SilbertigerRevolter - Udo Stähler - E-Book

SilbertigerRevolter E-Book

Udo Stähler

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Beschreibung

Seine Bedeutung verlieren. Ausgemustert werden. Kein Licht mehr? Kai der Starke wird aus dem Verkehr gezogen. Zur Schikane freigegeben. Das Ende der eigenen Show geht ans Eingemachte, wenn die Bühne viel eines Zuhauses ist. Kai musste als Knabe dabei zusehen. War entsetzt, dass geankerten alten Haudegen von jungdynamischen Tausendsassas Gummibärchen hinterhergeworfen wurden, wenn sie erst mal zur Schikane freigegeben sind. Und verspricht Revolte. Viele Sommer später fliegt er selbst von der Bühne. Kai der Vertriebsprofi. Und erinnert sich. Aus einer solchen Schmach hatte er schon mal einen Sieg gemacht. Alter ist Revolte oder Resignation. Tiger oder Faultier? Weder noch. Silbertiger. Erst mal entspannen, erst mal die Krallen schärfen.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Udo Stähler

***

SILBERTIGERREVOLTER

Danach ist noch Licht

© 2021 Udo Stähler

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-347-28796-9

Hardcover:

978-3-347-28797-6

e-Book:

978-3-347-28798-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Für Heike E. Emma, meine Frau, die nicht als Figur im Roman erscheint. Was nicht bedeutet, dass sie nicht im Roman erscheint.

 

***

KNIRREN

Kai der Knabe war baff. Da schmiss doch Der Gesalbte Schelm bunte Gummibärchen auf Kuli. Der alte Master der Show wurde von der Bühne getrieben. Dieser alte Haudegen. Kai ballte die Fäuste. Jede Schmach jungdynamischer Tausendsassas an geankerten Alten würde er im Keim ersticken! Revolte. Wenn.

Selbst Sméoda, das ewige Beckmessern, hielt in diesem Augenblick die Klappe. Was schon was heißen will.

Nicht die Gummibärchen machten die Schmach. Solange Der Gesalbte Schelm damit warf, okay. Auch wenn Kai gelernt hatte, dass er mit Lebensmitteln nicht zu spielen habe. Kuli wurde ausgelöscht. Zum Gummibären freigegeben. Der aufgetakelte junge Schmachtfetzen sollte alsdann. Einer wird gewinnen? Kuli hatte verloren. Alle Zuschauerinnen und einige Zuschauer verehrten ihn auf der. Aber nun ohne Bühne? Seine Zeit war abgelaufen. Ein schneidiger Illusionist verdrängte den Verdienten. Letztmals schleuderte ihm sein langjähriger Gehilfe den Mantel hinterher. In das eisige Klima ohne Bühne.

Außerdem regnete es.

KNURREN

Kai der Geneigte war taff. Vorbei mit Kindheit. Noch Frühling. Das Heranwachsende reifte. Junge wurden älter. Verwelktes zerflatterte, frische Blüten wehten. Eine laue Zeit. Jahrelang Veronika, der Lenz ist da. Bis mit der Brotarbeit der Sommer begann. Vorbei mit Naschen. Agieren jetzt. Arbeitsleben. Morgen überstrahlte Gestern. Offene Türen überall. Kaum dahinter war das vor der Tür schon vergessen. Alte mit und ohne Anker auch. Weiter gings. Kein Gedanke, irgendetwas im Keim zu ersticken, Revolte gar. Alle tigerten – Kai immer dabei – im Takt frohgemuter Maskeraden. Illusionen tirilierten Ordnung. Der Gesalbte Schelm probierte den ewigen Gaukler.

Eines Tages fängt der jahrelange Sommer an zu tuckern. Herbst braust. Türen knallen rauf und runter. Blitze treffen und Ahnungen donnern. Illusionen scheppern. Der Gesalbte Schelm trällert fortissimo.

Außerdem steht Kai im Regen.

Mit dem leuchtend gealterten Geneigten ist ein freudloser Vorruhestand vereinbart worden. Gegen seinen Widerstand. Inneren Widerstand. Die Formalitäten sind erledigt. Der Hoffnungsträger für wohlerzogene Blüte wird als Ausgemusterter aus seiner Kamarilla entfernt. Anker gekappt. Ist nicht mehr wichtig, was wichtig war? Vorbei auch mit Klüngel, Gutdünken und Exkommunikation. Die stramm geführte Bande von Geschäftemachern und Schnäppchenjägern, mit denen Kai von jung und begehrt bis alt und ausgezählt seinen Weg machte, musste mehr rattern und sollte schlanker werden. Da war er natürlich dabei und auch dafür. Einer wird gewinnen? Kai hat verloren. Vom letzten Sturm dieser bewegten Ära von der Bühne gefegt.

Ob nochmal Frühling kommt für Kai den alten Haudegen? Jedenfalls wäre endlich Zeit für Frühjahrsputz. Die eingefahrenen Finten des unablässigen Sommers waren am Ende zu schwach zum Prahlen. Brauchen eben Wartung. Aber Achtung. Lastenwechsel. Alte sollen nicht wieder frisch werden. Nicht wie in der Natur. Auch nicht retuschiert. Ob Kai ohne Brotarbeit wieder spielen muss?

Ohne Bühne. Er friert.

