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Sechs Sommer, um sich zu verlieben. Ein Sommer, der alles verändert. Vor sechs Sommern: Liv und Finn lernen sich bei der Arbeit in einer Bar an der zerklüfteten Küste Cornwalls kennen. Als eine gemeinsame Nacht in einer verheerenden Tragödie endet, sind sie untrennbar miteinander verbunden. Aber Finn muss zurück zu seiner Band nach Los Angeles, und Livs Leben ist in Cornwall bei ihrer Familie ‐ also geben sie sich ein Versprechen. Finn wird jedes Jahr wiederkommen, und wenn sie Single sind, werden sie den Sommer zusammen verbringen. In diesem Sommer: Die Wildblumen und das Heidekraut blühen, und Liv verliebt sich in Tom, einen geheimnisvollen Neuankömmling in ihrer Heimatstadt. Zum ersten Mal kann sie sich eine Welt vorstellen, in der ihr nicht jedes Jahr das Herz gebrochen wird. Doch ihre tragische Verbindung zu Finn ist stark. Liv muss eine unmögliche Entscheidung treffen.
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Seitenzahl: 516
Paige Toon
Sieben Sommer, die ein Leben verändern
Als Liv sich in Finn verliebt, ahnt sie nicht, welches schreckliche Schicksal sie an ihn binden wird. Obwohl Finn nur im Sommer nach Cornwall zu Liv zurückkehren kann, kommt sie nicht von ihm los. Bis sie Tom kennenlernt. Doch auch er trägt ein Geheimnis in sich. Welcher der Männer wird Liv glücklich machen?
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Paige Toon ist eine internationale Bestsellerautorin, ihre Bücher haben sich weltweit knapp 2 Millionen Mal verkauft. Sie schreibt dramatische und emotionale Liebesgeschichten mit unvergesslichen Figuren und Settings, die ihre Leserinnen auf einzigartige Reisen mitnehmen. Ihre Liebesromane behandeln oft große Themen, die nachdenklich stimmen, und laden immer zum Träumen ein. Lachend und weinend wird man Teil einer neuen Familie. Paige Toon lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Cambridgeshire. Auf TikTok, Instagram und Facebook ist sie unter @paigetoonauthor zu finden.
Andrea Fischer hat Literaturübersetzen studiert und überträgt seit über fünfundzwanzig Jahren Bücher aus dem britischen und amerikanischen Englisch ins Deutsche, unter anderem die von Lori Nelson Spielman, Michael Chabon und Mary Kay Andrews. Sie lebt und arbeitet im Sauerland.
[Widmung]
1. Kapitel
Dieser Sommer
2. Kapitel
Der Sommer vor sechs Jahren
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
Dieser Sommer
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
Der Sommer vor fünf Jahren
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
Dieser Sommer
22. Kapitel
23. Kapitel
Der Sommer vor vier Jahren
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
Dieser Sommer
28. Kapitel
Der Sommer vor drei Jahren
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
Dieser Sommer
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
Der Sommer vor zwei Jahren
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
Dieser Sommer
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
Der letzte Sommer
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
Dieser Sommer | Der siebte Sommer
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
Epilog
Ein Sommer später …
Zwei Sommer später …
Drei Sommer später …
Vier Sommer später …
Fünf Sommer später …
Sechs Sommer später …
Sieben Sommer später …
Noch mal sieben Sommer später …
Danksagung
Playlist
Für Lucy.
Welch ein Glück, dich in meinem Leben zu haben.
Die violetten und weißen Wildblumen auf den grasbewachsenen Hängen verströmen einen betörenden Duft, die Morgenluft ist frisch und still, als ich mich auf den Weg zum Seaglass mache, das Strandrestaurant mit angeschlossener Bar, in dem ich arbeite. Die Hügel zu beiden Seiten der sich hindurchwindenden Straße scheinen immer höher aufzuragen, und irgendwann kommt in der Ferne der Atlantik in Sicht, der dunkelblau auf den Horizont trifft. Ich folge der Straße vorbei an weiß getünchten Cottages, am Pub und am Haus des Surf Life-Saving Club, der Lebensrettungsgesellschaft, bevor die Bucht von Trevaunance Cove sich vor mir auftut. Noch ein paar Stunden bis zum Höchststand der Flut, die klaren aquamarinblauen Wellen plätschern sanft an den cremeweißen Sand.
Endlich ist der Sommer da, und Cornwall strahlt. Die damit verbundene Hoffnung schlägt sich auf meinen gesamten Körper nieder. Es fühlt sich an, als sei ich endlich bereit, aus dem kühlen Schatten zu treten, der seit geraumer Zeit auf mir liegt und mich belastet.
Dabei hilft mir meine neue Frisur. Solange ich denken kann, hatte ich lange dunkle Locken, aber gestern war ich bei der Friseurin und habe ihr gesagt, sie solle sich was einfallen lassen.
Jetzt schwingt mein Haar luftig in Wellen, ohne meine Schultern zu berühren, und ich finde es großartig. Ich fühle mich wie ein komplett neuer Mensch. Genau das habe ich gebraucht.
Meine Gedanken wandern zu Finn, und meine Laune verdüstert sich, dann fährt mir eine Brise durch die Haare und weht sie mir aus dem Gesicht, fast so als würde Mutter Natur mich daran erinnern, dass es Zeit für einen Neuanfang ist.
Als ich die Außentreppe des Seaglass hochsteige, habe ich das Gefühl, dass unten am Strand etwas anders ist. Der kleine Fluss, der hier ins Meer mündet, hat sich mit unzähligen Armen in den Sand gegraben, und irgendjemand hat einige dieser Rinnsale tiefer ausgehöhlt, so dass sie wie aus einem Stamm wachsende Äste aussehen.
Ich bleibe stehen, um die Kunst im Sand genauer zu betrachten. Der Baum hat keine Blätter. Soll er symbolisch für den Winter stehen? Und mit welchen Werkzeugen wurde dieses Sandbild geschaffen? Als Bildhauerin interessiert mich so etwas.
Eine Welle bricht sich am Ufer und schäumt über die höchsten Zweige des Kunstwerks. Nicht mehr lange, dann wird die Flut dieses Bild im Sand auslöschen. Ich finde es traurig, dass etwas so Schönes zerstört wird, bevor sich auch andere daran erfreuen können.
Mir kommt eine Idee. Ich hole mein Handy heraus und mache ein paar Fotos, von denen ich die besten auf der Instagram-Seite des Seaglass poste, darunter den Text: Wie wär’s mit ein bisschen Strandkunst zum Brunch?
Ich bin bildende Künstlerin, keine Wortakrobatin, das muss reichen.
Als ich meine E-Mails checke, sehe ich, dass ich eine neue Nachricht von Tom Thornton habe:
Hi Liv,
wollte nur fragen, ob es möglich wäre, das Cottage schon vor sechzehn Uhr zu beziehen – bin bereits in Cornwall.
Danke,
Tom
Ich tippe zurück:
Hi Tom,
stell dein Auto gern schon vor dem Haus ab. Ich hatte nur noch keine Zeit zum Saubermachen, da die anderen Gäste gerade erst abgereist sind. Ich muss jetzt zur Arbeit, deshalb werde ich vor vier Uhr wohl kaum fertig sein.
Grüße,
Liv
Als ich sehe, dass er die Nachricht schon vor zwei Stunden geschickt hat, bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Auf der Website sind meine Bedingungen klar und deutlich aufgeführt, aber nachdem andere Gäste in letzter Minute storniert hatten, bin ich echt dankbar, dass dieser Tom das Cottage für den gesamten Juni gebucht hat. Deshalb überlege ich, ob ich für ihn eine Ausnahme machen soll. Ich hatte mir schon den Kopf zerbrochen, wie ich die Wohnung außerhalb der Schulferien vier Wochen lang vermietet bekomme, und dann tauchte dieser Tom auf und entpuppte sich gewissermaßen als mein Retter in der Not.
Ich beschließe, im Laufe des Vormittags eine Pause einzulegen und die Wohnung fertig zu machen, damit er früher rein kann. Das wäre nur fair.
Als ich das Seaglass über den Haupteingang an der Seite betrete, nimmt mich der vertraute Geruch von abgestandenem Bier und Feuchtigkeit in Empfang. Ich bin die Erste, aber es wird nicht lange dauern, bis die Küchencrew, die Thekenmannschaft und die Kellner und Kellnerinnen eintreffen. Die Küche und der Restaurantbereich sind im ersten Stock; auf dieser Etage bemühen wir uns eher um eine gechillte Bar-Atmosphäre. Zur Linken öffnen sich Glastüren auf einen Balkon, von dem man aufs Meer schaut. Rechts von mir ist die mit dunklem Holz verkleidete Theke, die ungefähr die Hälfte der Rückwand einnimmt, daneben eine offene Wendeltreppe. Ganz hinten sind die Toiletten, und gegenüber vom Eingang, im rechten Winkel zum Tresen, befindet sich eine Bühne.
Beim Blick auf die kleine erhöhte Fläche zieht sich mein Magen zusammen, und kurz werde ich in die Vergangenheit zurückversetzt: Finn steht am Mikro, die Lippen zu einem angedeuteten Lächeln verzogen, und schaut mir tief in die Augen.
