keinerlei Make-Up. „Hören Sie, rufen Sie nach Doktor Moosbach“, verlangte er, fügte eiligst hinzu: „Unser Patient gab eben ein kurzes, dafür aber ein heftiges Lebenszeichen von sich.“

„Ich werde ihn kontaktieren“, gab die Schwester zurück, obwohl sie für eine Sekunde den Gedanken hatte, zu widersprechen. Sie wusste, dass man über den Patienten bereits eine endgültige Entscheidung gefällt hatte. Er war dem Tod geweiht. Morgen, übermorgen oder einen Tag später sollten alle Apparate, an denen er angeschlossen war, schweigen. Sie verstand die ganze Aufregung nicht. Wieso

ließ man den armen Kerl nicht in Frieden ziehen? Er hatte sich schon längst entschieden. Er wollte nicht mehr hier sein, weil es für ihn hier nichts mehr gab.

Er will zu seiner Familie, also lasst ihn einfach gehen!

Wieder zurück, nahm Kadinski die Hand Stahlbergs in seine. „Komm schon, Niklas, zeig es mir noch einmal“, forderte er erregt. Er klang zuversichtlich. Als konnte es ihm tatsächlich gelingen, seinen Freund zu überzeugen und ihn erneut zurückzuholen.

Nur ein kleines Lebenszeichen, mein Gott!

Mehr verlangte er nicht. Und das während der Anwesenheit des Arztes. Dem kleinen Klugscheißer würde es sicherlich die Sprache verschlagen und er würde dann nicht so gequirlt daherreden.

„Was ist passiert?“, wollte Moosbach wissen, als er dazustieß. Er hörte sich ein wenig gestresst und dementsprechend gereizt an. Er hatte in zwei Stunden Dienstschluss, hatte aber noch einige Dinge zu erledigen. Die nicht auf den morgigen Tag warten konnten. Also, Überstunden, dachte er. Natürlich unbezahlte. Er hatte die vertraglich vorgeschriebenen dreißig Überstunden für diesen Monat bereits abgearbeitet. Von nun an gab es für Überstunden kein Geld mehr. Und der Hüne nervte inzwischen wirklich. Warum wollte der nicht einsehen, dass das Krankenhaus unnötige Energien an einen Toten verschwendete?

Kadinski spürte immer noch die Anspannung in seinen Gliedern, als er berichtete: „Ich habe hier gesessen, so wie jetzt. Hielt seine Hand, redete mit ihm. Dann ganz plötzlich drückte er meine Hand, ganz fest. Auch seine Lider flatterten. Als wenn er seine Augen öffnen wollte, aber es aus irgendeinem Grund nicht schaffte.“

Das kann doch nicht wahr sein! Das freudlose Erstaunen zog wie eine eiskalte Woge über das Gesicht des Mediziners. Es war offensichtlich, dass die Schilderung Kadinskis in ihm keine Begeisterung ausgelöst hatte. Spätestens jetzt hatte er die Gewissheit, dass der große Kerl nicht die Absicht hegte, alsbald aufzugeben; er plante sogar, mit allen Mitteln zu kämpfen. Er griff in die Seitentasche seines weißen Kittels und brachte eine fingerdicke Taschenlampe zum Vorschein. Gleich darauf beugte er sich über den Patienten. Zog ihm die Lider in die Höhe. Leuchtete mit der Lampe seine Pupillen an. Er konnte keine Veränderung an ihnen erkennen. Sie waren trüb und leblos, wie der Grund eines toten Sees. Kadinski beobachtete, wie er seinen Kopf schüttelte, zunächst aber auf einen Kommentar verzichtete.

Moosbach schaltete seine Lampe aus und ließ sie in seine Tasche zurückgleiten. Anschließend untersuchte er die Arme und Hände des Patienten. Er entdeckte weder Widerstand, nicht einmal in geringem Maß, noch irgendwelche Reaktionen, die ihn aufhorchen ließen. Wie gehabt, erkannte er. „Keine Veränderung zu vorhin“, teilte er Kadinski mit. „An ihm ist nichts, das annähernd nach Leben aussieht.“

„Was soll das heißen?“, knirschte der Hüne. Elender Dreckskerl! Er dachte doch nicht etwa…“Glauben Sie, ich habe mir das, was ich Ihnen schilderte, aus den Fingern gesogen?“

Moosbach zog es vor, zu schweigen. Soweit waren wir schon einmal, sagte er sich, während er in Kadinskis Gesicht sah, das sich zusehends verfinsterte. Und er verspürte keine große Lust, diese Unterhaltung, die am Ende kein endgültiges Resultat erzielen würde, aufs Neue zu führen. „Ganz ehrlich, ich finde es großartig, wie Sie sich für ihn einsetzen“, meinte er jetzt und ließ einen kurzen Augenblick verstreichen, bevor er völlig emotionslos hinzufügte: „Aber irgendwann müssen auch Sie Abschied nehmen.“

Kadinski hatte verstanden. „Reden Sie keinen Scheiß!“, stieß er aus. Gefährliche Wildheit tanzte in seinen Augen. „Denken Sie, dass ich vielleicht senil bin oder verblödet? Ich weiß, was passierte. Ich sah, wie er kämpfte. Und jetzt hören Sie mir genau zu, damit Sie auch jedes Wort begreifen. Schalten Sie diese Geräte ab, bedeutet das für mich, dass Sie ihn getötet haben. Das wiederum heißt, Mord, Vorsätzlich! Und das heißt, Sie sind ein beschissener Mörder und ich werde Ihnen keine Chance lassen, mir zu entkommen. Ich werde an Ihrem Hintern kleben. Ich werde dafür sorgen, dass Sie vernichtet werden. Ich werde jeden erdenklichen Hebel betätigen, damit Sie verurteilt werden. Damit wäre Ihre Karriere ein für alle Mal im Eimer. Sie wären ganz unten. Und Sie werden eingesperrt, für viele Jahre. Sie sehen gut aus, weich, zart. Genau die Sorte also, die die Knackis mögen. Die Härteren unter ihnen werden sich Ihrer annehmen und Sie durchvögeln. Stunde um Stunde, Tag für Tag. Sie werden deren Wanderhure sein. Man wird Sie durchreichen, von einem geilen Kerl mit einem riesigen Schwanz, zum nächsten. Diese Leute sind die reinsten Tiere. Sie kennen kein Mitleid, kein Erbarmen und die haben sehr viel Zeit. Sie werden, wenn Sie irgendwann entlassen werden, ein gebrochener, zerstörter Mann ohne brauchbare Aussichten sein. Und wenn Sie dann glauben sollten, Sie hätten Ihren ganz persönlichen Albtraum überstanden, werde ich Sie in Empfang nehmen. Ich bin ein nachtragender Mann, Herr Doktor und Sie können sich nicht ausmalen, was ich mit Ihnen anstellen werde. Wenn Sie also Ihr Leben so wie bisher unbefleckt weiterleben möchten, kommen Sie nicht auf die Idee, in irgendeiner Weise meinem Freund zu schaden. Haben Sie mich verstanden? Und denken Sie nicht, dass das, was ich verlauten ließ, wäre eine überzogene oder einfach nur eine leere Drohung.“