Die Bastion seiner ehemaligen Arbeitgeberin in Berlins Central Business District, seine ist es nicht mehr, hat er durch einen Seitenausgang verlassen. Zum ersten Mal muss er mit den Öffentlichen nach Hause fahren. Zwischen harten Schauern flieht er über die Straße. Auf der Haltestelle vis-à-vis seinem – adieu – Büro sieht er Angestellte, deren Feierabend er bisher nur durch sein altes Fenster wahrgenommen hatte. Einige nicken ihm überrascht zu. Der Fahrkartenautomat schlägt drei Tickets vor. Berlin A, AB und ABC. Ist der Speckgürtel, in dem er wohnt, noch AB? Wenn er in seinem District Termine wahrgenommen hatte, Kai zählte zu den umweltbewussten Teilzeitnutzern des ÖPNV, war es immer Berlin AB.

„Geht det noch ma, Alta?“

Kai weicht den Finger-Tattoos, die derweil schon am Bildschirm vorführen, wie es geht. Die Dame hinter der Zicke lächelt ihn tröstend an.

„Heute mit der U-Bahn?“

Eine Kollegin aus der Schalterhalle? Ihren Namen kennt er nicht.

„ABC passt. Wollen Sie etwa nach Hause? Dann haben wir die gleiche Strecke.“

Na sowas. Kai, ein begnadeter Plauderer, bedankt sich artig und bittet um Entschuldigung. Er habe noch was im Büro vergessen. Gerade heute ist ihm überhaupt nicht nach Small-Talk. Wer weiß, wie lange so ein ÖPNV nach Ruhestand braucht? Nach einem vorgetäuschten Rückweg – seine Einlasskarte ist bereits deaktiviert – will er die nächste, vielleicht ist es auch die übernächste und am Zoo die S-Bahn nehmen. Die Kollegin aus der Schalterhalle mit dem gleichen Heimweg soll seinen Abgang nicht noch mehr durcheinanderbringen. Hinter dem Nollendorfplatz fehlt ihm der Folder, den er auf der Fahrt mit den Öffentlichen zu einem Meeting oder Sales Pitch, Ältere kennen sie noch als Besprechungen oder Verkaufsgespräche, gerne Bedeutung aufwartend anschaute. Jetzt müsste er die Anderen ankucken oder ins Nichts starren. Wo er ja hinmuss. Die elegante Dame am Wittenbergplatz, hundert pro aus dem KaDeWe, wirft einen Blick auf seinen Seidenbinder, heute mit Shelby-Knoten. Sowas hat die hier wahrscheinlich nicht erwartet. Sieht verdammt gut aus, das Weibchen. Für ihr Alter. Heute nicht, Kai. Überdies ist er kein Mann für eine Station. Am Zoo folgt er den Schildern zur S-Bahn. An seinem Bahnsteig steht noch die nach Westend. Die hatte er schon mal zur Messe genommen. Um Kunden auf ihren Ständen zu treffen. Von denen er wusste, dass sie seinen Besuch erwarteten; nur um zu bedauern, dass sie vor lauter Trouble jetzt doch keine Zeit hätten. Wieso hat ihm sein Job eigentlich so viel Spaß gemacht?

Im Bahnhof Spandau kauft er sich einen Milchkaffee und ein Croissant. Macht der Gewohnheit. Mit dem frühen Sprinter nach Frankfurt. Vorbei. Welfhard ist ja Vielflieger. Kai trinkt einen Schluck – was alles Kaffee heißen darf – und stellt ihn mit dem Croissant – Paris, lange her – auf einem Stehtisch ab. Der Welfhard fährt ja auch nie mit den Öffentlichen zu seinen Kunden. Ob er seinen Taxifahrer anruft? Der ihn immer von zuhause zum Sprinter und wieder zurückgebracht? Genug mit den Öffentlichen. Andererseits. Dreißig Euro? Das ist ein Brunello. Die Dienst-Reiserei ist auch vorbei. Vorbei ist eigentlich schon älter. Dieser letzte Tag ist so überraschend wie Weihnachten. Jeder weiß, wann der Herr geboren wurde, doch keiner stellt sich darauf ein. Niemand in seiner Clique. Die Clique. Tja. Ehe er das Räsonieren anfängt. Da drüben sieht er die Busse. Er geht. „Zieh Leine, Alter,“ blökt die Frau im Kiosk. Hat die auch Tattoos? Ein Stadtstreicher greift sich Kais Kaffee und das Croissant.

An der Haltestelle keine Kollegin. Das muss der Bus sein. Kai steigt ein. Er schaut aus dem Fenster. Sieht nicht das Rathaus. Sieht sein beleidigt aufgedonnertes Gesicht. Abschiedsmaske? Der Bus fährt auf seiner Strecke; seiner alten Route, die er immer mit dem Wagen nahm. Alte Route? Nach Berlin wird er schon wieder mal fahren. Warum überholt der nicht diesen Roller? Da wäre er längst vorbei. Die herzlichste Begegnung an seinem letzten Tag hatte er mit der Kollegin aus der Schalterhalle. Am Fahrkartenautomaten. Und wieso jetzt hier lang? Dass dieses Kaff überhaupt einen Busanschluss hat. Eine alte Frau quält sich mit ihrem Rollator hinein. Ob die Rente von der Post gebracht wird? Dann eine backsteinerne alte Gewerbesiedlung. Da traf er vor Jahren auf ‘ner was eigentlich einen Kollegen. Die hatten gesponsort. Alles vorbei. Sparmaßnahmen. Sponsoring weg. Kollege weg. Wann ist wohl der neue Branch Manager weg? Ihm hätte der nicht gefehlt. Ob er hier schon raus muss? Da ist sein Abzweig. Verstohlen verlässt Kai den Bus an der Haltestelle, von wo er auf kürzestem Weg sein Haus erreicht. Schleicht vorbei am leeren Stellplatz seines bei seiner ehemaligen Arbeitgeberin zurückgelassenen starken Statussymbols. Haus und Hof trotzen grau dem Regen. Auf seiner privaten Bühne bleibt er Kai der. Wer eigentlich? Ob sie ihn da auch noch runterholen? Die haben ihn auf den Alterssitz vertrieben. An eine Altersvilla hat da keiner gedacht. Bei der Abfindung hat er sich nicht lumpen lassen. Vielleicht lachen die Räuber sich doch ins Fäustchen. So durchtrieben wie die war er schon länger nicht mehr.