Ob er diesen Sommer wiederkommt?
Genug davon.
Hinter mir geht die Tür auf. Ich fahre zusammen. In der Erwartung, Kollegen zu sehen, drehe ich mich um, doch vor mir steht ein Fremder: ein groß gewachsener, breitschultriger Mann mit einem schweren schwarzen Rucksack, die Hände in den Taschen eines dunkelgrauen Hoodies vergraben, die Kapuze über den Kopf gezogen.
»Tut mir leid, wir haben noch nicht geöffnet«, rufe ich.
Er bleibt abrupt stehen, sichtlich genervt. »Wann machen Sie denn auf?«, fragt er ohne Umschweife.
»Um zehn.«
Es ist erst Viertel nach neun.
Er murmelt etwas vor sich hin, macht auf dem Absatz kehrt und marschiert wieder nach draußen. Die Tür lässt er sperrangelweit offenstehen.
Was für ein unhöflicher Kerl!
Ich gehe hinüber, um die Tür zu schließen, und werfe noch einen Blick Richtung Meer. Die Wellen brechen sich am Strand und haben bereits einen großen Teil des Baums ausgelöscht. Trotz meines Vorsatzes, heute gute Laune zu haben, macht sich eine gewisse Melancholie in mir breit, während ich den Laden weiter vorbereite.
Als ich in meinem Haus ankomme, dem Beach Cottage, steht kein Wagen in der Auffahrt. In dem Gebäude mit dem naheliegenden Namen wohne ich seit meinem dreizehnten Lebensjahr. Vor ein paar Jahren habe ich es umbauen lassen, so dass zwei separate Apartments entstanden sind. Von außen sieht es jedoch immer noch wie ein zweistöckiges Cottage aus. Es ist aus grauem Stein, die Haustür befindet sich mittig zwischen vier symmetrisch angeordneten Fenstern mit blassblauen Rahmen. Über der hohen Mauer, die das Grundstück umschließt, kann man drei große Palmen erkennen. An der Straßenseite verläuft ein murmelnder Bach, der von einer taillenhohen Steinmauer eingefasst wird. Durch das Moos und Unkraut in ihren Rissen und Spalten fügt sie sich perfekt in die Landschaft ein. Zwei kurze Brücken von jeweils nur anderthalb Metern überqueren den Bach und führen zu meiner Eingangstür beziehungsweise der Auffahrt.
Ich überquere die kleine Brücke zur Haustür und trete in den Flur, um von dort das Apartment im Erdgeschoss aufzuschließen. Die Gäste, die heute abgereist sind, hatten keine Kinder, und dieser Tom ist allein, deshalb muss ich im Kinderzimmer mit dem Etagenbett und dem angrenzenden Bad nicht so viel tun.
Ich gehe durch das gemütliche Wohnzimmer, sehe mich um und muss beim Anblick der perfekt platzierten Sofakissen lächeln. Die offene Küche und der Essbereich im hinteren Teil sind ebenfalls blitzsauber. Wenn nur alle Gäste so vorbildlich wären!
Zufrieden, dass ich die Wohnung in Nullkommanichts fertig haben werde, schicke ich Tom schnell eine E-Mail, um ihm mitzuteilen, dass er schon am Mittag einziehen kann. Hoffentlich freut er sich über die Nachricht.
Als ich am nächsten Morgen aufstehe, gehe ich direkt zum Fenster und ziehe die Gardinen zurück. Immer noch kein Auto in der Auffahrt! Ist dieser Tom überhaupt gekommen? Ich habe nichts von ihm gesehen oder gehört, er hat auch nicht auf meine Mail geantwortet.
Eine Stunde später sind alle Sorgen über den fehlenden Gast vergessen, denn ich stehe auf dem Balkon des Seaglass und betrachte gerührt die beiden Bäume, die in den Strand gezeichnet sind.
Die Äste des linken wachsen ebenso aus dem Fluss wie bei dem Baum von gestern – ein Gewirr aus nackten, elegant geschwungenen Zweigen.
Der zweite ist genau in der Mitte in den Sand gemalt, ein großer, schlanker Nadelbaum in Kegelform, der mich an die italienischen Zypressen erinnert, die die Wege im Boboli-Garten in Florenz säumen.
Bei der Erinnerung wird mir flau im Magen. Die Kunst am Strand fesselt mich, und aus der Nähe kann ich sehen, dass die Ränder der Zypresse sehr realistisch aufgefächert sind. Ich könnte mir vorstellen, dass hier mit einer Harke gearbeitet wurde; der Baum, der aus dem Flüsschen wächst, scheint jedoch mit einem gröberen Werkzeug in den Sand gegraben worden zu sein. Ich hatte angenommen, er solle den Winter symbolisieren, doch neben der großen, kraftstrotzenden Zypresse wirkt er völlig ausgezehrt.
Ich würde gern wissen, was der- oder diejenige sich dabei gedacht und beim Erschaffen dieser Werke empfunden hat. Entstanden sie aus Freude oder Traurigkeit oder einem ganz anderen Gefühl heraus?
Ich gehe an der Zypresse entlang Richtung Wasser und bleibe am Ufer stehen, schaue aufs Meer und denke an Florenz, einen Ort, der für mich einst der Inbegriff von Hoffnung war. Ein Stich fährt mir durch die Brust.
Als ich vor sechs Jahren an die Akademie der Künste nach Florenz ging, war ich gerade erst mit der Uni fertig und fühlte mich wie eine Studentin, die nur so tut, als sei sie Künstlerin. Doch in den vier Wochen dort, als ich dem kalten Ton mit meinen Händen so etwas wie Leben einhauchte, wuchs von Tag zu Tag die Vorfreude auf eine Zukunft voller Möglichkeiten. Ich freute mich auf die nächste Phase meines Lebens: nach London zu ziehen und mir eine Stelle in einem Atelier zu suchen.
Dann brach alles zusammen.
Ich bin vielleicht nicht nach London gegangen oder zurück nach Italien, wie ich es mir mal ausgemalt hatte, aber dafür würde ich mich heute tatsächlich als ernst zu nehmende Bildhauerin bezeichnen. Auch wenn ich daneben noch einen anderen Job habe – während der Sommermonate arbeite ich im Seaglass.
Ich lächele zum Meer hinüber, und der Schmerz in meiner Brust lässt nach.
Auf dem Weg zurück zum Restaurant mache ich ein paar Fotos. Eins davon poste ich auf Instagram mit dem Text: Auch heute wurden wieder beeindruckende Kunstwerke auf unserem Strand gesichtet – wir wüssten zu gern, von wem sie stammen!
Am Samstag habe ich immer am meisten zu tun: Ich muss nicht nur den Brunch vorbereiten, sondern brauche auch mehrere Stunden fürs Putzen und Vorbereiten der anderen drei Ferienhäuser, für die ich verantwortlich bin, um dann zur Abendschicht ins Seaglass zurückzukehren. Bevor es dort losgeht, werfe ich einen Blick auf meinen Post und sehe, dass er schon fast fünfzig Likes hat. Auf der Suche nach Antworten scrolle ich durch die Kommentare, finde aber nichts.
Rachel, eine meiner ältesten Freundinnen, hat etwas geschrieben:
Welchen Baum findest du besser?
Ich antworte, ohne nachzudenken: Sie berühren mich beide, auf unterschiedliche Weise.
Ich finde, beide Kunstwerke drücken Verlust aus, auch wenn die Zypresse in ihrer ganzen Pracht und der Baum nackt und kahl dargestellt ist.
Offenbar ist Rach online, denn sie erwidert innerhalb von Sekunden: Ob morgen wohl was Neues da ist?
Ich tippe: Liebe/r geheimnisvolle/r Künstler/in! Wenn du das hier liest: Morgen wünschen wir uns einen ganzen Wald!
Immerhin habe ich daran gedacht, »wir« zu schreiben und nicht »ich«. Es soll so klingen, als spräche die Belegschaft des Seaglass, während in Wirklichkeit nur ich allein mit meinen achtundzwanzig Jahren für das Instagramprofil verantwortlich bin.
Bis zum Feierabend um Mitternacht bin ich unentwegt auf den Beinen, deshalb drücke ich am nächsten Morgen um sieben Uhr, als der Wecker klingelt, erst mal auf die Schlummertaste und schlafe auch fast wieder ein.
Mein Wunsch, endlich dahinterzukommen, wer die Kunstwerke in den Sand gezeichnet hat, ist allerdings größer als meine Erschöpfung, und so quäle ich mich in der Hoffnung aus dem Bett, dass ich heute rechtzeitig am Strand sein werde. Der Höhepunkt der Ebbe war heute eine ganze Stunde und zwei Minuten später, deshalb stehen die Chancen gut.
Doch als ich die Bucht erreiche, bin ich wieder zu spät. Im ersten Moment kommt Enttäuschung auf, allerdings wird sie von meiner Achtung und Anerkennung im Keim erstickt.
In den Strand wurde ein gewundener Pfad gegraben; an der Bootsrampe, wo er anfängt, ist er noch breit und wird dann immer schmaler, bis er kurz vorm Wasser nur noch ein dünner Strich ist. Zu beiden Seiten dieses Wegs sind schirmartige Pinien angedeutet. Im Vordergrund sind sie groß und majestätisch, zum Wasser hin werden sie immer kleiner und sind nur noch schemenhaft zu erkennen.
