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SIEG 7: Storys, Interviews, Essays, Gedichte
Interviews:
Interview mit Antonio Vivaldi * Interview mit dem Evangelisten Lukas * Interview mit dem Grusel * Interview mit dem Lärm * Interview mit der Hitze und der Kälte * Interview mit Jacques Offenbach * Das Gemälde "Im Sommer" von Auguste Renoir
Storys:
Sweet Dreams? * Adam und Eva * Das Süßholzraspler-Virus
Essays:
Aura * Ausreden * Bibliotheken * Charakterwünsche * Das Frühstück der Ruderer * Dinos * Egoismus und Altruismus * Halt * Heile Welt * Interessen * Ketchup * Kreuzworträtsel * Macht der Bilder * Makler * Misserfolge * Möbel * Natur * Olympisch * Prost! * Sanostol, Rotbäckchen & Co. * Schippe und Besen * Totgesagte leben länger * Überraschungen * USA und Deutschland * Von Bildern ist abzuraten? * Wildnis
Gedichte:
Auf * Avantgarde * Fliegen * Gespräch mit einem See * Glück * Jemand * Käuze * Motivation * Nähe * Riesen * Tiger * Wärme
Drabbles und Aphorismen
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SIEG 7: Storys, Interviews, Essays, Gedichte
Interviews:
Interview mit Antonio Vivaldi * Interview mit dem Evangelisten Lukas * Interview mit dem Grusel * Interview mit dem Lärm * Interview mit der Hitze und der Kälte * Interview mit Jacques Offenbach * Das Gemälde "Im Sommer" von Auguste Renoir
Storys:
Sweet Dreams? * Adam und Eva * Das Süßholzraspler-Virus
Essays:
Aura * Ausreden * Bibliotheken * Charakterwünsche * Das Frühstück der Ruderer * Dinos * Egoismus und Altruismus * Halt * Heile Welt * Interessen * Ketchup * Kreuzworträtsel * Macht der Bilder * Makler * Misserfolge * Möbel * Natur * Olympisch * Prost! * Sanostol, Rotbäckchen & Co. * Schippe und Besen * Totgesagte leben länger * Überraschungen * USA und Deutschland * Von Bildern ist abzuraten? * Wildnis
Gedichte:
Auf * Avantgarde * Fliegen * Gespräch mit einem See * Glück * Jemand * Käuze * Motivation * Nähe * Riesen * Tiger * Wärme
Drabbles und Aphorismen
Moderator: "Heute bei uns zu Gast im Studio – ein Geigenvirtuose und virtuoser Komponist: Antonio Vivaldi! 1741 – also vor über 280 Jahren das Zeitliche gesegnet ... Aber Du bist zeitlos; die Feen hatten keinerlei Mühe, Dich mit diesem preiswerten Feenstaub zu reaktivieren."
Antonio Vivaldi: "Sogar mein Asthma ist weg."
Moderator: "Ja, es hilft gegen allerlei Wehwehchen. Il Prete Rosso – der rote Priester – wurdest Du genannt. Was ist für Dich ein rotes Tuch, wem möchtest Du auch jetzt noch die Meinung geigen?"
Antonio Vivaldi: "Für mich ist das Leben wie eine kostbare Violine. Keine Melodie, die man herunterfiedelt – man setzt sich ernsthaft damit auseinander, man interpretiert."
Moderator: "Es nicht vergeigen. Mit Talent gesegnet zu sein, ist dabei vermutlich hilfreich?"
Antonio Vivaldi: "Talent kann ein Fluch sein; es legt einen fest; man folgt ihm. Aber der Geldsegen ist beachtlich."
Moderator: "Trotzdem bettelarm gestorben. Wie kommt's? Alles verprasst?"
Antonio Vivaldi: "Ich habe Geld verschwendet – und nicht die Zeit. Letzteres wäre für mich das größere Übel. Ein Frevel gegen das Leben."
Moderator: "Deine Opern haben die Zeit nicht so gut überstanden. Nur 20 von den von Dir genannten 94 sind erhalten – manche davon nicht mal vollständig. Macht Dich das traurig?"
Antonio Vivaldi: "Ich hätte sorgsamer damit umgehen müssen. Konzessionen an das Leben, an den jeweiligen Augenblick – der Augenblick beansprucht alles, volle Konzentration; wie soll man da den Blick richten auf das Dahinterliegende? Man ist ja kein Diener der Zukunft."
