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Potsdam 1989. Mike, nicht Maik, flüchtet an dem Tag aus seinem Betrieb, dem VEB Maschinenbau Karl Marx Babelsberg, als die ersten Botschaftsflüchtlinge mit dem Zug aus Prag über Dresden nach Lübeck ausreisen dürfen; wovon er erst nach seiner U-Haft erfährt. In seinem Potsdam immer um ein passables Miteinander bemüht, wollte er einfach nur gefallen, zurechtkommen bei den Pionieren und - abnehmend begeistert - in der FDJ. Und an die Potsdamer Kinder- und Jugendsportschule. Doch einiges geht schief. Er muss sich schließlich 'in der Produktion bewähren'. Seine und Bärbels Lebensgestaltung, die als Künstlerin zunächst Erfolg haben durfte, die des Vorsitzenden der Potsdamer Kleingärtner, der fast aus der SED ausgeschlossen worden wäre, des romantische Jugendredakteur von DT64 und des zuletzt leicht zweifelnden Jung-Stasi offenbaren ein Land, dessen Knospen stolz sein konnten, aber in den Umbrüchen nicht blühen durften. Für die Menschen in Mikes Deutschland gilt nach dem Kommando der D-Mark nicht mehr, was vorher galt. Die Zerschlagung seines Betriebes und das Scheitern eines Miteinanders der Kulturen wendet Mikes Teilnahmslosigkeit in einen leidenschaftslosen Drang zur Enthüllung des Schreckens. In Hamburg erkennt er, dass im gebrochenen Glauben an das Wohlstandsversprechen der Jammer bereits keimt; der den 'Ossis' gerne vorgehalten wird. Noch in der edlen. Pose blühender Wohlhabenheit fürchten sie ihre Wende. Die Umbrüche in seiner Heimat fallen in eine Zeit der bleiernen westlichen Naivität. Wird nach der Dämmerung die Sonne wieder scheinen? Können die Scherben des herabgefallenen Porzellans neu zusammengefügt werden und zurückspringen auf den Tisch? Kann die Richtung der Zeit umgedreht werden?
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Seitenzahl: 480
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Danke an Heike E. Emma, meine Frau, in deren Gesicht ich lesen konnte, wenn sie mein Manuskript bewegte oder auch nicht.
Udo Stähler lebt seit 1999 in Potsdam. Erste ausführliche Gespräche mit Menschen aus der DDR führte er im Spätherbst 1989 auf Einladung von Kombinaten als Diplom-Volkswirt und Vertreter einer Westberliner Bank am Rande von Informationsveranstaltungen über Marktwirtschaft. Danach privat und später auch als Sanierer bei schiefgelaufenen gewerblichen Immobilienfinanzierungen in Nordost- und Mitteldeutschland. Heute ist er Privatier und Autor.
Flucht nach vorn
Die Hausherren von morgen
Die Gesellschaft engagiert
Gegenwind den Lüften
Letzte Wendesignale
Die Zeit beschleunigt
Die Schrecken des Umbruchs
Schaut her
Dämmerung oder Morgenlicht
Die letzte rote Linie
Anmerkungen
Als Mike –nicht Maik– erkennt, dass der Schraubstock den Hauptwachtmeister am Kopf getroffen hatte, kann er hoffen, nun unter der Obhut der zuständigen staatlichen Organe wieder eine Zukunft zu haben.
Mike drohten unabsehbare Erniedrigungen, als Günter Middach, der Vorsitzende der Konfliktkommission des VEB Maschinenbau Karl Marx Babelsberg mit sägender Stimme aus rotem Kopf ihn just eben auf sein gefälliges Eingestehen und Anerkennen seiner Verletzungen der sozialistischen Moral und Ethik, der Arbeitsdisziplin und – wenn auch geringfügig – der Strafgesetze hin brüllte. Das sozialistische Kollektiv erschien Mike immerfort als Konferenz oder Kommission zur Bedrohung seines guten Willens und seiner Einstellung. Oder hatte er das Kollektiv bedroht? Seine Verfehlungen seien hinsichtlich ihrer Gesellschaftsgefährlichkeit nicht vor den Strafgerichten zu verhandeln, sondern vor der Konfliktkommission des VEB Karl Marx. Diese Kommission könne in Anwendung des Erlasses des Staatsrats zur Gestaltung einer Arbeitswelt mit gegenseitiger Achtung und Toleranz die zur Wiederherstellung derselben erforderlichen Maßnahmen beschließen und deren Umsetzung anordnen. Mike, Aktivist des Genügsamen und Schlendrian der eingeforderten Begeisterung, konnte einer Hinnahme gesellschaftlicher Strukturen und Erwartungen deutlich mehr abgewinnen als der Unterordnung unter Kommissionen, die von aufrechten Kommunisten gegen ihn geführt wurden. Er hatte alsdann dringend den Wunsch, sich letzteren zu entziehen und seine weitere Erziehung zu einem lauteren Rädchen im realsozialistischen Getriebe durch ausreichende Erhöhung seiner Gesellschaftsgefährlichkeit doch lieber den dafür von den Strafgesetzen der DDR autorisierten zuständigen Organen zu unterstellen.
Die Sitzungen der Konfliktkommission des VEB Maschinenbau Karl Marx Babelsberg fanden regelmäßig statt in der Werkshalle, die für die Reparatur der Autodrehkräne – der fortschrittlichste ist der ADK 80 – zur Schande der Werktätigen meistens ausgelastet war. Der Name der Halle, offiziell ‚Werkteil Endkontrolle‘, im defätistisch unterschlängelten Geplauder ausgerechnet auf der Straße der Besten vor der Kantine auch Halle der Reparatur des Fortschritts geflüstert, war nahezu geheimnisumwittert; insbesondere nach der Eingliederung des VEB in die TAKRAF, was alles erhöhte, ob Ehre oder Unehre. Die im ‚Werkteil Endkontrolle‘ tätigen Vietnamesinnen, aber auch die Produktionsarbeiter, waren bestrebt, möglichst unbemerkt zur Planerfüllung zu schleichen, um die die Planziele missachtende Unzuverlässigkeit der Autodrehkräne zu beheben.
Der größte Stolz jedes Werktätigen war die Mitarbeit an der Produktion des ADK80, was nebenbei bemerkt auch Privilegien bedeutete. Da nicht sein durfte, was aber war, dass es unerwarteten Reparaturbedarf gab, überstülpte den Werksteil Endkontrolle das Flair der Gefängnisabteilung des VEB Maschinenbau Karl Marx Babelsberg. Die Notwendigkeit dieser geheimnisumwitterten Werksteile allein lenkt unsere Aufmerksamkeit auf das noch viel größere Geheimnis der Entwicklung der sozialistischen Persönlichkeit als Fundament des Fortschritts. Die Realität des Werksteils Endkontrolle – nicht seine Existenz – vor den Konterrevolutionären zu verbergen, so eine Parole des Brigadiers Middach, sei Pflicht jedes aufrechten Antifaschisten und sporne an, Hinweise auf unzureichend entwickelte Begeisterung für die Sache des Friedens im Keim zu erkennen, anzuzeigen und zu ersticken. Der Ort der Sitzungen der Konfliktkommission war daher auch Mahnung an die Genossinnen und Genossen, ja an alle bei Karl Marx Werktätigen, dass die real existierende Halle allein bereits ihre mangelnde Kampfbereitschaft für Fortschritt und Freiheit dokumentiere. Nun als VEB im Kombinat der TAKRAF fühlten sie sich im Größeren verpflichtet, die von der staatlichen Plankommission nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen ermittelten und alsdann berechtigt geforderten Stückzahlen der von den fortschrittlichsten Kadern der DDR-Ingenieure optimierten Drehkräne mit neu entwickelter Mikroelektronik auf die Straße zu bringen. Welcher Ort könnte also geeigneter sein für die Fehlerdiskussion und für Selbstkritik. Schon ein Schluck zu viel aus der Pulle, sei es die mit Bier oder die der individualistischen Verlockung, wäre der Anfang, die historische Mission der Arbeiterklasse dem Gespött der Konterrevolutionäre preiszugeben.
Nebenbei und nur der Vollständigkeit halber. In der Reparaturhalle können sich mehrere Menschen unterhalten, ohne zu brüllen; mit Ausnahme des Middach, wie wir schon bemerken konnten.
Alldieweil donnerte dieser mit erhobenem Arm Mikes Kaderakte schwenkend weitere Unterstützungen für seine Befürchtungen hinsichtlich der unzureichenden Festigung des Klassenstandpunktes eines derartigen Individuums sowohl aus den Notizen des Freundschaftsrates der POS in Potsdam als auch aus den Vermerken der Vorsitzenden der Lernkonferenzen auf Pioniernachmittagen in die Ohren des Delinquenten und der Kommissions-Mitglieder. Selbige Vorsitzende – eine Genossin Margot – war inzwischen zu wichtigeren Aufgaben von der Partei gerufen worden. Mit ihrem Namen ereilte Mike eine Erinnerung an 1981, da sein Engagement bei den Pionieren vor dem erwarteten Übergang in die FDJ abnehmend begeistert zu werden sich erdreistete. Die Pioniere waren ein Ort des munteren Raufens, des freudigen Helfens, der Solidarität und des Zuspruchs, soweit die Genossin Margot einmal aus der Erinnerung genommen wird, nun aber doch nicht genommen werden konnte, sondern ganz im Gegenteil, Mike acht Jahre später erneut anspornt, zu flüchten. Die seinerzeitige Flucht aus einer Fehlerdiskussion der Lernkonferenz wird an anderer Stelle noch auszuführen sein. Gedacht, getan: Mike schnappte sich zur Erhöhung seiner Gesellschaftsgefährlichkeit die Vorder- und Klemmbacke mit Führungsschiene eines Schraubstocks, ein Teilstück eines von ihm selbst zwecks Reparatur demontierten und zur Seite gestellten S80, und rannte, diesen Stahl unter dem Arm, los. Das Überraschungsmoment war ausreichend gründlich, den Blitzen des Middach den Donner zu nehmen und bei den Mitgliedern der Konfliktkommission die Ahnung ihres mit zunehmender Erhöhung der Gesellschaftsgefährlichkeit des Mike sich einstellenden Machtverlustes gewisser werden zu lassen; und sowohl schnell aus der Halle zu entschwinden als auch dabei zu überschlagen, ob dieser Diebstahl von Volkseigentum ausreicht, von der Staatsanwaltschaft gerettet zu werden.