Alles sieht aus wie immer. Kai sticht, dass es nicht wie immer ist. Und morgen ist wieder nicht wie immer. Er hört die Glotzer schon fragen. Nicht wie immer? Hätte er ihn einstielen können, den Übergang zum Nicht-wie-Immer? Der jetzt schon hier? Und dann ohne seinen Wagen? Fehlt nur noch, dass sie mit Gummibärchen schmeißen.

Dieser Funke seines kindlichen Flammengezüngels zündet einen Geistesblitz.

Alter ist Revolte oder Resignation.

Lichtlein blinzeln aus der Wolkendecke. Das Grollen des harten Business-District-Showers röchelt von Ferne. Ein weicher Landregen beginnt zu fisseln. Kai ist für Regenbögen noch zu grantig. Lieber die Weltbilder verfluchen, die ihn unbrauchbar machen wollen.

Die doch auch seine sind.

Waren?

ALS KNABE hatte er Fernseherlaubnis nach der Tagesschau nur samstags. Dieses Privileg war das älteste, an das er sich erinnern kann. Dass er es später mit seinen Geschwistern teilen musste, es also verlor, hatte keine Rolle gespielt, denn seine Bedeutung verlor er dadurch nicht. Das ist heute anders. Privilegien, Autorität und Geltung, alles futsch. Der Kummer des Knaben, tatenlos zusehen zu müssen, wie der glühend verehrte Held seiner Fernseh-Show erlosch, ist heute die Tragödie des Ausgemusterten, machtlos zu jammern, dass die ihm das Licht ausgeblasen haben.

Hatte der brave Kuli, im Mittelalter wurden tapfere Männer so gerufen, die Demütigung auch verlegen weggegrinst? Der Verlust des Privilegs, auf der Bühne als Master glänzen zu können, war Teil von Kulis Abschieds-Show. Kai der Geneigte – als er jung war – hatte Kulis Etikettierung geändert. Aus des Knaben tollkühn wurde des Geneigten hasenfüßig. Bevor er ihn ganz vergessen hat.

War Kulis Strahlen, tollkühn überspannte Gaukler in die Schranken zu weisen, letzthin schon blasser? Und Kai? War sein Leuchten verhaltener geworden? Hatte er aufgegeben? Toll das, wenn wieder Mittelalter wäre, als toll nämlich verrückt bedeutete. Als Kuli seine Bedeutung genommen wurde, hatte der Knabe aufbegehrt. Revolte gelobt. Wenn. Doch des Knaben Versprechen hatte der Geneigte aus seinem Programm genommen. Drangegeben. Hatte Kuli an die Show geglaubt, die ihn gegebenenfalls vorführen würde? Oder könnte es Schmunzeln gewesen sein? Grinsende Souveränität des Kühnen? Könnte er Abschied genommen haben von diesem Zirkus, bevor? Hatte er die leitenden Gedanken des Showbusiness schon aufgegeben? Und eine andere Tür längst geöffnet. Zu neuem Licht danach?

Sein Sakko legt Kai nach Betreten des großzügigen Flures wie immer über die Truhe. Darüber hängt eine Grafik von Bruno Bruni. Ein Herrenmantel und über dem linken Ohr ein Hut. War da immer schon kein Gesicht? Gesichter erzählen Lebensgeschichten. Gesichter flauer Leben kennt Kai von Titelblättern mit Frauchen, deren leere Mimik nur ihrem Dekolleté mehr Anschein verleiht. Seine Lebensgeschichte konnten die ihm doch nicht auch noch geraubt haben. Sein Arbeitsleben haben sie behalten. Aber doch nicht. Das, was sonst noch war, muss doch noch zu sehen sein. War sein Gesicht nur die Geschichte des immerwährenden Sommers? Muss er ein Gesicht wieder verdienen?

Auf der Treppe in den Weinkeller zerstreut eine Erinnerung, ein neuer Lichtblick seinen Kummer. Aus einer solchen Schmach, aus dem Licht treten zu sollen, hatte er schon mal einen Sieg gemacht. Hatte gezeigt, dass das Feuer noch lange nicht aus war, auch wenn es bereits erloschen schien. Doch wie es wieder entflammen? Sie haben es doch ausgeblasen. Die Befugnis genommen. Die Räuber. Zuerst einen Weißwein und dann oder sich doch nicht betrinken? Es ist zum Brüllen, aber nicht zum Besaufen. Revolte oder Resignation? Seine hasenfüßige Hinnahme der Volte des neuen Branch Managers von wegen seiner nicht hinreichenden Performance ärgert ihn. Hätte er doch das Haar in der Suppe, die ihm eingebrockt wurde, herausfischen sollen? Mit der letzten Beurteilung, die auch seine Beförderung gerechtfertigt hatte, hätte Kai vor jeder Instanz belegen können, dass er der Starke.

