Sieben Tage Mo - Oliver Scherz - E-Book

Sieben Tage Mo E-Book

Oliver Scherz

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Beschreibung

Berührendes Kinderbuch über zwei ungleiche Brüder. Ab 11 Jahren.

Mo ist Mo. Mit ihm kann man Kühe im Stall verrückt machen oder das Gesicht in Ketchup tunken. Manchmal wäre Karl gern so wie er, so sorglos, so ungehemmt. Oft aber nervt es ihn auch, sich ständig um seinen geistig behinderten Bruder kümmern zu müssen, gefühlte sieben Tage die Woche. Dann möchte Karl sich freimachen von allem, einfach mit dem Rad durch die Gegend fahren. Oder Nida treffen, die er immer interessanter findet. Um sie zu sehen, lässt er Mo für ein paar Stunden allein. Als er nach Hause zurückkehrt, ist sein Bruder verschwunden …

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Das Buch

Mo ist Mo. Unberechenbar und unaufhaltsam. Er macht, was er will, und sagt, was ihm in den Kopf kommt. Mit ihm kann man Verrücktes erleben. Und manchmal wäre Karl gern so wie er, so sorglos, so ungehemmt. Oft aber nervt es ihn auch, sich um seinen Bruder kümmern zu müssen, der eine geistige Behinderung hat. Ständig ist er für ihn verantwortlich, gefühlte sieben Tage die Woche. Am liebsten möchte Karl sich freimachen von allem, einfach mit dem Rad durch die Gegend fahren. Oder Nida treffen, die er immer interessanter findet. Um sie zu sehen, lässt er Mo für ein paar Stunden allein. Als er nach Hause zurückkehrt, ist sein Bruder verschwunden …

Der Autor

© privat

Oliver Scherz, geboren 1974 in Essen, zählt zu den erfolgreichsten deutschen Kinderbuchautoren. Nach dem Schauspielstudium in Leipzig und Engagements an Theatern und beim Fernsehen, machte er sich 2012 als Kinderbuchautor selbstständig. Seine Bücher wurden mehrfach ausgezeichnet und sind in über zwanzig Ländern erschienen. 2015 wurde er vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels zum „Lesekünstler des Jahres“ gewählt. Oliver Scherz lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Freiburg.

www.oliverscherz-autor.de

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Thienemann auch!Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autor:innen und Übersetzer:innen, gestalten sie gemeinsam mit Illustrator:innen und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

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Viel Spaß beim Lesen!

Für

meinen feinsinnigen Vater,

der mein Sprachverständnis

geprägt hat.

MO

»Ich bleib hier stehen.«

Mo forderte mich mit seinem Grinsen heraus. Aber ich hatte keine Lust auf ein Spielchen. Das Einkaufen war anstrengend genug gewesen und die Einkaufstasche schnürte mir das Handgelenk ein.

»Meinetwegen. Dann geh ich vor und trink die Cola ganz alleine aus«, rief ich und lief weiter.

Der nächste Zug kam erst in fünfzehn Minuten. So lang würde Mo da schon nicht stehen bleiben. Mitten auf dem Bahnübergang. In fünfzehn Minuten säßen wir längst zu Hause und würden Eiswürfel in unsere Cola fallen lassen.

Ich drehte mich im Laufen um. Mo hatte die Arme von sich gestreckt, sah aus wie eine Vogelscheuche in seinem flattrigen Trainingsanzug, den er fast jeden Tag trug. Auch jetzt, im Hochsommer.

Noch immer grinste er frech. Er wusste genau, dass er da nicht stehen durfte. Das wusste er. Das war sein Spielchen. Ich sollte ihn holen wie einen sturen Esel.

»Komm endlich!«

Keine Reaktion.

Ich ging schneller. Dabei war mir eigentlich schon klar, dass ich wahrscheinlich wieder umkehren musste, weil man gegen Mos Willen einfach nicht ankam. Aber ich wollte es wenigstens versuchen: Ihm einmal nicht nachgeben wie sonst.

Gereizt lief ich den sandigen Weg entlang und nahm mir fest vor, nicht mehr zurückzuschauen. Die Sonne brannte mir auf den Kopf und die Schweißtropfen kitzelten meine Arme runter.

Auf einmal hörte ich ein helles Sirren. Oder täuschte ich mich? Da war es schon wieder. Obwohl noch kein Zug in der Nähe sein konnte. Ich wusste ja, wann die Bahnen hier fuhren. Trotzdem, das Sirren wurde gleichmäßiger und lauter. Als käme es doch von den Gleisen!

Ich riss den Kopf herum und mein Blick überflog die Bahnstrecke: Aus Richtung des Dorfs kam nichts. Auf der anderen Seite verschwanden die Schienen im Wald.

Und da sah ich, wie ein Güterzug zwischen den Bäumen auftauchte! Mir wurde schwindelig, als wäre alles Blut auf einen Schlag in meine Beine gesackt.

»Mo!«

Ich ließ die Einkaufstasche fallen und rannte zurück.

»Geh da weg! Schnell!«

Mo ignorierte mich. Hörte er den Zug denn nicht?! Oder hielt er das Sirren für das Zirpen der Grillen?