Moderator: "Was sagst Du zum Vorwurf, dass Deine Opern Flickopern seien? Stichwort: Pasticcio. Man verwendet munter was von anderen Komponisten, wenn es sich doch so gut da hineinfügt; Wiederverwertung von etwas Eigenem. Ohne Musenkuss greift der Musikus zum Recycling?"
Antonio Vivaldi: "Ich war immer inspiriert!"
Moderator: "Stichwort Musen. Du hast das erste Mädchenorchester der Welt geleitet. Das Ospedale della Pietà in Venedig: Waisenhaus und Musikschule. Auch Touristen waren davon angetan. Eine schöne Wirkungsstätte."
Antonio Vivaldi: "Witzigerweise unterrichte ich im Himmel weibliche Engel. Der Himmel meint es gut mit mir. Der Himmel hängt voller Geigen, wenn ich unterrichte. Mag sein, man bekommt dort ähnliche Tätigkeiten zugewiesen wie im irdischen Jammertal."
Moderator: "Was willst Du mit Deiner Musik ausdrücken? Igor Strawinsky meint: 'Vivaldi hat nicht 500 Konzerte geschrieben, sondern 500 Mal dasselbe Konzert.' Fun Fact – das wohl bekannteste Musikstück aller Zeiten: Deine vier Violinkonzerten 'Die vier Jahreszeiten'."
Antonio Vivaldi: "Na, immerhin. Programmmusik liegt mir. Malen mit Tönen. Habe ich im Jenseits perfektioniert."
Moderator: "Gratulation. Es ist das meistverkaufte Klassikalbum: 'Die vier Jahreszeiten' mit dem Geiger Nigel Kennedy. Für einen Priester hast Du es weit gebracht."
Antonio Vivaldi: "Unvergessen zu sein, kein Unzeitgemäßer ... Ein Schwung, der die Jahrhunderte überdauert ... Wenn man sich mit der Kunst einlässt, wird man selten enttäuscht. Sie ist die beste Gefährtin der Menschheit. Sie fordert alles von einem. Sie lässt einem die Auswahl, auf welchem ihrer zahlreichen Gebiete man tätig sein will. Geistlicher Acker, weltlicher Acker ... Wie ist die Ernte?"
Moderator: "Manchmal muss man sich damit begnügen, die zweite Geige zu spielen. Man hat Glück, wenn es eine Stradivari ist."
Antonio Vivaldi: "Zumindest den Eindruck erwecken, dass man stets erstklassig ist. Ein Pasticcio hat nichts Anrüchiges für mich. Nennen wir es 'lebensverlängernde Maßnahmen' für einige Opernstücke; Rettungsmaßnahmen – man nimmt sie mit in die nächste Saison, sie können nochmals brillieren; man leiht sich was aus ... Nicht nur Arien sind Versatzstücke ... Urbilder tauchen wieder auf. Mythen, Sagen, Legenden webt man in sein Leben – macht sie sich zu eigen. Soll man das Glück versetzen? Die Seele selbst ist wohl ein Pasticcio. Viel von den Ahnen steckt da mit drin – und nach und nach gesellen sich einige Vorbilder hinzu. Ein Genie ist ein Gigant, der aus vielen Zwergen aufgebaut ist. Man bediene sich am Kunst-Buffet."
Moderator: "Musstest Du mit Deiner Meinung hinterm Berg halten? Übergroße Rücksichtnahme auf die Meinung der Kirche? Die Opernhäuser als Stätte des fröhlichen Lasters. Wie statthaft ist das für einen Priester – auch wenn er damit stattliches Geld verdient?"
Antonio Vivaldi: "Recht ansehnliche Summen. Soll man mir die Lebensfreude nicht ansehen? Das Leben ist Tanz, Freude – meine Musik bewahrt dieses Gefühl, es macht sie aus. Jeden Tag ist man ein Auferstandener; heute bin ich's ganz im Besonderen. Musik kann was Überirdisches haben, wenn man es zulässt. Wobei frenetischer Applaus auch was Schönes ist. Mir bekam die Popularität sehr gut."
Moderator: "Eine lebende Legende ... dennoch in Vergessenheit geraten. Man hat Dich wiederentdeckt – 1926 zum Beispiel fand man mehrere Bände mit Deiner Musik: Sie enthielten unter anderem 300 Konzerte und 19 Opern."