Hatte. Hätte. Matte Florette.

Wem will er was beweisen?

Sind seine Kamarilla, die Clique oder er selbst mit seinen Illusionen die Inspektoren? Hätte er versuchen sollen, den Irrtum zu bereinigen, Kai den Starken aus dem Vertrieb zu nehmen? Besserung geloben, seine Fitness erhöhen? Oder jetzt souverän sein Ding machen? Wieder blühen. Der Kamarilla ihren Irrtum oder sich seine Souveränität beweisen? Welche Regeln?

Seine oder nicht seine?

Das ist hier die Frage.

Sind schon Königskinder dran verzweifelt. Gewollte Zukunft wagen oder das eigene Sterben ertragen. Gehts auch etwas kleiner? Sich erdreisten, nach vorne zu kucken oder Verlöschen auf sich nehmen. Noch kleiner? Die Kläffer der Kamarilla klitschen. Und dann? Oder verblüffen! Hatte Kunden immer aus allen Wolken, wenn sonst kein Eindruck. Aber wozu hier? Womit? Aktion ist immer besser als Reaktion. Haha. Wer wagt, gewinnt? Hilfsweise könnte er Antiaging-Programme bedienen. Gesund leben macht er doch schon. Verflixt. Auf der Treppe zum Weinkeller war er der Tat, der Verblüffung schon mal näher. Die Schmach auf den Kopf stellen. Kai der Verwechselte. Wenn ihm was querkam, ermunterte ihn meist seine Angriffslust. Hau sie weg, die. Wäre das viel Tamtam für nichts? Oder aber, es ist eben kein Nichts. Er ist alt, basta. Aber nicht in der Vorhölle. Ende des Arbeitslebens, okay. Und alt. Der Tiger. Von wegen basta.

Jetzt ist weder Revolte noch Resignation. Jetzt ist Tom Waits, Rotwein und Melancholie. Die blinzelnden Lichter schimmern hier und da aus himmelblauen Schollen in dem Wolkenmeer. Sind das Himmelsschäfchen, die ihm eine Wetterverbesserung zuzwinkernd ankündigen? Ist es der Anfang von Revolte, wenn dieses Naturschauspiel die Besonnenheit fördert? Wenn es einer einzigartigen Aura gelingt, dem Zorn zum Zürnen einen neuen Termin, vielleicht mit Nachdenken zu geben? Wenn der alte Tiger warten kann? Der Tiger? Der Polterer, der unstete Antreiber, der alte Kai, der ist er nicht mehr. Schon länger nicht. Erstmal Ruhe. Jedenfalls mehr ruhig als aufbrausend. Tiger im Ruhestand? Hätten die gern.

Kai gefällt die einfältige Empörung des Knaben gegen die trällernden Illusionen. Ihre Paradepferdchen haben viele Namen. Hier ist er Der Gesalbte Schelm. Kai denkt wieder an sein Versprechen, auf das er bis heute gepfiffen hat. Hätte der Knabe die Volten des beschleunigten Brunch Managers an verdienten Vertriebsprofis vereiteln wollen? Und ob. Revolte, wenn. Doch in der Wonne seines den wirtschaftswunderlichen Traditionen gewogenen Gedeihens war kein Platz für solche Sperenzchen. Und heute? In die Jahre kommen oder verweht werden geschieht hintenherum. Merkt kein Mensch. Invisible hand, boys. Erfolgsgeschichten dagegen haben Öffentlichkeit und viel Tamtam, solange. Der Gesalbte Schelm macht es vor. Kai dämmert, warum er sich immer kopfschüttelnd abwandte, wenn der seinen großspurigen Schnack in Staunen der Beschnackten verwandelte. Dabei hatte er es genauso gemacht. Ohne Gummibärchen. Hätte er sich quergestellt, wäre er quergenommen worden. Soll jetzt keine Ausrede sein. Schabernack nannte der alte Kai übermütige und wirkungslose Proteste. Tollkühn waren nur seine Deals, die zur Freude seiner ehemaligen Arbeitgeberin die Nuggets mit ordentlich Chuzpe zum Läuten brachten. Kai war auf dieser Bühne der Master mit den dicken Glocken. Illusionen, denen sich der Knabe in den Weg stellen wollte, haben Kais Leben bestimmt. Er hatte sich nicht dagegengestemmt, sondern sich mit ihnen verbündet. Und heute weiß er, dass diese machtvollen Illusionen ihn geschasst haben. Kaum hatten sie ihn von der Bühne geworfen, sind sie übrigens verschwunden. Er muss sie nur noch loswerden. Denn was Kai zu haben glaubte, das glaubt er behalten zu können. Oder sollen?

Herrschaftszeiten.

MIT BEGINN des immerwährenden Sommers hatte Kai der Glöckner fortwährend ja gesagt zu den Möglichkeiten, zu den Chancen, zum Schicksal. Zu Allem, was seine Ordnung zum Läuten brauchte. In der Szene seiner damaligen Partnerin Cruella aus Hamburg hatten ihn Frauen und Männer verunsichert, die ein Leben in ständigen Veränderungen und mit permanenten Widersprüchen führten. Kaum stand ein Plan, wurde er schon wieder infrage gestellt oder verworfen. Er war schon lieber der, der verbindlich projektierte. Klare Guide Lines und sauberes Glockenspiel statt obskurer Visionen und dubiosem Tingeltangel. Diese Hallodris kokettierten gerne mit Mehrdeutigkeiten. Er hatte über ihre Larmoyanz geschmunzelt. Kais Weltbild war systematisch. Er hatte eine Daseinsvorstellung, in der das Leben eine Ordnung hatte. Eine universale Matrix arrangierte seinen Zirkus. In dem Berechenbarkeit das Tollkühne dressierte. Tun, was erwartet wurde, hatte sein Vorankommen als Diener unternehmerischer Performance geebnet. Er war nicht gerade der Burner auf allen Events, wenn auch gerne immer dabei. Für Hamburger schon ein Schnacker, in Berlin keine Chance als Quasselstrippe. Er war immer da, wo gearbeitet und eine Entscheidung vorbereitet werden musste. Seine Erscheinung – gut strukturierter Mann, der Kai – hätte das Sméoda als künstliche Intelligenz auf zwei Beinen verspottet. Aber KI gab es noch nicht.

