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Mitternacht in Berlin. Zwei junge Männer rasen mit ihren Sportwagen über den Kurfürstendamm. Simon Wiegands Ehefrau Vera wird von einem der Wagen erfasst und stirbt. Der Todesfahrer wird verurteilt, aber nur zu einer geringen Bewährungsstrafe. Simon will Rache. Das Täterfahrzeug geht in Flammen auf. Für Simon ist das nicht genug.
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Seitenzahl: 344
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„Irgendwann werden die Autos sterben, und wir können sagen, wir wären dabei gewesen, als ihre Agonie begann.“ Jürgen Dahl
Der AutorDr. Helmut Zell ist Ingenieur und promovierter Volkswirt und hat Projekte im Ingenieur- sowie im Managementbereich im In- und Ausland durchgeführt. Er ist Autor des Romans ‚Rushwa‘, in dem es um Korruption bei der Planung einer Bahnlinie in Ostafrika geht. Er hat mehrere Fachbücher u.a. zu Projektmanagement veröffentlicht und wohnt in Remagen am Rhein.
Ku’damm in der Nacht
Trauer, Schuldgefühle und Wut
Rachegedanken
Recherche
Ein Urteil
Erste Rache
Versuch und Erfolg
Die große Aktion
Auto Exit
Unvermittelt klatschte Regen an die Scheibe. Sanft setzte sich der Scheibenwischer in Gang, automatisch, geräuschlos. Technischer Fortschritt, den Simon uneingeschränkt genoss, immer wieder. Aus dem Radio schnarrten jetzt die Verkehrsmeldungen mit den aktuellen Staus – genervt drehte er den Ton ab – war das nötig, man sah es doch, man wusste es, man ertrug es, immer dasselbe. Der ganze Missmut des Tages stieg in ihm auf – bis hin zum Anruf von Vera, er möge heute unbedingt pünktlich heimkommen – es gebe eine Neuigkeit. Ihre Stimme hatte freudig erregt geklungen, und er hatte keine Ahnung, was sie ihm wohl zu sagen hatte, war auch nicht in Stimmung, sie jetzt zu sehen, möglicherweise einen romantischen Abend zu verbringen. Am liebsten wollte er einfach seine Ruhe.
Sie schien verändert, als sie in der Küche stand, ihr langes Haar fiel auf der einen Seite ins Gesicht, die Wangen gerötet, verhalten aufgeregt, viel jünger als sonst mit ihren 38 Jahren, irgendwie beunruhigte ihn das. Der sorgfältig gedeckte Tisch, Weingläser, es duftete nach gebackener Forelle – was sollte das? Für einen gewöhnlichen Donnerstagabend etwas viel Aufwand, dachte er mit wachsendem Unbehagen.
Beim Essen ließ sie dann endlich die Bombe platzen: „Ich hatte heute den Termin bei der Frauenärztin. Stell dir vor, ich bin schwanger! Ganz sicher! Ich kann es kaum glauben!“ – ... – „Was sagst du, freust du dich nicht?“ – Es gelang ihm nicht, sein Erschrecken zu verbergen. Der Kinderwunsch war doch vom Tisch gewesen! Sie hatten sich doch damit abgefunden, nach jahrelangem Herumdoktern und immer aufs Neue enttäuschenden, verletzenden Versuchen und quälendem Forschen nach Ursachen; sie würden keine Kinder haben, und damit basta! Und jetzt dies!
„Doch, natürlich, ich freu mich, klar, was denkst du denn? – kam nur so überraschend – hatte wirklich nicht mehr damit gerechnet – du etwa?“ beeilte er sich zu versichern. Aber Vera hatte längst wahrgenommen, dass seine Freude nicht spontan und ungetrübt kam – das war nicht mehr zu retten, und so war es jetzt. Irgendwie gingen sie beide darüber hinweg, erzählten sich neu die vergangenen Geschichten des Herumprobierens, der ewigen Warterei, und wie sie sich schließlich von dem Gedanken an ein Kind verabschiedet hatten – und jetzt, jetzt sollte auf einmal alles anders sein. Veras Vorfreude und Aufregung begannen ihn anzustecken, und mit zunehmendem Weingenuss vergaß er all die stummen Einwände, die in ihm rumorten.
Als Simon am nächsten Morgen etwas verschlafen in die Küche kam, traf er auf Vera, die, wie sie sagte, die halbe Nacht vor Aufregung nicht geschlafen hatte.
Vera umarmte ihn. „Stell dir vor, wir werden ein Baby haben!“
„Ja, Vera, ich freue mich auch.“
Simon ging zum Kühlschrank, holte sich eine Tüte Milch und goss einen Schluck in die Tasse Kaffee. Simon war vierundvierzig Jahre alt, über einsachzig groß und schlank, allerdings hatte er um Bauch und Hüfte in letzter Zeit Gewicht zugelegt. Sein volles dunkelblondes Haar zeigte an der Seite graue Strähnen. Heute trug er wie an den meisten Arbeitstagen ausgebleichte Jeans und ein graues Hemd, darüber ein Tweed Jackett mit ledernen Ellenbogenpatches. Keine Krawatte, die trug er nur zu geschäftlichen Anlässen.
Das Haus lag verkehrstechnisch ideal. Die Nähe der Auffahrt zur A 565 erlaubte ihm, seinen Arbeitsplatz bei EMC-GmbH in Bonn in weniger als dreißig Minuten zu erreichen. Für Geschäftsreisen konnte er über die im Norden von Bonn gelegene Friedrich-Ebert-Brücke den Rhein überqueren und nach wenigen Kilometern auf der A 59 den Konrad-Adenauer-Flughafen erreichen.
„Simon, meinst du nicht auch, dass wir bald zu einem Möbelausstatter für das Kinderzimmer fahren sollten. Vielleicht nächsten Samstag?“
Voller Enthusiasmus unterbreitete ihm Vera ihr detailliert ausgearbeitetes Konzept für die Einrichtung des Kinderzimmers. Simon antwortete mit Ja und Nein und widmete sich seinem Frühstück. Vera hatte heute am Dienstag als Lehrerin an der hiesigen Grundschule ihre erste Unterrichtsstunde in der vierten Klasse erst um zehn Uhr.