Antonio Vivaldi: "Ein Grund aufzuatmen. Ein Blech- oder Holzblasinstrument kam für mich nie infrage. Ich musste Rücksicht nehmen auf mein Asthma. Frei atmen zu können, war mir nur in der Welt der Musik möglich. Sie soll nicht das durchmachen, was der Komponist erleiden muss; sie ist befreit von seiner Beengtheit, seinen Schwächen. Sie ist reiner; sie verwirklicht seine Ideale. Sie erreicht beinahe mühelos und spielerisch, was ihrem Schöpfer verwehrt bleibt. Vielleicht ergeht es unserem Schöpfer auch so – dass wir zu etwas in der Lage sind, wozu er sich außerstande sieht? Jeder Mensch ist eine Melodie, eine Abfolge von zusammengehörigen Tönen. Musik muss frei atmen können. Zwänge tun ihr nicht gut."
Moderator: "Dein Vater war ebenfalls Geiger; er starb 1736 – fünf Jahre vor Deinem Tod. Ihr standet Euch recht nahe; er hat Dich in allem unterstützt. Ein schönes Privileg, wenn die Familie so zusammenhält – 8 Geschwister hattest Du. Ist Familie so etwas wie Generalbass – er stützt die Melodie, sorgt für passende Harmonie?"
Antonio Vivaldi: "Ja, Harmonie ist wichtig. Gerade, wenn einem die Kirche Sittenlosigkeit vorwirft."
Moderator: "Will man da im Dreieck springen? Hilft die Methode des Dreisatzes: Wechsel von langsamen und schnellen Passagen? Allegro – Adagio – Allegro."
Antonio Vivaldi: "Man sollte im Leben auf Episoden achten, die wiederauftauchen. Es ordnet sich wohl auch wie ein Musikstück, in dem das Ritornell öfters wiederkehrt: der Refrain im Leben. Was ist die Hauptaussage? Wiederkehr und Abwandlung des Wichtigsten. Dann ist Zeit für die Couplets, die Zwischenspiele. Struktur ist wichtig; sonst ist es nur eine unverbindliche Abfolge von Lauten. Man sollte in der Tat sein Leben komponieren. Platz für Tutti- und Soloabschnitte."
Moderator: "Die Sängerin Anna Giró war lange Zeit an Deiner Seite. Du bist ihr 1726 zuerst begegnet. War sie mehr als Deine Studentin, Dein Protegé ...? Die Prima Donna Deines Herzens?"
Antonio Vivaldi: "Mein Kontrapunkt. Meine Ergänzung. Man muss sich kontrapunktieren. Das bereichert."
Moderator: "Stichwort Barockmusik. Barock bedeutet unregelmäßig – eine nicht ebenmäßige Perle. Das Unvollkommene als Thema in der Kunst. Das Reich des Tatsächlichen – fehlerbehaftet, Mängel, wohin man schaut. Tonmalerei ist dann so etwas wie ein akustischer Spiegel der Natur. Einem fallen die Fehler auf, aber sie fallen nicht ins Gewicht. Hat Barock etwas Versöhnliches, Versöhnendes?"
Antonio Vivaldi: "Betrifft ja alle Affekte. Etwas ist durcheinandergeraten, man konzentriert sich zu sehr auf ein Gefühl; es bestimmt, beherrscht Dein Denken. Auch übergroße Liebe kann so zu einem Problem werden. Verlangen, Hass, Trauer ... wir kommen sehr schnell aus dem Gleichgewicht. Die Musik – die Arie – kann das sehr schön zum Ausdruck bringen. Die Handlung stockt, sie pausiert; man gibt sich ganz dem Gefühl hin; man badet darin – aber es ist nicht immer ein Schaumbad. Als Teufelsgeiger mit roten Haaren hatte ich mich eigentlich auf Schwefelbäder in der Hölle vorbereitet. Kommt immer alles anders, als man denkt."
Moderator: "Dann wünschen wir Dir frohes Schaffen im Himmel. Musik vermag uns ein zeitweiliges Elysium zu ermöglichen. Als ob man neben einer Himmelsleiter stehen würde – aber das klappt vermutlich nicht mit Fahrstuhlmusik. Ich bedanke mich für Deinen Besuch. Uns bleibt nur die Hoffnung, dass wir nicht allzu viel vergeigen."
Antonio Vivaldi: "Herausfinden, nach wessen Geige man tanzt. Damit ist schon viel gewonnen. Ist noch Zeit für ein Bad in der Menge?"
Das Publikum steht auf und applaudiert ihm.
Moderator: "Schön, wenn man diesen Zustand erreicht hat: kein Wunsch, jemandem die Meinung zu geigen. Wenn man den Bogen nicht raushat, hilft nur der Ellenbogen. Recht zuverlässig.