Systematische Denker haben viel Testosteron. Männlein eigentlich nicht. Merkwürdige Ungereimtheiten in Kais Alltäglichkeit.

Sméoda. Das marktschreierische Beckmessern. Mal mosernd, mal naseweis. Das deplatzierte Mäkeln, also positioniert irgendwo zwischen ungläubig und ach-du-meine-Güte. Es karikiert Kai, verpimpelt kritische Überlegungen oder brüskierte sich, wenn er die gesellschaftlich vereinbarten Seitenlinien für spurtreues Tun und Machen zu überschreiten sich anschickt. Es ist immer da, wenn aufrichtige Menschen als Außenseiter verspottet werden. Überhaupt immer zur Stelle, wenn öffentlich munter praktiziert wird, was Krethi und Plethi offiziell verschmähen. Als ideelles Gesamtgestänker ist es sarkastisch, bösartig und hinterfotzig. Verzichtbar, wenn die Verneinung des Lebens nicht ständig dem Leben vorauseilen würde.

ALS VIELVERSPRECHENDER Berliner Vertriebsstürmer hatte Kai das Werben zweckgerichtet stimuliert. Akquirieren und Charmieren. Hatte die Eventszene entdeckt. Doppelstrategie. Kunden und Frauen. Das Eine und das Andere. Nichts durcheinandergebracht. Geschäftlich brillierte Kai mit, was er sich privat nicht traute. Kunden über den Tisch ziehen, eben ficken, Frauen eher verhalten. Schon in Cruellas Szene hatte er beobachtet und geklagt, dass der Weg vom plaudernden Geistreichen zum sprühenden Liebhaber deutlich mühseliger war als der entgegengesetzte. Ihre Szene hatte es drauf. Nahezu ekstatisch choreografierte Passionen als Akte des Werbens. Hi Esprit, da naja. In seiner Clique hatte der bevorzugte Empfang starker Versorger von gefragten Frauen seinem Erfolgsdenken über das Berufliche hinaus neue Strategien angeboten. So wundert es nicht, dass er zwei Komponenten erotischer Ausstrahlung noch ausbauen wollte. Macht und Moneten. Den jungen Kai fuchste, dass dadurch auch altersbedingte Einschränkungen überkompensiert wurden.

Da Kai das Kräfte sammeln in einer windgeschützten Paargemeinschaft zur Aufrechterhaltung allzeitiger Produktionsbereitschaft vor seinem Bedeutungsgewinn in der Kamarilla mangels rechtzeitigen Lebensbündnisses verpasst hatte, blieb ihm nur das Plänkeln bei passenden Gelegenheiten. Eine war Cruella. Ihre Beziehung hatte dem Balzen – Kai alle naselang Näse – ein Ende gemacht. So konnte er sich mit der nötigen Konzentration um seine Karriere kümmern. Kai der Geneigte ignorierte in Berlin nach einem Meeting bei der IHK den geübt anständigen Flow. Kai der Überflieger anschließend auf der Fahrt nach Hamburg die Seitenlinie. Und flog über die Leitplanke.

Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort.

Weil er noch ganz angefressen ist von der Dreistigkeit, mit der die Räuber ihm sein Leben in der Kamarilla genommen haben, bemüht Kai haufenweise Verwünschungen dieser Bande. Für kühle Überlegungen, die Zeit auszumessen, ist er wohl doch noch zu erhitzt. Dennoch. Der Geistesblitz seines kindlichen Versprechens ist kein Zündfunke für Drohfantasien. Wenn auch. Was die mit ihm gemacht haben, ist das eine, doch was er aus seinem Dasein jetzt macht, ist das andere. Über seinen Auftritt und seine Bedeutung als Spartiat hatten seine Glocken entschieden; geschlagen nach der Partitur seiner Matrix. Er ist ein Gewächs der Kamarilla, in deren Ordnungsrahmen und ideologischem Morast er sich fabelhaft räkeln konnte. Jetzt erwarten die, dass er, da ohne Bedeutung, geräuschlos verwelkt. Ob er dennoch wieder blühen kann, ist allein sein Ding. Höchste Zeit für die Frage, wohin und wie er seinen Weg gehen will. Die heiligen Seitenlinien markierten Wege des Erfolges, insbesondere nach seinem Unfall. Vorbei. Jetzt sind sie Deiche eines stillgelegten Flussarmes, in den er mit den anderen Alten strömen soll. Da will er nicht rein. Da ist er gegen die alte Ordnung. Da muss es eine Neue geben. Erneuerung und Widerspruch ist er lange mannhaft aus dem Weg gegangen. Der Budenzauber empfahl Gleichgültigkeit. Neugier war eine Bedrohung des Bewährten. Hat ja auch alles immer funktioniert. Aus dieser Sicht. Der er jetzt nicht mehr traut. Gegen das Bewährte, das von ihm erwartet wird, wehrt er sich. Vorbei jetzt mit Gleichgültigkeit, Mitnicken ist Geschichte. Dabeisein ist Zukunft. Aber kein Hofknicks vor künftig Dürftigem. Soll er als Weniger sich beugen? Hinnehmen die versiegenden Möglichkeiten und verquasten Chancen? Salutieren vor dem modernden Schicksal?