Die weitere Flucht durch das Haupttor in Richtung der Haltestelle des Oberleitungsbusses, der von Drewitz kommend Mike zum Bahnhof Babelsberg fahren könnte, hätte bereits enden müssen, bevor der O-Bus erreicht war, weil der am Tor gerade stehende Leiter der Betriebskampfgruppe ein ähnlich hohes Interesse an der Ausbildung sozialistischer Persönlichkeiten hatte wie Middach; und diesen entsprechend dazu zu ermuntern ein alarmierendes hejjjj hinter einem rennenden Mike mit Schraubstock-Torso hinreichend gewesen wäre. Also hechtete Mike unter durchaus olympischen Trainingsbedingungen, der Torso des Schraubstocks war nicht der größten Einer, aber eben doch mehr als eine Hantel für Fortgeschrittene, über den Hof, vorbei an den auf die Vorderachsen wartenden Hinterachsen des W50 und den für Tauschgeschäfte unverzichtbaren und frisch organisierten Anhängersteuerventilen und Bremskraftreglern zur Mauer.
Inzwischen war die kurzfristig eingekehrte kontemplative Atmosphäre in der Konflikthalle einem kämpferischen Verfluchen gewichen. Das Hallentor wurde aufgerissen und der Äther angefüllt mit wütendem Skandieren, das alle Erwartungen an Beschimpfungen, die den wissenschaftlichen Fundamenten des Sozialismus gerecht werden, aus den Rahmen sprengte. Die Fans der Betriebssportgemeinschaft Sektion Herren-Fußball, hätten sich davon für später eine Schallwelle mitnehmen können, wenn ihnen beim berechtigen Ausbrüllen von Enttäuschungen die Puste ausging.
Der Schraubstock flog voran. Nicht olympiareif, aber über die Mauer und das mit reiner Muskelkraft. Mike flog dem Wurfgeschoß hinterher, überrascht von der Sprungraft, die er in dieser Situation aufbringt, seine Sprunggelenkverletzung – wir erfahren später noch mehr – wurde quasi übersprungen. Sein unbeschwerter, gar gazellenhafter Sprung war es, der ihm gestattete, festgeklammert an dem Schindelfirst der Mauer den Landeplatz des Schraubstockes zunächst entspannt zu sondieren.
Holla.
Mike wünscht sich aufrichtig, dass ihn der Hauptwachtmeister genauso beschimpfen möge wie der Vorsitzende der Konfliktkommission am Tor der Sektion Reparatur der Kritik. Doch da der Hüter des Gesetzes nichts zu sagen hat, hört Mike vom Brigadeführer zur Endkontrolle der fortschrittlichsten Autodrehkräne mit der ganzen Kunstfertigkeit, die nur den mit allen Wassern des strömenden Materialismus gewaschenen Kämpfern der nicht klagenden oder zweifelnden, sondern ranklotzenden Generation unserer Väter möglich ist, seinen Ausschluss aus der Gilde der Kommunisten; mit der theoretischen Konsequenz natürlich, damit aus dem Vollstreckungswillen eben des selbigen Genossen geworfen zu sein. Doch was heißt schon theoretisch, ‚nur weg‘ ist Mikes letzter Gedanke, bevor er straßenseitig von der Mauer rutscht.
Unter dem Dach der staatlichen Organe
sieht der Hauptmann des Volkspolizeikreisamtes Mike scheel an
Auf Groma Optima Erika sucht Laikmeier die Tasten zur Protokollierung der Verletzungen der sozialistischen Moral und Ethik, die Mike noch zu gestehen hätte.
„Wer klaut einen demontierten Schraubstock?“
Spricht er zu Erika.
Da die Maschine nicht antwortet, erhebt er seine Augen von der Tastatur, bemüht mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger die Kopfpartie zwischen linker Schläfe und Stirn oberhalb der gleichseitigen Augenbraue, was die Motivsuche auch nicht voranbringt. Laikmeier hat das Opfer, die Tatwaffe und den Täter. Doch diese noch unbeantwortete Frage verwirrt ihn. Das unklare Motiv behindert sozusagen die Ermittlungen. Der Hauptwachtmeister kann nicht das Ziel gewesen sein. Welches Motiv steckt hinter der Tatwaffe? Er wendet sodann seinen Blick zu Mike, um ein dem Tonfall des Middach verwandt röhrendes „ODER WIE?“ folgen zu lassen. Das Anliegen des Hauptmanns nicht erkennend kann sich Mike nicht entschließen, den Gedankengang eines örtlichen Subjekts der Staatsmacht des Volkes der DDR zu unterbrechen.
„Verstehe. Der Herr spricht nicht. Was zu verbergen. Hier geht’s um mehr, als was ich aus deiner Personenkennzahl schon weiß.“
Mike hofft, dass er den Hauptmann eigentlich auf seiner Seite hat. Der harsche Ton ist geübte Verhördramaturgie, die das Bemühen des Hauptmanns nur unterstreicht, den Auftrag der Volkspolizei auszuführen, bei Verstößen gegen die Strafgesetze die Bestrafung durch Verhaftungen und Vorstellungen bei der Staatsanwaltschaft in die Wege zu leiten. Alle Weiterungen seiner noch in der Zuständigkeit der Konfliktkommission liegenden Vergehen, die ihn der Staatsanwaltschaft näherbringen und dadurch der sozialistischen Menschwerdung, der wahren Vervollkommnung eines Bauteils in der Maschine des Kommunismus für Middach indisponibel machen, öffnen den Türspalt, die Zukunft anblinzeln, sie zu schauen und wieder an ihr teilhaben zu können.
„Jetzt sag‘ schon. Du hast bei Karl Marx dein wahres Gesicht gezeigt. Die Bewährung in der Produktion war deine Chance. Mit deinen weiteren Unverfrorenheiten hast du gezeigt, dass du unseren Staat nicht respektierst.“
„Bitte um Nachsicht, ich habe meine Arbeit gemacht. Alle waren zufrieden. Nur der Brigadeführer Middach hatte ein Problem.“
„Genosse Middach ist ein verdienter Brigadier und außerdem ein guter Genosse, der seine Kräfte immer in den Dienst der Erhöhung der Effektivität, des wissenschaftlichen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität stellt.“
Wir verstehen, dass Mike nicht zulassen will, vom Hauptmann Laikmeier wieder in die Hände des von diesem Kriminalen scheint’s arg geschätzten Middach rückübersandt zu werden. Seine mangelnden Erfahrungen in zielgruppengerechter Verletzung des Regelwerks – Konfliktkommission nein, Staatsanwaltschaft ja – machen Mike nervös.
„Was soll ich tun?“
Diese unüberlegte Frage könnte als Auftragsersuchen verstanden werden, was nicht in den Erwartungen der Volkspolizei bei vertraglich weniger inoffiziellen Mitarbeitern liegt. Sie ist demnach schwer, bestenfalls gar nicht zu verstehen; den Hauptmann gar provoziert sie. Offensichtlich. Der Vorgriff mit Daumen und Mittelfinger zur Stirn gibt Mike Ahnung. Das folgende Röhren Gewissheit. Die staatlichen und die betrieblichen Organe, hier das Volkspolizeikreisamt und die Konfliktkommission, deren Ziel die Entwicklung des sozialistischen Menschen ist, haben nicht nur die gleiche Tonlage.
„Ich lass mich von so einem Nichts von Individuum nicht vorführen!“
Holla.
Eben die verblüffende Rettungsaussicht durch den unbeabsichtigten Angriff auf den Hauptkommissar, jetzt die saumselige Zuführung des Hauptmanns an die Staatsanwaltschaft. Konnten Middach und Laikmeier ihn beide nicht verstehen? Praktisch und wichtig für uns an dieser Stelle des Geschehens ist, dass nicht entscheidend ist, was wir sagen, sondern was der Andere hört. Laikmeier kann nicht verstanden haben, was Mike meinte, als er fragte, was er tun solle. Er will ein Geständnis und keine Verpflichtungserklärung. Genosse Middach will den Klon einer sozialistischen Persönlichkeit, nicht diesen Versager von der Kinder- und Jugendsportschule. Middach sieht Mike immer noch im Trainingsanzug dieser elitären Zöglinge, die noch nie richtig gearbeitet haben; sich aber für was Besonderes halten. Hauptmann Laikmeier erkennt eine Missachtung seiner Autorität, die Mikes Eigenwilligkeit offenbart. Also Starrsinn des Verdächtigen, der mit verschränkten Armen die berechtigten Anliegen eines staatlichen Organs ignoriert.
Der Schulterschluss der am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt Beteiligten, hier der Genossen Laikmeier und Middach, ist nur vordergründig. Hinter dieser honigsüßen Parole der Einigkeit stehen in Wahrheit die nicht systematisch miteinander kommunizierenden zuständigen Organe. Beim Menschen analog; der ist quasi das Kollektiv seiner Organe. Schon früh hatte Mike erfahren, dass auch Mund und Ohr nicht systematisch miteinander kommunizierende Organe sind. Das Ohr von Hauptmann Laikmeier, dessen Fortpflanzungsorgane an der Entscheidungsfindung erheblich beteiligt sind, liefert für die Handlungsempfehlung eben nur einen Teil der relevanten Informationen an die zuständige Kommission im ventromedialen präfrontalen Cortex des Gehirns. Zwischen ‚gehört‘ und ‚entschieden‘ erfolgen aufwendige Abstimmungen mit den weiter einzubeziehenden Organen. Eine hohe Priorität der Fortpflanzungsorgane geht bei der Entscheidung immer einher mit einem entsprechend hohen diesbezüglichen Stimmenanteil. Der Anlass hier: Missachtung des Laikmeier, der die Staatsmacht repräsentiert. Das Ergebnis hier: Der soll mich mal kennenlernen. Bei ebenfalls Dicke-Hose-Middach wird dieser bei Laikmeier äußerst komplexe Vorgang inzwischen auf dem kleinen Dienstweg erledigt. Die zuständige Kommission für emotionale Bewertungen hatte ihre Abstimmungsprozesse Jahre vorher – Middach hat immerhin noch an der Hand der misstrauischen Patriarchen die ersten Pflöcke für den Aufbau des Sozialismus eingesteckt – schon verschlankt. Also Ohr an Mund: brüll ihn fertig.