ENDE
Moderator: "Heute bei uns zu Gast im himmlischen Studio: Evangelist Lukas! Verfasser des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte. Wie ist es, einen Text zu verfassen, den es in ähnlicher Form schon gibt? Stichwort 'Doppeltgemoppelt'."
Lukas: "Es kommt ja auch auf den Stil an."
Moderator: "Würdest Du sagen, Du hast das besser formuliert als Deine Kollegen? Hattest Du einen Co-Autor? Oder lediglich inspiriert vom Heiligen Geist?"
Lukas: "Bei diesem Thema ist das Göttliche immer involviert; wie groß ist der menschliche Anteil, was steuert der Heilige Geist bei? Als Autor hätte man damit eine wunderbare Ausrede, wenn man was völlig Unverständliches abliefert. Einige Jahrzehnte Abstand zwischen mir und Jesus – was davon ist Hörensagen, wie authentisch ist das Material? Es geht ja um Wunder. Zugriff auf das Transzendente, es durch Gleichnisse verständlich machen. Es sind Parabeln – aber man ist ja kein Fabeldichter. Einen Bereich, der unsichtbar ist, anschaulich zu machen: Vor dieser Aufgabe steht der Evangelist."
Moderator: "Was steckt alles in den Parabeln? Könnte man unendlich viele Informationen da rausholen? Wo durchstößt man die Grenze zur Beliebigkeit? Eine Aneinanderreihung von Parabeln ist ja keine exakte Wissenschaft – mit mathematischer Genauigkeit. Da gibt es Spielraum; der Leser ist aufgefordert, seine Erfahrungswelt hinzuzufügen, das zu vermengen. Sauerteig allein macht ja noch kein Himmelreich."
Lukas: "Es sind zwei Bereiche: der Bereich des Normalen, was nicht über den Erwartungshorizont und Erfahrungshorizont hinausgeht – aber dahinter liegt der Bereich, den ich schildere. Wunder haben ihren Ursprung in dem Bereich. Das Reale sieht sich plötzlich konfrontiert mit etwas, das sich nicht um seine Gesetze schert. Übers Wasser gehen, Wasser wird auf Wunsch zu Wein, Tote erheben sich, die lahme Welt wird mobil gemacht. Da ist Verwandlung durch eine innere Kraft. Es gibt zweierlei Auferstehungen: psychisch und physisch. Manchmal braucht man mehr als drei Tage, um wieder auf die Beine zu kommen. Innerlich tot, alles abgestorben; kein Himmel in Sicht."
Moderator: "Wie gelingen Wunder? Hat es etwas mit Konzentration zu tun?"
Lukas: "Wie beim 'Hau den Lukas': mit aller Kraft zuhauen – aber treffen ist wichtig; der gesamte Körper hat Anteil daran. Entschlossenheit – damit schließt man seine Reservekammer auf – dort werden die Wunder verwahrt. Man ist zerstreut, unfokussiert. Wundervolles erschafft man durch Wachsamkeit. Holzauge, sei wachsam!"
Moderator: "Das geistige Auge – welche Rolle spielt es in diesem Zusammenhang?"
Lukas: "Es geht um Sinnbilder. Was kann was vertreten? Wodurch wird einem der größere Zusammenhang offenbart?"
Moderator: "Der Stier bzw. Flügelstier als Dein Symbol. Der Adler versinnbildlicht Johannes; der Löwe versinnbildlicht Markus. Sinnbilder helfen uns, uns im Gewirr des Jenseits zurechtzufinden? Man behilft sich mit Symbolen. Eine Welt, die sich den Sinnen nicht unmittelbar erschließt. Übel ist der dran, der alleine auf seine Sinne setzt? Das Übersinnliche bleibt für ihn unerkennbar? – Jesus bleibt seltsam schemenhaft in Deiner Schilderung. Verkünder von Parabeln; was und wer steckt hinter dieser Parabel-Wand?"
Lukas: "Auf Dauer etwas monoton, einen Heiler zu beschreiben, dem sein Werk in Sekundenschnelle gelingt. Stets zu 100 Prozent. Unfehlbar. Direkte Rede macht es interessanter; der Erzähler blendet sich aus; näherer Kontakt mit dem Protagonisten – Leser und Protagonist rücken zusammen. Er spricht zu einem. Man ist gemeint."
Moderator: "Jede Menge Dämonen unterwegs. Jesus hatte viel zu tun. Heutigentags wird deren Existenz bestritten. Es ist stattdessen von Traumata die Rede, Blessuren der Seele. Wie macht man sich fit für das Gottesreich? Gibt es einen seelischen Trimm-dich-Pfad? Gedanken-Weitsprung, Ausrede-Slalom – bis man so weise ist wie Salomon?"