„Eine Woche“, sagte Moosbach endlich. Er war nahezu eine halbe Minute schweigend dagestanden und hatte versucht, die Körpersprache Kadinskis zu enträtseln. Entweder war der große Mann ein geschickter Künstler, der es verstand, einen in wenigen Zügen Schachmatt zu setzen. Oder aber, er verfügte tatsächlich über Mittel und Wege, die ihn in Teufels Küche bringen konnten. Also, Vorsicht! „Eine Woche“, wiederholte er, „die gebe ich Ihnen und ihm.“

„Das bestimmen Sie nicht!“, wehrte sich Kadinski. Was dachte der…?

„Und ob!“, wehrte sich Moosbach. „Ich weiß, dass er, bis auf seine Schwiegereltern, keine weiteren Angehörigen hat. Und die haben mir die Entscheidung überlassen.“

„Und die entziehe ich Ihnen mit sofortiger Wirkung!“, entgegnete Kadinski. „Was wissen seine Schwiegereltern schon? Sie kennen ihn nicht, wissen nichts über ihn. Er war für diese Leute stets ein Fremder gewesen. Lediglich der Kerl, der zufällig der Ehemann ihrer Tochter war. Und nun zum allerletzten Mal: Fassen Sie ihn an, werde ich Sie erledigen!“ „Bitte, nicht meine Familie!“ Die Männer fuhren herum. Stahlberg hatte seine Augen geöffnet und sah ihnen entgegen.

Kapitel 2

Er hatte die Klingel gehört, aber nicht reagiert. Er hatte sich entschieden, zu warten. Geduld zahlte sich in den meisten Fällen aus, wenn man durchzuhalten verstand. Es klingelte erneut. Dieses Mal sogar mehrmals hintereinander. Ein eindeutiger Beleg für die Hartnäckigkeit und auch Entschlossenheit des Besuchers. Nach einem Seufzer, der ein wenig Gereiztheit ausdrückte, richtete er sich auf. Verdammt nochmal! Wieso konnten die Leute ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Schlurfenden Schrittes, als zöge er Gewichte hinter sich her, bewegte er sich auf die Tür zu. Unterwegs richtete er seine ausgebeulte Jogginghose etwas her. Anschließend versuchte er, seine schwarze Socke über seinen rechten großen Zeh zu stülpen, der aus einem Loch hervorlugte. Er sah, dass auch sein weißes, altes Shirt auf der Brustseite mit Flecken übersät war. Er zuckte mit der linken Schulter. Dass er unrasiert war, ungepflegt aussah und er seit Langem nicht geduscht hatte, hatte niemanden zu interessieren. Auch dafür, dass er einen sonderbaren Geruch, ein Gemisch aus Schweiß und Bratfett absonderte, musste er sich nicht entschuldigen. Wer ihn nicht so akzeptieren wollte, wie er war und lebte, sollte sich gefälligst von ihm fernhalten. „Warum hat es so lange gedauert?“, beschwerte sich Kadinski, als ihm die Tür geöffnet wurde.

„Ich habe geschlafen“, schwindelte Stahlberg. „Komm rein“, sagte er noch, drehte sich um und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Kadinski folgte ihm ins Wohnzimmer. Während Stahlberg sich auf seinen ursprünglichen Platz auf dem Sofa niederließ, blieb der Hüne in der Tür stehen. „Herr Gott nochmal, wie sieht es denn hier aus?“, klagte er, bestürzt und verwirrt gleichermaßen.

Neben dem Sofa, auf dem Fußboden, türmte sich gebrauchtes Geschirr. Diverse Zeitungen, alte Magazine stapelten sich auf dem Sessel. Auf dem Tisch standen leere Schnapsflaschen. Gläser, volle Aschenbecher, Teller. Eine halb verzehrte Pizza, noch in der Pappschachtel. Im Fernsehen lief eine Dokumentation: „Liebe und Hass, treue Freundschaft und gemeiner Verrat, selbstlose Hilfe und heimtückischer Mord…“

„Mein lieber Mann, wann gedenkst du, hier aufzuräumen?“

„Wieso?“ Stahlberg blickte verständnislos um sich, als könne er sich nicht erklären, weshalb sein Freund so etwas sagte. „Ich finde, alles ist gut.“

Kadinski schüttelte seinen großen Kopf. „Gut ist etwas anderes“, gab er zurück. „Das Haus gleicht einer Müllhalde. Auch draußen, vor der Tür sieht es aus, als würde hier niemand mehr wohnen.“

„Nimm dir ein Bier“, sagte Stahlberg, um das Thema zu wechseln.

„Hab keinen Durst.“

„Ich hätte dir auch ein Stück Pizza angeboten, aber ich weiß, du stehst nicht unbedingt auf Peperoni.“

Kadinski warf einen Stapel Zeitungen auf den Fußboden und setzte sich in den Sessel. „Soweit ich weiß, wurdest du wieder gesundgeschrieben, nicht wahr?“, erkundigte er sich.

„Wie man's nimmt“, antwortete Stahlberg.

„Heißt das, du hast noch Beschwerden?“

„Nein, jedenfalls keine Körperlichen.“

„Hättest du nicht gestern auf der Dienststelle erscheinen müssen?“

Stahlberg nickte als Bestätigung. „Das stimmt. Gestern wäre der erste Arbeitstag... in meinem neuen Leben.“

„Was ist passiert?“

„Ich erkannte, dass ich keine Lust habe.“

„Das ist eine ausgesprochen blöde Antwort.“

„Ist dir irgendeine Lügengeschichte lieber?“

„Ich will lediglich wissen, was geschehen ist und weshalb du dich nicht hast blicken lassen.“

„Ich dachte, das hätte ich gerade.“

„Du hattest keine Lust.“

Stahlberg nickte auch dieses Mal, während er die Bilder im Fernsehen verfolgte.

„Und telefonieren, was ist damit?“, bohrte Kadinski nach.