Ich verspüre den Wunsch, Teil dieses Kunstwerks zu sein, will über diesen durch einen Zauberwald führenden magischen Pfad gehen, um auszuprobieren, wie es sich anfühlt.
Aus einem Impuls heraus nähere ich mich der Rampe und trete in den Sand. Lächelnd folge ich dem gewundenen Weg, der aufgrund der perspektivischen Darstellung immer schmaler wird. Nach kurzer Zeit habe ich das Gefühl, riesengroß zu sein; am Ende muss ich die Füße vorsichtig voreinandersetzen, und den letzten Abschnitt gehe ich mit ausgestreckten Armen, als würde ich auf einem Seil balancieren. In mir steigt Freude auf, sie sprudelt über, und ich drehe mich im Kreis, die Arme weit ausgestreckt.
Als ich dem verschlungenen Pfad zurück zum Seaglass folge, habe ich noch immer ein Lächeln im Gesicht. Am Restaurant angekommen, hebe ich den Kopf und muss zweimal hinsehen: Oben auf den nördlichen Klippen sitzt ein Mann auf der Bank, halb versteckt hinter einem Ginsterbusch, der übervoll mit strahlend gelben Blüten ist. Ich stolpere und falle fast über meine eigenen Füße, kann mich aber gerade noch fangen. Als ich wieder hochschaue, ist der Mann verschwunden.
Am Montagmorgen komme ich an den Strand und stelle fest, dass der Sand noch unberührt ist. Bin ich dieses Mal rechtzeitig, oder ist der oder die Fremde in eine andere Bucht weitergezogen?
Für den Fall, dass noch etwas passiert, steige ich die Treppe zum Seaglass hinauf, um mich dort zu verstecken und eine Weile zu warten. Da entdecke ich eine Zeichnung im Sand, die mir noch gar nicht aufgefallen war.
Es ist die lebensgroße Silhouette einer jungen Frau in einem knielangen Sommerkleid, so ähnlich wie das, das ich am Vortag trug. An einer Seite hebt sich der Saum, als fahre der Wind darunter. Die welligen Haare reichen fast bis zu den Schultern; die Frau hat die Arme weit ausgestreckt, als würde sie sich freuen.
Ein Schauder läuft mir über den Rücken.
Zögernd gehe ich ans Geländer und schaue zu den Klippen hinüber.
Dort sitzt wieder der Mann auf der Bank. Ist er der Künstler? Hat er mich gestern beobachtet?
Ich laufe die Außentreppe hinunter, haste die Straße hoch und renne dann nach links auf den Küstenweg. Auf dem schmalen felsigen Pfad zerkratzt mir bei jedem unbedachten Schritt der Ginster die Beine. In meinem Kopf jagen sich die Gedanken.
Jemand, der so schön malt, kann kein Psychopath sein, sage ich mir.
Der Wunsch, den Künstler kennenzulernen, blendet alles andere aus.
Ich weiß genau, wo die Bank ist, weil ich dort schon oft gesessen und zugesehen habe, wie die Flut hereinrollt oder wie die Surfer auf den Wellen reiten. Als sich der Blick zum Hochmoor hin öffnet und in die Ferne schweift, klopft mir das Herz bis zum Hals. Schwer atmend sehe ich die leere Bank vor mir und ringe nach Luft.
Wo ist er?
Ich kraxele weiter, bis der steile Weg flacher wird, und da! Ganz weit hinten marschiert jemand in Richtung Trevellas Cove, und zwar ---
Ein großer, breitschultriger Mann in einem dunkelgrauen Hoodie.
Ich denke an Freitagmorgen und an den Mann, der nicht sonderlich erfreut war, als ich ihm sagte, dass wir noch geschlossen hätten. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie er aussah. Als er kurz vor der höchsten Stelle ist, formt sich ein Wort in meiner Kehle und ist draußen, ehe ich es aufhalten kann.
»HEY!«
Er schaut über die Schulter zurück, bleibt abrupt stehen und dreht sich um. Er ist zu weit entfernt, als dass ich seine Gesichtszüge erkennen könnte, trotzdem recke ich die Arme und winke, damit er auf mich wartet.
Ich laufe los, aber nachdem ich nur wenige Meter zurückgelegt habe, wendet er sich ab und stapft davon.
»HEY!«, rufe ich noch mal. »WARTE!«
Doch entweder hört er mich nicht, oder er will mich nicht verstehen, denn kurz darauf ist er aus meinem Blickfeld verschwunden.
Auf dem Rückweg beschäftigt mich eine ungewohnte Mischung von Emotionen: Ich bin beschwingt und frustriert zugleich, aufgeregt und beunruhigt.
So viel habe ich lange nicht gefühlt.
Auch als ich mich eine Stunde später zu Hause für den Brunch im Seaglass fertig mache, sind all diese Gefühle noch sehr präsent in mir. Gerade steige ich die Treppe hinunter, da höre ich, wie die Haustür aufgeschlossen wird.
Endlich lerne ich den geheimnisvollen Tom kennen.
Gestern Nachmittag habe ich ihn kurz unten gehört, doch meistens ist er mucksmäuschenstill. Er hat auch sein Auto nicht in der Einfahrt geparkt. Ich war zu abgelenkt, um an ihn zu denken.
Mit dem wärmsten, fröhlichsten, freundlichsten Lächeln öffne ich die Tür und sehe einen großen, breitschultrigen Mann in einem dunkelgrauen Hoodie vor mir.
Ich schnappe nach Luft, reiße die Augen auf.
Er muss etwa Anfang dreißig sein und wirkt aus der Nähe noch größer und breiter – scheint kaum in den kleinen Flur zu passen. Die Kapuze hat er zurückgeschlagen, so dass man seine kurzen dunkelblonden Haare, die markante Stirn und das kräftige Kinn mit dem Dreitagebart sieht. Seine Augen haben die Farbe von Ahornsirup, durch den das Licht schimmert, gesprenkelt mit goldbraunen Splittern.
»Du«, flüstere ich. Der Schock des Erkennens in seinem Gesicht weicht erschöpfter Resignation.
»Oh, verdammt«, murmelt er.
Im Rhythmus des Basses gehe ich über den Asphalt hangabwärts. Die Schwerkraft und der Schwung verleihen mir Flügel. Es ist Freitagabend, ich bin endlich zu Hause und kann es nicht erwarten, meine Freundinnen wiederzusehen.
Amy hat mir gesagt, dass Dans Band momentan jeden Abend im Seaglass spielt, und offensichtlich hat sie schon angefangen.
Kaum zu glauben, dass ich heute Morgen noch in Florenz war und erst vor einem Monat meinen Bachelor of Arts in Bildhauerei am Edinburgh College of Arts gemacht habe. Vier Jahre lang bin ich zwischen historischen Gebäuden über Kopfsteinpflaster gelaufen und habe im geschäftigen Treiben dieser pulsierenden, lebenssprühenden Stadt kaum Ruhe gefunden. Und jetzt bin ich wieder in St Agnes, wo das Geräusch brechender Wellen die Luft erfüllt, die Seeluft meine sonnenverbrannte Haut kühlt und die Band im Seaglass spielt.
Als ich die Außentreppe hochsteige, erklingt gerade ein frenetisches Crescendo auf dem Schlagzeug, dann komme ich um die Ecke. Der Balkon ist rappelvoll. Zigarettenqualm liegt wie Seenebel über den wippenden Köpfen.
Ich höre einen spitzen Schrei, die Menge tut sich auf, und Rachel stürmt auf mich zu. Dann liegen wir uns in den Armen.
»Wo bist du so lange gewesen?«, ruft sie, während das Lied ausklingt und die Band schon das nächste anspielt.
»Die Straßen vom Flughafen hierher waren so voll, dann wollten meine Eltern noch, dass ich mit ihnen zu Abend esse – ich hatte noch nicht mal Zeit zum Duschen!«
»Du siehst super aus! Komm, es gibt einiges aufzuholen!«
Rach zieht mich durch die Glastür hinein und steuert geradewegs auf die Theke zu. Sie hat Sand an den Händen und sieht aus, als sei sie direkt vom Strand gekommen. So wie ich Rach kenne, stimmt das wahrscheinlich sogar. Ihre kastanienbraunen Haare sind zu einem tief sitzenden Pferdeschwanz gebunden, und die Strähnen, die sich daraus gelöst haben, sind feucht von der Meeresluft. In Rachs Nacken sehe ich den Knoten ihres olivgrünen Tankinis unter dem extraweiten weißen T-Shirt, dazu trägt sie ihr Markenzeichen, eine weite Surfershorts. Typischer Rachel-Stil. Ich fand ja, dass ich in Jeans und schwarzem Oberteil schon lässig gekleidet bin, aber meine Freundin setzt noch einen drauf.
»So voll hab ich den Laden noch nie gesehen!«, rufe ich.
Rach quetscht sich in eine winzige Lücke am Tresen. »Ich glaube, Dan hat halb Cornwall eingeladen. Es sind auch viele Leute von früher aus der Schule da.«
Ich schaue zur Band hinüber, und mein Blick bleibt an Dan Cole hängen, dem blonden, breitschultrigen Leadgitarristen, in unserer Klasse auf der weiterführenden Schule damals der große Mädchenschwarm. Amy war in ihn verknallt, aber bis zu seinem ersten Jahr an der Uni hatte er eine feste Freundin, und soweit ich gehört habe, stößt er sich seitdem die Hörner ab.