Dementi.

Was soll bleiben, was muss weg und weshalb muss sich was ändern? Widerspruch ist kein Selbstzweck. Er will dabeibleiben, ohne die alten Erwartungen zu bedienen. Ohne dem, der er mal war, hinterher zu gieren. Ohne, ohne. Aber? Was will Kai? Danach war mal das Davor. Das es nicht mehr gibt.

Hätte er da auch schon früher draufkommen können? Ja, wenn früher heute gewesen wäre. Wenn er früher das Leben gehabt hätte, das er heute gehabt hat. Kai lässt seine erste Rückkehr auf die Bühne an sich vorbeiziehen. Seinen Widerstand gegen die Schmach am Kai, der über die Leitplanke geflogen war. Kai der Weniger danach gegenüber Kai dem Mehr davor hatte seinen Chef Helbenblatt auf die Palme gebracht. Als er wie ein Alter schwadronierte, dass vernünftige Überlegungen ein ruhendes Bewusstsein brauchten, war sein Ende noch nie so nah. Womit er nach dem Unfall fast gestorben wäre, könnte ihm jetzt das Leben retten.

RÖHREN

Kai das Schlachtross war ein Pferdchen geworden. Der Flug des ungeschickten Überfliegers endete mit der Landung des Rettungshubschraubers auf dem Gelände der Uni-Klinik Eppendorf. Sein Weiterleben nach den Plänen und Regeln der alten Ordnung stand in den Sternen. Die forderte Deals, Performance, Wertzuwachs und Kunden ficken. Schluss mit lebendig jetzt? Erledigt, ohne tot zu sein? Keine Bedeutung mehr? Mit seiner Kamarilla hatte sich Kai für Wertschöpfung und Wohlstand ein Bein ausgerissen. Er hätte Gelegenheit gehabt, das Tollkühne gegen ein allfälliges Benehmen, das dem Geankerten huldigt, aus der Versenkung zu holen. Wie er es bei Kulis Vertreibung versprochen hatte. Doch er wollte wieder der Alte werden. Wieder Master der Show. Wieder fit. So zu bleiben, wie er war, wäre das Überbleibsel von davor gewesen. Wie ein Alter statt wie der Alte. Harakiri.

Außerdem war Schaukelpferd keine Option.

Zum Verwelken verdonnert. Doch Kai will wieder blühen. Was so in der Matrix, auf die sich alle geeinigt haben, nicht vorgesehen ist. Er will sich nicht wieder ins Davor stürzen. Um wieder der erwartete Starke zu sein. Nach der Ausmusterung souverän sein Ding machen, hieße Altersleben nach dem Arbeitsleben. Nicht Ruhestand. Weiter lebendig dabeibleiben. Das Ziel hatte er schon mal. Anders leben? Nicht nur der Rhythmus soll sich ändern. Also länger schlafen und nicht in der Rush-Hour dem eiligen Leben der Wertschöpfer im Weg stehen. Als Weniger hatte er ums Überleben als Master gekämpft. Wie ist das jetzt? Die Richtung hat sich geändert. Davor für die Erhöhung des Bruttosozialprodukts, danach dessen Verzehr. Als Ruheständler soll der Gang zur Rentenkasse reichen. Ruhegeld. Sich mit dieser Rolle zu begnügen, wäre Unterwerfung. Demütig aus der Erscheinung treten. Goethe. Hätte der so weitergemacht? War die Rückkehr in die Kamarilla als Kandidat fürs Überfliegen Unterwerfung? Er war demütig wieder in Erscheinung getreten. Was zählt? Die Haltung oder der Erfolg?

Also Revolte.

Herrschaftszeiten.

KOLLEGEN – KOLLEGINNEN hatten sich eher zurückgehalten – empfingen den schon Totgeglaubten als den mit den zwei Geburtstagen und als Phönix aus der Asche. Denn nur mit den bewährten Überlebenskünsten eines zähen Machers und ihrem Bild vom Feuervogel konnten sie sich sein Wiedererscheinen erklären. Willkommen in den altbewährten Weltbildern. Wieder eingewickelt von dieser Maskerade war Kai ganz warm geworden ums Herz. Noch blickten sie mit ihrem Bild seiner alten Größe auf ihn. Noch hatten sie den Überlebten ja nicht erlebt.

Aber dann.

„Dass du das geschafft hast, alter Knabe.“ „Kurve wie immer noch gekriegt.“ „Dein Schutzengel muss schneller geflogen sein als du gefahren bist.“ Und. Und. Und.

Dabei war nur was schiefgegangen auf der Fahrt von Berlin nach Hamburg. Tollkühn war Kai als Fahrer jedenfalls nicht. Als Dealer gerierte er sich gerne so. Sein Entschluss, wieder der Alte werden zu wollen, war das einzig tollkühne Vorhaben seiner Laufbahn. Im Mittelalter hätten sie den Kopf geschüttelt. Ja toll. Nichts zum Feiern. Kai der Tolle trällerte, um wieder zu prangen.

Toll weiter, Alter.