„Was soll damit sein?“

„Ich versuchte mindestens dreißig Mal dich zu erreichen.“

„Ich habe nichts gehört, war auch zwischendurch einkaufen.“

„Das Leben des berühmten Helden des Mittelalters verlief spannend, wie in einem Kriminalfilm…“

„Wie, glaubst du, wird es mit dir weitergehen?“, wollte Kadinski nach einer Ruhepause wissen. „Ich meine, du wirst sicherlich irgendwelche Pläne geschmiedet haben, die deine Zukunft betreffen.“

„Hab keine Pläne“, räumte Stahlberg ein. „Ich werde die Dinge auf mich zukommen lassen.“

„Aber denkst du nicht auch, dass du allmählich anfangen müsstest, dein Leben wieder in Ordnung zu bringen?“

„Was gefällt dir nicht?“

„Zum Beispiel, wie es hier aussieht.“

„Du klingst haargenau wie meine Schwiegermutter.“

„Und ich finde es ziemlich mies von dir, dass du ohne eine Erklärung, die du deinem Kollegen gegenüber schuldig wärst, der Arbeit ferngeblieben bist.“

„Tut mir leid.“

„Hör auf mit diesem Scheiß!“, blaffte Kadinski ihn an. „Ich kenne dich und ich weiß genau, dass es dir nicht leidtut!“

„Du hast recht“, erkannte Stahlberg, der Blick nach wie vor auf den Fernseher gerichtet. „Es tut mir nicht leid.“

„Und ich finde es mehr als bescheuert, dass du dich dermaßen gehen lässt. Willst du als Penner enden, oder was hast du vor?“

„Ich hoffe, du bist nicht gekommen, um mir Vorwürfe zu machen und mich auf meine Fehler hinzuweisen.“

Kadinski antwortete nicht sofort. Er wartete, bis seine aufgepeitschten Gefühle sich wieder abkühlten. Dieser Mann, der ihm gegenübersaß, der es aus irgendeinem Grund schwer zu haben schien, in sein früheres, geordnetes Leben zurückzufinden, war sein bester Freund. Worte, die er jetzt unüberlegt und im Zorn aussprach, konnten Risse entstehen lassen, die womöglich niemals wieder zu verschließen wären. „Ich bin gekommen, um dich am Sonntag zum Essen einzuladen“, sagte er endlich. Bemüht, seine Stimme ruhig zu halten. „Julia plant Rollbraten, dazu Rotkohl und Kartoffeln. Zum Nachtisch soll es irgendein süßes Zeug geben.“

„Er kämpfte gegen Drachen und Zwerge, begegnete Nixen und Feen…“

„Keine Lust?“ fragte er nach, als Stahlberg sich nicht dazu äußerte.

„Doch schon…“

„Aber?“

„Ich weiß nicht, ob ich es zeitlich hinkriege.“

Kadinski klang abfällig. „Was hast du so Dringendes vor? Außer den ganzen Tag auf dem Sofa zu verbringen, zu rauchen und dir so einen Dreck anzusehen?“

„Zwischendurch saufe ich mir auch einen an. „

„Das sehe ich, scheint zur Gewohnheit geworden zu sein.“

„Unbekümmert eilte der blondgelockte Königssohn Siegfried von Abenteuer zu Abenteuer…“

„Willst du wirklich kein Bier?“

„Nein.“

„Einen kleinen Schnaps vielleicht?“

„Nein.“

„Bis er von der Liebe zu Krimhild überwältigt wird…“

„Ich mache mich wieder auf den Weg“, verkündete Kadinski. Er hatte eine Zeitlang wortlos dagesessen und es schließlich bereut, hergekommen zu sein. Er hätte nicht auf seine Frau hören sollen. „Ich habe Julia versprochen, ihr ein Eis mitzubringen.“

„Okay“, meinte Stahlberg, um etwas darauf erwidert zu haben.

Kadinski kam auf die Beine, blieb vor dem Sessel stehen. „Wenn Anna dich so sehen könnte, würde sie dir kräftig in deinen faulen Hintern treten“, sagte er. Es klang ein wenig verächtlich. Dieses Mal schwieg Stahlberg. Kadinski setzte sich in Gang.

Etwas, das ihn zu beschäftigen schien, veranlasste, dass er bei der Tür anhielt. „Weißt du, im Nachhinein bereue ich es“, führte er an, mit einem Ausdruck von Bitterkeit in seinem breiten, flachen Gesicht.

Stahlberg konnte nicht erkennen, wovon er sprach, bedachte ihn daher mit einem fragenden Blick.

„Ich bereue es, dass ich mir so viel Mühe gemacht habe, um dich am Leben zu erhalten“, erklärte der Hüne. Die Bitterkeit fühlte sich inzwischen wie schmerzliche Trauer an. „Wenn ich geahnt hätte, was aus dir werden würde, hätte ich den Scheiß-Stecker eigenhändig herausgerissen!“

„Denkst du ernsthaft, ich bin dir dankbar, weil du dich für mich eingesetzt hast?!“, stieß Stahlberg aus. Erschrocken stellte er fest, dass seine Worte bissiger aus seiner Kehle kamen, als er beabsichtigt hatte. Und für die Vibration seiner Stimme war nicht nur seine Verzweiflung verantwortlich. Auch seine Hoffnungslosigkeit, aus der er nicht herausfand, trug ihren Anteil dazu bei. Jeder Millimeter seines blassen Gesichtes ließ erkennen, wie verloren er sich fühlte. „Glaubst du ich bin es?“, setzte er in unverändertem Ton fort. „Ich bin es nicht, ganz sicher nicht. Ich bin dir nicht dankbar, weil ich noch lebe. Ich bin dir nicht dankbar, weil ich durch die Hölle muss, die Leben heißt. Ich bin dir nicht dankbar, weil ich mich so einsam, allein und verlassen fühle. Ich bin dir nicht dankbar, weil ich nicht weiß, was ich tun muss, wie ich durch den Tag kommen soll.“…Nun, ist es gut! Mit zittrigen Händen zündete er sich eine Zigarette an. Während er rauchte, hoffte er, seine Besonnenheit schon bald wiederzuerlangen. Vor allem aber wünschte er sich, seinen Schmerz, der ihn mürbe machte, zumindest für eine Weile auf Distanz zu halten.