Tarek, der Bassist, und der Schlagzeuger Chris waren ebenfalls in unserem Jahrgang, so wie der Sänger der Band, Kieran. Doch der ist heute nicht da. Mein Blick bleibt an seinem Ersatz hängen.
Die zerzausten dunklen Haare fallen dem Typen in die fast geschlossenen Augen, er hat die schmale Hüfte seitlich rausgeschoben und umfasst das Mikrophon mit beiden Händen, die Lippen ans Metall gepresst.
Er hat eine gute Stimme; tief und dunkel, aber trotzdem melodisch.
»Wer ist das?«, frage ich.
»Kennst du Finn nicht mehr? Er war in unserem Kunstkurs.«
»Quatsch!«
Der Finn, mit dem wir zur Schule gegangen sind, war unglaublich schüchtern. Er hatte immer Beanies auf, die er so tief runterzog, dass man ihm kaum in die Augen sehen konnte. Ich wüsste nicht, dass er damals zu Dans Clique gehört hätte. Oder dass er überhaupt irgendwohin gehörte. So, wie ich mich erinnere, war er eher ein Einzelgänger.
Der Finn, der hier auf der Bühne steht, ist absolut heiß. Er trägt eine schwarze Jeans und einen weiten schwarzen Grobstrickpulli voller Löcher – ein lässiger, sexy Rockstar.
Auf einmal brüllt er »I’m lonely« ins Mikro, und die Band hält inne. Man spürt die Spannung im Publikum. Übers Mikro ist zu hören, wie Finn zischend die Luft einzieht, dann singt er die nächste Zeile, und die Gitarrenriffe setzen wieder ein.
Mir stellen sich die Nackenhaare auf.
»Wie heißt das Lied?«, frage ich, ohne den Blick von dem Sänger abzuwenden.
Ich habe es schon mal gehört, kann mich aber nicht an den Titel erinnern.
Rach sieht mich ungläubig an. »›Need You Tonight‹ von INXS? Ehrlich, wie kann man das nicht kennen?«
»Das Lied ist älter als ich«, entgegne ich zu meiner Verteidigung.
»Und das davor war von Royal Blood, ›Figure It Out‹«, fügt sie hinzu.
Rachel steht voll auf Indierock. Ich nicht. Ich habe früher klassische Musik auf dem Klavier gespielt.
»Oi, AMES!«, ruft Rach.
Ich reiße den Blick von Finn los und entdecke eine zierliche Blondine hinter der Theke. Geistesabwesend sieht sie zu uns herüber.
»Ja, Moment, ich komme gleich … Liv!« Als Amy mich entdeckt, muss sie zweimal hingucken, dann stürzt sie auf mich zu. »Sorry, heute Abend ist der Teufel los. Wir haben zu wenig Leute.«
Amy, Rachel und ich sind unzertrennlich, seit wir mit vierzehn Jahren auf einer Party Freundschaft geschlossen haben – wir waren die Einzigen, die nicht Wahrheit oder Pflicht spielen wollten, deshalb versteckten wir uns auf der Toilette.
In den letzten vier Jahren haben die beiden sich deutlich öfter gesehen als mich, weil Amy an der Uni in Plymouth studiert hat, die viel näher liegt. Selbst schuld, dass ich über fünfhundert Meilen weit weggehen musste.
»Ich komme später zu euch«, verspricht Amy und greift an Rach vorbei nach meinem Arm, um mich kurz zu drücken. Dann ist sie wieder weg.
»Was willst du trinken? Falls ich es irgendwie schaffe sollte, an der Bar durchzukommen?«, brummt Rachel.
Chas, der Inhaber des Seaglass, will an uns vorbeigehen, bleibt dann abrupt stehen. Der über sechzigjährige, wettergegerbte Surfertyp hat sich kaum verändert.
»Willst du wirklich nicht hier arbeiten?«, fragt er Rach.
»Auf gar keinen Fall«, antwortet sie.
Sie jobbt in einem Surfshop oben im Ort. Rachel würde ein Jahr von Dosenbohnen und Spaghetti leben, wenn sie dafür mehr Zeit am Strand verbringen könnte. Ganz bestimmt würde sie ihre Freizeit nicht mit so etwas Banalem wie Kellnern vergeuden.
»Ich aber!«, rufe ich und beuge mich an meiner Freundin vorbei vor.
Chas nimmt mich zum ersten Mal wahr. Seine Augenbrauen wandern zum zurückweichenden graubraunen Haaransatz. »Hey, Liv! Bist du den Sommer über hier? Meinst du das ernst? Suchst du einen Job?«
»Allerdings.«
»Kannst du sofort loslegen?«, fragt er hoffnungsvoll.
»Hey!«, mischt Rach sich ein. »Sie ist gerade erst angekommen. Lass sie in Ruhe, Chas! Schließlich hast du schon unsere andere Freundin für dich eingespannt.«
»Schon gut, schon gut.« Kapitulierend hebt Chas die Hände. »Und wie wär’s morgen?«
»Okay«, sage ich grinsend.
»Könntest du um halb fünf da sein? Die Band spielt dann wieder, und wahrscheinlich wird es genauso voll wie heute.«
Ich schaue zur Bühne hinüber, und wieder bleibt mein Blick an Finn hängen.
»Ja, mach ich.« Es fällt mir schwer, mich auf die zwei neben mir zu konzentrieren.
»Wenn das so ist, geht die nächste Runde aufs Haus. Was wollt ihr?«
»Ein Rattler bitte!«, bestellt Rach.
Chas sieht mich fragend an.
»Für mich auch.« Ich mag den Cider aus der Gegend, der hier verkauft wird.
»Und zwei Tequila!«, ruft Rach hinterher, während Chas zwei Plastikgläser aus dem Gestell über dem Tresen nimmt.
»Was? Nein!« Ich schlage meiner Freundin auf den Arm.
»Komm schon!«, sagt sie. »Das letzte Mal, als wir richtig gefeiert haben, war Silvester, und ab morgen arbeitest du. Komm mal aus dir raus! Wie konntest du nach der Uni auch gleich nach Italien fahren, um da noch mehr zu lernen? Genieß doch lieber das Leben!«
»Florenz war herrlich, nett, dass du fragst«, erwidere ich belustigt. Chas füllt zwei Schnapsgläser mit Tequila und zwinkert uns zu, dann bedient er den nächsten Gast.
Ich liebe Rach, aber wir sind grundverschieden. Sie hat keine Ahnung, was sie mal beruflich machen will, während mein Weg schon mein ganzes Leben lang zur Bildhauerei führte.
Zu meinen frühesten Erinnerungen gehört, dass ich auf den riesigen Löwen auf dem Trafalgar Square in London herumkletterte. Noch Jahre später hatte ich eine Schwäche für Löwen, bis ich die majestätischen vier Bronzepferde des Helios am Piccadilly Circus erblickte und von da an nur noch Tierstatuen sehen wollte.
Meine Eltern hielten meine Besessenheit für eine Phase, ähnlich wie die Vorliebe für Einhörner und Ponys, doch meine Großmutter war klüger.
Als sie zum ersten Mal mit mir das Barbara Hepworth Museum und den Skulpturengarten in ihrer Heimatstadt St Ives besuchte, war ich acht Jahre alt. Ich weiß noch genau, dass ich in der Galerie unbedingt die Meißelspuren an den Holzskulpturen berühren wollte. Das durfte ich natürlich nicht, aber draußen im Garten ließ meine Großmutter mich herumlaufen. Die pure Größe einiger Plastiken verschlug mir glatt die Sprache, ebenso die Formen, Farben und die Struktur der unterschiedlichen Materialien, die ich befühlen konnte.
In der weiterführenden Schule verschob sich mein Interesse von Tierdarstellungen zu Menschen. Auf einer Studienreise mit meinem Kunstkurs nach Paris hätte ich die anderen in den Tuilerien beinahe verloren, so hingerissen war ich von Rodins Kuss, dass ich alles um mich herum vergaß. Ich wurde von dieser Plastik zweier Liebender magisch angezogen, von der Art und Weise, wie sie einander umschlangen, von ihrer leidenschaftlichen Umarmung. Ich wollte auf diese Weise Menschen zum Leben erwecken, wollte Augenblicke festhalten und meine eigenen Geschichten erzählen. Von da an konzentrierte ich mich auf figurative Plastik.
Es wäre so schön, wenn meine Großmutter noch leben würde. Dann könnte sie sehen, wie weit ich es gebracht habe. Meine Eltern waren zwar auch auf meiner Abschlussausstellung, der Höhepunkt meiner studentischen Laufbahn, und ich weiß, dass sie stolz auf mich sind, obwohl sie in erster Linie erleichtert zu sein scheinen, dass meine Zeit in Schottland nun vorbei ist. Sie konnten sich nie damit anfreunden, dass ich für mein Studium so weit weggezogen war, auch wenn sie nie direkt etwas gegen meine Entscheidungen einzuwenden hatten. Meinen einmonatigen Aufenthalt an der Kunstakademie in Florenz haben sie finanziell unterstützt. Deshalb brauche ich auch einen Ferienjob. Ich will ihnen das Geld unbedingt zurückzahlen.