Wir werden angesichts der cum grano salis weitgehend gleichen Ergebnisse der Entscheidungsfindung bei den für die Erziehung sozialistischer Persönlichkeiten eingesetzten unterschiedlichen Organen und der dort in Verantwortung stehenden Genossinnen und Genossen der Erzählung vorgreifend bereits hier feststellen, dass mit Blick auf eine gesamtgesellschaftlich optimierte Ressourcenverteilung der Einsatz des Laikmeier bei der Untersuchung der Gesellschaftsgefährlichkeit des Mike eine Verschwendung komplexen Denkvermögens ist. Warum sitzt so eine Koryphäe im VPKA?
Ein einfaches Geständnis hätte Mike alle Sorgen abgenommen. Ein bisschen guter Wille – wir bemerkten gleich zu Anfang, dass er seinen bedroht sieht und können also erwarten, dass er ihn dann auch zeigt – wäre vom Hauptmann allein ohne Einschränkung für gut gehalten worden, von diesem alten Kantianer. Dass nochmal von wegen Koryphäe.
Andererseits. Wenn der Herr Hauptmann jetzt anfängt zu spekulieren, was hinter dem Schraubstock an weiteren konterrevolutionären, wenn nicht gar revolutionären – wir befinden uns 1989 schließlich schon im Frühherbst einer Umwälzung, manche sprechen gar von einer Revolution, wir sind da noch zurückhaltend – Bedrohungen stecken könnte, dann wird der Abstand zur Konfliktkommission zwar größer, vielleicht schon wieder gefährlich groß. Denn die Mike seitens der staatlichen Organe mittlerweile heikler einkreisende Fürsorge hat nicht nur etwas Befreiendes, wie wir gesehen haben, sondern auch etwas Beunruhigendes. Da die Volkspolizei gehalten ist, möglichen Gefahren für die sozialistische Gesellschaft vorzubeugen, also quasi prophylaktisch diese zu beseitigen und zielgerichtet den Kampf zur Verhütung und Aufklärung von Straftaten sowie anderen Rechtsverletzungen zu führen, ist eine vorauseilende Unterstützung der Staatssicherheit wahrscheinlicher als eine halbherzig vollstreckte Zuführung.
Gerade weil wir fürchten, dass Mike bei der Erhöhung seiner Gesellschaftsgefährlichkeit übers Ziel hinausschießen könnte, ist die immer noch bestehende Chance zur Rettung durch das VPKA zugleich das Risiko, von Laikmeier knochenhart mit dem Sonderzug nach Bautzen deputiert zu werden. Mike wird die Kuh nur vom Eis kriegen, wenn Laikmeier in ihm einen Bündnispartner erkennt; er muss es nur schlauer anstellen.
„Ich möchte, Herr Wachtmeister, das Ganze aufklären.“
„Genosse.“
„Genosse Hauptwachtmeister. Natürlich.“
„Hauptmann.“
Irgendwas läuft hier schief mit dem Bündnis.
„Der Schraubstock. Was wolltest du damit?“
„Der Genosse Middach hat mich erschreckt. Angebrüllt.“
„Ich habe dich nicht gefragt, was der gemacht hat, sondern was du mit dem Schraubstock wolltest.“
Untertrieben wäre, jetzt von einem gereizten Tonfall des Laikmeier zu sprechen. Mike musste erst mal hinterschlucken.
„Ich hatte zum 40. Jahrestag unserer Republik dem Vorsitzenden des Verbandes der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter Stahnsdorf einen Schraubstock versprochen. Darum war ich auch vor der Konfliktkommission …“
Laikmeiers Vorgriff mit Daumen und Mittelfinger zur Stirn – wir kennen diese Dramaturgie bereits – und ein mit vorgebeugtem Oberkörper entsetzlich leise gepresstes „du hast wohl auf der Bummi geschlafen,“ brachte Mike dem Sonderzug ein großes Stück näher. ‚Jetzt bloß nicht übers Ziel hinausschießen‘ war sein letzter Gedanke. Wir hatten auf diese Gefahr bereits hingewiesen.
Die Reisetätigkeit des Werktätigen Mike führt ihn, da er von Hauptmann Laikmeier dabei ertappt wurde, auf der Bummi geschlafen und sich nicht rechtzeitig aus seinen diesem Kinderheft geschuldeten Allmachtsträumen befreit zu haben, glücklicherweise in die Untersuchungshaftanstalt Brandenburg, damit die zuständigen staatlichen Organe seine Tatmotive gründlicher recherchieren können.
Unter dem Dach der Partei
wird Thomas wieder eine Beziehung haben
Der Kreisvorstand in Düsseldorf-Lierenfeld, der in Vertretung und Gestalt des Vorsitzenden Michael mit proletarisch und promilleretuschierter Stimme unseren Thomas gerade vor dem Hintergrund der von Stimme der DDR gehörten reaktionären Aktivitäten im Vorfeld des 40. Jahrestages der DDR auf die Bedeutung seiner Gesänge für die sozialistische Moral und Ethik, der Parteidisziplin und – wenn auch geringfügig – der Stimmengewinne bei den Wahlen zum Stadtrat hin scharmutzierte, wurde Instanz der Bedrohung, als sich anzudeuten begann, dass die Bedeutung der Arbeiterlieder des Bürgersohnes Thomas für die Fortschritte der Arbeiterbewegung in Düsseldorf von dem dafür zuständigen Gremium des Kreisverbandes kritisch zu untersuchen sei. Sie zu überzeugen, dass Thomas nicht nur als Barde, sondern als Klassenkämpfer mit allen seinen Kräften zur Verfügung stehe, sei baldige Pflicht. Zurückliegende Verdienste des Thomas – wir erfahren noch, dass er im Schlepptau einer dahingehend verdienten Genossin immer brav seine Pflicht getan hat – werden von den Düsseldorfer Kommunisten grundsätzlich nicht gewertet, wenn aus höherem Anlass, der uns hier unbekannt bleiben wird, die Klinge des Schwerts für den Klassenkampf, denn nur damit ist ein Mitglied ein kämpfendes, auf den Schleifstein soll. Thomas hatte alsdann dringend den Wunsch, seinen Standpunkt als Kämpfer für die Arbeiterklasse durch ausreichende Erhöhung seiner Klassenkampftauglichkeit – auch ohne Gitarre – dem vom Vorsitzenden vorgeschlagenen und in den Statuten vorgesehenen Gremium unter Beweis zu stellen.
Die Sitzungen der Düsseldorfer Kommunisten und ihrer Gremien finden regelmäßig im Zentrum des Ortsteils Lierenfeld statt, wo auch Sabine wohnt und arbeitet. Thomas wohnt bei seinen Eltern in Kaiserswerth, die Mutter ist Inhaberin eines Kosmetikstudios und der Vater als Unternehmensberater unterwegs. Sabine und Thomas gemeinsam ist der Blick auf eine Kirche. St. Michael im Zentrum von Lierenfeld und St. Suitbertus in Kaiserswerth. Da zu dieser Zeit die Organisation der Kommunisten eine überschaubare Ausdehnung sowohl hinsichtlich der Anzahl der Mitglieder als auch hinsichtlich der von den Mitgliedern zu befreienden Fläche des Rheinlandes hatte, reicht als Tagungsraum ein kleines, aber ordentlich renoviertes Ladenlokal; mit Blick auf die Kirche St. Michael wohlgemerkt. In der darüberliegenden Wohnung unter dem Dach wohnt Sabine, die auch Geschäftsführerin ist dieses standfest gegenüber den Veränderungen des Lebens der Menschen, der Umwälzungen der gesellschaftlichen Strukturen und der Stimmungen der arbeitenden Bevölkerung gebliebenen Hirten des Proletariats. Die Genossinnen und Genossen schöpfen ihre Stärke aus der Tradition und der Programmatik ihrer Vorgänger in der Weimarer Republik. Geblieben ist die feste Überzeugung, das Übel an der Wurzel zu packen und auf Grundlage ihrer bewährten Postamente des wissenschaftlichen Sozialismus den Klassenkampf zu exemplifizieren und Spannkraft daraus abzuleiten.
Der mit modernen Sitzmöbeln und grauen Konferenztischen funktional ausgestattete und mit dem Plakat von Marx, Engels und Lenin „Unsere Krisenberater“ sowie von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht „NIE WIEDER KRIEG!“ mit einem Kontext von Historie und Ermahnung beflügelte Sitzungsraum duftet dank der frisch geschnittenen Orangen und Äpfel, die Sabine auf den Tischen dekorativ den Genossinnen – eigentlich gab es nur eine weitere – und Genossen unter die Nasen stellte, mehr nach Genuss als nach Ärgernis, nämlich nötigenfalls der Entfernung bürgerlich Kontaminierter aus dem reinen Kommunismus. Diese der Wärme förderliche Atmosphäre zeigt, dass Sabine heruntergefahrene Temperaturen als historisch bewährte klimatische Voraussetzung für ideologische Sauberkeit erst noch lernen muss. Und ihr noch der Schneid fehlt, die zu Thomas‘ Selbstkritik gekommenen Genossin und die Genossen im Dialog in ein sogenanntes diskursives Gesprächsklima zu extemporieren. Wir bereiteten schon darauf vor, dass das Charakteristische des Düsseldorfer Kommunismus sein fester Klassenstandpunkt ist. Das Studium der Schriften, insbesondere von Wladimir Iljitsch Lenin, die Operationalisierung des auf der Grundlage des wissenschaftlichen Sozialismus erarbeiteten Parteiprogramms und die objektive Analyse der Bedingungen des Klassenkampfs geben die revolutionäre Kraft, im dunklen Wald bürgerlicher Verwirrungen sich vom Licht dieser Erkenntnis leiten zu lassen und herumflatternden konterrevolutionären Eintagsfliegen zu widerstehen. Da der Düsseldorfer Kommunismus auch rein geblieben ist von den alltäglichen Verschmutzungen des realen Sozialismus, also quasi das Ideal im Zölibat lebt, kämpfen sie nicht nur für die Arbeiterklasse, sondern auch für die Erhaltung des unbefleckten Daseins der Vorhut der Arbeiterklasse auch in der DDR. Und sind daher sowohl Verehrer als auch Gralshüter des Glaubens der Partei auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs; den zu erhalten nebenbei zugleich ihre Existenzbedingung ist, womit wir eine weitere große Einigkeit der deutsch-deutschen Internationale erkannt haben.