Er klang wesentlich gefasster, als er schließlich verriet, dass kein Tag verging, an dem er sich nicht mit Selbstmordgedanken beschäftigte. „Ich will sterben, damit ich bei ihnen sein kann, damit ich mit ihnen zusammen bin.“ Seine Augen, die auf dem Foto vor ihm auf dem Tisch gerichtet waren, schimmerten feucht. „Sie fehlen mir so sehr und ich frage mich immerzu, was ich hier soll. Ich halte jede Minute, in der ich atme, für sinnlos, für Verschwendung. Ich habe keine Angst davor, meinem Leben ein Ende zu setzen. Ich hätte es auch schon längst getan, wenn diese Stimme in meinem Kopf nicht wäre, die mich davor warnt, eine Dummheit zu begehen. Und ich habe nicht die Kraft, ihr zu trotzen, ihr zu sagen, sie soll sich verpissen und mich in Frieden lassen.“

Kadinski kam zurück und setzte sich in den Sessel, den er zuvor geräumt hatte. Woher hätte er wissen sollen, dass es seinem Freund dermaßen schlecht ging? Selbstmord, großer Gott! Allein der Gedanke war so grässlich, dass er Gänsehaut erzeugte.

Julia, seine Frau, hatte die Situation richtig erkannt. Sie hatte ihn darauf hingewiesen, dass so ein traumatisches Erlebnis auf jeden Fall therapiert werden müsse. Kein Mensch schaffe es, sei er noch so stark, ohne besondere Hilfe aus solch einem dunklen Loch herauszukommen. Kadinski hatte ihre Überlegungen nicht für allzu ernst genommen. „Wir reden hier über Stahlberg“ hatte er ihr geantwortet und der bräuchte keinen seelischen Beistand. Der Stahlberg, den er kannte, war voller Kraft. Und der kriegte es hin, seine inneren Geister im Handumdrehen in den Griff zu bekommen. Wie es sich jedoch jetzt herausstellte, lag er mit seiner Annahme vollkommen falsch.

Der Stahlberg, dem er gegenübersaß war schwach, hantierte mit Selbstmordgedanken; betrank sich, damit er einigermaßen durch den Tag kam. Was jetzt? Welche Sätze wären in diesem Augenblick die Richtigen, die die Macht besaßen, einen am Boden zerstörten Menschen wieder aufzupäppeln – und seine düsteren Gedanken fernhielten?

„Wenn du wieder arbeitest, wird die Stimme in deinem Kopf dich sicherlich in Ruhe lassen“, sagte er vorsichtig. Er hatte keine Ahnung, ob diese Worte genau die waren, die sein Freund hören wollte; die er aufsaugte, durch die er die nötige Kraft fand, die schwere Zeit zu überstehen. „Zumindest aber wirst du beschäftigt sein und ihr kein Gehör mehr schenken.“

„Ich werde den Dienst quittieren“, teilte ihm Stahlberg nach kurzem Zögern mit. Er wirkte zwar etwas geistesabwesend, dennoch entschlossen. Als hätte er sich mit diesem Thema eingehend beschäftigt, bevor er den endgültigen Punkt gesetzt hatte.

„Was?!“, Kadinski konnte es nicht fassen. War der Kerl ganz und gar verrückt geworden?

„Ich werde kündigen.“

„Das kommt gar nicht in Frage, verdammt!“

„Es reizt mich nicht mehr, mit einer Truppe zusammenzuarbeiten, die nicht die Fähigkeit besitzt, einen mehrfachen Mörder festzunageln. Ob mit oder ohne erlaubte Mittel.“

„Du weißt nicht, was du daherredest.“

„Oh, das weiß ich sehr wohl.“

„Wir hatten ihn.“

„Und ihr habt ihn wieder laufenlassen.“ Stahlberg verzog das Gesicht, als würde ihn diese Erkenntnis innerlich zerreißen.

„Das ist nicht wahr!“, wehrte sich Kadinski lautstark. „Wir hatten ihn am Sack gepackt und er hatte so viel Angst, dass er gewimmert hat!“

„Dann habt ihr ihn laufenlassen.“

„Er scharte die besten Verteidiger um sich und ganz plötzlich konnte er ein hieb- und stichfestes Alibi vorweisen.“

„Ihr habt ihn laufenlassen.“

„Das war das Gesetz, verfluchte Scheiße!“

„Dann habe ich mich richtig entschieden“, entgegnete Stahlberg. „Ich will nicht mehr für etwas tätig sein, das nicht in der Lage ist, Mörder zu bestrafen. Und zwar so, wie sie es verdient hätten.“

„Die Rache der untröstlichen Krimhild ist furchtbar und zieht auch sie mit in den Strudel des Verderbens…“

Kapitel 3

Eine ruhige Männerstimme, die selbstsicher und heldenhaft klang. Und Hintergrundmusik, welche die heranziehende Spannung ankündigte, veranlassten, dass Stahlberg erwachte. Wieder einmal hatte er versäumt, den Fernseher auszuschalten, der nahezu vierundzwanzig Stunden nonstop lief. Was soll’ s, dachte er, hielt seine Augen krampfhaft geschlossen. Draußen hatte der neue Tag begonnen. Die Sonne schien. Ein guter Tag also. Nur nicht für ihn. Er bevorzugte die Dunkelheit. Die Stille. Er seufzte. Er war sich bewusst, dass es erneut anstrengend werden würde, den freudlosen Tag durchzustehen. Endlich machte er sich daran, vorsichtig seine Augen zu öffnen. Sie waren verklebt. Taten weh, als die Helligkeit durch sie hindurch stach. Er war dabei, mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand das Brennen aus ihnen zu vertreiben, als ihm das schleimige Etwas bewusst wurde. Es hatte sich auf seine Kehle gelegt, blockierte ihn. Mühselig würgte er es hinunter. Ekelerregender Geschmack hatte sich in seinem Mund ausgebreitet. Seine Zunge fühlte sich wie ein Stück Pappe an. Eigentlich hätte er aufstehen und ins Bad gehen müssen, um sich die Zähne zu putzen. Damit er die hartnäckige Umklammerung des Alkohols aus seinem Mund bekam. Sein linkes Bein war hinabgerutscht. Er zog es aufs Sofa zurück, auf dem er erneut die Nacht verbracht hatte. Kraftlos und ohne Elan drehte er sich auf die andere Seite. Sein Blick fiel auf die Uhr an der Wand gegenüber. Eine Gewohnheit. Als wenn die Uhrzeit für ihn eine Rolle spielte.

„Warum tust du dir das an?“ Anna, seine Frau.

„Weil ich nicht mehr leben will.“ Er sah sie im Sessel sitzen, jenseits des flachen Glastisches. In Wahrheit jedoch saß dort niemand.