Und außerdem muss ich ein bisschen was ansparen, damit ich nach London ziehen kann. Davon habe ich Mum und Dad bisher allerdings noch nichts erzählt.
Rach nimmt ein Schnapsglas und reicht es mir mit einem erwartungsvollen Blick über die Schulter.
»Na gut«, sage ich, kippe den Tequila hinunter und ziehe eine Grimasse. Kaum habe ich mich davon erholt, drückt sie mir das zweite Glas in die Hand.
»Du musst aufholen«, erinnert sie mich voller Ernst.
»Hilfe, wie alt sind wir? Achtzehn?«
Auf einmal habe ich das surreale Gefühl, die Zeit in St Agnes hätte stillgestanden, während ich weitergezogen und erwachsener geworden bin. Rach ist hiergeblieben. Sie sieht mich erwartungsvoll an, und ich will sie nicht enttäuschen. Ich leere auch das zweite Glas und genieße die Wärme des Alkohols und ihrer Bewunderung. Zumindest kostet mich beides nichts; ich habe keine Lust, Geld für Getränke auszugeben.
Sie nimmt unsere Gläser und dreht dem Tresen den Rücken zu.
Es ist so voll hier, dass man die Band kaum sehen kann, obwohl sie auf einer leicht erhöhten Plattform steht. Wir bezeichnen sie als »Bühne«, auch wenn sie das eigentlich nicht ist.
»Wie heißt das Lied?«, rufe ich Rach ins Ohr.
»Das ist ›7‹ von Catfish and the Bottlemen.«
»Spielen die nur Coverversionen, so wie früher?«
»Yep.«
Mixamatosis gibt es schon seit Jahren. Der Name ist dämlich, und die Abwandlung von »Myxo« zu »Mixa« macht es auch nicht besser, aber die Band selbst ist beliebt. Sie spielt wie zu Schulzeiten Rock aus verschiedenen Jahrzehnten, doch egal, wie alt oder neu die Songs sind, ich weiß selten, wie sie heißen. In diesem Sommer tritt Mixamatosis zum ersten Mal jeden Abend im Seaglass auf. Nicht wirklich überraschend, wenn man bedenkt, dass Dan Chas’ Neffe ist.
»Was ist mit Kieran?«, erkundige ich mich nach dem Sänger, den ich kenne.
»Der wollte mit seiner Freundin zu ihrer Familie nach Kanada. Finn hat eine Band in L.A. Als Dan hörte, dass er rüberkommt, hat er ihn gefragt, ob er einspringen kann.«
Jetzt erinnere ich mich, warum Finn Cornwall damals verlassen hat.
»O Gott, mir ist gerade eingefallen, was mit seiner Mutter passiert ist!«, rufe ich. »Das war so furchtbar.«
»Ja«, stimmt Rach mir zu.
Wie konnte ich das vergessen? Als wir in der zehnten Klasse waren, verschwand Finns Mutter an Weihnachten. Ihre Kleidung wurde am Rand der Klippen unweit von hier gefunden – man nahm an, dass sie hinuntergesprungen war, um sich das Leben zu nehmen. Ihr Körper blieb verschwunden, das Meer hatte sie offensichtlich verschluckt, so dass die Familie sie nicht mal richtig beisetzen konnte. Dann zog Finn zu seinem leiblichen Vater nach L.A.
»Also lebt er immer noch in Amerika?«
»Ja.«
»Was macht er denn hier?«
»Besucht seine Großeltern und seine Brüder.«
»Hab ganz vergessen, dass er Brüder hat.«
»Genau genommen sind es Halbbrüder. Jeder hat einen anderen Vater.«
»Ich wusste nicht mal, dass Finn mit Dan befreundet ist.«
»Dan ist mit allen befreundet.«
Das stimmt. Er ist einfach so: Dan vergisst keinen Namen, bleibt auf der Straße immer kurz stehen, um sich zu unterhalten. Auch wenn er nicht der Sänger, sondern der Gitarrist ist, ist es für alle seine Band.
»Und wie lange bleibt Finn?«
»Sechs Wochen«, antwortet Rach. »Er ist aber schon eine Weile hier.«
Es ist fast Mitte Juli.
Sie muss etwas in meinem Gesicht gesehen haben, denn sie grinst. »Du bist ja hin und weg!«
»Sei leise. Außerdem: Woher weißt du das alles überhaupt?«
»Ich verrate doch nicht meine Quellen.«
»Nein, im Ernst jetzt: Woher weißt du das?«
»Von Sophie und Claire.« Das sind zwei ehemalige Schulfreundinnen von uns. »Sie waren letztes Wochenende ganz aus dem Häuschen, weil die Band hier das erste Mal mit Finn aufgetreten ist. Sind fast auf ihrer eigenen Schleimspur ausgerutscht. Du musst dich ranhalten, wenn du was von ihm willst.«
Ich winke ab. »Ich will nichts von ihm. Dafür hab ich auch gar keine Zeit.«
Diesen Sommer habe ich andere Pläne.
In der nächsten Stunde tanzen Rach und ich und unterhalten uns laut dabei, doch die ganze Zeit will mir Finn nicht aus dem Kopf. Auch wenn ich mich momentan auf andere Sachen konzentrieren will, muss ich zugeben, dass mir immer, wenn Finn ins Publikum sieht, ein Schauder über den Rücken läuft.
Gegen Ende kommt Amy zu uns auf die Tanzfläche.
»Ich freue mich so, dass wir wieder zusammenarbeiten!« Sie nimmt mich in den Arm.
In dem Jahr, als wir achtzehn wurden, haben wir beide schon mal kurze Zeit hier gejobbt. Damals fühlte es sich wie das Ende einer Ära an – ich würde vier Jahre nach Edinburgh gehen, sie wollte ein Jahr Pause einlegen, bevor sie eine dreijährige Ausbildung zur Hebamme begann –, jetzt kommt es mir vor wie der Beginn vom Rest unseres Lebens.
»Wenigstens so lange, bis du eine der Stellen bekommst, für die du dich beworben hast«, entgegne ich lächelnd und schiebe ihr die dünnen langen blonden Haare hinter die Ohren.
»Nie im Leben. Die nehmen mit Sicherheit eine Hebamme mit mehr Erfahrung.«
»Jeder fängt mal klein an.«
Ich denke daran, dass der Beruf, den ich mir ausgesucht habe, längst nicht so sicher ist, und werde leicht nervös. Wie viele figurativ arbeitende Bildhauer sind tatsächlich in der Lage, ihren Lebensunterhalt komplett damit zu bestreiten?
Doch ich würde es auch dann tun, wenn es nur ein Hobby wäre. Bildhauerei ist meine Leidenschaft. Davon leben zu können ein Traum; doch ich habe noch eine Menge Arbeit vor mir, bis es so weit ist.
In den nächsten zwei Monaten liegt mein Fokus jedoch darauf, Geld zu verdienen und Zeit mit meinen Freundinnen und meiner Familie zu verbringen.
Ich schaue kurz zu Rachel und Amy hinüber und lächele. Rachs rotbrauner Pferdeschwanz ist schon länger zerzaust, Amy trägt ihre Haare offen wie immer. Ich merke, wie sich der lässige Knoten, den ich mir am Morgen in meinem Hotelzimmer in Florenz gemacht habe, allmählich auflöst. Spontan ziehe ich die letzten Haarnadeln heraus, die ihn noch halten, und meine dunklen Locken fallen hinunter, fast bis zur Taille.
»Übermittelt diese Geste eine versteckte Botschaft?«, fragt Amy belustigt.
»Rach hat gesagt, ich soll mich locker machen«, erwidere ich achselzuckend.
»Das hast du wirklich dringend nötig!«, bekräftigt Rach.
Finns tiefe, dunkle Stimme kündigt über das Mikro das letzte Stück des Abends an.
Ich bekomme eine Gänsehaut am ganzen Körper.
Keine Ahnung, wie das Lied heißt, in den nächsten drei Minuten will ich nur noch mit meinen besten Freundinnen abtanzen.
Schon lange muss ich dringend zur Toilette, warte aber dummerweise, bis die Band die Bühne verlassen hat, und bereue es sofort, als ich die Schlange vor der Damentoilette sehe.
Ich habe so viel Alkohol intus, dass ich an den Frauen vorbei zum Männerklo gehe. Als ich die Tür aufdrücken will, wird sie von innen aufgezogen, und ich stoße beinahe mit Finn zusammen.
»Ho!«, ruft er.
Allerdings.
»Weißt du nicht, dass hier nur für Männer ist?«, fragt er belustigt.
»Ich muss dringend!«, sage ich.
»Aha.« Er macht einen Schritt zurück und hält mir die Tür auf, damit ich an ihm vorbeigehen kann.
Ich merke, dass ich von den Haarwurzeln bis zum Ausschnitt rot anlaufe, und husche schnell hinein, um mich in einer Kabine einzuschließen.
Höchste Zeit.
Als ich wieder herauskomme, bin ich immer noch rot. Und Finn steht immer noch in der Tür.