Der Genosse Middach aus Potsdam unterscheidet sich in der Denke und der Wortwahl von seinen Düsseldorfer Genossinnen und Genossen nur, wenn über Dinge des täglichen Lebens gesprochen würde. Middach würde seine Stulle niemals in Alufolie einwickeln, denn falls vorhandenes Silberpapier fixierte bereits das Spaltmaß der Drosselklappe seines Vergasers; ein derart wertvoller Rohstoff verdient bei Middach einen Respekt, den die Düsseldorfer nur toten Revolutionären entgegenbringen. Auf Parteiversammlungen wiederum, beim Austausch von Losungen und von Forderungen an die sozialistische Moral und Ethik haben beide die gleichen Phrasen zur Hand. Wir werden an anderer Stelle noch auf die Diskussion in den 80er Jahren zu sprechen kommen, die zeigt, dass die von der Sowjetunion, insbesondere die von ihrem Staatspräsidenten ausgelöste ‚Glasnost‘ den Klassenstandpunkt der Düsseldorfer nicht ins Wanken bringt; als die eisernen Vorhänge bereits Rost ansetzten und Überzeugungen zu flattern begannen.
Unser sozialistischer Bänkelsänger, dem es immer wieder gelingt, die Herzen der Genossinnen und Genossen – einige seiner aufgeschlossenen Kommilitoninnen nicht zu vergessen, wenngleich bei dieser Zielgruppe der Klassenkampf eine andere Bedeutung hat – aufzureizen, tritt also vor das zuständige Gremium, Zeugnis abzulegen von seiner Klassenkampftauglichkeit.
Wir wissen, so weiß der Vorsitzende Martin das Gremium einzuschwören, dass Mike bereits „unsre soschalissische Arbeiterjugend mit kräftiger Stimme und kämpferischem Klang deiner Gitarre und auch zu unser aller Freude, das muss ja auch ma gesach wern, Kampfgeist zeijest, wenn wir die Lieder der Arbeiterbewegung im Stadtwald sangen.“
Er eröffnet alsdann mit allen Formalitäten, die die Geschäftsordnung vorschreibt, die Sitzung.
„Heute möchten wir hören, wie fest du dich mit den Zielen unserer Partei verbun’n fühlst. Frieden, Arbeit und Solidität sind noch heute unsere Ziele und die Feste unserer Glaubwürdigkeit. Die Irritationen des Eurokommunismus konnten uns ebenso wenig erschüttern wie die jüngsten konnerrevolusionären Aktionen gewissenloser Elemente bei unseren soschalissischen Brüdern im Rat für genseitige Wischafshilfe.“
Thomas, der aufgestanden war, muss sich setzen.
„Die nach meinen Informationen höchste Anstrengungen unternehmen, das Boot auf Kuss zu halten. Auch das zeigt, dass ein fesser Klassenstandpunkt unversichbar iss, die Linie zu erkennen. Und dann aufrecht den richien Weg zu gehen.“
Noch während Thomas runterschluckt, was er da soeben zu hören nicht glauben kann, mit diesen konterrevolutionären Elementen in einen Zusammenhang gestellt zu werden, spricht also Kathrin, die als junge Frau einmal Abgeordnete in einem Stadtteilparlament war; kampferprobte Genossin also.
„Vor dem Faschismus waren wir die größte Fraktion im Düsseldorfer Stadtrat. Bei der ersten Kommunalwahl nach dem Krieg waren wir mit 12,3 Prozent drittstärkste Fraktion. Seit 1984 für 20 Jahre im Rathaus Gerresheim vertreten, von 2004 bis 2009 auch in Eller. In Gerresheim war ich anfangs dabei. Mein Standpunkt hat mich vorangebracht. Ich kann nicht Gitarre spielen. Ich stehe vor den Fabriken. Ich erwarte von allen Genossinnen…“
„…und Genossen, ja Kathrin. Wir kennen deine Verdienste.“
Martin, der seines Erachtens schon genügend auf die Rahmenbedingungen und Voraussetzungen des Klassenkampfes hingewiesen hatte, deren konservative Wurzeln die Garantie für Standfestigkeit und Wachstum sind, wendet sich an Thomas.
„Wir wollen dem Übel an die Wurssel gehen.“
Sein Blick in die Runde steigert die Entspannung.
Bevor Thomas naseweisen kann, rettet ihn Sabine, was uns zeigt, dass es immer wieder die Liebe ist, die den wissenschaftlichen Sozialismus aus dem Proklamieren in die Praxis hilft.
„Vielen Dank Kathrin, vielen Dank Martin. Wir haben jetzt ausführlich Thomas dargelegt, was die Partei der Arbeiterklasse heute erst recht für eine Bedeutung hat. Und wo unsere Pflichten liegen. Wir sind es, die die Arbeiterklasse vor der Ausbeutung durch das Kapital schützen. Wir vertreten ihre Interessen.“
Beifall.
„Wir haben dir, Thomas, unsere Standpunkte dargelegt. Bevor wir nun zum Ergebnis kommen, fordere ich dich auf, uns zu sagen, was wir von dir erwarten dürfen.“
Tomas weiß, dass er weder Kathrin noch die Schaumschläger des Gremiums durch theoretische Statements überzeugen kann. Die wollen auch nicht wissen, ob er den wissenschaftlichen Sozialismus kann, die wollen wissen, ob er das sagen wird, was sie immer schon geglaubt haben. Wir dürfen jetzt nicht an Inquisition und auch nicht an ein Selbstkritikgremium denken; und auch nicht an Psalmen der Klassiker, was unzulängliche Analogien zur Glaubenskongregation der katholischen Kirche nahelegen würde. Auch von einem Abschwören, wie wir es von sektiererischen Gruppen kennen, rät die Regie ab. Nein. Thomas muss seinen Standpunkt vertreten.
Sein akademischer Background beunruhigt uns ausreichend, er könne, um als Klassenkämpfer anerkannt zu werden, ein Proseminar ‚Wissenschaftlicher Sozialismus I‘ im Kreis dieser standhaft Ahnungslosen exerzieren. Doch er will diese aufgeblasene Attitüde wettmachen durch den Trugschluss, die Herzen der Genossinnen und Genossen gewinnen zu können – ohne Gitarre. Im Schatten des Dünkels blüht die Blindheit. Hier wie da.
„Liebe Genossinnen und Genossen, gerne habe ich schon als Jugendlicher mit Überzeugung Gitarre gespielt. Nicht irgendwo, nicht um des Spielens willen. Um der Freiheit willen, für die Freiheit der Arbeiterklasse. Nicht die Herkunft entscheidet, wofür wir kämpfen. Der Verstand tut es. Schaut auf Engels.“
Die unbewegten Gesichter zeigen ihm, dass der Schulterschluss mithilfe dieses großen Zeugen nicht gelingen will. Die Genossin und die Genossen bleiben ein versteinertes Gremium. Nur Sabine vermag ihre Anteilnahme hinter den warmen Äuglein in einem streng linierten Gesicht nicht zu verbergen.
„Mit Überzeugung Gitarre spielen heißt, dem Kampf Musik zu machen.“
Sabine jetzt anzuschauen, ist ein Fehler, den zu begehen, Thomas nicht versäumt. Die Zweifel der Genossinnen und Genossen an seiner Klassenkampftauglichkeit als Herzensangelegenheit einzuschätzen, offenbart ein grobes Missverständnis der Funktion der Organe in westlichen Gesellschaften. Die Merksätze des wissenschaftlichen Sozialismus schützen die wahre Arbeiterpartei vor Zweifeln an ihren Standpunkten. Schon Marx hatte in seiner Deutschen Ideologie die selbsternannten ‚wahren Sozialisten‘ als esoterisch gebrandmarkt. Und daher wird Thomas klar, dass dieses Gremium nicht gegen ihn gerichtet ist. Nein. Nur die skeptische Haltung gegenüber bürgerlichen Quereinsteigern – wenn auch mit gutem Willen – und die Verpflichtung auf den historischen Materialismus bewahrt den wissenschaftlichen Sozialismus vor diesen ‚wahren Sozialisten‘.
Thomas hatte bereits anlässlich einer Vernissage der Düsseldorfer Kommunisten für die DDR-Künstlerin Bärbel eindringlich darauf hingewiesen, dass ihre Pinselführung nur auf der Linie des wissenschaftlichen Sozialismus wirkmächtig sein könne. Wir werden die Szene beizeiten ausmalen, doch nun werden die Düsseldorfer Genossinnen und Genossen dies in anderen Worten zu hören haben.
„Doch nicht nur das, Genossinnen und Genossen. Der dialektische Materialismus ist kein Notenblatt. Er ist die strategische Grundlage unseres historisch bedeutsamen Weges zu Frieden und Freiheit…“
Die weiteren Ausführungen des Genossen Thomas gehen von nun an bei einschlägigen Assoziationen im allgemeinen Laudatieren des radikal wissenschaftlichen Ansatzes und der Zustimmung unter. Martins Schlusswort können wir nachlesen in einem beliebigen Schlusswort eines beliebigen Sitzungsprotokolls der kommunistischen Internationale zwischen 1982 und heute.
Die Reisetätigkeit des Genossen Thomas wird ihn erneut zu den Genossinnen und Genossen nach Berlin (DDR) und Potsdam führen, die von ihm als Jungkommunist besucht worden zu sein schon einmal die Ehre hatten.