„Aber du hast dein Leben wieder bekommen. Du müsstest es genießen, anstatt es zu vernichten.“

„Ich kann nicht anders „, antwortete er ihr. „Es kommt mir alles so furchtbar sinnlos vor.“

„Alles hat einen Sinn.“

„Auch, dass ihr gestorben seid?“

„Ich denke schon.“

„Aber was kann es für einen Sinn haben, dass ihr mir genommen wurdet und ich durch die Hölle muss? Wer entscheidet das, sag es mir?“

„Vielleicht erhalten wir irgendwann eine Antwort auf alle unsere Fragen.“

„Ich will nicht hier sein, Anna, ich will bei euch sein.“

„Das wirst du, wenn die Zeit dafür gekommen ist.“

„Ihr fehlt mir so sehr.“

„Du fehlst uns auch.“

Er wischte die Tränen fort, die über seine Wangenknochen liefen. Auf dem Tisch vor ihm stand eine leere Flasche. Davor ein noch fast volles Glas. Demnach war er in den Schlaf gefallen, bevor er eine ganze Flasche leeren konnte. Tags zuvor war ihm das geglückt. Weiter vorne, nahezu an der Tischkante, stand der Aschenbecher, der mittlerweile überquoll. Ein paar Kippen, die aus dem Aschenbecher gefallen waren, hatten auf der Glasplatte dunkle Spuren hinterlassen, die nicht mehr zu entfernen sein würden. Daneben die inzwischen ausgedörrte Peperoni-Pizza von vorgestern.

Ihm fielen die Worte Kadinskis ein: „Willst du als Penner enden?“

Sein Freund hatte recht.

Das war kein Zustand mehr. Er hatte es nicht geschafft, seinem Leben ein Ende zu setzen, was sein Ziel gewesen war. Vielleicht war es an der Zeit, es wieder in Ordnung zu bringen. Er wusste nur nicht, wie er es angehen sollte. Er versuchte, seinen Blick vor dem Foto auf dem Tisch zu verbergen, was ihm misslang. Die rehbraunen Augen Annas krallten sich an ihm fest. Auf dem Foto trug sie das blonde Haar kurz. Ihr Pony war fransig auf ihre Stirn gefallen. Sie lächelte in die Kamera, während sie ihre kleine Tochter in ihren Armen hielt.

„Was soll ich tun, Anna?“, fragte er, sah in ihre sanften Augen. „Ich habe das Gefühl, als bewege ich mich in einem endlosen, engen Tunnel. Um mich herum ist es finster. Ich stoße mich immer wieder an, öffne mir Wunden. Dabei weiß ich nicht mal, wohin ich gehe, was mich erwartet.“

„Stehe auf und fang an zu leben!“

„Aber wäre das nicht Verrat an euch?“

„Steh endlich auf!“

„Ich glaube, alles wäre gut, wenn auch ich tot wäre.“

Anna schwieg.

„Ich habe nicht mehr die nötige Kraft, dieses Leben zu ertragen.“

Auch jetzt gab sie ihm keine Antwort.

„Anna?“

Erneut Stille.

Ihr hartnäckiges Schweigen bedeutete, dass seine Worte nicht ihre Zustimmung gefunden hatten. Sie war gekränkt und wollte besänftigt werden. Das war eines ihrer Verhalten. Er kannte es aus Zeiten, als sie noch lebte. Auch damals hatte sie einfach nichts mehr gesagt, als sie sich über ihn aufgeregt hatte. Damit traf sie ihn mehr, als wenn sie ihn beschimpft hätte. Das tat sie jedoch niemals. Verletzende Sätze verwenden, nur weil sie zornig war, war nicht ihre Art gewesen.

Aber was bedeutete ihr Schweigen jetzt? Ein Zeichen?

Vielleicht war dieser Moment, dieser Tag überhaupt, genau der, auf den er gewartet hatte, in den er alle seine Hoffnungen gesetzt hatte; in dem die radikale Wende eintreffen sollte. An diesem Tag also sollte diese große Veränderung stattfinden? Was war an diesem Tag so Besonderes? Was war an diesem Vormittag geschehen, das sich von den Übrigen unterschied? Was hatte er heute vorgefunden, das er als Außergewöhnlich bezeichnete? Er überlegte. Er war aufgewacht, hatte mit seiner Frau eine kurze Unterhaltung geführt und er hatte geweint. Auch dieser Tag verbarg demnach nichts, was ihn in Aufruhr versetzte. Er ließ ihn keine Horizonte entdecken, die sonst hinter undurchdringlicher Dunkelheit lagen. Er begann genauso wie jeden Morgen. Und er würde mit großer Wahrscheinlichkeit wie die anderen Tage auch enden. Das einzig Auffällige an diesem Tag war Annas Schweigen. Zum ersten Mal seit ihrem Tod weigerte sie sich, mit ihm zu reden. Anzunehmen, dass sie ihn darauf hinweisen wollte, dass sie sein bisheriges Leben ziemlich armselig fand und er sich davon verabschieden sollte, bevor es zu spät war.

„Ist das so? Anna? Heißt das, du wirst erst dann wieder mit mir reden, wenn ich mein Leben wieder im Griff habe? Willst du mir das sagen? Bis dahin endloses Schweigen? Kein einziges Wort mehr?“ Er schob seinen Körper vom Sofa herunter. „Ist schon gut.“ Er ignorierte die Taubheit in seinem rechten Bein, als er um den Tisch schritt. Während er mit einer Hand nach der Flasche griff, drehte er mit der anderen das Foto herum. „Siehst du, ich fange an. Ich tue alles, damit du nicht mehr böse auf mich bist und mit mir redest. Ich kann alles ertragen, nur dein Schweigen nicht.“ Er räumte den Tisch ab. Wischte ihn anschließend mit einem feuchten Tuch sauber. Danach öffnete er die Terrassentür weit und ordnete das Wohnzimmer. Das dreckige Geschirr, das er neben dem Tisch gesammelt hatte, brachte er in die Küche. Gleich im Anschluss trug er die Zeitungen und Zeitschriften nach draußen. Saugte gründlich Staub. „Nicht schlecht, oder?“, erkundigte er sich dem Foto zugewandt. „Es ist nicht so, als wenn du Hand angelegt hättest, aber für den Anfang…doch ja, ich bin sehr zufrieden. Mein nächstes Ziel ist die Küche. Wenn ich dort fertig bin, nehme ich mir die Gästetoilette vor.“ Zunächst schaffte er den angesammelten Müll aus der Küche, schaltete die Spülmaschine ein. Das Geschirr, für das er in der Maschine keinen Platz fand, wusch er mit der Hand ab. Ordnete es in den Schränken ein. Er vergaß nicht, auch hier den Fußboden zu reinigen. Nachdem er die Küche in einen ansehnlichen Zustand versetzt hatte, wechselte er in das Gäste-WC. Dort säuberte er erst den Spiegel. Gleich danach das Waschbecken. Zum Schluss die Toilette. Genau in dieser Reihenfolge war auch Anna stets vorgegangen. Auch hier wischte er den Fliesenfußboden.