Lukas: "Seine Dämonen muss man loswerden, bevor man ins Himmelreich hineingelassen wird. 'Wir müssen draußen bleiben', könnte man sagen. Aber man muss keinen Apostel kennen, der einen davon gnädigerweise befreit. Stärker sein als seine Dämonen – man kann Engel hinzubitten, die einem beiseitestehen, die einen anfeuern."
Moderator: "Ist es denn Aufgabe der Engel, Menschen stets beizustehen?
Lukas: "Wird das ein Kreuzverhör? In Engelsangelegenheiten kenne ich mich kaum aus. Ich wurde durch die Ereignisse da mit reingezogen. Eigentlich bin ich Arzt – und Hobbymaler. Eine Parabel hat ja zwei Äste: einer im Diesseits beheimatet, der andere steckt im Jenseits – so stelle ich mir das vor. Wie geht man mit dem Transzendenten um? Als Maler – wenn ich beispielsweise Maria male – macht man das Diesseitige durchlässig für die Strahlung aus dem Gottesreich. Auch die Sprache selber soll durchlässig sein für die eigentliche Aussage, für die es aber kaum geeignete Worte gibt. Es ist immer ein Zugleich."
Moderator: "Kann man Parabeln fehldeuten? Jeder Mensch sehnt sich nach Wundern, die ihm sein Leben vereinfachen. Brotvermehrung ist praktisch – man braucht morgens nicht zum Bäcker."
Lukas: "Wofür man die Glaubenskraft einsetzt, bleibt jedem selbst überlassen. Es ist eine Kraft wie die eines Magneten. Nur wirkt sie über weitaus größere Strecken."
Moderator: "Es geht im Leben doch darum, eine gute Zeit zu haben. Es ist ja kein Anlaufnehmen auf das Himmelreich; damit einem der Absprung gelingt. Vorbereitungsübungen für das ganz große Examen? Nur die eiligsten Heiligsten kommen weiter?"
Lukas: "Na ja, Wunder benötigen ein geeignetes Umfeld. Wie beim Kochen: In einer gut eingerichteten Küche gelingen die Speisen vermutlich besser."
Moderator: "Könnte man sagen: je heiliger, umso wundertätiger? Sind Dir Wunder gelungen?"
Lukas: "Immerhin liest man meine Texte noch nach 2000 Jahren."
Moderator: "Wieso hatte Jesus es mit so vielen Besessenen zu tun? Das war ja außergewöhnlich. Erstaunlicherweise hilft Ratio kaum gegen die inneren Dämonen – die machen trotzdem, was sie wollen. Rationale Argumente werden verjagt. Der Glaube muss ran. Man setzt heutzutage auf Medizin – ein ganz anderes Framing."
Lukas: "Aber Jesus war ja kein Pharmavertreter. Heilung dank des Glaubens. Sich nicht einschüchtern lassen von der Realität; sie ist nur die eine Seite der Medaille. Sie bekommt es zu tun mit der Kraft des Jenseits. Der Boden der Tatsachen – und der Himmel der Tatsachen, wenn man so will. Ergänzung durch das Göttliche, das in jedem steckt. Senfkorngröße reicht – wenn man Jesus Glauben schenken darf."
Moderator: "Recht mühselig, das Reich Gottes zu verkünden. Wie ein Hausierer, dessen Waren man nicht sehen kann. Wer kauft unsichtbare Kämme – oder ein unsichtbares Eis? Die Menschen wollten Zeichen, was Sichtbares. Sechs Stunden am Kreuz zu verbringen – und dann noch am Leben zu sein, wirkt auf den ersten Blick nicht so überwältigend. Für einen gut trainierten, dünnen Mann durchaus im Rahmen des Machbaren. Ist der Begriff 'Auferstehung' in diesem Zusammenhang berechtigt?"
Lukas: "Läuft auf die Frage hinaus: Wie weit reicht die Macht des Glaubens? Kann man dem Tod ein Schnippchen schlagen, spaziert man in die Totenwelt hinein und wieder hinaus? Vielleicht haben wir den Glauben noch nie wirklich getestet – er hat bisher nur kleine Kostproben seines Könnens abgeliefert? Stichwort 'Berge versetzen' ... Die Glaubenskraft hat die Menschen von jeher fasziniert. Man wird Stier, Adler, Löwe – man kann sich hineinversetzen in fremde Wesen und sie sich vertraut machen. Der Geist ist nicht gebunden an das Hier und Jetzt; er hatte schon immer was vom Heiligen Geist. Man muss ihm nur den Kontakt ermöglichen, ihn nicht allzu sehr binden an das Reale – wie man einen Elefanten mit einer Kette am Umherlaufen hindert. Oder einen Flügelstier am Fliegen. Alles ist möglich. Es ist nicht Glaube versus Realität – es gilt, zu begreifen, dass wir Geisteswesen sind, die in direktem Kontakt mit dem Chef des Universums stehen. Einen guten Draht haben ins Himmelreich – darum ging es Jesus wohl vor allem."