*
Mike aus Potsdam flüchtet im Herbst 1989 vor den Ritualen der sozialistischen Menschwerdung, die Brigadier Middach stets mit Demütigungen arrondierte. Wie konnte es so weit kommen? Mikes Flirts mit dem Ei des Kolumbus vom Kindergarten bis zur Bewährung in der Produktion scheiterten an seinen weit auseinanderliegenden Zielen. Nicht ins Fettnäpfchen treten und als Sport-Ass Karriere machen; beides gemeinsam klappte nicht.
Die Schrecken des Umbruchs werden Mike nach seiner U-Haft die Augen öffnen. Verschlossen hatte er sie bei den vorausgehenden objektiv staatsfeindlichen Umwälzungen. Und kann nur hinterschlucken, dass nicht mehr gilt, was vorher galt. Standpunkte zerbrechen wie herabstürzende Tassen. Die freiheitsdürstende Strömung erstarrt nach der Öffnung der Grenze zur BRD wie Lava.
Thomas. Der aufrechte Kommunist, ist die Vorahnung der westlichen Pose, die mit dem Mythos des Wohlstandsversprechens im Nacken und der Ikone DMark auf dem Opfertisch Mikes Heimat den Respekt verweigern wird. Er wird von der roten Linie des reinen Kommunismus unseren Mike so wenig erkennen, wie einige von Mikes prominenten Genossen aus seiner Heimat; die uns hier und da begegnen werden. Aus Hamburg wird Mike mit dem Blick durch das Tor zur Welt verstehen, dass von dort seine Heimat – diesmal von der gelben Linie des reinen Wirtschaftsliberalismus – auch nicht erkannt werden kann.
Wird es im Morgenlicht nach den Umbrüchen gelingen, die Scherben des zerschlagenen Porzellans neu zusammenzusetzen? Die in der Dämmerung nicht zueinander finden durften. Und können sie zurück springen auf den Tisch? Wird die Richtung der Zeit umgekehrt werden können?
Mike weckte mein Interesse, als er aus der Höhle des Löwen einen Blick in seine Heimat werfen wollte. Ich begegnete ihm 1993 in Hamburg-Eppendorf auf saturiertem Parkett. Sabine – ja, die aus Düsseldorf-Lierenfeld ‚unter dem Dach der Partei‘ – unterbrach seine fluchtartige Bewegung weg von den Großmeisterinnen und Großmeistern der Beliebigkeit und zog ihn zu sich; und damit zu mir, der ich Sabine gerade mit meinen Erinnerungen an den Eurokommunismus umgarnte. Und ich ließ Mike, den Feldforscher aus Potsdam, gleich teilnehmen an meinen Einsichten in die beginnende Ungewissheit der Westdeutschen, die nach Jahren zugegeben harter Arbeit auf eine zu befürchtende Wende eben dieses Wohlstandsversprechens starrten; das die soziale Marktwirtschaft auch ihnen gegeben hatte. Womit Mike – bitte nicht schon wieder Wende – etwas anzufangen nicht bereit war.
Am 21. Dezember 1972 wird der ‘Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik‘ unterzeichnet. Der so genannte Grundlagenvertrag, der im Sommer 1973 in Kraft tritt, ist für beide Seiten ein Meilenstein und ein weiterer Schritt der Entspannungspolitik zwischen Ost und West.
Die Morgensonne malte die Backsteingotik des Klubhauses im wärmsten rot. Die Standfestigkeit des achteckigen Turmes auf dem früheren Rathaus zu Nowawes, das jetzt benannt war nach dem dort lebenden Jungkommunisten Herbert Ritter, der im Januar 1931 bei einer politischen Auseinandersetzung getötet wurde, trotzte allem Verfall. Die letzten lauen Nächte, letzten nackten Füße in der Havel und letzten kühlen Klub-Cola im Glas wichen den ersten Früchtchen, den grünen Äpfeln und den Erstklässlern.
Mikes erste Bastionen
waren durchaus nicht unveränderbare Erinnerungen
Bevor die Stufen an Bärbels neuer Schule in Neuendorf erklommen wurden an diesem warmen Septembertag, schwirrten Mikes Gedanken zu den letzten Tagen im Kindergarten. Nicht, dass er die Schule – seiner Schule im Potsdamer Zentrum fieberte er nachmittags entgegen – nicht freudig erwartete, doch gerade recht unmittelbar vor Veränderungen waren Erinnerungen für Mike immer feste Stützpunkte, von denen aus er das, was ihn an Ungewissem erwartete, leichter anzunehmen in der Lage war. Ach ja, vergangene Zeiten, seien es die ersten Eroberungen der frühen Kindheit vom Erklimmen des Schemels bis zur Bewältigung des Essbestecks, sind nicht wiederholbare Bastionen.
Und allein schon deshalb umklammerte Mike Erinnerungen. Und Wehmut, Mikes Festhalten an entschwundenem Wohlsein, stand schützend vor neuen Eindrücken. Er sah zurück, wie sie sich ausgelassen auf Sandhügeln tummelten, erbost an kinderfeindlichen Verästelungen der Obstbäume scheiterten und an einem Stöckchen kauten mit einem Blick, dessen muntere Verzückung nur der aufrechte Genießer einer Ket-Wurst schätzen kann. Sie kannten noch keine Altenburger Worcester Sauce, doch ein von Hasso verstoffwechseltes Bello – wenn sie nicht von Erzieherinnen mit abweichenden Ekelgrenzen der Nahrungsaufnahme in flagranti erzogen wurden – hat die Erinnerungen an eine glückliche Kindheit mehr gefärbt. Vati und Mutti hatten derweil ihren ganzen Einsatz der Erhöhung der Effektivität und des Wachstums, beispielsweise durch die Projektierung und Errichtung der Anlagen des neuen polytechnischen Zentrums des Kombinates Elektroprojekt und Anlagenbau in Biesdorf gewidmet; und zwar schon lange vor der Fertigstellung, denn gut Ding braucht Weile, wie der Kenner demokratischer Planungsprozesse weiß.
Der Kindergarten war Mikes erster Erinnerungsstützpunkt. Kameradschaftliche Keilereien mit Jonas oder Ausflüge mit dem Hawazuzi ins Nuthe-Tal haben einen festen Platz im Gedächtnis ergattert. Wir werden erleben, dass die emotionale Intensität seiner Erlebnisse deren moralische oder gesellschaftliche Normierung als Auslöser für Erinnerungen in den Schatten stellt. Mehr noch. Mikes Einstellung zu den ihm vordersten Dingen des Lebens weisen die auf ihn einströmenden Impressionen auf die Plätze in seines Lebens Lauf. Was ihm nicht wichtig war, war noch nicht wichtig. Mike klassifiziert nach seinen Vorstellungen, nicht nach gesellschaftlichen Normen. Ach, die Kindergartenzeit.
Vergessen hat er nahezu vollständig ideologische Erläuterungen oder gar Begründungen angemahnter oder anzustrebender Standpunkte. Er nahm durchaus wahr, wenn sein Handeln auf Ablehnung stieß; es gelang ihm jedoch nie, einen Zusammenhang herzustellen zwischen diesem nicht gebilligten Handeln und seiner damit korrelierenden Einstellung. Dieser Mangel, diese fehlende emotionale Berührung mit den Erwartungen an die sozialistische Persönlichkeit dürfte die Ursache sein für die unterlassene Speicherung einschlägiger Erziehungstätigkeiten der Genossinnen des Kindergartens. Da er kein starkes Gefühl mit den Ansagen der Erzieherinnen verknüpfte, bestand keine Veranlassung, diese zu konservieren und für einen späteren Abruf und möglicherweise zur Parfümierung einer späterhin anderen emotionalen Begegnung verfügbar zu halten. Kurz und gut. Er war nur ein hoffnungsloser Bub.
Im Kindergarten fühlte Mike sich aufgehoben. Die Kleinen hatten nur den Wunsch, Miteinander untereinander zu sein. Charakterliche Eigenarten und auch unterschiedliche Bereitschaften, sich über einen anderen zu stellen, spielten in den kindlichen Schlammschlachten keine Rolle. Beziehungen erlebten kurze strahlende Halbwertzeiten. Freundschaften kamen oder kamen nicht, sie gingen selten. Wettbewerb war ein Kinderspiel. Wir können sagen, die noch auf den Kindesbeinen stehende Förderung der Besten hat entscheidend dazu beigetragen, die Kleinen fit zu machen für das, wofür sie ein Wort noch nicht in ihrer Sprachkiste hatten: Herausforderungen an die ‚Hausherren von morgen‘, wie die in den Lüften sie nannten. Spätere Erlebnisse relativieren diese Erinnerung allein dadurch, dass Entscheidungen über weitere Lebensschritte zunehmend im Licht der Förderung der Besten eine Professionalität gewinnen mussten, die das Miteinander untereinander störend werden ließ. Weshalb auch Standpunkte in den Vordergrund traten und Entscheidungen beförderten, die vom Westfernsehen eigentlich nicht übernommen oder vom schwarzen Kanal gebrandmarkt und den Kleinen von den Erzieherinnen im Kindergarten auch nicht beigebracht wurden. Werden sollten.
Die Zeit im Kindergarten und vor allem bei den Jungpionieren sind Mike als die schönsten im Gedächtnis geblieben. Die ersten Jahre in der Schule werden nicht übersprungen, weil sie vergessen wurden, nein, wie wir sehen werden, aber Kindergarten und Jungpioniere waren in Mikes Erinnerungspaket nur zum Vergnügen, auch wenn seine Einstellung mit den Erwartungen der Kleinen und Großen gelegentlich kollidierte. Was beginnend im Kindergarten nicht allein darauf zurückzuführen ist, dass Mikes Kinderfreundin Bärbel unbemerkt einen Erinnerungs-Stützpunkt für eventuell erforderliche spätere Parfümierung bei ihm einzurichten in der Lage war; der kleine Feger. Nein, die Bildung einer Einstellung zu den vordersten Dingen des Lebens, was ihm wichtig war, in die Hand zu nehmen oder eben die Finger davon zu lassen, hat diese Erinnerungen sowohl geprägt als auch im Zeitablauf verändert. Das Erinnerte wurde im Zeitablauf ein anderes, wenn die Einstellung sich wandelte. Wir werden beobachten, dass ein Kindheitserlebnis unmittelbar vor der Einschulung in den Erinnerungen der Freunde unterschiedlich inszeniert werden wird.