Dieses zweigeschossige Einfamilienhaus in Ückesdorf, einem Vorort von Bonn, hatten sie gekauft, als sie vor drei Jahren ihre Kinderpläne endgültig aufgegeben hatten. Es entsprach hinsichtlich Architektur und Stil ihren Vorstellungen und lag in einem begehrten Wohngebiet der Stadt. Im Vorgarten standen junge Blautannen und Thujabäume. Das Haus ließen sie aufwendig renovieren. Es bekam einen neuen Außenanstrich, die Haustür und Sprossenfenster wurden weiß gestrichen. Die Räume im Erdgeschoss und im ersten Stock hatte Vera zusammen mit einem Innenarchitekten geplant. Viel Licht, luftig und hell, großzügig und luxuriös. Simon beeilte sich mit seinem Frühstück und entschuldigte die hastige Verabschiedung mit einem frühzeitig angesetzten Meeting im Büro. Auf der Fahrt ins Büro ging ihm durch den Kopf, dass Vera mit ihren Plänen natürlich recht hatte: Eines der Gästezimmer wurde sowieso kaum genutzt. Das zum Babyzimmer zu machen, war vernünftig. Auch er freute sich auf das Baby, vielleicht nicht so sehr, wie es Vera als werdende Mutter tat. Simon dachte daran, dass Vera als Mitverdienerin für einige Jahre ausfallen würde. Die monatlichen Zahlungen für den Hauskredit würden kein Problem machen, allerdings müssten sie ihre Ausgaben einschränken. Aber sie würden es schaffen, keine Frage.
***
Am Abend des nächsten Tages fuhr Simon mit seinem Audi 4 allroad quattro die mit Natursteinen gepflasterte Einfahrt hoch. Mit dem elektronischen Türöffner öffnete er das linke Tor der Doppelgarage und stellte den Wagen dort ab. Mit Schwung stieg er aus und griff seinen Aktenkoffer. Dann verriegelte er mit dem elektronischen Schlüssel den Wagen und schloss mit einem Druck auf die Fernbedienung das Garagentor. Vera erwartete ihn bereits mit einer Frage an der Eingangstür.
„Was machen wir denn jetzt mit unserem Ausflug nach Berlin?“
Schon vor Weihnachten hatten sie sich mit dem befreundeten Ehepaar Klaus und Sofia Schneider verabredet, um in Berlin im Theater des Westens das Musical 'Tanz der Vampire' zu besuchen. Klaus war Simons engster Freund und Kollege bei der Firma EMC-GmbH.
„Was soll schon sein?“
„Sollen wir wirklich fahren?“
„Warum denn nicht?“
„Was hat denn die Ärztin gesagt?“
Vera antwortete zögernd: „Sie sagte, alles sei in Ordnung. Aber weißt du, ich bin mir nicht sicher. Wollen wir wirklich so ein Risiko eingehen? Wir könnten noch absagen.“
„Absagen? Die Schneiders wären enttäuscht. Du weißt doch, wie verrückt Sofia nach Musicals ist.“
Vera meinte zögerlich: „Sie könnten auch ohne uns fahren.“
„Schon, schon. Aber sie haben sich sehr auf diese Reise gefreut, gerade mit uns. Klaus hat mir das erst neulich gesagt. Und du bist doch erst im zweiten Monat.“
Er schaute sie fragend an. Sie machte einen erneuten Anlauf: „Berlin ist anstrengend, und ich weiß nicht, ob das gut für das Baby ist. Gerade die ersten drei Monate sind kritisch, weißt du.“
„Du kannst ja noch einmal mit deiner Frauenärztin reden. Wenn sie keine Einwände hat, fahren wir. Wir nehmen unseren Audi. Da kannst du mit Sofia bequem hinten sitzen und ich wechsle mich mit Klaus am Steuer ab. Er ist ein guter Autofahrer.“
Vera zweifelnd: „Meinst du wirklich? Oder sollten wir absagen?“
„Aber Vera, die Tickets für das Musical sind gebucht und bezahlt. Sie liegen dort auf dem Sideboard. Komm schon, lass uns fahren.“
Nach dem Abendessen wanderte Simon rüber ins Wohnzimmer, blieb an der Fensterfront stehen und blickte nachdenklich in den Garten. Ein herrlicher Tag mit blauem Himmel und weißen Gutwetterwolken. Jetzt im März war es zu kalt, doch bald würde man sich auf die windgeschützte Terrasse in die Korbsessel setzen können. Er hörte Vera singend in der Küche rumoren. Ja, sie freute sich riesig auf das Baby. Seine Freude war gedämpft. Sein Blick fiel auf den Streifen mit Unkraut, Unterholz und einigen Birken bewachsenes Brachland und auf die dahinter liegende Lärmschutzwand an der Autobahn 565, die zur A 61 führte. Diese verband Koblenz und Köln. Mit dem kommenden Frühling würden die neuen Blätter mit frischem Grün die jetzt nackte Wand völlig verbergen. Dank dieser Wand war das unablässige Rauschen der Fahrzeuge auf der Autobahn hier im Wohngebiet nur schwach zu hören. Aber es war zu hören. Dass ihn jemals dieses Rauschen stören könnte, konnte er sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorstellen.
***
Überraschend früh war in diesem Jahr der Frühling nach Berlin gekommen. Schon am Vormittag an diesem letzten Samstag im März strahlte die Sonne warm auf die Stadt. Mike war guter Dinge. Er trug dunkelblaue Jeans in Übergröße und schwarz-weiße Reebok Sneakers. Auf dem Kopf saß ein schwarzes Original Mercedes Baseball Cap, den Schirm keck nach hinten geschoben. Zum Outfit gehörten eine schwarze abgeschabte Lederjacke im stilechten Rallye-Look und eine second-hand gekaufte Porsche Designer-Brille. Selbst jetzt, wo ihn niemand sehen konnte, genoss er sein Outfit. Vor ihm stand ein Schmuckstück eines Wagens, ein zweisitziger Mercedes-Sportwagen. Das Phänomenale: Er war der Eigentümer. Den Wagen hatte er Anfang Februar auf dem Hof eines Händlers in Schöneberg in einem verwahrlosten Zustand entdeckt. Verblichener Lack, mit unzähligen Kratzern und einer tiefen Beule in der rechten Seitentür, der Motorraum ölig und verdreckt. Das Herz hatte ihm wehgetan und in diesem Moment hatte er gewusst, dass das sein Wagen war. Ein Mercedes-Benz SLK 230 Kompressor, Baujahr 1996, eines der ersten Fahrzeuge der Baureihe. Vor vier Wochen hatte er ihn für 2950 Euros erstanden. Eine Waffe, hatte der Verkäufer zu ihm gesagt. Ein echtes Schnäppchen. Seither hatte er jede freie Minute in den Wagen gesteckt. Gestern dann der letzte Schliff, geputzt, gewachst und hochglanzpoliert. Das Auto funkelte in der Frühlingssonne, fast so wie am Tag, als es vor rund zwanzig Jahren vom Band gelaufen war. Die kleinen Lackschäden und Beulen im Blech sah man kaum noch. Im Innenraum weiße Sportsitze in Volllederausführung mit roten Ziernähten. Nachdem ihm ein Kumpel in seiner Neuköllner Werkstatt beim Motor-Tuning geholfen hatte, war es jetzt ein echtes Geschoss. Sein Freund Adrian würde staunen.
