Situationsdynamik systemtheoretisch beobachtet - Franz Lorenz - E-Book

Situationsdynamik systemtheoretisch beobachtet E-Book

Franz Lorenz

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Beschreibung

Die (Über-)Komplexität des Hier und Jetzt einer Situation geht über Motive der personalen Akteure und deren Beziehungen hinaus und wird zusätzlich aufgeladen durch Einflüsse organisationaler Kontexte und die Sinnkonstruktionen von deren Referenzsystemen. Diese Sichtweise brachte Herbert Euschen dazu, in seinem Ansatz der Situationsdynamik den personalen Aspekt des Ich mit dem Wir einer sozialen Situation zu verbinden und diese im Kontext von Sachaspekten, die Beziehungen unmittelbar beeinflussen, zu betrachten. Diese Betrachtung wird in die Sinn-Konstruktion eines Beobachters unter dem Aspekt Intentionalität eingebettet. Die Dynamik der Situation wird in Differenz gesetzt zur Struktur des Alltags, so dass sich die Konturierung der Situation als System nur in der relevanten Umwelt Alltag denken lässt. Die jeweiligen (sozial-)phänomenologischen Ansätze Habitus, kollektive Deutungsmuster, Gesellschaft als Lebens- und Systemwelt und Diskursanalyse werden mit systemtheoretischen Überlegungen in Bezug gesetzt und so die Handlungslogiken rekonstruiert, die Situationen dynamisieren.

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Franz Lorenz

Situationsdynamik systemtheoretisch beobachtet

Eine Rekonstruktion des sozialphänomenologischen Ansatzes nach Herbert Euschen

Unter Mitarbeit von Anke Euschen und Bettina Mutz-Lorenz

2022

Der Verlag für Systemische Forschung im Internet:

www.systemische-forschung.de

Carl-Auer im Internet: www.carl-auer.de

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis an:

Carl-Auer Verlag

Vangerowstr. 14

69115 Heidelberg

Über alle Rechte der deutschen Ausgabe verfügt

der Verlag für Systemische Forschung

im Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg

Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages

Reihengestaltung nach Entwürfen von Uwe Göbel

Printed in Germany 2022

Erste Auflage, 2022

ISBN 978-3-8497-9057-8 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-9058-5 (ePub)

DOI: 10.55301/9783849790578

© 2022 Carl-Auer-Systeme, Heidelberg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Verantwortung für Inhalt und Orthografie liegt beim Autor.

Dieses Buch ist dem Leben und Wirken von Herbert Euschen gewidmet, dem ich über 30 Jahre freundschaftlich verbunden sein durfte. Eine gemeinsame Zeit, die inspirierend für ein Denken in Alternativen und spannend für ein Arbeiten jenseits von eingetretenen Pfaden war.

Herbert Euschen hat es in beeindruckender Weise verstanden, Theoriebezüge so in praktische Anwendung zu übertragen, dass sein Gegenüber durch Selbsterkenntnis Alternativen für die eigene Lebenskonzeption entwickeln konnte.

Bemerkenswert war sein Interesse an Menschen, die die essenziellen Fragen des eigenen Lebens für sich noch nicht beantwortet hatten, sondern als Suchende dem Leben mit Offenheit und Neugierde begegneten.

Bei diesen Menschen und all jenen Personen, die Herbert als Trainer, Mensch und Freund erleben durften, wird dieses Buch die eine oder andere Erinnerung wachrufen.

Für seine Frau Anke, Bettina und mich als Freunde ist es neben dem Versprechen, seine Wirklichkeitstheorie niederzuschreiben, Erinnerung. Erinnerung an gemeinsame Trainings, Theorietage und Konzeptarbeit, aber und vielmehr noch die gemeinsame Zeit im Denken, Sprechen und Feiern.

Zuletzt ein Dank für das, was war.