„Ich bin fertig! Schatz?“

Vielleicht ist es an der Zeit, auch damit Schluss zu machen, überlegte er. Mit dem Foto seiner Toten reden. Wo führte das hin? In die Klapsmühle? Früher oder später, ganz sicher. Fang neu an, hatte Anna ihm geraten. Aber was zählte zu einem Neuanfang? Nicht mehr trinken? In Ordnung. Das Haus weitgehend sauber halten? Auch das kriegte er hin. Was noch? Wie begann man neu? Er erkannte, dass er auch das lernen musste. Aus dem täglichen Leben heraus. Nach und nach. Heute ein wenig. Morgen schon etwas mehr. Er zündete sich eine Zigarette an. Der erste Zug brannte in seiner Lunge, ließ ihn husten. Zu seinem Neubeginn gehörte auch, nicht mehr zu rauchen. Nachdem er die Zigarette ausgedrückt hatte, füllte er den Wasserkocher. Während das Wasser für einen Becher schwarzen Tee köchelte, begab er sich an den Kühlschrank. Nahezu leer. Zwei Becher Erdbeerjoghurt, das Verfallsdatum längst überschritten. Drei Scheiben Käse, teilweise mit Schimmel befallen. Im Schrank darüber fand er in einem Glas etwas Honig. Aber dieser allein machte nicht satt, auch wenn er davon einen Esslöffel voll in seinen Mund stopfte. Ein äußerst mitleiderregender Zustand, fand er. Als seine Frau noch lebte, hatte er reichlich zu essen gehabt. Der Kühlschrank und die Vorratskammer waren stets voll gewesen. Selbst im Keller hatten Berge von Konservendosen gestanden. Inzwischen war alles aufgebraucht, und er hatte es versäumt, für Nachschub zu sorgen. Alkohol veranlasste, dass man sich und das Leben mit Allem, was dazu gehörte, vernachlässigte. Was folgte, war eine menschliche Tragödie, die den unaufhaltsamen Tod nach sich zog. Bei ihm hatte das aus irgendeinem Grund nicht funktioniert, obwohl er sich bemüht hatte. Wie auch immer.

Im Moment beschäftigte ihn die Frage nach etwas Essbarem mehr, als die Überlegung, wo und wann er kläglich versagt haben könnte.

Die alte Pizza?

Auch wenn der Gedanke verlockend war, er würde sie nicht mehr aus dem Mülleimer herausholen. Neuanfang. Auch die Verpflegung zählte dazu. Er schaltete den Wasserkocher wieder aus, verließ die Küche. Wieder einmal kribbelte es in ihm, als hätte er Hornissen verschluckt, als er die Treppe langsam hinaufstieg. Es fühlte sich tatsächlich wie Aufregung an. Aber er wusste es besser. Es war keine Aufregung, die sein Inneres zum Zittern brachte. Es war seine fortwährende Trauer, die sich hinter seinem Brustknochen gestaut hatte. Sie blockierte auch jetzt seine Atemwege, wodurch er nach Luft ringen musste. Manchmal war sie auch eine mächtige Faust gewesen, die erbarmungslos seinen Körper bearbeitet hatte; ihn niederstreckte, sodass er tagelang ohne Bewusstsein dagelegen hatte. Es hatte aber auch die Zeit gegeben, in dem sie ihm den Verstand und das Urteilsvermögen stahl, er dann einfach ins Leere gestarrt hatte, ohne hinterher zu wissen, was geschehen war. Hin und wieder hatte sie ihn auch geschwächt, ihm all seine Kräfte entzogen. So wie jetzt. Seine Beine waren dermaßen schwer, dass er fürchtete, den folgenden Schritt nicht mehr ausführen zu können. Er gab jedoch nicht auf. Auch dieses Mal nicht. Er meisterte die Treppe, ging nach rechts. Die erste Tür, ebenfalls rechts. Dahinter das Zimmer seiner Tochter. Er kam unmittelbar davor zum Stehen. Seine Trauer entfachte sich. Sie fügte ihm neuerliche Schmerzen zu, die sich durch ihn hindurch pflügten. Sie füllten ihn ganz und gar aus, zerlegten ihn in tausend Teile, ergriffen sein Herz und zerquetschten es. Auf dem weißlackierten Holz war ein großes Herz befestigt. Herausgetrennt aus roter Pappe. Auf dem „ Hier wohnt Emi“ stand. Abkürzung für Emily. Stahlberg war seit diesem Ereignis, das sein Leben in ein tiefes Loch gestoßen und es zugeschüttet hatte, nicht mehr in diesem Zimmer gewesen. Er brachte es nicht fertig, die Tür zu öffnen und über die Schwelle zu treten. Als er noch im Krankenhaus lag, hatten seine Schwiegereltern das Haus komplett reinigen lassen. „Du wirst in keinem Raum etwas entdecken, das deine Erinnerungen an diese grässliche Nacht aufrecht halten würde“ hatte seine Schwiegermutter ihm versichert. Aber was war mit den Bildern in seinem Kopf? Die hatte niemand angerührt; keiner hatte versucht, sie auszulöschen. Sie waren noch immer lebendig und klar. Er war gezwungen, sie immer wieder anzusehen. Und sie führten ihn jedes Mal vor Augen, dass er auf der gesamten Linie versagt hatte. Er hatte zugelassen, dass seine Tochter und seine Frau starben.

Verfluchter Scheißkerl, der Teufel soll dich holen!

Er lehnte seine Stirn gegen das Herz aus Pappe: „Vergib mir, mein Engel“, brachte er mühsam hervor. Seine Worte klangen brüchig. Tränen füllten seine Augen. „Ich weiß, dass ich kein guter Vater gewesen bin. Denn ein guter Vater lässt nicht zu, dass seinem kleinen Mädchen etwas passiert. Ich weiß nicht, was ich tun soll, Emi. Ich will sterben, bin bereit dafür. Aber deine Mutter gestattet es mir nicht. Sie verlangt von mir, durchzuhalten, weiterzuleben. Vielleicht denkt sie, dass ich es nicht verdient hätte, glimpflich davonzukommen. Kann sein, dass sie recht hat. Gut möglich, dass ich diese Qualen verdient habe. Es sieht aus, als müsste ich sie bis zum Ende meiner Tage ertragen. Ist das gerecht, mein Baby?“ Natürlich war das gerecht! War ja nicht so, dass er sich unendlich bemüht hatte, seine Familie zu retten. Er hätte etwas tun müssen. Die Möglichkeit, einen Schritt weiterzugehen, gab es immer. Er schien sie übersehen zu haben. Nein, er hatte keine Güte, keine Vergebung verdient. Qual, Schmerz, Trauer?