Mike drehte den Zündschlüssel. Der Motor startete etwas verzögert, bollerte dann kraftvoll vor sich hin. Der Asphalt war trocken und Mike fühlte sich gut. Die sechs starken Stahlkolben, die sich in ihren geölten Zylindern stetig auf- und abbewegten, wirkten beruhigend auf sein Gemüt. Ja, er liebte das Autofahren. Er tippte das Gaspedal einige Male an, trat dann das Gaspedal bis zum Bodenblech durch. Da erwachte die unbändige Kraft des 2,3-Liter-Motors zu ihrer vollen Stärke. Der Sound war ohrenbetäubend. Mike genoss das geile Kribbeln im Bauch. Dann ließ er das Pedal wieder los, rückte sich im Fahrersitz zurecht und legte den ersten Gang ein. Dann trat er auf das Gaspedal und 197 Pferdestärken schoben den Zweisitzer vorwärts. Wegen seines Alters lief der Motor im unteren Drehzahlbereich etwas stotternd. In höheren Drehzahlen drehte jedoch der Motor völlig rund und entfaltete seine ganze Power. Dass er schon 250.000 Kilometer auf dem Buckel hatte, merkte man ihm nicht an. An der Kreuzung schaltete die Ampel auf Rot. Mike bremste sanft ab, der Wagen gehorchte folgsam. Neben ihm kam ein Audi der neuen Modellreihe zum Stehen, hinter dem Steuer ein geschniegelter junger Karrieretyp. Mike warf dem Typen durch das Seitenfenster einen herablassenden Blick zu. Sein rechter Fuß spannte sich. Als die Ampel auf Gelb sprang, drückte Mike aufs Gas und ließ gleichzeitig die Kupplung kommen. Der Mercedes machte einen Satz nach vorne. Sekunden später zeigte ihm ein Blick in den Rückspiegel, wie der Audi zurückfiel und immer kleiner wurde. Mike lebte auf, alle kleinen Sorgen blieben zurück. Seit Jahren hatte er davon geträumt, so über den Asphalt Berlins heizen zu können. Das war der Geruch von Freiheit.
Seit der Grundschulzeit war Adrian sein bester Freund. Adrian wurde von seinem Vater, der im Bezirk Berlin-Süd als Versicherungsmakler bestens etabliert war, großzügig mit Geld versorgt. Dagegen war Mikes finanzielle Lage chronisch prekär, was er ungerecht empfand. Schon mehrmals hatte ihm Adrian seinen BMW Z3 für eine Spritztour überlassen. Nett von ihm. Aber sie waren auch Konkurrenten. Mike fieberte darauf, ihm den Mercedes zu präsentieren. Er war sicher, der bessere Fahrer zu sein. Bei einer Wettfahrt würde er vorne sein, da gab es keinen Zweifel. Bisher hatte er nur kein eigenes Fahrzeug gehabt. Die Wagen, die ihm Kumpels für kurze gemeinsame Ausfahrten liehen, waren schwächliche Schrottkisten. Doch das war jetzt anders. Endlich hatte er seinem Freund und Konkurrenten etwas entgegenzusetzen. Er war überzeugt, dass sein Mercedes SLK schneller war als dessen BMW Z3.
Adrians Eltern waren geschieden. Das Haus mit 300 Quadratmetern bot genügend Platz, auch für Adrian. Er hatte eine Einliegerwohnung im Souterrain mit fast hundert Quadratmetern und allem Komfort für sich. Adrian hatte immer gefühlt, dass er für seinen Vater nicht wichtig war. So merkte dieser auch nicht, dass sein Sohn zwar an der Freien Universität in Jura immatrikuliert war, aber sein Studium schon vor über einem Jahr abgebrochen hatte. Adrian ließ ihn in dem Glauben, denn sonst hätte er ihm die monatliche Überweisung gestrichen.
Auch Mikes Eltern waren geschieden. Leider waren die Einkommensverhältnisse seines familiären Umfelds weniger günstig. Er wohnte bei seiner Mutter. Adrian und er hatten gemeinsam das Bertolt-Brecht-Gymnasium in Zehlendorf besucht. Adrian hatte dort das Abitur gemacht, während Mike die Schule kurz vor dem Abitur geschmissen hatte. Dann hing er zum Leidwesen seiner Mutter lange Zeit untätig rum. Erst vor zwei Monaten hatte er eine Lehre als Automechaniker angefangen. Autos faszinierten ihn; sie waren das Einzige, wofür er überhaupt Interesse aufbringen konnte. Sein Vater lebte von Hartz IV, nachdem seine Firma vor drei Jahren Pleite gemacht hatte. Er sah den Vater manchmal an Wochenenden in Moabit, wo dieser mit einer Freundin in einer Zweizimmerwohnung hauste.
Während der Fahrt kündigte Mike bei Adrian per Handy sein Kommen an. Gegen eins erreichte er Adrians Haus in Zehlendorf. Er parkte direkt hinter dessen blauem BMW-Z3, der auf der Straße vor dem Haus stand. Er ließ das Seitenfenster herunter. Kühler Wind drang herein, aber im Wagen war es warm. Fünf Minuten später kam Adrian mit einer schneeweißen Baseball Cap im BMW-Design auf dem Kopf die breiten Stufen der Villa herunter. Er trat durch das schmiedeeiserne Tor.
Die Überraschung stand ihm im Gesicht, als er Mike im Auto erblickte.
„Da hast du ja die Kiste, geil“, sagte er anerkennend. „Bestimmt eine Menge Arbeit, Mann.“
Mike stieg aus und sagte: „Nicht nur Arbeit, auch ganz schön Knete. Die Ersatzteile, die meisten gebraucht, aber trotzdem sauteuer. Auch die Auspuffanlage, doch fast neu. Ich habe sie gestern montiert.“
Adrian trat näher heran und hämmerte mit seinem rechten Schuh gegen das Vorderrad.
„Das Reifenprofil ist ganz gut“, bemerkte er anerkennend. „Hat die Maschine einen Kompressor?“
„Keinen Kompressor, sondern einen Turbolader, schon als Standard. Viel besser“, bemerkte Mike stolz. Adrian vernahm das mit einem Anflug von Neid, denn sein Z3 hatte weder einen Kompressor noch einen Turbo.