»Hinter dir!!«, schrie ich. »Hinter dir, Mo!!«

Er reagierte einfach nicht!

Erst das schrille Warnpfeifen der Lok ließ ihn he-rumschnellen. Im selben Moment war ich bei ihm und riss ihn von den Gleisen. Der Fahrtwind der vorbeirauschenden Waggons zerrte an unseren Haaren, wirbelte sie durcheinander. Wie wild rubbelte Mo sich mit den Händen über den Kopf. Er hörte nicht auf damit, bis endlich der letzte Waggon davonraste und es still wurde wie zuvor.

Wütend packte ich ihn und schüttelte ihn durch.

»Du Idiot!«, keuchte ich und bereute meine Worte sofort.

Er sah mich mit großen Augen an.

»Du bleibst nie wieder mitten auf den Gleisen stehen. Nie, nie wieder. Kapiert!«

Ich ließ von ihm ab und ging ein paar Meter, fluchte den Boden an und trat Steine weg. Beruhigen konnte ich mich nicht, schaute aufgebracht zu Mo rüber.

Wenn er vor einem stand, merkte man nicht gleich, dass er anders tickte als die meisten. Dass er so unglaublich bescheuerte Sachen machen konnte, obwohl er schon zwölf war. Sogar drei Minuten vor mir war er auf die Welt gekommen. Mein zweieiiger Zwillingsbruder. Er sah mir ziemlich ähnlich, wir waren auch fast gleich groß. Aber er trug eine Brille mit dicken Gläsern. Und wenn man ihm eine Frage stellte, konnte man in den vergrößerten Augen sehen, wie sich seine Gedanken bewegten. Langsam wie die Molche im Tümpel, wenn sie sich vor dem Winter im Schlamm eingruben. Manchmal auch blitzartig, kreuz und quer durcheinanderzuckend.

»Ein Zug is’ durch meinen Kopf gerast!«, sagte Mo.

»Zum Glück nur das!«, zischte ich, nahm ihn an der Hand und zog ihn bis zu der Stelle, an der ich die Einkaufstasche hatte fallen lassen.

»Du bis’ wütend, Kaal Schaller«, stellte er fest. Mit Nachnamen, wie immer, wenn ich mich für ihn zu weit weg anfühlte.

»Klar bin ich wütend!«, rief ich. »Und du trägst jetzt mit.« Schon die ganze Zeit baumelte nur eine leere Tragetasche an seinem Arm, während ich die volle schleppte.

Ich hielt ihm einen Henkel hin.

Bereits nach fünfzig Metern trug ich den Einkauf wieder alleine. Mo brauchte beide Hände, um mir über den Rücken zu streicheln. Das sollte die Entschuldigung für das sein, was er gerade getan hatte. Vielleicht war seine Erinnerung an den Zug aber auch schon verblasst und er wollte einfach nur, dass ich freundlicher guckte.

Wir bogen auf die gepflasterte Dorfstraße, auf der früher Kutschen statt Traktoren gefahren waren. Ich sah schon unsere blaue Haustür und sehnte mich danach, mich in der Küche auf einen Stuhl fallen zu lassen, als Frau Schlüter mit ihrem Dackel von der anderen Straßenseite zu uns rüberkam.

Wenn unsere Nachbarin meinen Bruder sah, lief sie jedes Mal mit gerührtem Blick auf ihn zu, als wäre er ein hilfloser Hundewelpe.

»Na, wart ihr zusammen einkaufen?«, fragte sie.

»Aiaa«, rief Mo so laut, als stünde unsere Nachbarin noch immer auf der anderen Seite.

»Eier!« Frau Schlüter war an seine undeutliche Aussprache schon gewöhnt. Sie schaute in seine Tragetasche. »Ich sehe, ich sehe.«

Dabei gab es da nichts zu sehen. Es lag bloß der Einkaufszettel darin. Den Eierkarton, der oben aus meiner Tasche guckte, übersah sie einfach.

Angespannt ließ ich Frau Schlüters Getue über mich ergehen.

»Toll, wie du deinem Bruder hilfst. Du bist ein richtig großer Junge«, sagte sie zu Mo und lächelte ihn an wie die Verkäuferin vorhin im Laden, überfreundlich und mitleidig zugleich.

»Du bis’ ein Idiot!«, rief er ihr direkt ins Gesicht. Kein Stück leiser als eben.

Für einen Moment wusste Frau Schlüter nicht, ob sie weiterlächeln sollte. Und ich kam ihr nicht zu Hilfe, sagte nicht: Er meint das nicht so. Er hat sich nur fast vom Zug überfahren lassen, deshalb ist er ein bisschen verwirrt.

Stattdessen stellte ich die Tasche ab, weil es vielleicht doch noch lustig werden würde.

»Du bis’ ein Idiot mit Kasperbacken«, setzte Mo einen drauf und Frau Schlüters rot geschminkte Wangen glühten noch mehr als vorher.

Dafür liebte ich meinen Bruder. Er wusste genau, ob jemand etwas ehrlich meinte. Vor seinem Lupenblick konnte sich niemand verstecken. Und im Gegensatz zu mir hatte er kein Problem damit, alles, was er dachte, einfach rauszulassen.