Ja, ja, ja!

Erlösung?

Auf keinen Fall!

Im Badezimmer stieg er aus seiner verschmutzten Kleidung, trat unter die Dusche. Zu seinem Neuanfang gehörte auch die Körperpflege und zwar regelmäßig. Man hatte ihn vor vier Wochen aus der Reha entlassen. Seitdem

hatte er sich nicht mehr richtig gewaschen, nicht mehr rasiert, nur selten die Zähne geputzt.

„Willst du als Penner enden?“

Nach der Dusche betrachtete er im Spiegel sein eingefallenes Gesicht. Helle Barthaare verbargen die Auswirkungen der letzten Monate. Sie hatten unübersehbar tiefe Spuren hinterlassen. Auch das Glitzern, das seine blauen Augen gewöhnlich innehatten, war erloschen. Sie waren eingesunken und verschleiert. Als würden sie ständig weinen. Er schob ein paar nasse Haarsträhnen aus seiner Stirn und besah die Vertiefung, knapp über der rechten Augenbraue. Er begann zu zittern. So wie damals. Als er auf seinen Knien kauerte und die schwere Pistole auf seinem Stirnknochen ruhte.

Sie waren zu zweit gewesen. Kräftige Männer, die es nicht einmal für nötig hielten, ihre Gesichter vor ihm zu verbergen. Als wäre es ihnen von Anfang an klar gewesen, dass er nicht die Gelegenheit erhalten würde, gegen sie auszusagen. Als wussten sie, dass er in jener Nacht sterben würde. Sie hatten ihn im Schlaf überrascht. Er hatte sich zwar schlaftrunken wie er war, schnell, nahezu reflexartig aus seiner Bettdecke geschält, hatte es jedoch nicht mehr geschafft, auf die Beine zu kommen. Einer der Männer hatte das unterbunden, indem er mit dem Lauf seiner Waffe seinen rechten Backenknochen erzittern ließ. Anschließend rissen sie ihn von seinem Bett herunter und zerrten ihn aus dem Zimmer. Danach wurde er die Treppe hinuntergeschleift und Mattias Karl, dem Baron, wie er genannt wurde, vor die Füße gestoßen. Ein hagerer Mann, vorzeitig ergraut. Mit seltsam grünen Augen, in denen immerzu in die Ferne gerichtete Nachdenklichkeit präsent war. Auf den ersten Blick wirkte er wie ein erfolgreicher Geschäftsmann, der sich nicht scheute, riesige Summen für wohltätige Zwecke auszugeben. In Wirklichkeit jedoch war er ein kaltblütiger Killer. Ein Schwerverbrecher, der sein Geld durch Menschen- und illegalen Waffenhandel verdiente. Die Behörden, die Internationalen inbegriffen, hatten es zu keiner Zeit fertiggebracht, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Vor zwei Jahren bekam Stahlbergs Sondereinheit die Aufgabe zugeteilt, den Baron endlich zur Strecke zu bringen. Die Beamten hatten sich ihm in mühsamer Kleinarbeit genähert; waren ihm so dicht auf den Fersen gewesen, wie niemand zuvor. In wenigen Tagen hätte der Zugriff stattgefunden. Aber die Dinge entwickelten sich ganz anders, als er es sich gedacht hatte. Und am Ende gab es keinen Triumph. Kein Siegerlächeln und auch kein Schulterklopfen. Für Stahlberg gab es nicht mal mehr ein Leben, das er hätte weiterleben wollen. Mattias Karl saß im Sessel.

Er wirkte vollkommen entspannt. In seiner rechten Hand, die lose in seinem Schoß lag, hielt er eine blank polierte Automatik. Seine tiefe, monotone Stimme zeigte keinerlei nervöse Schwankungen, als er wissen wollte: „Ich wette, Sie dachten, Sie können gegen mich einen Krieg führen, den Sie mit einem Sieg krönen werden, habe ich recht?“ Er lächelte süffisant. „Was sind Sie für ein dämliches Arschloch, Mann? Sie ignorieren alle meine Warnungen, lehnen meine Verhandlungsversuche kategorisch ab und bringen dadurch Ihre schöne Frau und Ihr kleines Kind ins Grab!“

Zum ersten Mal wurde es Stahlberg bewusst, dass das Ganze sehr viel tragischer, grausamer enden würde und die Angst um seine Familie durchbohrte sein Herz. Schmerzhafte Panik stach in seiner Brust, verstopfte seine Kehle, sodass er das Gefühl hatte, um jeden Atemzug kämpfen zu müssen.

Nein, Gott, nicht meine Familie! Ich bitte dich, tu mir das nicht an!

„Sagen Sie mir, ist es Ihnen je in den Sinn gekommen, dass ich früher oder später mein Versprechen einlösen würde?“, erkundigte sich der Baron.

„Meine Frau und mein Kind haben mit der Sache nichts zu tun“, führte Stahlberg an. Er bemühte sich, die Worte klar auszusprechen. Das Zittern, das seinen Körper bearbeitete, veranlasste, dass ihm die Stimme versagte.

Mattias Karl schüttelte seinen Kopf. „Ich denke, Sie haben mir nicht zugehört oder haben es einfach verdrängt“, erkannte er und räumte ein: „Bei unserem abschließenden Gespräch sagte ich, dass ich jeden töten werde, der Ihren verfluchten Namen trägt. Fällt es Ihnen wieder ein? Zuerst wird Ihre Tochter sterben. Vor Ihren Augen. Dann werden meine Männer Ihre Frau ficken. Anschließend werden sie ihr die Kehle durchschneiden. Und Sie werden sich alles ansehen. Kommen Sie ja nicht auf die Idee, Ihren Kopf wegzudrehen oder die Augen zu verschließen. Haben Sie mich verstanden?“

„Bitte…!“

„Zu spät, Kerl!“, nahm der Baron Stahlberg das Wort, wobei er eine wegwerfende Handbewegung vortrug. „Ich hatte Sie gewarnt. Aber Sie wollten nicht begreifen. Sie dachten wohl, als Leiter Ihrer Sonderabteilung wären Sie unantastbar, unangreifbar, niemand könne Ihnen etwas anhaben. Jeder ist sterblich, jeder. Das gilt selbstverständlich auch für Sie.“

Stahlberg vernahm seine Tränen, die sich wie in einem Schwall von hinten gegen seine Augäpfel stemmten. Eine Zeitlang gelang es ihm, sich gegen sie zu behaupten. Aber dann konnte er den Damm nicht mehr aufrecht halten. Er hasste sich dafür, weil er seine Familie in diese bedrohliche Lage gebracht hatte. Er hatte in seinem unglaublichen Eifer die Warnungen, die auf ihn prasselten, in den Wind geschrieben. Nun bekam er die Quittung serviert, die wesentlich höher ausfiel.