Mike legte nach: „Die Kiste ist super. Allein der Sound. Und der Abzug unglaublich.“
Adrian öffnete die Fahrertür und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Sorgfältig inspizierte er das Armaturenbrett, fasste mal hier und dort dran, ließ seinen Blick schweifen, sah die Konsole, den Schalthebel, den Türgriff und die aufwendige Verarbeitung. Nichts entging ihm. Ja, er war beeindruckt, versuchte aber, sich seinen aufkommenden Neid nicht anmerken zu lassen. Er fragte Mike: „Darf man damit auch mal eine Runde drehen?“
Mike fühlte sich geschmeichelt und gab sich gönnerhaft: „Na klar, später bestimmt, nur noch nicht heute. Ich muss mich erst selbst mit dem Wagen vertraut machen.“
„Guter Wagen.“ Adrian schlug Mike anerkennend auf die Schulter. „Dann lass uns eine Runde drehen.“
„Einverstanden.“
Beide stiegen ein. Mike startete den Mercedes, ließ den mächtigen Verbrennungsmotor ein paar Mal aufheulen, kuppelte ein und ließ den Wagen vorsichtig aus der Parkbucht rollen. Dann startete er durch. Der Wagen schoss nach vorne. Zwei schwarze Gummispuren blieben auf dem Asphalt zurück. Irgendjemand in den umliegenden Wohnungen würde sich jetzt ärgern. Egal. Als der Straßenbelag von Asphalt zu holprigem Kopfsteinpflaster wechselte, drosselte er die Geschwindigkeit. An der nächsten Abzweigung schlug er das Lenkrad scharf rechts ein. Die Vorderräder folgten mit etwas Verzögerung. „Die Lenkung hat Spiel“, kommentierte Adrian. „Kein Wunder bei dem Alter.“
Mike reagierte verärgert: „Quatsch, der Wagen ist tadellos in Schuss und läuft wie auf Schienen.“
Sie drehten in der näheren Umgebung ein paar Runden. Dann steuerte Mike den Wagen zurück zum Ausgangspunkt.
Adrian boxte Mike in die Seite: „Gratuliere. Gutes Fahrzeug.“
„Danke, Mann.“
Beide stiegen aus, streckten sich und gingen gemeinsam hinüber zu Adrians blauen BMW Z3. Der Z3 war im Film 'GoldenEye' von James Bond gefahren worden und aus diesem Grund hatte Adrian gerade diesen Wagen gewollt. Es hatte viel Überzeugungsarbeit bedurft, bis sein Vater endlich bereit gewesen war, das Geld dafür rauszurücken.
Adrian kam eine Idee: „Lass uns eine größere Spritztour machen. Du in deinem Wagen, ich in meinem. Wie wäre es mit einem Besuch beim Tuning-Treffen in Friedrichshain? Das ist heute.“
„Das ist ein gutes Stück zu fahren. Aber o.k., da wollte ich immer schon mal hin.“
„Da siehst du tolle Fahrzeuge. Ich habe da neulich so einen Autoschrauber getroffen, ein Typ, du glaubst es nicht. Der hat seinen Z3 komplett aufgemotzt, mehr geht nicht. Aber 350 PS! Wer's denn glaubt.“
Genervt verdrehte er die Augen gegen den blauen Himmel.
„Klar ein Angeber, trotzdem ein tolles Gerät. Der Wagen hatte einen Sound, sage ich dir. Wow! So einen Auspuff bräuchte ich auch.“
Adrian stieg in seinen BMW Z3 und startete. Mike folgte ihm im Mercedes. Im Zweiergespann ging es über die Zufahrt 'Spanische Straße' auf die Autobahn A 115, die streckenweise auf der alten Berliner Rennstrecke AVUS verlief. Dort fädelten sie sich zügig in den fließenden Verkehr ein und zogen ihre Fahrzeuge sofort auf die Überholspur. Alle drei Fahrspuren nutzend schlängelten sie sich durch den dichten Verkehr, wobei sie sich spielerisch elegant an der Spitze abwechselten. Sie lieferten sich kein Rennen, überschritten jedoch das geltende Tempolimit von 100 km/h bei Weitem. Nervige Langsamfahrer nötigten sie durch dichtes Auffahren auf die rechte Spur. Als ein schwarzer Opel-Insignia stur die linke Spur blockierte, fuhr Mike bis auf wenige Meter dicht an ihn heran. Durch das breite Heckfenster des Opels konnte er eine Glatze mit weißem Haarkranz erkennen, offenbar ein Opa am Steuer. Mike klemmte sich bis auf wenige Zentimeter an dessen Stoßstange und betätigte in schnellem Takt am Lenkrad den Hebel für die Lichthupe. Endlich räumte der Blockierer die Spur. Er gestikulierte wütend, als sie sich lässig im Abstand von wenigen Zentimetern an ihm vorbei schoben. Adrian zeigte ihm durch das Seitenfenster zum Abschied den ausgestreckten Mittelfinger. Dann drehten sie die Motoren wieder voll auf. Mike fuhr vorne, Adrian nahe an ihm dran. Jetzt zeigte Mike, was in seinem Mercedes steckte. Er nahm die rechte Hand vom Lenkrad, legte den fünften Gang ein und drückte das Gaspedal durch. Die Tachonadel kletterte hoch auf 150. Tempolimit, scheiß drauf. Die Bullen kontrollieren hier doch nie, und er gab Gas. Adrian blieb dran.
Mike hatte die Schule geschmissen. Die wichtigen Dinge hatte er sich selbst angeeignet. Zum Beispiel, dass ein Fahrer mit dem Namen Fritz Lang im Mai 1937 auf der Avus bei einem Rennen mit einem vollverkleideten Achtzylinder 398 PS starken Mercedes-Benz Rennwagen und einem Durchschnitt von 260 km/h das Rennen gewonnen hatte. Diese Daten hatte Mike bestens im Gedächtnis. Auch dass im darauffolgenden Jahr Rudolf Caracciola mit einem Wagen von Daimler-Benz die Geschwindigkeit von 432 km/h erreicht hatte. Niemand war jemals auf einer öffentlichen Straße schneller gefahren. Bis heute Weltrekord. Diesen Wert wollte Mike heute nicht erreichen. Aber er wollte schnell sein und gab Gas. Als die Nadel des Tachometers auf 200 km/h zeigte, nahm er den Fuß vom Gaspedal. Adrian schloss kurze Zeit später im BMW auf. Gemeinsam bogen sie auf den Messedamm ab und setzten ihre schnelle Fahrt als Tandem auf dem Kaiserdamm in Richtung Osten fort. Im Gespann bogen sie später nach Norden ab, um dann durch die Landstraßen der Vororte zu kreuzen. Gegen Abend erreichten sie ihr Ziel.
Die Tankstelle an der B1 Ost in Friedrichshain war ein beliebter Treffpunkt der Raser- und Tuning-Szene. Als sie dort ankamen, waren bereits viele Tuningfreaks versammelt. So früh am Abend fanden sie noch zwei begehrte Parkplätze im Zentrum des Platzes. Im Shop der Tankstelle holten sie sich zwei Cappuccini und wanderten mit ihren Coffee-to-go-Pappbechern ehrfurchtsvoll an den aufgereihten Fahrzeugen entlang.
Für Mike war es der erste Besuch. Manche halten sich für Tuner, weil sie verchromte Alufelgen aus dem Zubehör-Shop auf die Achsen ihres Fahrzeugs montieren. Ein echter Tuning-Profi hat Vergnügen daran, einen nach außen hin unscheinbaren Tourenwagen so aufzumotzen, dass er mit ihm jeder Nobelkarosse die Rücklichter zeigen und sich jedem Wettkampf auf der Straße stellen kann. Das waren die Schrauber. So ein Schrauber wollte Mike werden.