Ereignisse wurden Erinnerungen
die wir beide nicht alleine in die Welt setzten
Bevor Mikes Eltern im Kombinat Elektroprojekt und Anlagenbau den ersten Schliff anlegten, trotteten die Kinder des Kindergartens mit zwei Erzieherinnen über das Gelände des Freizeitheims am Schwielowsee, wo zu Abend gegessen und übernachtet werden sollte. Diese Abschlussfeier vor Schulbeginn war ein aufregenderes Ereignis als die Schulanmeldung. Das Traumpaar Mike und Bärbel ging händchen- und hänseln-aus-haltend zur Gruppe der anderen Kleinen, wo Lukas, ein kräftiger und auch kurz vor der Schule stehender Hänseler sich freute, dass Hänsel und Gretel wieder zu ihnen gestoßen waren. Mike und Bärbel war das Ganze schon irgendwie peinlich, zumal die Entwicklung eines Bewusstseins für zwischenmenschlich reifende Heranwachsende nie Thema der Einführungen in die sozialistische Persönlichkeit gewesen war, die ja mehr dem spielerischen mit festen Gegenständen zugewandt war, denn dem Imaginären, das in der sozialistischen Realität ohnehin eine Außenseiterrolle spielte.
Unser Kinderpaar, das noch bei den Jungpionieren – wovon später zu erzählen sein wird – allen Hänseleien ob der Abweichungen von den allgemeinen Erwartungen an die eher sportlich zu gestaltende und gefälligst abschätzige Umgarnung der Geschlechter in diesem Alter widerstand, verabschiedete sich nach dem Abendessen mit einem zarten Wangenkuss und heftigem Gegröle der anderen Kleinen, um in die getrennten Schlaftrakte zu entschwinden.
Wie es sich für dieses Alter gehört, waren bereits geschlechtsübergreifende nächtliche Kissenschlachten vereinbart, die ebenso gehörig von zwei für diese Standardsituation vorgehaltenen Drachen, zu gegebener Zeit postiert vor den jeweiligen Treppenaufgängen, auf irgendwann Mal verschoben werden mussten. Die Nacht verlief nicht ruhig, aber langweilig. Beim Frühstück mussten die Kleinen erkennen, dass die gewöhnlich im Morgenlicht entspannten Äuglein der Erzieherinnen sich mangels kosmetischer Retuschen derangiert offenbarten. Da Kategorisierungen zwischenmenschlich gereifter Persönlichkeiten, wir sprachen davon, noch wenig die Wahrnehmung prägten, konnte von den Kleinen gar nicht in Erwägung gezogen werden, dass nächtliche Arrangements ihrer Erzieherinnen unter Zuhilfenahme möglicherweise alkoholischer Getränke Ursache der Augenderangements sein könnten und sie begaben sich, wie wir es von Kleinen erwarten, in einen Kokon des sich schuldig Fühlens.
„Wenn wir uns eure Gesichter ansehen, wissen wir alles.“
Die gesteigert überzeugend betretenen Gesichter der Kleinen bestätigten die Annahme der Erzieherinnen.
„Wer ist heute Nacht am Fenster des Mädchenschlafsaales eingestiegen?“
Wir müssen den Fortgang der Ereignisse im August 1973 nicht näher explizieren, da alle wissen, was in der ganzen Welt an dieser Stelle zu ereignen sich anschickt. Im Ergebnis wird Mike selbst daran glauben, dass er in Ferch fensterlte. Die Technik des Fensterlns kannte und konnte auch fachlich korrekt benennen ein Jonas, dessen Eltern, Eisenbahner der Vater und Schauspielerin die Mutter, erst vor wenigen Wochen von Probstzella nach Potsdam gezogen waren; die Schauspielerin wollte Mann und Jonas mehr bei sich haben. Jonas und Mike verbanden Keilereien und Erlebnisse des gleichen Empfindens, die als emotionales Ereignis ausreichend sind, länger im Gedächtnis zu bleiben. Die Erinnerung an das sogenannte Fensterln allerdings hat andere Wege genommen. Bei einer Wiederbegegnung später im Anschluss an den Austausch der jugendlichen Husarenritte bei einer Grilletta mit Sternburger Export, das es nur im Getränkestützpunkt Nowawes stets flockenfrei gab, wenn überhaupt – und das war allein schon eine Flasche wert – hatte Lukas seinen Freunden Jonas und Mike nach stolzer Offenbarung seiner vorpubertären Eroberungen ad on verkündet, dass er es damals gewesen sei, der von den Erzieherinnen vor versammelter Kindschaft überführt wurde.
Gemachte oder selbstgemachte Erinnerungen, welche sind größer in unserem Gedächtnis? Nicht etwa, dass die selbstgemachten erfunden seien, alle Erinnerung beruht auf einem Ereignis, das sich so und so zugetragen, das stattgefunden hat und vor der Lagerung für spätere Momente der Erinnerung an die gute alte Zeit oder zur Parfümierung einer neuen emotionalen Begegnung nicht kritisch lektoriert, sondern passend verfügbar gehalten wird.
Die Wahrheit des Geschehens sind abweichende Erinnerungen. Lukas hat auf sein mit den Jahren fortschreitend dominantes Auftreten beim Öffnen des Erinnerungspaketes ‚Schwielowsee 1973‘ mit einer Aktualisierung reagiert; Entfernung des Mike und seines Einsatzes. Zugleich glaubte Mike fest an das, was die seinerzeitigen Erzieherinnen sowie Hänseler und Hänselerinnen ihm nahezulegen sich große Mühe gegeben hatten.
Ritterschläge schufen Erwartungen
an den Respekt
Es begann für Mike in der Schule.
Die Räumlichkeiten der POS sind ihm immer in ihrer damaligen Gestalt gegenwärtig, was durchaus möglich ist, wenn natürliche Alterungsprozesse nicht als Veränderung wahrgenommen werden. An seinen ersten Schultag erinnert ihn nur die auffällig geordnete Aufstellung, ja in Position gestellte gesamte schon an die Erstklässler verteilte schulische Hardware vom Stift bis zum Schulbuch auf der Tischplatte des in der ersten Reihe sitzenden Lukas. Dessen Familie es möglicherweise für angezeigt hielt, so den Bildungseifer der Verbündeten der Arbeiterjugend zu demonstrieren. Nebenbei: der Vater war Direktor für Ökonomie im Kombinat TAKRAF, in das 1974 der VEB Maschinenbau Karl Marx Babelsberg – Mikes späterem Betrieb – eingegliedert wurde, seine Mutter arbeitete im Kreml auf dem Brauhausberg. Der emotionale Moment, der Anlass war zur Speicherung eines Erlebnisses der Einschulung, wie bereits festgehalten, ist nicht die Armada der Bildungswerkzeuge selbst gewesen, sondern die unmittelbare Assoziation mit einer Vorliebe des Mike, am Zaun des elterlichen Kleingartens Wochen Ends im Wettstreit mit dem Sohn der Nachbarn kriegerisch konstruierte Abschreckungsgeräte aufzustellen, die überwiegend aus morschen Holzabfällen und getrockneten Blaualgen aus dem Müggelsee martialisch konstruiert waren. Ansonsten verging das erste Schuljahr ohne Erinnerungen.
Da er sich zur Zufriedenheit seiner Klassenlehrerin, einer kurz gewachsenen Frau Groß, auch der Name scheint emotional ausreichend belastet worden zu sein, bewährt hatte, denn der Groß zu gefallen war der größte Antrieb für Mike, wählte sie ihn aus, in einem kleinen Schauspiel der dann schon 2. Klasse für die neuen Erstklässler eine noch kleinere Rolle zu übernehmen. Frau Groß schlug Mike damit zum Ritter. Aus heutiger größerer Sicht würden wir eher von einem gehätschelten ritterlichen Knappen sprechen, doch wichtig für Mike war, dass durch diesen Ritterschlag seine Einstellung, die allein sein Handeln arrangierte, in den Aktivistenstand erhoben wurde. Weshalb er diesen zu pflegen und zu schützen zunehmend sich bemühte. Der Streber Mike lernte nicht für gute Noten und nicht fürs Leben. Was ist das Leben? Mike lernte für die Anerkennung und Zufriedenheit der Groß. Für die Noten war das durchaus von Vorteil.
Die Einschulung nicht in Neuendorf, also nicht mit Bärbel, hatte die noch zu Kindergartenzeiten immerwährend verhohnepiepelten Abweichungen im intergeschlechtlichen Gehabe deutlich vermindert. Bis zur später kraftvoller wirkenden Professionalisierung des Weges zu den Besten sind es nur diese frühreifen Ausraster des Mike, wo er nicht den Vorstellungen der um Fürsorge für seine Entwicklung bemühten Genossinnen und Genossen entsprach. Die an kollektiven erzieherischen Maßnahmen zum Heranwachsen einer sozialistischen Persönlichkeit Beteiligten hatten ansonsten an einem fleißigen, sportlichen und aufgeweckten Jungen mit gärtnerischen Interessen ihre Freude. Sein Engagement war unauffällig, eher zurückhaltend und bescheiden. Wenn wir einmal übersehen, dass seine Aufmerksamkeit bei Vorträgen nicht vorbildlich war, insbesondere wenn erzieherisch ambitionierte Genossinnen und Genossen ihre Belehrungen zum Besten gaben.
Ich kann keine Befürchtungen von jetzt möglicherweise schon erkennbaren Fehlentwicklungen zur sozialistischen Persönlichkeit bei Mike äußern, da ich davon keine Vorstellung habe, die mehr wäre als das Runterbeten einschlägiger Dokumente. Mike gebraucht ‚sozialistische Persönlichkeit‘ später mit einem Augenzwinkern, das mit hochgezogener und gefalteter Stirnpartie im Kreis der Potsdamer Freunde und später plietsch im Hamburger Adria zeigt, ob er auf vertrautem oder unerforschtem Gelände operiert. Potsdamer werden ihre Hand aufs Herz legen, dass er ein mitfühlendes Bewusstsein besaß, sich stets diszipliniert und nach den geforderten Regeln moralisch verhielt und insgesamt eine positive, optimistische Lebensauffassung vertrat, also ‚auf Linie‘ war, ohne darauf Wert zu legen, diese sozialistisch zu krönen. Er konnte mir später auch nicht wirklich weiterhelfen, die ‚sozialistische Persönlichkeit‘ zu verstehen. Zumal er das aus den Lüften dringend empfohlene Kollektiv nicht als ‚Bedingung und Mittel der Persönlichkeitsentwicklung‘ in guter Erinnerung hatte. Eher als disziplinierende Bedrohung.