»Ich dachte, ich passe auf, dass du nicht belästigt wirst«, sagt er leichthin.
»Danke«, murmele ich und wende beim Händewaschen mein rotes Gesicht ab. Meine Haare bilden einen passablen Sichtschutz.
»Ich bin Finn.« Er macht keine Anstalten zu gehen.
Ich schiele hoch und sehe ihm im Spiegel in die Augen. »Ich weiß.«
»Und du bist Olivia Arterton.«
»Ich weiß«, wiederhole ich, schüttele meine Hände, um sie zu trocknen, und drehe mich zu ihm um.
Sein Grinsen wird breiter.
O Mann, diese Grübchen! Wie süß die sind! Es fühlt sich an, als würde meine innere Heizung auf Hochtouren laufen.
Mir wird oft gesagt, dass ich lange Wimpern hätte, aber die von Finn sind noch eine andere Hausnummer. In diesem Licht kann ich nicht genau sagen, was er für eine Augenfarbe hat, aber für braun sind die Augen nicht dunkel genug. Finns Nase ist nicht ganz gerade, die fehlende Symmetrie macht ihn interessant. Ich spüre den überwältigenden Drang, meine Hände auf sein Gesicht zu legen und ihn in Ton nachzuformen. Sah er immer schon so umwerfend aus?
Als ich merke, dass ich ihn anstarre, schüttele ich mich.
Sein Blick ruht ebenfalls auf mir.
Ich schaue zur Seite und werde auf seinen löchrigen schwarzen Pulli aufmerksam. Aus der Nähe kann ich sehen, dass er darunter ein graues T-Shirt trägt.
Er hakt seine Finger in zwei Löcher. Offensichtlich hat er meinen Blick bemerkt.
»Sieht aus, als hätten sich die Motten auf dich gestürzt«, bemerke ich.
Er sieht nach unten. »Nee, nee. Ich bin nur ein Jimmy-Opfer.«
»Jimmy?«
»Das ist mein Neffe. Er ist ein Jahr alt und hat meinen Pulli in die Finger bekommen. Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass die Löcher schon vorher da waren, Jimmy hat sie nur ein bisschen vergrößert. Ich war mit dem Look einverstanden.«
Das Wort »vergrößert« spricht er mit starkem amerikanischen Akzent aus, ansonsten hört man ihm an, dass er aus Cornwall stammt.
Er sieht von seinem Pulli hoch und grinst. Mein Magen zieht sich zusammen.
Dan erscheint in der Tür zur Toilette.
»Was ist denn hier los?«, fragt er misstrauisch.
»Nichts. Wir unterhalten uns«, antwortet Finn.
»Super Ort für ’n gepflegtes Gespräch. Hey, Liv«, sagt Dan zu mir, »wie läuft’s? Sehe dich das erste Mal diesen Sommer.«
»Ich bin gerade aus Italien zurück.«
»Schön. Urlaub?«
»Nein, ich war für einen Kunstkurs da.«
»Oh, cool. Und, wie war’s?«
»Super Ort für ’n gepflegtes Gespräch, Kumpel«, wirft Finn trocken ein. »Tu doch das, weshalb du hergekommen bist, dann treffen wir uns draußen, ja?«
»Okay, okay«, sagt Dan, gibt die Tür frei und macht mir ein Zeichen, das Männerklo zu verlassen.
Als wir zurückgehen, ist mir überdeutlich bewusst, dass Finn direkt hinter mir läuft. Am anderen Ende der Theke hat Chas Schnapsgläser aufgestellt. Finns Bandkollegen rufen ihn herüber. Ein paar Mädchen sind auch dabei, unter anderem Sophie und Claire.
Ich geselle mich wieder zu meinen Freundinnen, und Finn schlendert weiter.
»Was war?«, fragt Rach grinsend.
»Nix«, erwidere ich und schaue Finn hinterher. Er legt Tarek den Arm um die Schultern und guckt zu mir zurück. Unsere Blicke versenken sich ineinander.
Seine Mundwinkel heben sich zu einem angedeuteten Lächeln, und ich halte den Blickkontakt etwas länger, bis mein Herz so heftig klopft, dass ich zur Seite sehen muss. Ich greife zu meinem Glas und trinke zitternd einen Schluck.
Vielleicht muss ich meine Prioritäten in diesem Sommer doch noch mal überdenken.
Ich dachte, wir müssten noch Stunden warten, bis wir dich zu Gesicht bekommen!«, ruft Mum am nächsten Morgen, als ich um Viertel vor acht die Küche betrete.
»Ich auch«, erwidere ich kleinlaut und lasse mich von ihr in den Arm nehmen.
Ich hatte wirklich vor, ein bisschen Schlaf nachzuholen, doch als ich nach dem Aufwachen noch liegen bleiben wollte, rief mir mein Gehirn das Treffen mit Finn in Erinnerung, und sofort war ich hellwach.
»Tee?«, fragt sie und löst sich von mir.
»Ja, bitte.« Staunend sehe ich mich um. »Unglaublich, wie viel Licht hier jetzt von außen reinfällt.«
Unser Haus ist ein altes Fischercottage. Der ursprüngliche Teil mit den dicken, unebenen Außenmauern und tiefen Fensterbänken hat sehr viel Charakter. Im vergangenen Herbst haben meine Eltern den alten Küchenanbau aus den siebziger Jahren abreißen lassen und ihn durch einen moderneren ersetzt, der ungefähr dreimal so groß ist. Darin untergebracht ist jetzt eine schicke Küche, komplett mit Kochinsel und Barhockern, sowie ein großzügiger Essbereich mit einem langen Tisch, an dem acht Personen Platz finden. Diesen Teil des Anbaus finde ich am schönsten, da er raumhohe Glastüren hat, die auf die Terrasse gehen, außerdem ein großes Eckfenster, von dem man auf den üppigen grünen Garten mit den Baumfarnen und Sukkulenten blickt. Das Klima in Cornwall ist mild, und wir wohnen in einem geschützten Tal, das fast subtropische Verhältnisse hat.
Der Garten war der entscheidende Faktor, der mich für dieses Cottage einnahm, als wir es zum ersten Mal besichtigten. Damals war ich dreizehn und wollte London und all meine Freunde um keinen Preis verlassen – ich hatte mich gerade erst an der weiterführenden Schule zurechtgefunden und wurde sehr unsicher bei der Vorstellung, in einer anderen noch mal von vorne anzufangen. Doch meine Eltern waren der Ansicht, ein Umzug aufs Land sei für meinen Bruder Michael und mich längst überfällig, außerdem wollte meine Mutter in der Nähe meiner Großmutter leben, die langsam alt wurde.
Letztlich war ich mit dem Vorhaben einverstanden, da ich es auch schön fand, in Grans Nähe zu sein. Doch nur zwei Jahre, nachdem wir unser Leben in London aufgelöst hatten, starb meine Großmutter.
Sie war ein ganz besonderer Mensch für mich, der einzige, der meine künstlerischen Ansprüche und Träume verstand. Bevor wir herzogen, verbrachte ich immer eine Woche der Sommerferien bei ihr in Cornwall, während Michael bei Mum und Dad in London blieb. Gran brachte mir bei, wie man Klavier spielt, las mir Geschichten vor und besuchte mit mir Theater, Museen und Kunstgalerien. Unsere gemeinsame Zeit war mir unglaublich wichtig.
Ich setze mich auf die Bank am Esstisch, von der man nach draußen auf die Terrasse sieht. Später wird die Sonne durch dieses Fenster fallen. Was würde ich darum geben, in diesem Raum meiner Arbeit nachgehen zu können!
Mum nimmt neben mir Platz und reicht mir nach über sechs Monaten die erste von ihr gekochte Tasse Tee. Ostern habe ich es nicht nach Hause geschafft, weil ich zu viel für die Abschlussausstellung vorbereiten musste.
»Danke.« Ich lehne mich kurz gegen sie, erfüllt von warmer Dankbarkeit, wieder zu Hause zu sein, geborgen im Schoß der Familie.
»Ist so schön, dich endlich wiederzuhaben«, sagt sie liebevoll und drückt mir einen Kuss auf die Schulter. »Es fühlt sich an, als wärst du ewig weg gewesen.«
Ich bekomme Schuldgefühle. Nicht lange, dann bin ich wieder fort, aber darüber müssen wir jetzt nicht sprechen.
»Wie war es gestern Abend?«, fragt sie, ohne von meinen Sorgen etwas zu ahnen.
Meine Mum ist etwas älter als die Mütter meiner Freundinnen – sie war schon zweiundvierzig, als sie mich bekam –, und sie ist immer noch sehr attraktiv: mittelgroß und schlank mit bis auf die Schulter reichenden honigblonden Haaren, auch wenn die Farbe inzwischen aus der Tube kommt.
Mein Bruder Michael und ich haben den dunkleren Teint unseres Vaters geerbt, auch wenn ich Mums blaue Augen habe. Obwohl meine eher an Gewitterwolken als an den Sommerhimmel erinnern.