Es war Nacht geworden. Sie mussten lange warten, bis die Vorbereitungen für die Rennen begannen. Um diese Zeit war noch zu viel Verkehr unterwegs. Erst gegen halb zwölf startete das erste Rennen. Ein Duell zwischen einem Ford Mustang IV und einem Porsche Carrera. Unter den Umstehenden kam nun fiebrige Stimmung auf. Die Motoren heulten auf, sonores Röhren, dann wieder unvermittelt wütendes Brüllen, kaum gedämpft durch die umgerüsteten Auspuffanlagen, rotierende Antriebsräder, schwarze Wolken im Licht der Straßenbeleuchtung. Die Hinterräder der Fahrzeuge drehten durch, der Gestank von qualmendem Gummi waberte über dem Parkplatz. Der Mustang vibrierte und schwang sein Hinterteil ungestüm von Seite zu Seite. Noch hatte er sich keinen Zentimeter nach vorne bewegt. Dann trat der schwarze Carrera röhrend in Aktion, von unbändiger Kraft auf der Stelle von links und rechts schlingernd. Dann ruckelten beide Fahrzeuge vor zur Startposition. An der dicken weißen Startlinie stoppten sie. Eine Zeit hörte man nur das An- und Abschwellen der beiden Motoren. Endlich stieß der Starter in gelber Sicherheitsjacke die beiden Arme in den Himmel und schlug sie dann kreisförmig nach unten. Die Motoren brüllten auf, die Reifen quietschten über den Asphalt, dann verschwanden die Rücklichter in der Dunkelheit.
***
„Das war fantastisch, einfach fantastisch. Ich liebe Musicals“, rief Sofia voller Begeisterung, als sie nach der Veranstaltung im Besuchergedränge die Stufen des 'Theaters des Westens' hinabstiegen. Vera hängte sich bei ihr ein und stimmte zu: „Absolut, eine wunderbare Vorstellung, toll.“
Sofia ergänzte: „Das ist die beste Inszenierung, die ich kenne. 'Tanz der Vampire' ist wirklich ein tolles Musical, spannende Geschichte, dann die Tanzszenen und die Musik.“
Vera wandte ein: „Für mich schon ein bisschen gruselig, diese Vampire. Aber wunderbar.“
Die Frauen überschlugen sich in ihrer Begeisterung für das Musical. Auch Simon und Klaus äußerten sich zufrieden, wenn auch mit weniger Enthusiasmus. Am Fuß der Theatertreppe blieben sie stehen, während sich die Besucher allmählich in verschiedene Richtungen zerstreuten.
„Was nun?“, fragte Vera.
„Jetzt schon ins Hotel zu gehen, ist zu früh. Lasst uns den Abend ausklingen lassen und was trinken“, schlug Klaus vor. Bei den Reisevorbereitungen war er bei der Suche nach einer Kneipe auf den 'Zwiebelfisch' gestoßen, der im Stadtführer als Kultkneipe mit 68er Flaire betitelt worden war. Täglich geöffnet von 12 Uhr mittags bis 6 Uhr früh.
Sie gingen plaudernd die Kantstraße entlang und stießen nach wenigen Hundert Metern auf den Savignyplatz. Vor dem Eingang des Lokals standen ein paar Tische mit einigen Rauchern, die der Kälte trotzten. Die Kneipe bestand aus zwei Räumen. Links waren an den niedrigen runden Holztischen alle Stühle besetzt. Im rechten Winkel zum Tresen standen festmontiert fünf hohe Tische mit Hockern. Die ganze Einrichtung war aus gediegenem dunklem Holze aus der Gründerzeit, was die Attraktivität und den Bekanntheitsgrad des Lokals ausmachte. Am Wandregal hinter der Theke standen Flaschen mit Spirituosen aller Art und Marken. In einem Korb wurden abgepackte Erdnüsse angeboten. Obwohl Rauchen in der Kneipe verboten war, lagen in einer Schale auf dem Tresen kostenlos Streichholzschachteln aus. Es gab Zapfbiere und leichte Kost, Spezialität Zwiebelsuppe. Auf den Tischen lagen Bierdeckel der Schultheiß Brauerei, auf denen sie damit warb, schon seit 1842 in Berlin Pilsener zu brauen. Da alle Tische zum Sitzen besetzt waren, führte Simon sie an einen der rechteckigen Stehtische. In seiner Sorge um Veras Gesundheit schaffte er es, vom Nebentisch einen der Hocker zu organisieren. Zwar wehrte sie zuerst ab, setzte sich aber doch, geschmeichelt von soviel Fürsorge.
Klaus bestellte eine Runde Bier für alle. „Für mich kein Bier“, rief sie ihm durch das Stimmengewirr zu.
Klaus wandte sich ihr zu und sagte: „Aber, Vera, so kenne ich dich gar nicht. Geht's dir nicht gut?“
„Mir geht es bestens.“ Sie warf einen fragenden Blick zu Simon hin. Eben reichte die Serviererin die Getränke über den Tresen. Die Lautstärke hatte zugenommen und Simon hatte Mühe, sich Gehör zu verschaffen. „Ich glaube, wir müssen euch etwas mitteilen.“
Er blickte in zwei erwartungsvolle Gesichter. „Etwas Erfreuliches, glaube ich.“
Klaus und Sofia schauten sichtlich irritiert.
Sofia rief durch das Stimmengewirr: „Jetzt sind wir aber gespannt.“
Vera sagte mit gehobener Lautstärke: „Ja, es ist so: Ich bin schwanger.“
Eine Gruppe neuer Gäste war gekommen. Das Hintergrundgeräusch schwoll an, aber am Tisch meinte man, die Stille hören zu können.
Klaus setzte an: „Du machst jetzt einen Scherz, oder?“
Sofia verstand sofort. „Ich freue mich, ich freue mich für euch. Nach so langer Zeit.“
Mittlerweile hatte auch Klaus kapiert: „Darauf müssen wir einen Trinken. Ich bestelle Wasser für alle.“
Er bekam verwunderte Blicke.
„Ein Scherz“, fügte er hinzu.