Franz Lorenz

Inhaltsverzeichnis

EINBLICKE

GESPRÄCH MIT ANKE EUSCHEN

Kapitel I

DER BEOBACHTER ALS KREATEUR VON WIRKLICHKEIT – ANNÄHERUNGSPROZESSE

SYSTEMTHEORETISCHE BEOBACHTUNG ALS BESCHREIBUNG VON KOMPLEXER WIRKLICHKEIT

ANNÄHERUNG AN DAS PHÄNOMEN BEOBACHTUNG

PHÄNOMENOLOGIE ODER DIE KONSTRUKTION DES INTENTIONALEN

KURZER EXKURS ZUM SYSTEMISCHEN VERSTÄNDNIS VON SINN

VOM GEISTESWISSENSCHAFTLICHEN ZUM SYSTEMTHEORETISCHEN DISKURS

Facetten des Phänomens Beobachtung

Der Beobachter als selbstreferentielles System

Der Beobachter als psychisches System

Psychische Systeme

Beobachtung 2. Ordnung

Re-entry

GESCHICHTLICHE ENTWICKLUNG DER SYSTEMTHEORIE

Der Strukturfunktionalismus bei Talcott Parsons

Gesellschaft

Systeme

Vertikale Verflechtung der Subsysteme

Horizontale Verflechtung der Subsysteme

Die funktionale Systemtheorie bei Niklas Luhmann

Systemaspekte in der funktionalen Systemtheorie

Kapitel II

VOM ALLTAG ZUR SITUATION

GEDANKENSPLITTER ZU HERBERT EUSCHEN

DIE KONSTRUKTION VON ALLTAG

Die Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeiten

ALFRED SCHÜTZ: SINNHAFTER AUFBAU DER SOZIALEN WELT

Konstruktion von Lebenswelt

PETER BERGER UND THOMAS LUCKMANN: „DIE GESELLSCHAFTLICHE KONSTRUKTION DER WIRKLICHKEIT“

SITUATIONSANSATZ

Etymologische Herleitung

Situationsbegriff in der Phänomenologie

Situationsbegriff in der Soziologie

Soziale Situation nach Goffmann

Exkurs Situationismus

VOM STRUKTURELLEN ZUM DYNAMISCHEN DER SITUATION

Soziologische Verortung

Giddens Theorie der Strukturierung und der Praxisroutinen

Herausforderungen der Gegenwart

SYSTEMTHEORIE BEOBACHTET

Sinn-hafte Vorüberlegungen zu Formen der strukturellen Kopplung

KAIRÓS

Kapitel III

DIE SITUATIONSDYNAMIK UND IHRE THEORETISCHEN BEGRÜNDUNGEN

ICH-DYNAMIK

Die Psychoanalyse und ihre Entwicklung als Ausgangspunkt des psychischen Verstehens des Menschen

Analytische Psychologie

Angsttypen nach Riemann

WIR-DYNAMIK

Der dynamische Antrieb der Gruppenprozesse

Gruppen als soziales Phänomen

Die Gruppe zwischen Paar und Organisation

Modelle der Gruppenentwicklung

Gruppenmodell nach Bennis und Shepard

Gruppenmodell nach Tuckman

SACH-DYNAMIK

Erster Annäherungsversuch

Themenzentrierte Interaktion

INTENTIONALE DYNAMIK

Annäherung an den Begriff der Institution

Kapitel IV

SOZIALPHÄNOMENOLOGISCHE BETRACHTUNG UND SYSTEMTHEORETISCHE REFLEXION

GEDANKENSPLITTER ZU HERBERT EUSCHEN

ICH-DYNAMIK

Habitus- und Feldtheorie nach Bourdieu

SYSTEMTHEORETISCHE REFLEXION DER ICH-DYNAMIK: DIE PERSON IN DER SYSTEMTHEORETISCHEN PERSPEKTIVE

WIR-DYNAMIK

Deutungsmusteransatz nach Ulrich Oevermann

Konzeption der Deutungsmusteranalyse

Zur Alltagstauglichkeit

Wissenssoziologische Bedeutsamkeit

SYSTEMTHEORETISCHE REFLEXION DER WIR-DYNAMIK: GRUPPE ALS SOZIALES SYSTEM

SACH-DYNAMIK

Habermas‘ Gesellschaftstheorie der Dualität von System und Lebenswelt

SYSTEMTHEORETISCHE REFLEXION DER SACH-DYNAMIK

INTENTIONALE DYNAMIK

Diskursanalyse Foucault

Episteme

Diskurse

Gouvernementalität als Konzept

SYSTEMTHEORETISCHE REFLEXION DER INTENTIONALEN DYNAMIK: SEMANTIK ALS FORM DER KOMMUNIKATION

Legitimität als strukturelle Kopplung

AUSBLICK

LITERATUR

Einblicke

Mit dem vorliegenden Buch wird ein Versprechen eingelöst. Ein Versprechen an Herbert Euschen, die Grundlegungen seiner Theorie der Situationsdynamik und die damit verbundenen Gedankengebäude niederzuschreiben, um einen Diskurs zur Situationsdynamik über sein Leben hinaus, zu eröffnen.

Situationsdynamik als Theorieentwurf zu fixieren, wäre für ihn selbst unmöglich gewesen, weil er damit – nach seiner Interpretation – eine Endgültigkeit für die Situationsdynamik formuliert hätte, die die Dynamik des Vorläufigen und den permanenten Anspruch nach Weiterentwicklung paradoxiert hätte.

Insofern fällt es nun uns – seiner Frau, seinen Freunden, Wegbegleitern und auch Kollegen – zu, die wir im wörtlichen Sinne durch gemeinsames Lesen, Diskutieren bei Theorietagen, Anwenden in Trainingsmaßnahmen und Beratung ebenso wie durch das Reflektieren in gemeinsamer STAFF-Arbeit, die von Herbert gewünschte Dynamik des Vorläufigen mit ihm gemeinsam gelebt hatten, nach seinem Leben einen vorläufigen Endpunkt seiner Wirklichkeitstheorie schriftlich zu markieren.