»Lustig«, antworte ich auf die Frage meiner Mutter. »Dachte, ich hätte einen dicken Kopf. Obwohl, um halb zwölf war ich zu Hause.«
»Kurz vor zwölf, würde ich sagen.«
Ich grinse sie an. »Hast du auf mich gewartet?«
Sie zuckt mit den Schultern. »Ich konnte nicht schlafen.«
Wenn ich in meiner Jugend abends ausging, war meine Mutter immer in höchster Alarmbereitschaft, bis ich sicher wieder zu Hause war. Ich hatte gedacht, dass sie jetzt, wo ich zweiundzwanzig bin, entspannter damit umgehen kann.
»Wie geht es Amy und Rach?«, erkundigt sie sich.
»Gut.« Lächelnd trinke ich einen Schluck Tee. »Ach, ja!« Ich reiße den Kopf hoch. »Ich habe einen Job!«
»Wo?«, fragt sie stirnrunzelnd.
»Im Seaglass, hinter der Theke. Ich fange direkt heute Nachmittag an.«
»Ah.« Sie klingt enttäuscht. »Schau wenigstens, dass du sonntags frei hast«, bittet sie. »Es ist lange her, dass wir sonntags zusammen gegessen haben.«
Meine Stirn legt sich in Falten. »Aber im Sommer ist es sonntags im Seaglass am vollsten …«
Sie sieht mich nachdrücklich an.
»Ich frage nach«, rudere ich zurück.
Sie seufzt. »Eigentlich sollte es mich nicht wundern, dass du dir direkt eine Stelle gesucht hast. Du kommst ganz nach deiner Großmutter. Die konnte auch nicht still sitzen.«
»Du hast gut reden. Du bist doch genauso!«
Seitdem ich auf der Welt bin, jongliert meine Mutter mit ihrer Arbeit und der Kinderbetreuung. Sie arbeitet jetzt in der Notaufnahme des Royal Cornwall Hospital in der Nähe von Truro, war aber früher Allgemeinmedizinerin, so wie Dad. Jetzt sind beide vierundsechzig und spielen hin und wieder mit dem Gedanken, sich allmählich zur Ruhe zu setzen, doch es würde mich nicht wundern, wenn sie noch ein paar Jahre länger arbeiten.
»So war ich nicht immer«, gesteht sie. »Früher hatten meine Eltern ihre liebe Mühe damit, mich zu irgendwas zu bewegen. Ich wollte immer nur im Bett liegen und lesen.«
»Du hast buchstäblich fünf Minuten vom Strand entfernt gewohnt!« Wenn ich früher meine Großmutter besuchte, schlief ich immer im alten Kinderzimmer meiner Mutter. »Ich durfte nie einfach mal rumliegen und nichts tun. Du hast mich immer nach draußen gejagt.«
»Du musst mir ja nicht alles nachmachen«, erwidert sie lakonisch.
Wir schmunzeln, dann kommt mein Vater in die Küche.
»Ich habe es aufgegeben, im Bett auf meinen Tee zu warten«, beschwert er sich und gibt mir einen Kuss auf den Scheitel.
Ich drücke liebevoll seinen Arm.
»Oh, tut mir leid.« Mum macht ein betretenes Gesicht, steht aber nicht auf, als Dad den Wasserkocher anstellt.
Er trägt den rot karierten Pyjama, den Mum ihm zu Weihnachten geschenkt hat. Michael hat denselben.
Ich sehe noch vor mir, wie mein Bruder übers ganze Gesicht strahlte, als er sein Geschenk auspackte. Er war am ersten Weihnachtstag morgens in normaler Kleidung gekommen, während wir drei noch im Pyjama herumsaßen, deshalb zog er sich sofort um.
Mein Bruder hat das Downsyndrom. Er wohnt allein, aber meine Eltern verbringen viel Zeit mit ihm. Michael ist neun Jahre älter als ich und war Mitte zwanzig, als Mum und Dad ihm ein kleines Cottage nur wenige Gehminuten von uns entfernt kauften. Er wollte mehr Unabhängigkeit und Privatsphäre, doch ich fand es schrecklich, dass er plötzlich nicht mehr mit uns am Frühstückstisch saß.
Als Kind durfte ich nie künstlich gesüßte Cornflakes essen, für Michael hingegen kann es nie süß genug sein, und da er schon erwachsen war, mussten unsere Eltern seine Vorlieben akzeptieren. Immer wenn sie nicht aufpassten, gab er mir eine Handvoll Coco Pops herüber, die ich unauffällig unter meine langweiligen Haferflocken rührte. Wenn die Milch in der Schale braun wurde, bemühten wir uns beide, nicht zu kichern.
Es war ein Running Gag, der mich meine ganze Jugend hindurch begleitete. Und dann war Michael plötzlich nicht mehr da. Er fehlte mir.
Was mir jedoch nicht fehlte, ist das gemeinsam benutzte Badezimmer. Mein Bruder ist ein überzeugter Messie.
Um fünf vor halb fünf verlasse ich das Haus und gehe die paar Minuten zum Seaglass hinunter. Die Glastüren auf den Balkon sind weit geöffnet, die Leute sitzen draußen im Sonnenschein und entspannen bei ihren Drinks, Musik dudelt aus den Boxen, leise genug, um das Geräusch der sich am Strand brechenden Wellen nicht zu übertönen.
Chas steht hinter der Theke und schreibt etwas in einen Notizblock.
»Hallo, Chas!«
Sein Kopf schießt hoch. »Liv!« Er kommt hinter dem Tresen hervor und breitet die drahtigen Arme aus. »Wir haben uns gestern gar nicht richtig Hallo gesagt.«
Er ist zwar Dans Onkel, aber meine Freundinnen und ich kommen schon seit Jahren ins Seaglass, und Chas hat uns immer behandelt, als gehörten wir zur Familie.
»Ich bin so froh, dass du wieder dabei bist«, sagt er bei unserer kurzen Umarmung.
Er riecht nach Kokos, wahrscheinlich von dem Wachs, mit dem er sein Surfbrett einreibt. Chas ist ungefähr so alt wie meine Eltern, aber die Vorstellung, dass meine Eltern surfen würden, ist lächerlich. Nicht dass ihnen die Power fehlen würde, doch Chas stellt selbst Teenager in den Schatten. Er ist jung geblieben.
»Wo ist Amy?«, frage ich.
»Sie muss erst um fünf da sein, aber sie hat gerade angerufen und gesagt, dass ihr Auto liegen geblieben ist und sie später kommt. Sie wartet auf den Abschleppdienst.«
»O nein! Fährt sie immer noch ihre alte Klapperkiste?«
»Leider ja.«
Ich schüttele mitleidig den Kopf. »Wo soll ich anfangen?«
»Stell dich hinter die Theke, dann zeige ich dir alles, was wichtig ist. Obwohl, das meiste kennst du bestimmt noch. Hier hat sich nicht viel verändert.«
Um halb sieben trudelt Amy endlich ein. Als ich sehe, wer sie begleitet, wird mir klar, warum sie es nicht eilig hatte.
»Dan hat mich am Straßenrand gesehen und mitgenommen«, erklärt sie mit seligem Grinsen.
»Hast du nicht den Abschleppdienst gerufen?«, sage ich.
»Doch, klar. Hoffentlich schleppt der mein Auto ab, aber hey, ich brauch eh ein neues.«
Nach der Art und Weise zu urteilen, wie Amy strahlt, vermute ich mal, dass sie nach wie vor für Dan schwärmt.
Wir bekommen keine Möglichkeit, uns zu unterhalten, denn schnell wird es voll, und innerhalb einer Stunde herrscht vor der Theke der reinste Belagerungszustand. Die Gäste rufen uns ihre Bestellungen teilweise aus der zweiten Reihe zu. Chas, Amy und ich bedienen jeweils einen Bereich von zwei Metern, außerdem haben wir einen Springer, der Flaschen auffüllt, leere Gläser einsammelt, sie wäscht, Eis nachfüllt und im Keller neue Fässer anschließt. Wir vier sind ein eingespieltes Team.
Als Finn eintrifft, vergesse ich die Bestellung des letzten Gasts und muss nachfragen. Den ganzen Abend bin ich mit meinen Gedanken und Blicken bei ihm auf der Bühne, doch irgendwie gelingt es mir, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Meine Füße machen mich fertig, und mein Rücken tut weh, aber innerlich bin ich beschwingt.
Ich halte Ausschau nach Finn. Dan, Tarek und Chris sind noch da, zusammen mit ein paar weiteren Gästen, die sich erfolgreich weigerten zu verschwinden, als Chas die Türen zuschloss. Doch keine Spur von Finn. Ist er schon nach Hause gegangen?
Mein Adrenalinspiegel fällt, Erschöpfung macht sich breit. Da stürzt Amy auf mich zu.
»Dan hat ein paar Leute zu sich nach Hause eingeladen«, sagt sie eindringlich und zieht unsere Jacken unter dem Tresen hervor. »Komm!«
»Ich dachte, wir würden hier noch was trinken.«
»Planänderung. Na los, ich will da mit!«
»Ach, muss ich wirklich das dritte Rad am Wagen sein?« Ich bin todmüde, und wenn Finn nicht dabei ist …
Amy hält inne und sieht mir in die Augen. »Bitte, Liv!«, fleht sie.
Wenn sie mich so ansieht, kann ich nicht Nein sagen.