Moderator: "Sind das nicht nur wilde Mutmaßungen? Man hat für alles gerne Beweise. Bevor wir jemandem Glauben schenken, wollen wir ihn näher kennenlernen, wissen, wie er tickt. Ein Evangelium viermal zu wiederholen, macht es nicht per se glaubwürdiger. Oder doch?"
Lukas: "Ich bin Arzt und kein Prophet. Als Arzt finde ich es faszinierend, in welchem Ausmaß der Geist in der Lage ist, dem Leib beizustehen. Wes Geistes Kind ist man? Wie ist man gestrickt? Letztlich ist man Schauspieler: Sich geistig in einen Flügelstier zu verwandeln, ist etwas anderes als in eine graue Maus. Der Geist verwandelt einen. Und sollte man sich zufriedengeben mit einem unreinen Geist, wenn es eine bessere Version gäbe? Es in Richtung Heiligkeit pushen."
Moderator: "Manche greifen dafür zu sehr unheiligen Mitteln. – Ist das beabsichtigt, dass man sich manchmal etwas dämlich vorkommt, weil man die Rätsel, die in den Parabeln verpackt sind, nicht versteht? Je kryptischer und esoterischer, umso machtvoller der Inhalt?"
Lukas: "Der Vorwurf der Unverständlichkeit ... Ich habe es nur so wiedergegeben, wie es mir zugetragen wurde. Wer bin ich, dass ich es gleichzeitig deute?"
Moderator: "Als Schüler sagt man sich: 'Mir wird von alledem so dumm, als ging mir ein Mühlrad im Kopf herum.' Dem Realitätscheck hält nichts davon stand. Man ist dennoch gewillt, es annehmen zu wollen, es so hinzunehmen. Wohl auch, weil eine gottlose Welt uns als die schlechtere Alternative vorkommt. Wenn uns da jemand den Zugang verheißt; er kenne da wen, er habe beste Beziehungen ... Da willigt man ein, da ist man dabei! Ist Glaube ein Stoff für den Träumer, guter Stoff?"
Lukas: "Rausch und Ekstase hängen mit dem Glaubenserlebnis zusammen. Ein Trip ins Überweltliche. Anzapfen unbekannter Energien. Wolken stehen als Transportmittel bereit. Leitern, die mühelos in die obersten Himmels-Etagen reichen. Gottes Reich in kosmischer Nachbarschaft."
Moderator: "Ist ja fast wie Doping. Sind die Atheisten da nicht sehr im Nachteil? Aus was schöpft man seine Energie? Stolz sein auf das Erreichte? Sind das bereits Schätze fürs Himmelreich? Oder ist das wieder was für die Vanitas? Eitel Sonnenschein trotz Eitelkeit? – Immer einen auf Nächstenliebe machen, ist doch sehr ermüdend."
Lukas: "Das Himmelreich nur für die Selbstlosen und Bettelarmen? Engel besitzen ja auch nichts. Aber immer nur auf die Gnade Gottes angewiesen zu sein ... Früher haben die Menschen es mit Opfergaben und Tauschgeschäften versucht. Es hat etwas Betrübliches, wenn man sich eingestehen muss, dass man nichts an Gegenwert besitzt ... Wir stehen mit leeren Taschen und leeren Händen vor Gott."
Moderator: "Der einzige Weg ins Himmelreich führt über Jesus Christus. Er hat gewissermaßen alle anderen Zugänge versperrt; kann man das so sagen? Und es gelten seine Bedingungen. Das hat etwas Unerbittliches. – Was ist mit Simon Magus und den anderen Magiern? Konkurrenten im Wunder-Business? Sie haben keine offizielle Lizenz von Gott? Welche Wunder sind zulässig, was geht gar nicht?"
Lukas: "Es kommt ja immer schnell der Verdacht auf, jemand beziehe seine Wunderkraft von Luzifer. Nicht jedes Wunder ist willkommen. Es wäre störend, wenn jeder übers Wasser laufen könnte. Nicht allen Toten sollte man die Rückkehr ermöglichen; nur ausnahmsweise und zu Demonstrationszwecken."