„Bitte!“, wiederholte er, klang verzweifelter als zuvor. „Meine Familie kann nichts für meine Dummheit, für meinen blinden Ehrgeiz und für meine Überheblichkeit. Bitte tut ihr nichts, lasst sie am Leben.“

Mattias Karl winkte ab. „Ich sagte, zu spät!“, rief er. „Es gibt nichts mehr, womit Sie mich weichkochen könnten. Sie haben alles verspielt, was Sie hätten bei Zeiten retten können. Es ist vorbei, finden Sie sich damit ab.“

„Sie haben dir nichts getan, verdammt! Sie wussten nicht mal vor deiner Existenz!“

„Tja, Pech gehabt, nicht wahr?“

„Töte mich zuerst!“, bot sich Stahlberg jetzt an, hoffte, der Baron würde sein Angebot akzeptieren. Es handelte sich hierbei um einen psychologischen Trick, den er anzuwenden versuchte. Er hatte in zahlreichen Berichten gelesen, dass dieser, professionell angewandt, sehr hohe Erfolgsquoten erzielt hätte. Im Klartext: Selbst blutgierigen Killer hätten sich bereits nach einem Mord gesättigt gefühlt und auf weitere Tötungen verzichtet. Er war sich aber auch bewusst, dass er sich auf die Wissenschaft, auf das Funktionieren des neurologischen Apparates und von den geistig-seelischen Aspekten im Leben des Menschen und Auswirkungen auf den Körper nicht gänzlich verlassen durfte. Es hatte auch nicht wenige Fälle gegeben, in denen dieser Trick versagt hatte und der Täter regelrecht in einen Rausch geriet und ein Blutbad im wahrsten Sinne des Wortes anrichtete. „Töte mich und lass sie am Leben, in Ordnung? Ich bin der Sündenbock, der alle Schuld für deine Unannehmlichkeit trägt. Ich bin der, den du haben willst.“

„Keine Kompromisse mehr“, gab der Baron entschieden zurück. „Die Zeit der Verhandlungen ist vorüber. Sie hätten einlenken sollen, als Sie die Gelegenheit dazu hatten. Aber Sie wollten lieber kämpfen. Kluge, starke Männer kämpfen nicht nur. Hin und wieder reden sie auch miteinander, damit sie ihre Unstimmigkeiten aus der Welt schafften. Dass es soweit kommen musste, dafür tragen Sie die Schuld, Sie ganz allein. Und es wird Ihnen nicht gelingen, mich umzustimmen. Ich werde, wie ich bereits verkündet habe, Ihre Frauen töten und Sie werden zusehen.“

Stahlberg griff nach der Hand Mattias Karls, die die Waffe hielt und zog sie zu sich herüber. Die Mündung der Automatik ruhte nun auf seiner Stirn. „Mach schon!“, forderte er. „Na, los, töte mich!“

Der Baron grinste boshaft. „Warum diese Eile? Warten Sie, bis Sie an der Reihe sind.“

Stahlberg gab nicht auf. Er war gezwungen dranzubleiben, musste unentwegt seinen Gegner bearbeiten. Seine Beharrlichkeit war vielleicht die einzige Chance, seine Familie doch noch zu retten. „Komm schon, du verfluchter Bastard! Töte mich und lass meine Familie am Leben. Ich bin es, der dir immer wieder in den Arsch getreten hat. Mach schon, worauf wartest du? Hast du Angst, den Abzug zu drücken? Ja, du hast Angst. Hah, wer hätte das gedacht? Der berüchtigte Baron, vor dem angeblich alle zittern, ist in Wirklichkeit ein Feigling. Wissen deine Männer überhaupt, für welch einen Schlappschwanz sie arbeiten?“

Stahlberg entging nicht, dass er auf dem richtigen Weg war. Es fehlte nicht viel, bis er seinen Widersacher soweit hatte, dass er in seinem Sinne tätig wurde. Der selbstgefällige Ausdruck war aus dem Gesicht des Barons gewichen. Seine Züge verfinsterten sich, zeigten jetzt seine offene, gemeine Feindseligkeit.

„Drück ab!“, rief Stahlberg, rüttelte die Hand Barons, die die Waffe trug. „Zeig mir, dass du Eier in der Hose hast, ich mich getäuscht habe, du doch kein Feigling bist!“

Ein kleiner Nerv zuckte unruhig an der linken Schläfe Mattias Karls. Seine seltsamen Augen verengten sich. Seine Lippen waren aufeinandergepresst. Er begann schwer durch seine aufgeblähten Nasenlöcher zu atmen. Sein ganzer Körper geriet unter nervöser Spannung. Ein Zittern, von den Schultern bis zu den Fingern, zog durch seinen Arm. Als wehrte er sich gegen den Drang, den Abzug zu betätigen.

„Na, los, schieß schon!“

Den Klang des Schusses empfand Stahlberg dumpfer, leiser als gewöhnlich. Das war auch das einzige, woran er sich noch erinnern konnte. Davon, dass er durch den Aufprall nach hinten geworfen wurde und ein scharfer Pfeifton seinen Schädel gefüllt hatte, wusste er nichts. Auch über die Dunkelheit, die ihn eingeschlossen und ihn ausgelöscht hatte, konnte er nichts sagen. Er begann sich zu rasieren.

Die Kugel war durch seinen Stirnknochen eingedrungen und durch den Aufprall ein wenig nach rechts abgedriftet. Sie war aus seinem Hinterkopf wieder herausgetreten, ohne dabei sein Gehirn ernsthaft zu beschädigen. „Wenn es der Fall gewesen wäre, wären Sie entweder gleich gestorben, oder aber, Sie wären für den Rest Ihres Lebens an einen Rollstuhl gefesselt“ hatte ihm der Professor, der die Operation durchgeführt hatte, erklärt. Demnach hatte er ziemlich großes Glück im Unglück gehabt. So ein Quatsch, verdammt!

Er hatte kein Glück gehabt. Schon gar nicht ein Großes. Überhaupt vom Glück hätte er gesprochen, wenn die Kugel, die aus irgendeinem Grund gnädig mit ihm gewesen war, sein Gehirn zerfetzt und er gestorben wäre. Seine Annahme, der Baron würde, nachdem er ihn niedergeschossen hatte, seine Frau und sein kleines Mädchen am Leben lassen, hatte sich als eine Fehleinschätzung erwiesen.

So viel zu psychologischen Tricks, dachte er.

Er lebte noch.

Anna und Emily hingegen waren gestorben.

Glück, dass ich nicht lache!