Die mir bei Nachforschungen zu diesem Begriff überwiegend begegnenden Fragezeichen – zahlreiche Gespräche in Potsdam und Umgebung habe ich als Schulterzucken beim Wein in Erinnerung – ließ mich in einem Wisch auch das einschlägige offiziöse Schriftgut vergessen. Ganz anders in Düsseldorf. Proseminar ist nix dagegen. Die Lierenfelder Sprüche habe ich dann allerdings gemeinsam mit dem offiziösen Schriftgut gleich zur blauen Tonne gebracht.
Da wir also zur Beförderung der Objektivität weder eine eigene Vorstellung noch eine Befürchtung mitbringen, erleben wir Mikes Freud und Leid während der Umwälzungen und der Umbrüche aus der Position der eingeschränkt teilnehmenden Beobachter. Eingeschränkt teilnehmend, weil wir unseren Senf nur dazugeben, wenn uns der Kragen platzt. Hier kann leidenschaftslos mitgeteilt werden, dass Mike sich anders verhält als andere, will heißen, hinsichtlich seiner noch zu zeigenden gärtnerischen Aktivitäten wie seiner Libido ist er statistisch ein Außenseiter, ohne ein Einzelgänger zu sein und hinsichtlich der moralischen und ethischen Einstellung werden wir die diese prägenden Lebensumstände wie die von diesen ausgelösten Lebenssituationen daraufhin aufdröseln, wie sie ihn als Hausherrn von morgen in der engagierten Gesellschaft auf den Weg gebracht haben; den zu erzählen, schon begonnen wurde.
Gemeinsam sind Bärbel, Jonas und Mike ihre Neugier. Lukas probiert eher aus, was geht. Bei ihm. Das nicht Neugier zu nennen, wäre nur dann einseitige Missachtung voyeuristischer Manieren, wenn wir unschuldige Neugier nicht vor zweckdienlicher Instrumentalisierung schützen wollten. Mike war auch dabei, als die Freunde die Fähigkeiten eines Ameisenhaufens strapazierten, dem fröhlichen Pieken mit bunten Schäufelchen gewachsen zu sein. Ebenso wurden Haustiere mit leeren Blechdosen beschwert – möglichst an der Rute – entlassen, um durch Neuendorf oder Nowawes dem Geklapper erfolglos davonzulaufen. Diese Untersuchungen erfolgten mit geradezu wissenschaftlichen Maßstäben, denn nur die Wiederholbarkeit unter gleichen Bedingungen erfüllt diese Anforderung. Die Mutproben zur Aufnahme in eine Bande jedoch mochte Mike nicht. Dies lag ursächlich nicht in der Anforderung an die Aufnahmeprüfung selbst, als vielmehr an der Einstellung der Bandenmitglieder, die in der Überwindung einer mitfühlenden Hemmschwelle ein Kriterium zu definieren suchten, mehr wert zu sein als die Nichtmitglieder. Lukas war da eher dafür.
Mikes Charakter erhielt früher Prägungen als sein sozialistischer Verstand. Die Jugendweihe war eine größer aufgezogene Veranstaltung, jedoch hatte Mike keinen holdseligen Eindruck. Er nahm gern daran teil, warum eigentlich nicht? Sein Anspruch an Anerkennung war es nicht allein. Der erwartete Respekt vor seiner Einstellung, darauf werden wir zu achten haben, wird Mikes Credo. In mehr als 10 Jahren werden wir in Hamburg daran gemahnt werden, dass es der Ritterschlag der Groß gewesen sein könnte, der das Aufrechte fordert gegen die westliche edle Pose, die vielen Menschen in seiner Heimat den Stolz nehmen wird.
Schon früh können wir bemerken, dass die geforderte Zurücknahme seiner Person, quasi des Corpus seiner geadelten Einstellung, Zündstoff für Konflikte bot. Der aus den Lüften vorgeschlagene Weg vom Ich zum Wir war für Mike eine steinige Erwartung an seine Persönlichkeit. Zur sozialistischen derselben hatte Mike nie ein emotionales Verhältnis, er hat die damit verbundenen Erwartungen weder gemocht noch nicht gemocht. Freudig eroberte Mike die Mitwelt, Er befleißigte sich des Miteinander, des Kollektiven, ob im Kindergarten oder bei den Jungpionieren. Erst unter dem Banner der Thälmann-Pioniere werden Animationen im leblosen Wald von Losungen und Akklamationen zu Klischees. Wir müssen sogar feststellen, dass er nie den Versuch unternommen hat, sie zu zulassen. Selbst, wenn er später seine mitmenschliche Verantwortung und Achtsamkeit in ‚gesellschaftliches Engagement‘ mit tosenden Losungen verdrehen wird, wäre von Akzeptanz zu sprechen eine Geringschätzung seiner Einstellung. Nicht abgewehrt hat Mike mögliche Einsichten, doch beliebige Anlässe waren ihm nie Anlass genug, über etwas nachzudenken, wenn es weder in seinen vordersten noch in seinen mittleren Dingen des Lebens eine Rolle spielte.
Begünstigt hat das Wohlfühlen – wir können beinahe von wachsender Begeisterung sprechen – ein bereits in der Datsche seiner Eltern gepflanztes Erlebnis ‚Garten‘. Es waren familiäre Gartenerlebnisse. Diese Erinnerungen waren nicht konkret, nicht vor seinen Augen; aber von wegen frühkindlicher Erfahrungen und so. Mike freute sich auf Frau Groß und ihren Unterricht und er freute sich auf den Schulgarten, der im Hort bei gutem Wetter zwischen Blumenkohl und Ranunkeln den Schülern gärtnerische Ausbreitung versprach und seine Erwartungen erfüllte. Das erlebte Gemeinsame gab Mike in dieser Zeit die Gewissheit, dort zu sein, wo er hingehört. Auch sein Pionierversprechen gab er gern. Die Gebote der Jungpioniere waren für ihn Selbstverständlichkeiten. Der Morgengruß war schick. Nachdenklich machte ihn das Bohei. Auch die in der Regel im blauen Halstuch empfangene Aufforderung, bei den Jungpionieren alles zu lieben, was dem sozialistischen Ideal entspräche und so weiter, hat Mike nicht sonderlich bewegt. Das in Parolen gepackte Marschgepäck für junge Kommunisten musste Mike nicht auswickeln, um das Angebot der Schule, des Horts und schließlich der Jungpioniere anzunehmen, seine Einstellung zu leben. Nicht seinen Eifer beeinflusst, aber ihn belohnt hat die Wiederbegegnung mit Bärbel. Sie belebte Mikes Aktivität bei den Jungpionieren und seine Freude am Miteinander. Kurz und gut, die Zeit ging rasch vorbei und dies umso mehr zu seiner Freude, weil er nach vorne schauen konnte, denn als zukünftiger Thälmann-Pionier lockt unser Sporttalent eine bevorzugte Nutzung des Sportplatzes der POS.
Die Freude am Leben in und mit der Natur wurde zur Leidenschaft für Schießen, Fechten, Schwimmen, Reiten und Laufen im Gelände. Doch was raten wir jemandem, wenn die Leidenschaft kein Gewehr, keinen Degen und kein Pferd zur Hand hat? Den Traum pflegen. Beim 100m-Lauf die Atemfrequenz und den Laufstil optimieren, die Kunst des Weitsprungs perfektionieren, dem Kugelflug mit der Drehstoßtechnik größere Weite geben. Am Ende des Traumes warten die Trophäen: Gewehr, Degen und vielleicht sogar ein Pferd.
Mike lernte russisch, weil das so sein sollte.
Das Einfordern einer Einstellung als Klassenkämpfer schritt schneller voran als Mikes Einstellung zu diesen damit verbundenen Aufforderungen. Als für eine Sportveranstaltung des Deutschen Turn- und Sportbundes an der Kindersportschule in Brandenburg – der Umzug der Sportschule nach Potsdam hatte erst teilweise begonnen – Unterstützung im und um das ehemalige Konstruktionsgebäude der Aadowerke in der Wilhelm-Bahm-Straße bei den Vorbereitungen einer Besten-Auswahl gefordert wurde, freute sich Mike, dabei helfen zu dürfen. Nebenbei erfuhr er, dass diese Schule einen Sportunterricht bot, der in seinen Träumen schon vorkam. Der Sportlehrer seiner POS verkündete, dass zur Beförderung und Dokumentation des sozialistischen Kampfgeistes viele Jugendkollektive in Blauhemden und auch Thälmannpioniere Fluren und Klassenräumen letzten Glanz geben und noch einmal die Wege zwischen den Sportstätten harken werden. Selbstverständlich war für Mike, diese glücklichen Schüler noch glücklicher zu wissen. Verborgen blieb ihm die Unverzichtbarkeit des intonierten Pathos, die sicher nur hinreichend vorbelastete sozialistischen Persönlichkeit erkennen und zu würdigen in der Lage waren.
Ein aufrechter Agitator
war seiner Begeisterung verpflichtet
Schon vor dem Schritt zum Jungerwachsenen erkennen wir, dass Mike weniger der Gilde der aufrechten Funktionäre als der der begeisterten Verfechter munteren Treibens zugewandt war. Hinter Mikes Vergnügungen mit Ameisenpanik und Hundeanhängern konnten wir nicht unmittelbar eine konstruktive Haltung zur Natur und ihren Wesen vermuten. Zugegeben. Die ersten Tage seines zweiten Oktobers an dieser Schule beruhigen uns, dass sein seinerzeitiges Verhalten gegenüber Hunden und Ameisen mehr am Experimentieren denn am Destruieren orientiert war. Mike spazierte über die Wege des Schulgartens und sah dem Hausmeister zu, der das erste Laub zusammenharkte.
„Ein Junge freiwillig im Schulgarten?“
Der Hausmeister stützte sich auf seine Forke und blinzelte gegen die Sonne.