Moderator: "Warum attackierte Jesus ständig die Schriftgelehrten und Pharisäer? Wie verträgt sich Nächstenliebe mit diesem Groll? Es hagelt Vorwürfe; trotzdem schneit er bei ihnen herein."
Lukas: "Erzrivalen braucht wohl jeder. Ist wie eine Erzader. Man holt das Beste aus sich heraus, wenn man es mit einem starken Gegner zu tun hat. Ist bei einem Tennismatch auch so. Man braucht die Herausforderung. Mag sein, dass der Teufel deshalb ein Aufenthaltsrecht genießt."
Moderator: "Jesus' Lieblingsvorwurf ist wohl: 'Ihr Heuchler!' Apropos, möchtest Du einen Pharisäer? Kaffee mit Rum und Sahnehäubchen."
Lukas: "Ja, gerne. Ich müsste heucheln, wenn ich dem nicht meinen Segen geben würde."
Moderator: "Würdest Du Deine Texte als didaktisch wertvoll bezeichnen? Die Bibel will uns fortwährend belehren. Am Ende der Lektüre fragt man sich, wie das alles ins Leben hineinpassen soll. Heuchelt man notgedrungen Frömmigkeit – hält aber die Lebensfreude in Ehren? Ein Teilzeit-Scheinheiliger – aber das genügt wohl nicht den Ansprüchen des Himmelreichs?"
Lukas: "Könnte ich noch einen Pharisäer haben? Mit mehr Sahne! – Man muss das Irdische nicht geringschätzen; es hat allerlei Faszinierendes zu bieten. Die Engel machen sehr gerne Urlaub auf der Erde. Nicht immer nur für Botengänge. Wenn Engel in der Nähe sind, fühlt man sich beflügelt."
Moderator: "Noch mehr Insidertipps? – Wie war den Aposteln und Jüngern zumute, als sie sich allein bewähren mussten? Klappt das mit dem Wunder? Hat der Heilige Geist seine Unterstützung bereits wieder storniert? Ein Sohn Gottes hat leicht reden – aber als Fischer muss man sich das alles hart erarbeiten. Man steht trotz allem nicht auf vertrautem Fuß mit dem Wunder. Es geht wohl auch um Gehorsam – wie bei einem wohlerzogenen Hund: Zeigt das Wunder keine Einsatzbereitschaft, erkennt es einen nicht als Herrchen an? Gebieter der Wunder. Und dann heißt es auch noch in den Anweisungen: 'Gottes Mühlen mahlen langsam.'"
Lukas: "Ich habe Paulus ja auf seinen Missionsreisen begleitet. Schön, wenn man im Leben eine Mission hat. Es hilft, wenn man die Welt wundervoll findet: Dann sind die Wunder zutraulicher, sind eher zur Kooperation bereit. Der Zeitgeist darf nicht unwillig sein, dann geschehen Zeichen und Wunder."
Moderator: "Man fragt sich: Was soll da verwirklicht werden? Stichwort Parusie und Parusieverzögerung. Jesus' Wiederkehr – sein erneutes Erscheinen: das Ende der Weltgeschichte? Will man das? Es geht recht lustig zu auf der Erde – und demnächst wohl auch auf dem Mars. Insofern könnte man für diese Parusieverzögerung dankbar sein. Aber warum dieser Aufschub?"
Lukas: "Gute Gelegenheit, um mich zu zitieren: 'Lk 17,21: Man kann auch nicht sagen: Seht, hier ist es!, oder: Dort ist es! Denn: Das Reich Gottes ist schon mitten unter Euch.'"
Moderator: "'Ick bün all dor!', würde der Igel sagen. 'Warten auf Godot' hieße in diesem Sinne: Der Erwartete und das Erwartete sind längst da. – Ich komm noch mal auf die Parabeln zurück: Steckt da noch mehr drin, eine Art Geheimlehre? Wertvolle Zusatz-Infos? Die Parabeln ganz ausquetschen – wie eine Zitrone: bis da wirklich kein Saft mehr drin ist?"
Lukas: "Ich glaube nicht, dass das meinem Text gut bekommt. Könnte aber auch sein, dass mir einiges entgangen ist. Paulus hatte den Überblick ..."