Glückwünsche wurden ausgesprochen, nacheinander umarmten alle Vera. Zwei ältere Paare am Tisch, an ihrer Aussprache als echte Berliner erkennbar, hatten die freudige Nachricht mitbekommen. Weitere Gratulationen. Simon bestellte eine Runde Bier, mit Ausnahme Vera, die an ihrem Glas Mineralwasser noch kaum genippt hatte. Es herrschte eine lustige gesellige Atmosphäre. Gegen elf Uhr bekamen sie sogar einen freien Tisch. Weit nach Mitternacht konnten sie sich endlich zum Aufbruch entschließen. Sie überquerten die Kantstraße und gingen die Bleibtreustraße hoch. Zum Hotel seien es nur noch zehn Minuten zu gehen, meinte Klaus. Sie waren ausgelassen, angeheitert, gingen eingehakt, unterhielten sich lautstark, hatten viel Spaß. Der Alkohol tat seine Wirkung, ließ sie albern lachen und kichern. Aber auch Vera, die keinen Tropfen Alkohol getrunken hatte, war wie berauscht von der angeregten Atmosphäre. Sie schlenderten die Bleibtreustraße hoch bis zum Ku’damm, der als eine der wichtigste Einkaufsstraße Berlins mit seinen Geschäften, Modeboutiquen und Restaurants um diese Zeit ziemlich ausgestorben war. Nur noch einzelne Autos waren unterwegs und auf dem breiten Gehsteig verloren sich die wenigen Nachtschwärmer.
„Ach, wir sind ja wieder am Ku’damm“, bemerkte Vera erstaunt. „Gut, dann ist es ja auch nicht mehr weit zum Hotel.“
Simon sagte: „Ja, ein paar Hundert Meter.“
Am Ende der Bleibtreustraße befand sich ein Juweliergeschäft, die Scheiben waren durch dicke Stahlgitter gesichert. Vera und Sofia blieben vor der hell erleuchteten Auslage mit extravagantem Schmuck und teuren Uhren staunend stehen. Sie waren nicht nur von den ausgestellten Objekten fasziniert, sondern auch von ihrer außergewöhnlich gelungenen Präsentation.
Vera wandte sich an Sofia: „Schau mal, so einen Ring habe ich schon lange gesucht. Gold, klein, rund und schlicht, doch elegant.“
Simon gesellte sich zu ihnen und warf einen Blick auf das Schmuckstück, dann auf den Preis von 5.500 Euro. Veras Blick wanderte weiter und blieb bei einem Halsband mit einem hellblau funkelnden Edelstein stehen.
„Ist der nicht fantastisch“, rief sie begeistert. Simon wandte sich ab, wollte den Preis auch gar nicht sehen und rief ihr zu: „Wir können ja morgen bei Tag noch einmal vorbeischauen.“
Simon interessierte sich weder für Uhren noch für Schmuck und hatte sich Klaus angeschlossen, der schon ein paar Schritte weiter gegangen war. Die beiden überquerten die Fahrbahn und warteten auf dem Mittelstreifen, in ihre Unterhaltung vertieft. Als Simon zurückschaute, sah er, wie die hochgewachsene Gestalt Sofias ihnen folgte, während er Vera noch bei dem Juweliergeschäft stehen sah. Ungeduldig rief er: „Vera, jetzt komm doch endlich.“
Seine Stimme war wütend und laut. War es dieser wütende Tonfall gewesen, der Vera veranlasste hatte, so hastig und unvorsichtig auf die Straße zu treten? Diese Frage stellte er sich später oft und an die Katastrophe, die sich dann abspielte, würde er sich für den Rest seines Lebens erinnern und sich dafür schuldig fühlen. Als Vera merkte, dass sie mittlerweile allein vor dem Geschäft stand, hastete sie Sofia nach, die bereits den Mittelstreifen erreicht hatte. Zu diesem Zeitpunkt war das laute Dröhnen von hochtourigen Motoren zu hören, das von Häuserfronten links und rechts des Ku’damms zurückgeworfen wurde. Noch war nicht zu orten, aus welcher Richtung des Ku’damms die Schallwellen kamen.
Als Vera die Fahrbahn betrat, sah man die zwei Autos in aberwitzigem Tempo aus Richtung Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, die ganze Breite der Straße einnehmend, heran jagen. Sekunden oder Sekundenbruchteile später war das schrille Quietschen von Reifen zu hören. Der erste Wagen erwischte Vera frontal. Ein dumpfer kurzer Knall. Vera wurde von der niedrigen Frontseite des blauen BMW-Sportwagens getroffen. Sie wurde wie ein nasser Sack von der niedrigen Kühlerhaube hochgeworfen, rutschte über die Frontscheiben auf das Wagendach und fiel schräg nach hinten, klatschte auf die Straße und knallte mit dem Kopf gegen den Randstein. Der blaue BMW bremste scharf ab, kam fast zum Stehen. Der Fahrer schien irritiert, fuhr zehn oder zwanzig Meter im Schritttempo, dann heulte der starke Motor wieder auf. Der nachfolgende zweite Sportwagen bremste kurz, kam fast zum Stillstand, dann beschleunigte er wieder und folgte mit quietschenden Reifen dem ersten Wagen. Beide entfernten sich mit hohem Tempo in westlicher Richtung.
Bald verlor sich das Motorengeräusch in der Ferne. Totenstille. Nach einer Schrecksekunde spurtete Simon los, Klaus hinterher. An der Unfallstelle stand Sofia, ihre Hände gegen den Kopf gepresst. Sie schrie unablässig. Vera lag schräg auf dem Bauch, mit dem Gesicht zur Seite gedreht. Ihr Kopf lag in einer dunklen Blutlache, die sich schnell vergrößerte. Ihr rechtes Bein war in einer merkwürdigen Stellung vom Körper weggedreht. Ihr Kleid und ihr Mantel waren hochgerutscht. An einem Fuß fehlte der Schuh. Einige Meter abseits lag ihre Handtasche. Simon beugte sich zu ihr nach unten. Ihre Augen waren geschlossen, ruhig und friedlich. Nur das viele Blut im schwachen Licht der Straßenlaternen störte das Bild. Er fasste an ihre Schulter. „Vera, kannst du mich hören? Sag etwas, sag etwas, bitte“, stammelte er immer wieder mit wachsender Panik. Von Vera kam keine Reaktion. Jetzt begannen Passanten zur Unfallstelle zu eilen. Einer meinte, man müsse sie zudecken, ein anderer, dass man sie ja nicht bewegen solle. Eine weibliche Stimme rief laut nach einem Krankenwagen, ein anderer hatte schon sein Handy gezückt, sprach laut und betont deutlich in das Gerät: „Hier Unfall. Ku’damm, Ecke Bleibtreu, Personenschaden. Einen Krankenwagen. Schnell, schnell.“
Die Hektik um ihn herum erreichte Simon nicht; die Welt war für ihn ausgeblendet. Er kniete stumm neben Vera auf dem kalten Asphalt, hielt ihre leblose Hand und schluchzte.
***
Mike fuhr mit seinem Mercedes 230 SLK mit gedrosselter Geschwindigkeit vorne, Adrian dahinter. Auf den Straßen waren nur wenige Autos zu sehen. Nach mehreren Kilometern durch die Stadt bog Mike in eine Seitenstraße ab, stoppte an einer Bushaltestelle. Adrian folgte dicht auf. Mike sprang aus seinem Mercedes und lief zurück zu Adrian im BMW, der bei laufendem Motor wie gelähmt hinter dem Lenkrad saß. Mike trommelte an das Seitenfenster. Endlich ließ Adrian die Scheibe runterfahren.