Alle fragten sich nach einer ersten Besichtigung des Wiedererschienenen dann doch schnell, ob er wohl wieder der Alte werde. Mit unbeholfener Sprache und schleppender Zunge. Er konnte doch noch keinen im Tee haben!? Aus flutschen war fuschen geworden. Das Maschinengewehr Gottes jedenfalls war nicht wiedererschienen.

Davor und danach. Sein Leben wurde geteilt. Und danach war der, über dessen Unfallfolgen das Sméoda lästerte, taktlos aussprach, was keiner sagte, aber alle bemerkten und sich dann so ihre Gedanken machten. Kai nahm die Veränderungen wenig wahr. Und da Sinnieren nie seine Stärke war, Kai machte, behinderten mögliche Einsichten auch nicht erste keimende Illusionen. Die gaben, was er gerne nahm. Der gesunde Menschenverstand hätte sich gegen manche Überlegungen gewehrt, die auf schütteren Simulationen wackelten. Doch als Ökonomist war Kai bereits im Studium vor den Illusionen eines gleichgewichtigen Optimums niedergekniet. Die vernebelten die Andächtigen im Hörsaal wie Weihrauch die gläubigen Pharisäer im Kirchenschiff volldröhnt. Ein Leben mit Matrix konnte so schön sein, wenn die kleinen Zweifel ignoriert wurden. Zweifler hielt er für lebensuntauglich. Abgeschrieben hatte er auch eingesunkene alte Menschen, die nur noch die Hüllen erloschener Lebensgeister seien. Ebenso selbstgefällige Esoteriker. Die verbrauchten ihr ganzes Potenzial fürs Seligwerden. Beide gehörten zu den Nassauern der Leistungsgesellschaft. Die Matrix bot doch alles, was das Herz begehrt. Leistungsgerechtigkeit, Aufstiegsmöglichkeiten, Anerkennung und Fortschritt. Mit diesen Illusionen konnte er sich wenigstens an etwas orientieren.

Die ihm gestellten Fragen, wie das denn so sei, wenn man dem Tod von der Schippe gesprungen, trafen ihn zu früh. Nicht abgekratzt zu sein, konnte er noch nicht mal richtig aussprechen. Weiter dabei sein war völlig unpathetisch. Und er musste auch passen bei dem Spruch, dass ab jetzt doch jeder Tag im Rest seines Lebens wichtiger sei als in dem davor. Das gelte für jeden Tag im Leben. Mit trübsinniger wie mit jauchzender Lebensgestaltung konnte Kai nichts anfangen. Lebensplanung war Fortschrittsplanung. Alles andere sei Dekoration. Vom Beischlaf bis zum Zölibat.

Ob er das hinter dem Bedeutungsverlust lauernde soziale Sterben ahnte? In der Reha sicherlich nicht. Wenn er dachte, dass er lebe, sagte das nicht mehr als schon der Vitalzeichen-Monitor auf seiner Intensivstation mitgeteilt hatte. In der Reha hatte er dann wieder alleine gegessen und konnte sich auch die Schnürsenkel wieder binden. Überlebensreflexe höherer Lebewesen, also auch schon wieder Kai, erfordern keine entwickelte Hirnleistung. Wieder der Alte werden könnte ein Instinkt gewesen sein. Es bewusst zu nennen, hätte Kais Ansprüche davor und heute an die geistige Durchdringung dieses Wunsches nicht erfüllt. Wenig bis gar nicht hatte er die Vorstellungen seiner Gratulationscour vom Jenseits. Umso mehr hatte er sie vom Diesseits. Zu verhindern, dass er im hier ins Hintertreffen geraten könnte, erforderte mehr als den aufrechten Gang. Da hatte sich nichts gegenüber davor geändert.

Da ist es wieder. Das Ende. Die steinerne Grundstücksbegrenzung in der leichten Senke mit der romantischen Sitzecke bremst Kais abwiegendes Vorankommen. Seine Schritte begleiten Gedankenschritte in die Vergangenheit. In diesem permanenten Sommer waren alle Gebote verweht worden, wie der nächste Winter bewältigt werde oder überhaupt stürmische Zeiten. Ewig Sommer. Und dann das. Da barst es plötzlich, das bunte Leben. Ratlos die Schönwetter-Kapitäne. Plötzlich vorbei? Hatte da wer am Optimum geschraubt? Ende. Gibt’s das? Ist auch in den landläufigen Lebensrhythmen erst fürs Alter vorgesehen. Kein Mensch hat auf dem Schirm, dass das Ende aus heiterem Himmel auf Allgegenwärtigkeit pochen könnte. Kommt auch in seiner Matrix nicht vor. Im Volksglauben als Sensenmann; vor dem sich aber keiner fürchtet. Aus Kais davor und danach wird die Erfahrung einer Generation werden. Die aus Angst vor Endlichkeit nicht wieder zurückfindet in die Welt vor einer Pandemie. Die Ansteckungsgefahr wird eine neue Glaubensfrage. Die von der Ordnung der Matrix nicht beantwortet werden kann. Sie regelt. Markterfordernisse prallen an Lebensgestaltungen. Als sie Kulis Ende als Showmaster geregelt hatte, war der Glaube an die Marktordnung stärker als die Sorge um Kuli, den Knaben und das Kulturgut.