Ein Endpunkt, der aber auch als Startpunkt gesehen und verstanden werden soll.

Zum einen soll mit dem vorliegenden Buch die Anschlussfähigkeit an bestehende phänomenologische und sozialphilosophische Theoriegebäude aufgezeigt werden, zum anderen aber auch der eigenständige Nukleus der Theorie als Wirklichkeitstheorie, der in der komplexitätssteigernden situativen Vernetzung aller Aspekte liegt, betont werden.

Die in der Situation herrschende Überkomplexität und die gleichzeitig daraus erwachsende Reduktion von Komplexität durch Beobachtung sind der philosophische Ansatz in der Situationsdynamik, die Herbert oft mit Blochs Metapher der Dunkelheit des Augenblicks beschrieb. Dunkelheit, da wir nicht alles sehen und durch die Einführung des Lichts sich eine Differenz ergibt, die das sichtbare Ausgeleuchtete als Figur auf der Bühne des Unsichtbaren tanzen lässt.

Die Reflexion an systemtheoretischen Überlegungen als metatheoretische Verortung greift diese Differenz auf und transformiert sie in der Formtheorie nach Spencer Brown in System und Umwelt. Diese Überlegungen haben die Arbeit an der Weiterentwicklung der Situationsdynamik in den zurückliegenden Jahren stark beeinflusst.

Zum anderen verfolgte Herbert neben der theoretischen Auseinandersetzung als zentralen Punkt der Weiterentwicklung der Situationsdynamik die Anwendung des Ansatzes in der Praxis, wobei er Praxis stets als Gestaltungsort der Theorie fokussierte, da für ihn Theorie ohne Praxis leer und Praxis ohne Theorie blind war. Wie wichtig ihm die praktische Anwendung und an seine Arbeit gebundene Mission der Befreiung von gelebten Zwängen und Gebunden-sein an gesellschaftliche Ligaturen und unreflektierten Konventionen war, zeigte sich in der Phase seiner schweren Erkrankung, in der er bis zuletzt in Trainings das sogenannte Selbstverständliche kritisch hinterfragte und in sokratischen Dialogen als Scheinwahrheiten entlarvte. Gleichzeitig zeichnete ihn aber auch der grundsätzliche Respekt vor dem Anderssein aus, wenn er selbst nicht nachvollziehbare Lebenslügen als Überlebenswahrheiten würdigte.

Durch Anwendung in der Reflexion von Führungssituationen, in Beratungskontexten und in der agogischen Bildungsarbeit bekam in den zurückliegenden Jahren der Denkansatz von Herbert Euschen Hand und Fuß und wurde für viele Teilnehmer in Supervisions- und Organisationsberatungsausbildungen, Studium und Führungstrainings in der Praxis erlebbar.

Insofern dürfte für viele Menschen, die Herbert als Trainer und Lehrer erlebten, mit dem Buch auch Erinnerung neu belebt werden.

Mein Dank gilt in der Entwicklung des Buches Anke Euschen für das sorgfältige Sammeln und Strukturieren von Herberts gesammelten Fragmenten, Damian Lorenz und Matthias Schäfer als junge Philosophiestudenten für die Mitwirkung beim Lektorat und ihr kritisches Nachfragen. Bettina Mutz-Lorenz für die redaktionelle Aufbereitung und Nachbearbeitung der Grafiken, die den Anspruch haben das Geschriebene zu veranschaulichen. Und allen gemeinsam für die abendlichen Diskussionen und das Querbürsten von Selbstverständlichem.

Im Entstehen des Buches hatte ich in den Seminaren mit den Studierenden der Berufspädagogik an der BAGSS (Berufsakademie für Gesundheit und Sozialwesen Saarland) sowohl in Saarbrücken als auch in Warnemünde die Theorieansätze von Kapitel III und IV lebhaft diskutiert und auf die Relevanz für den pädagogischen Alltag erörtert.

All dies waren Ermutigungen in dem langen Jahr des Schreibens und willkommene Feedbacks, die vor allem in die Bearbeitung der Grafiken eingeflossen sind.

Als Lesetipp bei der Durcharbeitung des Buches kann die eigene Lust und Interessenslage der zentrale Startpunkt des Einstiegs ins Buch sein. Die einzelnen Kapitel sind in sich abgeschlossen und markieren jeweils verschiedene Aspekte der Annäherung an die Situationsdynamik.