„Was ist denn passiert?“, rief Mike aufgeregt.
„Mensch Scheiße, die Alte ist mir genau in den Wagen gelaufen.“
Mike versuchte zu beruhigen: „Mach erst mal den Motor aus.“
Die Straßenlampe über der Haltestelle beleuchtete die Szenerie. Kein Mensch weit und breit. Heute würde hier kein Bus mehr halten. Adrian saß wie festgenagelt hinter dem Steuer und sagte mit leiser Stimme: „Mensch, ich glaube, ich habe die Frau getroffen. Voll getroffen, verstehst du.“
Dabei schlug er mit den flachen Händen gegen das Lenkrad. Dann stieg er aus, ging vor der Motorhaube in die Hocke und begutachtete sie im Licht der Straßenlampe. Die lange Schnauze des Wagens war verbogen und hatte eine deutlich sichtbare Beule.
Mike flüsterte aufgeregt: „Du hast doch gebremst. Du warst nicht mehr schnell. Vielleicht hat die Frau auch nur ein paar blaue Flecken.“
Adrian schüttelte den Kopf: „Kann ich mir kaum vorstellen.“
„Scheiße Mann, das ist Fahrerflucht. Damit ist nicht zu spaßen, ich meine wegen der Polizei.“
Mehr zu sich selbst als zu Mike sagte Adrian: „Mein Alter dreht durch, wenn er davon erfährt. Für den bin ich dann gestorben. Ist sowieso ganz mies drauf zu mir.“
„Und wenn wir gleich zur Polizei gehen? Ist vielleicht besser.“ Mike sagte 'wir', um seine Solidarität mit Adrian auszudrücken. Unschlüssig gingen sie langsam um den Wagen herum.
„Ja, schau. Die Haube hat eine dicke Beule“, jammerte Adrian. „Mensch, die Karosserie war wie neu, immer noch der erste Lack, und jetzt das.“
Mike schüttelte den Kopf und stöhnte leise: „Mann, du hast vielleicht Sorgen!“
„Hörst du, sie ist mir einfach in den Wagen reingelaufen. Ohne zu schauen, die Tussi! Ohne zu schauen, verstehst du?“
Mike versuchte ihn zu beruhigen und sagte: „Ich glaube dir ja. Ich hätte sie ja selbst fast erwischt. Der Schaden muss beseitigt werden. Der Wagen muss neu lackiert werden.“
Adrian stimmte zu: „Unbedingt. Neue Farbe, rot wäre gut. Am besten morgen schon. Für meinen Vater muss ich mir eine Story ausdenken.“
„Ich kenne eine Werkstatt in Neukölln“, sagte Mike mit gedämpfter Stimme. „Russen oder Polen. Die klopfen Beulen raus und lackieren. Da arbeitet ein Kumpel von mir. Die machen gute Arbeit und stellen keine unnötigen Fragen. Hoffentlich hast du Geld. Denn das wird teuer.“
Kurz nach fünf Uhr morgens öffnete sich mit einem Scheppern die elektrische Schwingtür der Intensivstation in der Charité und heraus trat Doktor Trautmann in Begleitung einer Krankenschwester. Beide wirkten erschöpft. Mit einem Ruck erhob sich Simon vom Plastikstuhl im Wartebereich. Doktor Trautmann sprach langsam. “Es tut mir leid. Die Kopfverletzung durch den Sturz war zu schwer. Wir konnten nichts mehr tun. Mein herzliches Beileid, Herr Wiegand.“ Und er fasste Simons Hand und drückte sie lange. Die Hand des Arztes war weich und kalt. Er starrte Doktor Trautmann nur unverwandt an und fragte dann fast tonlos: „Kann ich sie sehen.“
„Ja, kommen Sie. Ich führe Sie hin.“
Es war sechs Uhr, als Simon die Intensivstation verließ und wie im Nebel mit dem Aufzug nach unten fuhr. Um diese Zeit herrschte im Eingangsbereich der Unfallchirurgie der Charité bereits ein Kommen und Gehen. Dort traf er auf die Schneiders, die bei seinem Erscheinen verschlafen aus den Plastiksesseln hochschreckten. Sie umarmten ihn, um ihn zu trösten. Gemeinsam fuhren sie mit dem Taxi durch das morgendliche Berlin zum Hotel zurück. Dort beauftragte Simon ein Bestattungsunternehmen, Veras Leichnam nach der Freigabe von der Pathologie der Charité in den Aufbewahrungsraum des Friedhofs in Ückesdorf zu überführen. Die Überführung von Berlin nach Bonn wurde für den morgigen Tag arrangiert. Simon entschied sich dagegen im Leichenwagen mitzufahren, sondern wollte lieber einen weiteren Tag und Nacht im Hotel bleiben. Die Schneiders blieben auch.
Am Morgen des nächsten Tages frühstückte Simon mit Klaus und Sofia im Restaurant des Fürstenberg-Hotels. Simon trank nur eine Tasse Kaffee. Danach räumten sie ihre Zimmer und trafen sich mit dem Gepäck an der Rezeption. Es herrschte bedrückte Stimmung. Der Hotelmanager, der vom Unfall erfahren hatte, kam aus seinem Büro und kondolierte. Mit dem Aufzug fuhren sie von der Lobby in die Tiefgarage. Da Simon in der Nacht kaum geschlafen hatte, bat er Klaus das Steuer zu übernehmen. Er setzte sich auf den Rücksitz, Sofia auf den Beifahrersitz. Die meiste Zeit herrschte im Wagen Schweigen. Bei der Fahrt aus dem Zentrum gab es viele Ampelstopps und mehrere Staus, bis sie endlich die Auffahrt zur A2 erreichten. Als die Verkehrslage ein schnelleres Tempo zuließ, stellte Klaus den Tempomat auf 130 Kilometer pro Stunde ein. Simon schlief bald völlig erschöpft ein. Abgesehen von einem längeren Stau bei Hannover verlief die Fahrt problemlos. Nach Hannover weckte ihn das Klingeln seines Mobiltelefons. Ein Reporter einer bundesweiten Zeitung, der seine Handy-Nummer in Erfahrung gebracht hatte, bat um Auskünfte zum Unfall. Simon lehnte ab, schaltete das Handy aus und versank auf der Rückbank in stummes Grübeln.