So einen krassen Satz hatte er unserer Nachbarin aber noch nie entgegengeschleudert. Jetzt kam eben raus, was ich vorhin verbockt hatte. Der »Idiot« war bei ihm hängen geblieben.

»Moritz …«, sagte Frau Schlüter irritiert. Aber dann entschied sie sich, ihn lieber nicht ernst zu nehmen und laut loszulachen.

»Du hast ja recht!«, rief sie und gab vor, über sich selbst den Kopf zu schütteln. Sie schaute noch einmal in seine Tasche. »Bin ich blöd! Da sind ja gar keine Eier drin.«

Ob Erwachsene sich auch manchmal bescheuert fanden? Ob sie wie ich abends im Bett lagen und ins Schwitzen kamen, weil ihnen die peinlichen Momente des Tages einfielen? Ob Frau Schlüter dann darüber nachdachte, dass sie den behinderten Jungen von nebenan vielleicht nicht mehr behandeln sollte wie einen Idioten? Und dass sie seinem Bruder hätte sagen sollen: Wie toll, dass du diese schwere Tasche ganz alleine bis hierher geschleppt hast?

So etwas fragte ich mich, als ich nach der Tasche griff, Mo an die Hand nahm und unsere Nachbarin einfach stehen ließ.

»Habt einen schönen Nachmittag!«, rief sie uns nach.

Zu Hause leerte ich drei Gläser Cola hintereinander und lutschte beim Rühreibraten auf einem Eiswürfel rum. Zum Runterkommen blieb mir keine Zeit. Mo schlug dauernd mit seinem Teller auf den Tisch und rief: »Hungaa, Hungaa, Hungaa, Hungaa!«

Dinge wiederholen, das konnte er echt gut. Worte, Sätze. Auch wenn er etwas gefunden hatte, das einen zum Lachen brachte, wiederholte er es, bis man dachte: Jetzt reicht’s, jetzt ist es nicht mehr witzig. Aber er machte trotzdem weiter. Und irgendwann musste man doch wieder lachen, noch mehr als vorher, manchmal auch irgendwie aus Verzweiflung oder weil man sich einfach nicht vorstellen konnte, dass jemand kein Problem damit hatte, einen Witz unendlich oft zu wiederholen.

Genau das machte Mo, als ich das Rührei auf die Teller verteilte. Er fing an, sein Huhn aufzuführen, streckte beim Aufstehen seinen Po nach hinten, bis sein Stuhl umfiel, und flatterte dann mit eingeknickten Armen um den Stuhl herum.

Ich kannte das natürlich. Er führte sein Huhn bei jedem Frühstücksei auf. Und ich dachte ziemlich schnell: Jetzt reicht’s echt. Aber Mo hörte mal wieder nicht auf. Er flatterte zu seinem Teller und pickte mit dem Mund nach den Ei-Bröckchen, die an seinen Brillengläsern kleben blieben. Das sah zu blöd aus! Und er gackerte auch noch laut über den Tisch zu mir rüber. Deshalb musste ich grinsen, obwohl ich genau wusste, dass er nicht mehr zu halten war, wenn er mich erst einmal so weit hatte. Mich überkam dieses schön-fiese Gefühl, ein Kribbeln in den Fingern, das mich dazu bringen wollte, auch mal richtig verrückt zu sein. Und plötzlich drückte ich zwei große Ketchup-Teiche auf unsere Teller. Nachdem Mo das Gesicht zum ersten Mal in seinen Teich getunkt hatte und wie ein blutverschmiertes Monster über seine Toastscheibe herfiel, konnte ich nicht anders und machte es genau wie er. Das Ketchup spritzte über den Tisch, lief uns den Hals runter und ich lachte laut los, auch aus Erleichterung, dass Mo nicht vom Zug erfasst worden war. Ich lachte, bis ich mich an den Ei- und Toast-Krümeln verschluckte und er auf den Tisch stieg. Er krabbelte zu mir rüber und rutschte auf meinen Schoß, wobei mein Teller auf den Fliesenboden fiel und in hundert Stücke zerbrach.

»Hab dich lieb! Hab dich lieb!« Fast schrie Mo mir das ins Ohr.

»Ich hab dich auch lieb«, keuchte ich. Und ich meinte es genau so. Trotzdem wurde es mir im selben Moment wieder zu viel. Mo klammerte wie ein Faultier an mir, als ich aufstand und ihn über die Tellerscherben hinweghob. Dabei schnitt mir ein Scherbensplitter in den Fuß. Das Lachen war mir vergangen.

»So. Waschen jetzt«, rief ich ernst und stellte Mo vor dem Spülbecken ab.

Das Spüli, das ich auf seine Hände presste, klatschte er zu Blasen, statt die fettigen Finger unter den Wasserhahn zu halten.

»Hör auf damit!« Mit dem Küchenlappen fuhr ich ihm über seinen gackernden Mund, über sein Ketchup-Gesicht, die Hände, bis er einigermaßen sauber war. Meinen eigenen beschmierten Kopf hielt ich gleich ganz unters Wasser.