Kapitel I klärt die Position des Beobachters in der Situationsdynamik und die erkenntnistheoretische Fundierung im Konstruktivismus und seinen verschiedenen Spielarten. Ebenso werden die Grundlegungen zur Entwicklung der Systemtheorie durch die verschiedenen Epochen – ausgehend von dem Grundverständnis rückkoppelnder Systeme über die System/Umwelt-Differenz bis zur autopoietischen Wende und der damit einhergehenden Re-definition von Fremd und Selbstreferenz – beschrieben.

Kapitel II rekonstruiert den Situationsbegriff aus dem Begriff des Alltags. Einerseits wird die Phänomenologie nach Alfred Schütz und sein Konzept der Lebenswelt in der gesellschaftlichen Perspektive von Berger/Luckmann rekonstruiert, andererseits der Begriff der Situation aus einer etymologischen Herleitung konturiert und zum Alltagsbegriff kontrastiert. Daran schließt sich ein Exkurs zu französischen Situationisten an, denen Herbert in seiner Betonung des Vorläufigen nahestand. Des Weiteren wird über transkribierte Interviews die phänomenologische Herleitung und die Verortung des Situationsbegriffs im Unterschied zu Alltag in Herbert Euschens Ansatz rekonstruiert und positioniert. Wie der Unterschied zwischen gelebtem Alltag und erlebter Situation in der Situationsdynamik sich im lebensweltlichen Kontext Familie anfühlt, beschreibt Anke Euschen in nachfolgendem Interview, das ich als Hinführung zur Situationsdynamik bewusst als Form gewählt habe, um aufzuzeigen, wie sehr Theorie bewusst gelebte Situation irritiert und umgekehrt das Projekt „Wir-Leben“ als dynamischer Prozess theoretische Überlegungen relationiert. Für beide Prozesse gilt das Primat der Vorläufigkeit.

Kapitel III stellt die Situationsdynamik in ein Bezugsystem von wissenschaftlichen Vorstellungen, die Herbert in der Darstellung der unterschiedlichen Ebenen von Komplexität aufgegriffen hat. Die klassische Psychoanalyse verstand er als Aufklärung der Aufklärung dahingehend, dass bei Kant die Aufklärung und die damit verbundene Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit noch auf Vernunft basierend formuliert wurde, bei Freud mit der Einführung des Vor- bzw. Unbewussten und der damit verbundenen Psychodynamik nach der Selbstbestimmung die Selbstentfaltung als Individuum ermöglicht wurde.

Das selbstentfaltete Individuum war für Herbert nur als Person in Sozialgefügen denkbar. Daher auch seine Aversion gegen die psychologisierende Gruppendynamik, die er als weniger förderlich für die Entwicklung von Personalität sah, sondern eher auf die Ich-Entwicklung ausgerichtet einordnete.

In der gruppendynamischen Arbeit hat Herbert immer das Hier und Jetzt des Momentum als dynamisches Merkmal betont und das Modell Gruppenuhr nach Tuckmann kritisch eingestuft, sofern es in der Trainingsmaßnahme von Trainer*innen als Struktur- oder Diagnoseinstrument mit daraus folgenden Therapievorschlägen an die Gruppe eingesetzt wird. Sofern es auf Beobachtung zur Herstellung einer Differenz und zum Gewinn von Information im systemtheoretischen Sinne herangezogen wurde, war es für ihn eine Unterscheidung, die eine Unterscheidung macht, ohne die Faktizität des Normativen und damit Statischen. Unter dem prozessualen Aspekt, dass Kommunikation ereignishaft Kommunikation kommuniziert war die Kopplung zum Primat des Dynamischen gegeben. Unter der Fokussierung des Dynamischen favorisierte er das Dependez-Counter-Interdependenz Modell nach Bennis und Shepard.

Ferner kritisierte er eine Gruppendynamik, die die Situation rein auf die Beziehungsebene reduziert und Sachaspekte wie Umwelteinflüsse (Raumtemperatur, Gerüche, Baulärm etc.) ausblendet, wobei sie Beziehungsdynamiken beeinflussen, aber nicht Beziehung erklären, es sei den Mann/Frau kennt den Hausmeister.

Ebenso und durchaus gleich-gültig sah er die Bedeutung von Funktionalitäten, die Personen über ihre Identität in die Aktualität der situativen Beziehungsdynamik einbringen. Diese unterkomplexe Behandlung der Situation in der Gruppendynamik war für ihn Motor zur Entwicklung der Situationsdynamik. In diesem Kapitel wird diese Öffnung über den unmittelbaren Bezug zur Konzeption der Themenzentrierten Interaktion nach Ruth Cohn vollzogen. Ihrem Bemühen und durch ihre in der Linie der Psychoanalyse stehenden Überlegungen ist es zu verdanken, dass sich neben der klassischen Gruppendynamik ein erweiterter Blick auf Situation in Training, Beratung und Therapie etabliert hat.