Nach fünf Stunden Fahrt erreichten sie die Ausfahrt Bonn. Klaus fuhr den Audi zu sich nach Hause auf den Hardtberg, wo er und Sofia mit ihrem Gepäck ausstiegen. Nach einer kurzen herzlichen Verabschiedung übernahm Simon das Fahrzeug und fuhr zu seinem Haus im wenige Kilometer entfernten Ückesdorf. Vor dem Haus warteten zwei Reporter und ein Kameramann, der mit zahlreichen Gerätschaften gerüstet war. Irgendwie hatten sie mitgekriegt, dass er zurückkam. Sie gingen höflich auf ihn zu, kondolierten und baten um ein kurzes Interview. Simon lehnte ab. Dann nur ein paar Fragen beantworten? Simon verneinte stumm und ging ins Haus.
Die Beerdigung fand am Freitag Nachmittag auf dem Friedhof in Ückesdorf im kleinen Familienkreis statt. Simon stand mit seinen Eltern und Veras Eltern vor der Kapelle zusammen. Weitere Gäste trafen ein, man schüttelte Hände, sprach leise. Schwere graue Wolken hingen über der Landschaft. Es nieselte leicht, es war fast windstill. Manche hatten Regenschirme aufgespannt. Die Männer trugen Sakkos und dunkle Anzüge, die Frauen dezente Kostüme und Wollmäntel wegen der kühlen Witterung.
Als die Glocke der Kapelle zu bimmeln begann, strömten die Trauergäste langsam durch die weit geöffnete weiße Kapellentür in den dunkelrot geklinkerten Innenraum. Von der hohen Decke hing ein Leuchterkranz, dessen elektrische Kerzen ein mattes Licht ausstrahlten. An der Stirnseite des Raums, links vor dem Altar stand der Sarg auf einer mit einem Tuch bedeckten Bahre, darauf ein Kranz mit einem riesigen Blumengesteck. Daneben war auf einem massiven Holzrahmen ein großes Foto von Vera, auf dem sie fröhlich lächelte. Der Pfarrer hielt eine kurze Trauerrede, es wurde gesungen, nur wenige stimmten ein. Es war die Stimme des Pfarrers, die den Gesang trug. In den Pausen hörte man durch die dicken Ziegelwände leise das Dröhnen der nahen Autobahn.
Für die Trauergäste hatte Simons Vater ein Restaurant in der Nähe reserviert. Es wurde Kaffee und Kuchen gereicht. Als später alkoholische Getränke serviert wurden, lockerte sich die Stimmung. Der Unfall wurde diskutiert. Es herrschte Empörung über die Raser. Um halb fünf begannen einige Gäste sich zu verabschieden. Seine Eltern blieben bis zuletzt und verließen die Gaststätte mit ihm. Er fuhr durch die einsetzende Dunkelheit allein im Auto nach Hause. Das Haus wirkte kalt und abweisend. Völlig erschöpft ließ er sich in seinem schwarzen Traueranzug auf das Sofa fallen, blieb regungslos liegen und starrte an die Decke. Mehrmals klingelte das Telefon. Er nahm nicht ab, hörte mit. Es waren Journalisten, die um Auskünfte baten. Nach einiger Zeit raffte er sich auf und schaltete die Telefonanlage im Flur aus.
***
Den folgenden Tag verbrachte Simon untätig. Jede Stunde zog sich quälend dahin. So auch den nächsten Tag. Die Zeit verstrich zäh und schmerzhaft. Lebenszeit totschlagen. Nichts wahrnehmen. An nichts denken. Erfolglos. Nachmittags streckte er sich auf dem Sofa aus und schaltete den Fernseher ein. Auf der Suche nach einem Berliner Sender mit aktuellen Nachrichten klickte er sich durch die Programme. Um sieben Uhr abends fand er in der Abendschau des Rundfunks Berlin-Brandenburg (rbb) die Nachricht, dass es in der Nacht zum 28. März auf dem Ku’damm einen schweren Unfall mit Todesfolge gegeben habe. Es wurden Auszüge aus der Pressekonferenz der Berliner Polizei vom Vormittag gezeigt. Der die Ermittlungen leitende Kommissar saß am Tisch, aufgeknöpftes weißes Hemd, graue Baumwolljacke, vor sich mehrere Mikrofone mit den Logos von Fernsehsendern. Der Kommissar erläuterte, dass zwei Fahrzeuge am Unfall beteiligt gewesen waren.
Dann wurden Videoaufzeichnungen vom nächtlichen Unfallort eingespielt. Offenbar war es einem Reporter gelungen, schon wenige Minuten nach dem Unfall mit der Videokamera an der Unfallstelle zu filmen. Die kurze Sequenz zeigte den Ku’damm, dann die auf dem Asphalt liegende Vera und zwei Polizeiwagen mit hektisch blinkenden Blaulichtern. Ein Rettungswagen des Roten Kreuzes fuhr mit heulender Sirene vor. Mehrere Sanitäter in rot-weißer Uniform sprangen aus dem Wagen und rannten im Laufschritt zur Unfallstelle, wo sie ihre Arbeit routiniert und zügig erledigten. Dann war zu sehen, wie die Trage aufgebockt, Veras leblos wirkender Körper darauf gehoben, mit einer Decke zugedeckt und auf der Rollbahre in den Rettungswagen geschoben wurde. Die Kamera fuhr näher heran und Simon meinte einen Augenblick, sich selbst im Wagen gesehen zu haben. Ja, wie in Trance hatte er im Krankenwagen gesessen und die schmale kalte Hand von Vera gehalten. Er hoffte jetzt, dass Vera das gespürt hatte.
Dann verließ der Wagen unter lautem Sirenengeheul die nächtliche Unfallstelle. Damit endete die Filmsequenz. Jetzt interviewte ein Reporter ein Paar um die fünfzig als Augenzeugen des Unfalls. Aufgeregt erzählte der Mann, dass sie bei der Gedächtniskirche gestanden hatten, als die beiden Fahrzeuge mit hohem Tempo auf sie zugerast seien. „Ich sah nur zwei Pfeile vorbeifliegen. So schnell waren die. Bestimmt 120 bis 150 km pro Stunde, wie die Verrückten. Unglaublich.“ Seine Frau schaltete sich ein: „Wenn Sie das gesehen hätten. Die haben ein Rennen gefahren, mitten in der Stadt. Das sind Kriminelle.“ Andere Zeugen berichteten, dass die beiden Wagen zuvor über eine rote Ampel gerast seien. Der Reporter fasste die Aussagen der Zeugen für die Zuschauer so zusammen: Bei den beteiligten Fahrzeugen habe es sich um zwei niedrige Sportwagen gehandelt, Modell und Kennzeichen unbekannt. Das Unfallfahrzeug sei vermutlich dunkelgrün oder dunkelblau gewesen. Am Steuer des Unfallwagens habe man eine Person mit weißer Kopfbedeckung gesehen.
Ein Journalist fragte, ob es Fortschritte bei der Ermittlung des Kennzeichens gäbe. „Nein“, antwortete der Kommissar. „Die Polizei hat erst mit den Ermittlungen begonnen und wir sind zuversichtlich, bald Erfolg zu haben.“