Die steinerne Begrenzung ist keine Klagemauer. Schon auf der Treppe in den Weinkeller war die Erinnerung wieder da, aus einer Schmach einen Sieg gemacht zu haben. Also. Hier ist ein Ort für Kai, einzuhalten, zurückzudenken an bewegte, manchmal stürmische Zeiten. Jetzt Rekapitulieren. Seine körperliche Rehabilitation war zugleich die Rehabilitation der alten Ordnung. Sich gegen diesen abgemachten Flow aufzulehnen, gar tollkühn, hätte die Überweisung an eine auf solche Tollkühnen spezialisierte Einrichtung zur Folge haben können. Seine alten Illusionen, die diesmal davor bleiben müssen, wenn er die neue Tür aufmachen wird, waren einmal Garanten seines Wiederlebens.

IN DER Reha hatte Kai das Grün der umliegenden Wälder angespornt. Dass er so früh verblühen könnte – es war natürlich Sommer – wäre auch gegen die Natur gewesen. Der Rest vom Kai hatte die gleichen Trivialen wie der alte Kai. Noch kein Gedanke, von der Bühne verschwinden zu müssen. Oder zurück an Kuli, von wegen demütig strahlend. Andererseits. Auch kein Gedanke, dass dessen Strahlen keine Demut gewesen sein muss. Oder an den kleinen Kai. Dessen einfältige Empörung. Weitermachen stand an. Viel mehr wäre bei dem alten Kai auch nicht rausgekommen. Er hätte natürlich sagen können, dass jetzt Schluss sei mit dem Vertriebsgeschrei. Hätte. Lebensabschnitte haben immer ein Ende. Doch das Wie ist gestaltbar. Zugegeben, bei Kai gingen die Steuerungsmöglichkeiten nach diesem großen Einschnitt gegen null; doch sie waren ja wieder im Kommen. Er hatte zunächst ausschließlich, später nur noch schließlich in den Denkmustern gedacht, mit denen seine Kollegen ihn tollkühn etikettierten. Für Kai stand die Inbetriebnahme alter Größe im Vordergrund. Alles andere wäre zweckfrei. Schabernack. Sein Zukunftsmodell hatte sich auf die Wiederherstellung des Davor konzentriert.

Wenn er eine neue Tür aufmacht, muss er die Tür hinter sich schließen. Die Tür zur Kamarilla zumachen, hört sich leichter an als es ist. Doch seine ehemalige Arbeitgeberin hatte sie hinter ihm zugeschlagen. Kai jetzt? Heimlich lauschen? Hat er eine neue Tür überhaupt schon ausgekuckt? Nach Ruhesitz will er nicht. Im Durchgang nach Lebensabend steht er grad im Weg. Steht er zwischen den Türen? Er hat die Räuberbande verflucht. Okay. Aber sonst? Im zwischenmenschlichen Beziehungsgeschehen kann er sich den Rat durchaus erklären. Er kennt einige, die den auch besser befolgt hätten. Die meisten aus dem Arbeitsleben Ausgeschiedenen wollen die Tür zum Davor nicht schließen. Solange sie noch keine Neue haben, treiben sie‘s gerne weiter hinter der alten. Auch nach seinem Unfall wollte Kai die alte Tür offenhalten. Die einzige Tür, die er fest zugehalten hatte, war die Himmelstür. Er wollte auf der Erde bleiben. Wie jetzt. Im Leben bleiben. Dafür hat er verdammt noch mal schon mal gezeigt, wie es ist, wenn er die Glocken wieder zum Klingen bringt. Jetzt ohne Glocken. Sein Überlebenstraining gegen das Sterben in der Bedeutungslosigkeit hat er nicht vergessen. Wie die Vorhölle nach dem Arbeitsleben. Der Knabe kannte dieses Reservat der Ausgemusterten als Höllenschlund. Wo die Borka-Bande ihr Unwesen treibt. Kindergeschichten, die aufs Alter vorbereiten. Aus der Borka-Bande ist die auf Senioren spezialisierte Mischpoke abgehalfterter Handlanger geworden. Denen die Fische Fahrräder abkaufen sollen.

Für die Bewältigung des Erlebnisses, der Angst, nicht mehr dabei sein zu können, hatte er einen Probelauf. Vorhölle oder eben Höllenschlund. Zum Checken.

Wohin seine Reise gehen soll, weiß Kai noch nicht. Eins ist klar. Zurück ins Davor fällt diesmal aus. Ist auch nicht mehr so das Erfolgsmodell. Die Richtung bis zur Tür ist geregelt. Seitenlinien mit Laufleiste zum Festhalten. Da soll er durch. Nur eine Tür? Typisch alte Ordnung. Die Himmelstür fehlt. Nach seinem Unfall war sie noch im Angebot. Diesmal soll er erstmal in die Vorhölle. Die Echte. Ruhestand. Sind danach mehrere Richtungen? Was kann er vergessen von diesem jahrelangen Sommer als Stürmer für die Matrix? Und woran sollte er auch zukünftig denken? Kann doch nicht alles verkehrt gewesen sein.

Herrschaftszeiten.

WAR KAI schon unsichtbar? Er hatte den großen Jour Fixe mit Niederlassungsleiter Helbenblatt verlassen, ohne dabei gewesen zu sein. Seine lange Abwesenheit war auch die lange Anwesenheit seines Vertreters. Seine Funktion im Unternehmen war weniger ersetzbar als er. Im Stellenbesetzungsplan war Kai auf dieser Funktion noch das gesetzte Männlein. Die Position seines Vertreters, einem Aufstrebenden aus einer untergeordneten Filiale, war allerdings längst neu besetzt; nicht vorübergehend.

Im Jour Fixe präsentierte sein Vertreter. Die Stimmung war gewohnt frostig. Die Kolleginnen und Kollegen produzierten sich