Herbert Euschen hat das Feld der Sach-Dynamik zum einen durch Bezug auf die Leibbezogenheit und die damit verbundene sinnliche Perzeption in der Phänomenologie nach Merleau-Ponty erweitert und darüber hinaus mit dem Einbezug der organisationalen Kontexte den Sachaspekt in der Situationsdynamik mit Komplexität aufgeladen. Mit Bezug auf Husserl zurück zu den Sachen und die damit verbundene Intentionalität rekurriert er auf die in Institutionen manifestierte Kultur, die als sinn-hafte Welt, die sowohl gesellschaftliche Rollen legitimiert als auch kollektive Deutungsmuster als Wahrnehmungs-, Denk-, und Interpretationsstrukturen als sogenannte Selbstverständlichkeiten inkorporiert und damit Bewusstsein sozialisiert. Insofern ist die intentionale Dimension die zirkuläre Schließung oder strukturelle Kopplung zur ICH-Dimension, sofern man es als kybernetischer Regelkreis oder als Netzwerk der Situation verstehen will.

In Kapitel IV erfolgt die sozialphilosophische Verortung der einzelnen Aspekte und die sich daran anschließende systemtheoretische Reflexion als metatheoretische Betrachtung. In den dort angeführten Theorieansätzen war es Herbert wichtig, sich nicht als Strukturalist oder Phänomenologe oder Systemiker festlegen zu lassen, sondern die Ansätze so zueinander zu positionieren, dass es nicht ein Entweder – Oder, sondern ein Entweder und ein Oder gab, aus deren Differenz ein vergleichendes Drittes entstehen konnte, was er als spielende Kreativität und Emergenz wertschätzte. So werden in diesem Kapitel Habitus-Theorie und Feld nach Pierre Bourdieu vorgestellt. Es folgt mit der Fokussierung und Differenzierung des Feldes der Ansatz kollektiver Deutungsmuster. Daran schließt unter dem Aspekt der Sach-Dynamik Jürgen Habermas mit seinem dualen Gesellschaftsbegriff bestehend aus System und Lebenswelt an, die er einerseits dialogisch ordnet und damit an Oevermann anschlussfähig ist, andererseits aber die Dia-logik um die sachdimensionale Logik des Zweck-rationalen in Organisationen erweitert. Im Folgenden wird logisch auf Foucault rekurriert, der in seiner Diskurslogik Machtstrukturen aufzeigt, die unsere gesellschaftliche Rolle legitimieren und mit dem Ansatz der Gouvernementalität die Entstehung von Machtverhältnissen beleuchtet und damit eine Werte-Logik implementiert.

Die systemtheoretische Reflexion vollzieht sich in einer inneren Konsequenz, in dem zunächst über die strukturelle Kopplungsform Interpenetration die Form der Person in der Kommunikation konturiert wird. Anschließend an die Ausführungen zur Gruppendynamik in Kapitel III wird im Kapitel IV Gruppe als soziales System beschrieben.

Mit der systemtheoretischen Reflexion des Spätwerkes von Niklas Luhmann Organisation und Entscheidung erfolgt die differenzierte Auseinandersetzung mit Funktion und Programmen als Sonderfall vom Typus Kommunikation in Organisationen. Gerade diese Differenzierung ermöglicht es in Beratung aber auch in Führungskontexten neue Sichtweisen, jenseits von allopoietischen Steuerungsmodellen zu implementieren und die Begriffe der Intervention, der Irritation und Pertubation als autopoietische Steuerungsimpulse in der Situationsdynamik neu zu positionieren. An die Überlegung von Organisation und Entscheidung schließt eine Überlegung Luhmanns aus 1983 an, in der er die Legitimation durch Verfahren als weitere Form der Komplexitätsreduktion beschreibt, in dem er an Gerichtsverfahren aufzeigt, wie Rollen, die im Verfahren auch durch Anwaltsrobe, Richterhüte etc. symbolisch stark aufgeladen aber durch strenge Beschränkung der Funktionalität hochkomplexe und stark divergierende Positionen kommunikativ prozessieren. Auch hier lässt sich im kybernetischen Verständnis durchaus ein mentales Kreismodell aber auch ein Netzwerk der vier Felder der Situationsdynamik denken. Dem Leser bleibt es vorbehalten das Buch in den einzelnen Feldern durchzuarbeiten oder je nach Abstraktionsbedürfnis sich die einzelnen Kapitel zu erschließen.

Mein besonderer Dank gilt Frau Lode vom Carl-Auer Verlag für die kreativ-konstruktive und unkomplizierte Zusammenarbeit in der Endredaktion des Buches.