„Wollte mal kucken, was aus unserem Gemüse geworden ist nach dem ersten Frost.“
„Na, den letzten Blumenkohl habt ihr ja vorige Woche geerntet.“
„Wird das den Wurzeln nicht zu kalt, wenn du das Laub wegharkst?“
„Ja, aber die, die das zu entscheiden haben, haben ‘ne Heizung.“
Mike freute sich darauf, nun in diesem Garten ein ganzes Jahr den Rhythmus der Pflanzen und Gewächse miterleben zu können. Und nun beginnt es ausgerechnet damit, dass die mit Heizung den Pflanzen die ihrige nehmen.
„Wer entscheidet denn, ob du Laub harkst oder nicht?“
„Na. Die Rektorin.“
„Aber du bist doch der, der den Garten macht. Weiß sie mehr über Blumenkohl oder Ranunkeln als du?“
„Sie ist die Rektorin.“
„Warum fragt sie dich nicht, bevor sie so was verlangt?“
„Weil sie es ohne Laub schöner findet. Der Rest ist egal.“
„Ihr egal. Meinst du?“
„Für Politik bist du noch zu klein.“
Mike wusste, dass viele Gehölze im Oktober ihr Wachstum abgeschlossen und bis zum Frühjahr eine Ruhephase haben. Und in dieser Zeit auch leichter frieren. Viele Gehölze und Stauden aus Gegenden mit mildem Klima brauchen Winterschutz. Mike ist eine hiesige Pflanze. Mikes gärtnerischer Anspruch ist weniger ein handwerklicher; er ist eine Erscheinung seiner Einstellung zur Verantwortung für das Leben der Pflanzen. Er kann sich nur so über die Kälte freuen. Dann freut er sich auch auf den März, wenn die Pflanzen wieder gestärkt erscheinen und neue grüne Pfade angelegt werden sollten. Dann kann Mike kaum erwarten, wenn die Natur im Sommer sich wölbt in ihren prächtigsten Blüten- und Blätterwäldern. Die meisten Gehölze schließen in diesem Monat ihr Wachstum kurzzeitig ab, um dann aus den Seitenknospen wieder neu auszutreiben. Ein herrlicher Rhythmus, könnte so schön sein, wenn die mit Heizung mit Laub schön fänden.
Der Hausmeister hat wenige Tage, nachdem er Mike zu klein fand für Politik, was seine bis zu dieser Begegnung völlig unzureichend entwickelte pädagogische Persönlichkeit offenbarte, einen Vertrauensvorschuss zur Wiederherstellung einer von ihm schnell vermissten Obsorge für junge Talente zur Versöhnung in Marsch gesetzt. Er gab seinen Vornamen preis: Paul. An weitere Ritterschläge muss sich Mike vorerst nicht gewöhnen. Er ist sich allerdings sicher, dass diese Kenntnis, Paul, wenige von Herrn Blütenknecht haben. Paul, Hausmeister zur Einkommenserzielung und Gärtner aus Leidenschaft, schritt in seiner kleinen Kammer zum Schrank, dem er eine Packung RONDO entnahm.
„Diesen Genuss, lieber Mike, muss ich dir leider verwehren, denn hier bleibt dein Alter ein Unterschied, der entscheidet, was geht und was nicht. Ich würd dir ja auch keinen Goldbrand empfehlen. Aber ein Quarkkeulchen haben wir für uns beide. Du kriegst das von Erna. Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß.“
Mike und Paul plauderten eine ganze Weile über die gärtnerischen Notwendigkeiten im Schulgarten, bis Paul auf den Verband der Kleingärtner zu sprechen kam.
„Eh ick verjesse, nochmal auf dein Alter zu kommen, Mike. Wieso bist du so an allem interessiert, was mit Garten zu tun hat?“
„Das hat doch mit meinem Alter nichts zu tun.“
„Det wees ick nich. Der Garten verlangt, dass wir uns auf det, wat er is, einlassen. Wir können nicht machen, wat uns jrade in den Kopp kommt, wir müssen vastehn, wat die Pflanzen, wat die Gewächse brauchen.“
Paul war dieses Gespräch mit dem kleinen Mike durchaus wichtig und wir erkennen im Weiteren am weitgehenden Rückzug aus dem Brandenburgischen die Konzentration, die Paul diesem Thema und seinem kleinen Freund widmete.
„Hast du nicht Lust, mal zu uns in die Laube zu kommen. Die liegt schwer prominent in Potsdam. Ich könnte sagen, eine königliche Laube, denn Sanssouci ist nicht weit.“
„Und was war mit meinem Alter?“
„9-Jährige sind für Gartenarbeit nicht ernsthaft genug, Mike.“
„Und trotzdem willst du mich mitnehmen in euren Garten, weil ich ja fast schon 10 bin?“
„Ja.“
Paul wäre anzumerken, dass er noch mehr zu erzählen sich anschickte. Was Mike natürlich nicht bemerkte, der fast-zehn-Jährige, der sein Quarkkeulchen genüsslich kommentierte. Was Paul an Prousts Patisserie in Balbec erinnerte. Sein Vater erzählte davon.
„Wir haben in unserem Kleingarten auch keine Heizung und deshalb bleibt das Laub die Decke für die feinen Wurzeln.“
Der Verband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter hatte in Mike bald einen Fan mit der richtigen Einstellung für einen solidarischen und unterstützenden Gartenfreund, der auch gerne mal in die Gegend posaunt, dass der Fortschritt dort ein gutes Zuhause hat. Lange erzählte Paul Mike, warum die Laubenpieper eine große Rolle bei der Entwicklung des sozialistischen Menschen auf dem Weg in den Kommunismus spielen. Mike verstand nichts von diesen Begriffen, und Paul verstand, dass Mike längst verstanden hatte. Seine vordersten Bestrebungen verbündeten sich mit Liebenswürdigkeiten, die die anderen Kleinen nicht auf dem Schirm hatten. Seine Teilhabe am schulischen Leben, insbesondere am Schulgarten, war engagiert, ohne Parole werden zu wollen. Sport war Freude. Erfolg war in Mikes Einstellung nur kollektiv vorstellbar.
Mikes erste Hoffnungen
waren zarte Knospen, die kurz blühten
Sportliche Ertüchtigung klingt nach Preußen. Mikes Traum, ob Schießen, Fechten, Schwimmen, Reiten oder Laufen im Gelände war nicht dadurch weniger gegenwärtig, dass die Objekte zur Realisierung nicht verfügbar waren. Der ambitionierte Träumer fand einen Weg, dem Ziel näher zu sein, indem er sein Handeln in diese Richtung orientierte. Dies unterscheidet ihn noch heute vom lasterhaften Träumer, der sich an den Bildern der Träume ergötzt ohne zu handeln. Auch sportliche Ertüchtigung kann Genuss sein; befreit von jedem zweckmäßigen Laster. Dieser ist keine der Einzelperson vorbehaltene Übung, vielmehr ein Wettstreit des Miteinander untereinander, schon in der Kindergartenzeit, wie wir gesehen haben. Und nicht erst das Ziel, der Beste sein zu wollen, spornte ihn an.
Das Mit- und Nebeneinander der Völker hatte diese Ertüchtigung dem Balgen auf einer globalen Arena anempfohlen. Den sportlichen Wettstreit mit westlichen Nationen prägte ein unversöhnlicher Ansporn, der vor und hinter dem Vorhang eisern in einem Wettstreit der Systeme das Aus- und Nebeneinander vorantrieb. Mike war jedoch nicht global unterwegs, sondern auf den regionalen Sportplätzen. Der Wind der Besten an der Sportschule in Brandenburg entflammte die glühenden Träume vom Schießen, Fechten, Schwimmen, Reiten und Laufen im Gelände. Dieses Feuer breitete sich auch bei anderen Jugendlichen aus und für immer mehr wurden die Räume und Plätze der Sportschule Friedrich Ludwig Jahn rasch zu eng. Die Erweiterung in den ehemaligen Konstruktionsgebäuden eines Werkes für Flugzeugbau in Brandenburg reichten nicht aus und ein Umzug nach Potsdam war beschlossen. Nach 1973 begann er schrittweise; und näherte sich nun dem Abschluss. Mikes sportliche Leistungen, wir können es ahnen, hielten jedem Vergleich stand, bei den schulischen Wettstreiten war er immer unter den ersten drei und dabei als zweiter Sieger am glücklichsten. Die schulischen Leistungen lagen durchaus in dem Rahmen, den die wohlwollende Hand der Groß über seinem Schicksal für ausreichend hielt.
Jonas, Lukas und Mike tummelten sich eines Samstags mit ihren Pionierfreunden am Karl-Liebknecht-Forum vor dem Marstall. Der Pionierleiter, Lukas sagte „immer bereit Freundschafts-Pionierleiter“, wollte mit seinen Pionieren vor dem Institut für Lehrerbildung an der Friedrich-Ebert-Straße, diesem prämierten Bauwerk der Moderne, ein Ständchen geben. Mike freute sich in seinem blauen Halstuch, Lukas strahlte in seiner blauen Hose, seinem weißen Hemd und dem blauen Halstuch mit dem blauen Käppi und Jonas, ebenso gesteckt, doch in Gedanken nicht beim Institut für Lehrerbildung, sang dafür umso schöner das Lied vom Ziegelstein. ‚Schöne Ziegel brennt man dann, brennt man dann, dass man Häuser, große Häuser bauen kann.‘ Der 1. Sekretär der Partei im Bezirk Potsdam, Günther, stand vor einem Plakat, das – Jonas und Mike wunderten sich bei den Vorbereitungen – Lukas zu halten keine Anstrengung unternommen hatte.
„Frauen und Mütter! Der Sozialismus dient dem Glück Eurer Familien! Legt in die Herzen Eurer Kinder die Liebe zur sozialistischen Heimat!“
Günthers ‚Heimat der Arbeiterklasse‘ wird nachhallen bis zu deren Abwicklung mit dem VEB Maschinenbau Karl Marx Babelsberg in 1992, die Jonas und Mike wieder vereinen wird. Obwohl sie doch eigentlich nie auseinander sein werden. Aber der Reihe nach.