Wir nehmen die steile Straße hoch ins Dorf, kommen am Surf Life-Saving Club vorbei, am Driftwood Spars Inn und an mehreren Häusern, unter anderem an unserem, dann lassen wir die letzte Straße hinter uns und stehen in absoluter Dunkelheit.
Ich hole mein Handy heraus und schreibe schnell eine Nachricht an meine Mutter, damit sie weiß, was ich vorhabe – gut möglich, dass sie wieder wartet –, dann öffne ich die Taschenlampen-App, damit wir etwas sehen können.
Dan wohnt mit Tarek, dem Bassisten der Band, in einem kleinen Haus mit vier Zimmern, zwei unten, zwei oben. Mit fünfzehn bis zwanzig Leuten ist es in dem schwach beleuchteten Wohnzimmer, Esszimmer und der offenen Küche schnell ziemlich eng. Ich bin todmüde und ziehe Amy hinter mir her zum Sofa vor dem Erkerfenster. Es dauert nicht lange, da haben wir beide eine kalte Dose Bier in der Hand. Chris koppelt sein Handy mit der Anlage und stellt die Lautstärke hoch. Ein Rocksong ertönt.
Es kommen ständig noch mehr Leute, die sich in die Zimmer quetschen und uns in die Ecke drücken.
Ich ziehe die Knie an den Oberkörper und trinke ein paar Schluck Bier. Irgendwann steht Amy auf und streift ihre Schuhe ab, um aufs Sofa zu klettern und sich auf die Fensterbank zu setzen. Ihre nackten Füße baumeln über den Sofakissen. Völlig entspannt grinst sie mich an, bereit für alles, was die Nacht noch bringen mag.
Verhalten lächelnd mache ich es ihr nach, hocke mich neben sie und kratze an den Mückenstichen, die ich mir am letzten Abend in Italien geholt habe.
Irgendjemand zündet einen Joint an. Tarek beugt sich mit einem »Sorry« zwischen uns, um das Fenster zu öffnen. Seine schmalen Schultern streifen unsere Oberarme.
Er ist ein hübscher Kerl mit gepflegten dunklen Augenbrauen und liebem Welpenblick. Ganz anders als Chris, dessen schmutzig blonde Haare aussehen, als hätte er seit Wochen nicht geduscht.
Als ich gerade gähne, kommt Finn herein. Und plötzlich bin ich hellwach.
Über die Köpfe der anderen hinweg beobachte ich, wie er mit Dan in der Küche Cocktails mixt. Beide sind über eins achtzig groß, aber Finn ist schmaler und wirkt eher wie ein Indieboy im Vergleich zu Dan, der mit Sicherheit Gewichte stemmt.
Finn steigt auf einen Stuhl und ruft: »Wer will was?«
Amy schaut mich fragend an.
Ich bin zu nervös, um direkt zu ihm zu gehen, deshalb halte ich die Bierdose hoch und sage: »Danach.« In dem Moment fange ich Finns Blick auf.
Er legt den Kopf schräg, als sei mein Anblick in diesem Haus etwas Unerwartetes, und mich durchfährt ein Blitz. Wir sehen uns mehrere Sekunden lang in die Augen, dann grinst er mit seinen süßen Grübchen und springt vom Stuhl hinunter.
Er schenkt seine Mischung in mehrere Becher und windet sich an den Gästen vorbei zu mir durch.
»Was ist da drin?«, frage ich skeptisch, als er mir einen davon hinhält.
»Wodka, Rum und Cola. Sei vorsichtig, ist stark!«
Wir nehmen ihm die Becher ab. Aus den Boxen dröhnt »Cotton Eye Joe« von den Rednex. Klar, das Lied kenne ich natürlich.
»Hey, Alter, dein Ernst?«, fragt Finn Chris lachend.
»Das kommt nicht von meiner Playlist!«, protestiert sein Freund. Finn gräbt in der Jeanstasche nach seinem eigenen Handy. »Ich drück weiter!«, ruft Chris und stolpert zur Anlage hinüber. »Das muss meine Schwester gewesen sein!«
»Zu spät«, gibt Finn zurück und schiebt Chris zur Seite.
Amy und ich lachen mit allen, die es mitbekommen haben. »Cotton Eye Joe« verstummt, ein Indierockstück setzt ein.
Chris ist frustriert, die Kontrolle über die Musik verloren zu haben. Finn lacht in sich hinein, schlägt seinem Freund auf den Bauch und geht zurück in die Küche.
Ungefähr eine Dreiviertelstunde später befinde ich mich mit Tarek in einem überraschend ernsten Gespräch über Architektur, als Finn hinzukommt und sich auf den von Amy gerade geräumten Platz auf der Fensterbank setzt.
Sofort werde ich nervös.
Meine Freundin lehnt in der Essecke an der Wand und unterhält sich mit Dan. Er lächelt sie an. So schnell wird sie nicht zu mir zurückkehren. Tarek steht auf und murmelt was von einem Glas Wasser. Also wende ich mich Finn zu, alle Sinne aufs Äußerste gespannt.
Er rückt an den Rand der Fensterbank und lässt sich aufs Sofa sacken, wo er auffordernd auf das Kissen neben sich klopft. Die meisten Gäste haben sich in die Küche verzogen, es ist nicht mehr so voll im Wohnzimmer.
Ich nehme meinen Becher und setze mich vorsichtig neben ihn. Das Sofa hängt in der Mitte leicht durch, so dass wir gegeneinanderkippen. Ich spüre deutlich die Wärme seines Oberschenkels an meinem.
»Und, was war das mit dem Kunstkurs in Italien?«, erkundigt er sich.
Mir wird ganz warm ums Herz, weil er mir offenbar ebenso gut zugehört hat wie ich ihm.
»Ich habe an einem einmonatigen Kurs über figurative Bildhauerei teilgenommen.«
»Was habt ihr da genau gemacht?«
Er wirkt ehrlich interessiert. Ich meine, seine Augen wären grün, vielleicht mit einem Stich ins Blaue.
»Wir haben drei komplette Wochen lang Figuren aus Ton geformt. In der letzten Woche haben wir hauptsächlich gelernt, wie man Gussformen herstellt.« Ein bisschen hatte ich das natürlich schon an der Universität gemacht, aber dort haben wir nicht stark figurativ gearbeitet. Die meisten in meinem Kurs waren postmodern aufgestellt; ich fiel als Einzige, die klassisch arbeitete, ein bisschen heraus. Tatsächlich war es einer der Facharbeiter in der Gießerei, der vorschlug, ich solle mich mal über den Kurs an der Kunstakademie in Florenz informieren. »Es war echt hart, aber auf jeden Fall eine der besten Erfahrungen, die ich je gemacht habe. Zum ersten Mal habe ich mich wie eine richtige Künstlerin gefühlt. Wir sind auch mit Fachleuten in verschiedenen Museen gewesen und haben uns die Werke großer Meister angesehen, wie die Statue von David oder die Skulpturen von Bernini. Das war der Wahnsinn! Also, es klingt wahrscheinlich langweilig, wenn man nichts mit Bildhauerei anfangen kann«, sage ich verlegen, als mir klarwird, dass ich wieder mal den Mund nicht halten konnte.
»Nein, überhaupt nicht«, erwidert Finn ernsthaft. Ich drehe mich so, dass ich ihm ins Gesicht sehen kann, und schlage die Beine unter, damit sein Oberschenkel mich nicht mehr ablenkt. »Gibt nicht viel, was ich nicht spannend finde«, fügt Finn hinzu. »Ist wahrscheinlich der Grund, warum ich so gern schreibe.«
»Lieder?«, frage ich und kratze möglichst unauffällig an meinen Mückenstichen.
»Ja.«
»Wie heißt deine Band eigentlich? Hab gehört, du hast eine in L.A.«
Er rümpft die Nase.
»Was ist?«, frage ich grinsend.
»Der Name ist scheiße.«
»Schlimmer als Mixamatosis kann er ja kaum sein.«
»Psst!« Besorgt sieht er quer durchs Zimmer zu seinem Bandkollegen hinüber, dann schaut er mich wieder an und grinst schelmisch. »Pass auf, dass Dan das nicht hört!«
»Wenigstens hat er eingesehen, dass die Idee mit den Kaninchenmasken ziemlich bescheuert war«, sage ich mit verschwörerischem Gekicher.
»Was? Kaninchenmasken?« Finn versteht nicht.
»Ja, sie hatten mal zu Halloween so gruselige Kaninchenmasken auf«, erkläre ich so leise, dass er sich vorbeugen muss, um mich zu verstehen. Seine Wimpern sind wirklich der Hammer. »Denen kam künstliches Blut aus dem Mund, und die Augen waren rot geschminkt. So daft-punk-mäßig, nur total krank. Ein paar Jugendliche haben richtig Angst bekommen, so dass sich sogar die Eltern beschwert haben.«
Finns Gesicht leuchtet vor Belustigung, schließlich bricht er in Lachen aus. »Das ist witzig! Wieso hat er nichts davon erzählt?«
Immer noch grinsend trinke ich einen Schluck aus meinem Becher und stelle ihn hinter mir auf der Fensterbank ab. Finn betrachtet mich gedankenverloren.
»So habe ich dich eher in Erinnerung«, bemerkt er. »Mit hochgesteckten Haaren. Du sahst immer so adrett aus. Hast du früher nicht auch Ballett gemacht?«