Abb. 1: Situationsdynamik als Modell

GESPRÄCH MIT ANKE EUSCHEN

Franz Lorenz: Hallo Anke. Die Annäherung an die Situationsdynamik hatte ich im Vorwort so beschrieben, dass es für Herbert nicht vorstellbar gewesen wäre, etwas Endgültiges zu schreiben. Und du hast durch die gemeinsamen Ehejahre mit ihm und auch durch die Jahre vorher aus gemeinsamer Arbeit erlebt, wie er mit Situationsdynamik umgeht. Wenn ich dich jetzt so zum Einstieg fragen darf, wie hast du Herbert einerseits und Situationsdynamik anderseits zusammengebracht? Und wie hat sich das im Alltag ausgewirkt?

Anke Euschen: Also ich glaube, da brauchte man nichts zusammenbringen, weil Herbert und Situationsdynamik gar nicht getrennt zu denken waren. Es war für Herbert ein Lebenskonzept und eigentlich auch ein Lebensthema, sich mit der Situationsdynamik auseinanderzusetzen. Oder man kann es vielleicht noch mal anders sagen: Die Situationsdynamik war in vielerlei Hinsicht eine Antwort auf die Themen, die Herbert bewegt haben und nach deren Antwort er versucht hat, auch sein Leben konsequent auszurichten. Das hat sich insofern nicht nur in den Diskussionen gezeigt, die wir über das situationsdynamische Denken hatten, sondern auch tatsächlich im Alltag, in unserer Ehe und in unserer Art und Weise zu leben und miteinander zu reden. Da war Situationsdynamik allgegenwärtig.

Franz Lorenz: Er hatte immer betont, dass das Ich, dass Ich es bin, der als Beteiligter der Situation als zentraler Ausgangspunkt zu betrachten ist, als der, der die Welt in die Situation bringt. Ich erinnere mich da an eine Interview-Passage mit ihm, in der er gesagt hat, die Welt kommt über die Beteiligten in die Situation. Wie war eure Situation und was habt ihr als Beteiligte für Welten in eure Situation gebracht?

Anke Euschen: Genau. Ich kann das vielleicht noch mal so deutlich sagen. Als wir geheiratet haben, hat sich Herbert relativ bald entschieden, als Privatgelehrter zu arbeiten. Das bedeutete, er konnte sich auch weiterhin mit seinem Denken und seinen Überlegungen beschäftigen, während ich im ganz normalen Berufsalltag als Trainerin und Beraterin war. Und es war z. B. so, dass unsere Diskussionen sich auch wirklich über alles gedreht haben, was der Alltag mit sich brachte, das heißt, wenn wir telefoniert haben, über ganz einfache Alltagsdinge wie zum Beispiel auch mal einkaufen, mal eine Planung zu machen, dann war es immer so, dass Herbert diese Diskussionen sehr, sehr gezielt auch in die Tiefe geführt hat. Er hat sich eigentlich nie zufrieden gegeben mit schnellen, alltagsroutinierten Antworten, sondern es war immer eine lange Auseinandersetzung. Das war nicht immer ganz einfach, weil sie ja manchmal im alltäglichen Leben dann auch kollidiert mit Plänen oder mit Zeitplänen. Aber es war immer so, dass wir sehr in die Tiefe gegangen sind und dass es unser – eigentlich auch unser verabredetes Konzept oder Überlegung war, dass wir aus unserer Ehe ein – so haben wir das genannt – ein „Wir-Projekt“ machen.

Franz Lorenz: Also vom Ich zum Wir. Jetzt würde mich interessieren: Herbert hat immer so die Differenz aufgemacht, dass Alltag das Unbewusste, das Routinierte ausmacht, was den Menschen von sich selbst entfremdet. Und dass die Situation eigentlich der bewusste Akt der Reflexion, der Aufmerksamkeit ist, mit der ich im Hier und Jetzt operieren kann. Schwer vorstellbar, dass es immer ein bewusstes Hier und Jetzt im Leben gibt.

Anke Euschen: Ja, also das finde ich auch, es ist wirklich schwer vorstellbar und es ist auch ein hoher Anspruch. Es lässt sich, glaube ich, nicht leugnen, dass das auch wirklich einen Anspruch an sich selbst, an Freunde, an Partner ist. Und das war auch durchaus eine Erfahrung, die Herbert machen musste in seinem Leben. Und durch diese Art des Denkens und des sich Auseinandersetzens mit den Situationen, hatte er auch immer mal wieder erfahren müssen, dass er fast etwas einsam war, dass es nicht viele Menschen gab, mit denen er das pflegen konnte. Und das war ihm aber auch bewusst und es war ihm letzten Endes recht, diesen Preis dafür zu zahlen. Und es ist tatsächlich so, dass Alltagsroutinen bei Herbert etwas waren, die uns vom wirklichen Existieren fernhalten. Also er hat immer den Unterschied, die Differenz aufgemacht zwischen Existenz und Dasein. Die Alltagsroutinen sind die Dinge, die uns im Leben steuern, ohne vielleicht das entsprechende Bewusstsein oder das bewusste Tätigsein dem gegenüberzustellen. Und das geprägte Leben von Alltagsroutinen, das war aus Herberts Sicht immer nur ein Dasein und war an dieser Stelle auch für ihn für ein gutes Leben oder ein gelingendes Leben nie genug.