Moderator: "In der Bibel und bei Jesus muss man ständig etwas deuten. Hast Du Dir das auch im täglichen Leben angewöhnt: nach dem tieferen Sinn Ausschau halten? Zahlenmystik. Das Vieldeutbare hat immer auch was seltsam Unbestimmtes; man legt sich nie wirklich fest. Das käme den Politikern sehr entgegen. Aber Propheten fahren damit auch nicht schlecht. Die Zukunft wird schon zeigen, wie es gemeint war. Man kann sich darauf berufen – und Prophezeiungen erfüllen sich damit umso leichter. Enthält die Bibel zu viel Subtext? Ist man als Autor Schmuggler – schmuggelt man in die Köpfe seiner Leser verborgene Botschaften? Nicht immer eine frohe Botschaft – ein Evangelium?"
Lukas: "Ich weiß nicht, ob es die Menschen wirklich froh gemacht hat. Immerhin feiern sie Weihnachten. Die Figuren in der Bibel sind meist doch sehr unentspannt. Es geht um Verfehlungen; sie haben wieder mal Gott verärgert. Enttäuschung auf beiden Seiten. Ein guter Zeitpunkt für Versöhnung, Aussöhnung: Jesus als Vermittler, als Botschafter; der Sohn höchstpersönlich als Missionär. Ich bring' Euch gute neue Mär. Gelingt das auf Anhieb? Wie glaubhaft wirkt das Göttliche, wenn es in menschlicher Verkleidung in Erscheinung tritt? Wie viel Unglauben steht dem Glauben im Weg? Wie viel Unglaubliches muss man vollbringen, damit man nicht gleich abgewiesen wird? Schlimm, wenn man sich an die eigene Göttlichkeit nicht mehr erinnern kann – könnte es uns Menschen so ergehen? In diesen Strudel geriet ich – wurde davon erfasst, mitgerissen: Mein Text schrieb sich fast von allein."
Moderator: "Eine wunderbare Entschuldigung, wenn es misslungen wäre. Dem Heiligen Geist alles in die Schuhe schieben. – Ich danke Dir für dieses Gespräch."
Lukas verwandelt sich in einen Flügelstier – und verlässt das Studio durch eines der großen Seitenfenster.
ENDE
Moderator: "Es gruselt einem bei dem bloßen Gedanken an unseren heutigen Talkgast: kein Gruselclown, kein Stellvertreter, sondern der Grusel selbst. Schön, dass Du Zeit für uns hast."
Grusel: "Ihr habt Dusel – an sich bin ich fast ausgebucht dieser Tage."
Moderator: "Ja, Du hast viele Fans. Normalerweise trifft man Dich in Spukschlössern, in einem haunted house, in Kellergewölben, Verliesen, Friedhöfen ... Erschreckt Dich so ein gemütliches Studio? Fühlst Du Dich völlig fehl am Platz?"
Grusel: "Ich habe Euch Spinnweben aus der Dose mitgebracht."
Moderator: "Bist Du gut in Form?"
Grusel: "Seit der Aufklärung geht es mit mir bergab. Meine Gespenstertruppen haben kaum noch Auftrittsmöglichkeiten. Wie ein Komiker, der verpflichtet ist, Tag für Tag vor einem humorlosen, todernsten Publikum aufzutreten. Die Ratio macht uns einen Strich durch die Rechnung. 'Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum', wie es so schön bei Schiller heißt. Ihr seid der Graus! Macht uns den Garaus."
Moderator: "Ist Grusel überflüssig? Was sind Deine Stärken? Inwiefern könnte der Zeitgeist von Dir profitieren?"
Grusel: "Ich habe darüber ein Buch geschrieben. Titel: 'Ach, wenn mir's nur gruselte!' – Eine Anspielung auf das beliebte Märchen: 'Das Märchen von einem, der auszog das Fürchten zu lernen'. Das Leben muss eine Achterbahnfahrt der Gefühle sein. Wie wollt Ihr Erleichterung spüren, kennen – wenn Ihr nie bedrückt wart? Ich sorge für Sorgen, für Schrecken. Ich führe Euch zur Nachtseite – und stoße Euch hinein. Am Gruseligsten ist ohnehin die eigene Seele. Wenn die Ratio nicht aufpasst, nicht hinsieht ... Es ist ein Graus mit all den Fehlern, den Irrtümern, den Verfehlungen: ein Grusical."
Moderator: "Und da schaffst Du Abhilfe?"
Grusel: "Sich nicht abwenden vom Mysterium. Es ist immer beides zugleich: erschreckend und faszinierend. Grusel hat zwei Seiten. Alles ist ambivalent. Mysterium tremendum und Mysterium fascinosum – Furcht und Anziehung."