Franz Lorenz: Er hat ja dann mit Sicherheit einmal an Sartre angeknüpft. Das „für sich da sein“ und das „an sich da sein“, wobei ja „an sich da sein“, wenn man so will, ja eher schon so ist, dass alles vorherbestimmt und determiniert ist. Während beim „für sich sein“ genau sein Konzept ja auch war: Die Essenz folgt der Existenz, folglich wird die Wesenheit dadurch erzeugt, dass ich durch bewusste Entscheidung über mein eigenes Schicksal und meine eigene Lebensperspektive entscheide. Wie hast Du Herbert als Existentialist erlebt?

Anke Euschen: Genau, das war – kann man sagen – auch seine Mission, andere auch darauf zu bringen und zu sagen „Lebe dein Leben“, also „lebe dein Leben bewusst“ und uns damit auch ein Stück in die Emanzipation zu führen und sagen zu können: Wir leben unser Leben nicht gesteuert von Alltagsroutinen, die uns entfremden – das hast du ja vorhin auch schon mal gesagt – sondern eben immer konzentriert auf das Hier und Jetzt und was in der Situation der Fall ist. Und man muss fairerweise sagen, das was in der Situation der Fall ist, ist ja letzten Endes ein Resultat der Auseinandersetzung zwischen den Akteuren oder man könnte es vielleicht auch nennen zwischen den handelnden Personen. Und es ist in dem Sinne auch kein Erklärungskonzept, sondern eher ein Beschreibungskonzept, das uns auf ein bewusstes Leben hinführt und dann letzten Endes zur Existenz führt. Und er hat da immer mal Bloch zitiert, auch mit so Anfangssätzen wie zum Beispiel „Das Leben will mehr“ oder „das Dunkel des Augenblicks“ und das waren ja Grundüberlegungen, die Herbert sehr angesprochen haben.

Franz Lorenz: Ja, er ist also ganz bewusst von dem Wir ausgegangen, was ja ganz stark auf dialogische Beziehungen, auch bewusst zu leben, setzt. Und trotz alledem – gelinde gesagt – die Situation ist damit nicht ausreichend beschrieben, weil er ja immer gesagt hat da gibt es viel mehr, ob das jetzt Umwelteinflüsse sind, wie zum Beispiel die Zimmer sind zu kalt oder die organisationalen Zwänge, dass man da irgendwelche Rollen oder irgendwelche Dinge mitschleppt, die jetzt in der Situation plötzlich im Hier und Jetzt präsent werden, die aber weder was mit der Beziehung der Einzelnen zu tun hatten, noch möglicherweise mit habituellen Prägungen.

Anke Euschen: Na ja, genau, ja, ja, von der Ich-Seite her war es natürlich auch alles Leibliche und alle leiblichen Erfahrungen, die eine Rolle spielen. Und in der letzten Zeit, als Herbert krank war, war das ja auch ein sehr wesentlicher Teil unseres Lebens miteinander, auch von seiner Seite. Die ganzen leiblichen Gegebenheiten mitzudenken, also die Frage „Wie geht es ihm, wie fühlt er sich auch tatsächlich körperlich?“ und das aber eben nicht nur einfach hinzunehmen und wegzuschieben, sondern zum Gegenstand unserer täglichen Lebensgestaltung zu machen. Das war ein sehr bewusster Austausch, und zwar einerseits von seiner Seite, aber natürlich auch von meiner Seite, die ja auf der Seite der Partnerin stand, die diese Krankheit oder den Krebs eben nicht selbst hatte. Aber natürlich hat der Krebs uns maßgeblich auch erfüllt und insofern war das ein dauerndes Thema, auch über die leiblichen Aspekte und alle Konsequenzen, die es auch hatte, zu sprechen. Und das gehörte für Herbert zwingend mit dazu.

Franz Lorenz: Ja, da hat er, wenn wir darüber gesprochen haben, auch immer auf Merleau-Ponty verwiesen, weil er ja als Saarländer eine hohe Affinität zu Frankreich und zur französischen Philosophie hatte, insbesondere zur Phänomenologie Merleau-Pontys. Merlau-Ponty hat die Leiblichkeit, diese Wahrnehmung des Leibes als Erfahrung in den Mittelpunkt seiner Phänomenologie gestellt. Inwieweit hat er dieses Körperbewusstsein immer gehabt? Ich habe ihn ja sehr oft einerseits sehr stark kognitiv und als intellektueller Mensch erlebt, mit dem es einfach Spaß gemacht hat zu diskutieren. Auf der anderen Seite gab es da diese ganz bewusste Entscheidung für den Leib als Pforte, als Zugangspforte über die Sinne, durch den die Welt wahrgenommen wird, zu sehen.

Anke Euschen: Ja, ja, das hat sich wirklich in vielen Aspekten gezeigt. Also wer Herbert kannte, wusste, dass Herbert ganz gerne einfach auch mal ein bisschen spazieren gewesen ist und dabei auch philosophiert hat. Derjenige konnte auch erleben, dass Herbert beim Gehen oder Schreiten würde ich es eher nennen, auch tatsächlich einen sehr, sehr bewussten Gang hatte. Er ist nicht einfach nur gelaufen und um eine Distanz zu überwinden, sondern allein schon dieses Gehen war etwas sehr Bewusstes. Das hatte er auch sehr aus seiner Auseinandersetzung mit der Zen-Kultur gehabt. Also das wirklich sehr bewusste Erleben. Zum Beispiel hatte Herbert an unserem gemeinsamen Wohnort eine kleine Gaube, das war sein Denk- und Arbeitsort …

Franz Lorenz: „… die Rauchhöhle“

Anke Euschen: Ja, die Rauchhöhle … Draußen an der Tür hing ein Zettel und da stand drauf „Kommandozentrale“, „Leitstelle“ oder auch für die etwas schwierigeren Phasen war es auch mal der „Panic Room“. Da gab es einen Sessel drinnen und dieser ganze Raum war tatsächlich von Herbert so gestaltet, dass er für ihn und das leibliche Erleben des Sitzens und Denkens optimiert war. Also er war nicht nach ästhetischen Kriterien gestaltet, sondern er war rein nach Kriterien gestaltet, die für ihn diese Art des Denkens möglich gemacht haben. So gab es zum Beispiel für den Ohrensessel eine Rolle, so eine Kissenrolle, die an der einen Seite des Sessels reingestopft war. Da konnte er sich besser anlehnen. Na, das war er. Und das fand er sehr, sehr entlastend. Oder es gab eine Leuchte, eine schöne Leuchte, muss man sagen, die Herbert auf der einen Seite einfach mit Metaplankarten abgeklebt hatte, weil ihn das vorher geblendet hatte und dann war das Lichtverhältnis optimal aus seiner Sicht. Nun, er hatte weiterhin so Din-A3-große Bretter, auf denen er geschrieben hat, alles war sozusagen optimiert auf das gesamte Wohlbefinden, ist vielleicht das falsche Wort … aber zumindest darauf, das leibliche Empfinden so zu gestalten, dass das Denken und das assoziative Denken an der Stelle auch möglich waren. Ja, das war sehr, sehr ausgeprägt.

Franz Lorenz: Jetzt haben wir gerade, wenn man so will, die eine Seite, die von der WIR-Dynamik beleuchtet. Aber er hat ganz bewusst auch immer gesagt die Situation ist wesentlich geprägt durch sachdynamische Dinge. Wie hast du diese Ebene mit ihm erlebt? Wenn es z. B. um Zweckrationalität ging, die von Organisationen kam. Ich weiß, dass er da an manchen Stellen eine gewisse Aversion dagegen hatte, dass dieses scheinbar Rationale und gleichzeitig Irrationale der Wirklichkeit Diskurse bestimmt hat.

Anke Euschen: Ja, Du sagst, eine gewisse Aversion – das ist vielleicht sogar noch etwas untertrieben!

Franz Lorenz: Ja, ich neige zu Euphemismen.

Anke Euschen: (lacht) Ja, das war eine sehr deutliche Ablehnung gegen alles das, was rein über das Rationalitätsprinzip geht bzw. vielleicht sogar auch über das Funktionalitätsprinzip, also an reinen Funktionen und Rationalität ausgerichtet. Das zeigte sich im Alltag ganz deutlich daran, dass er immer die Idee hatte, sich nie steuern zu lassen über sogenannte fremde Sachzwänge, also von außen kommenden fremden Sachzwängen, die normierend wirkten im Sinne von na ja, da muss man doch drauf reagieren. Also ganz praktisch heißt das, wenn entsprechende Briefe von Ämtern kamen, nun, dann war das auf der Prioritätenliste von Herbert ziemlich weit hinten. Wenn er jetzt gerade im Denkprozess war und ich nicht da war, dann konnte es passieren, dass diese Briefe eine ganze Weile einfach gar nicht geöffnet wurden bzw. auch einfach so wieder irgendwo verschwunden sind. Also das heißt, dass wo wir normalerweise in unserem vielleicht auch eher bürgerlichen Alltag hingucken würden und sagen würden „Na ja, ein Brief des Amtes, den muss man noch mal aufmachen“ oder vom Finanzamt …

Franz Lorenz: … zumindest, um sich Ärger ersparen.

Anke Euschen: Genau das hat sich da sehr praktisch auch gezeigt. Herbert hat sich davon nicht steuern lassen.

Franz Lorenz: Aber er hat ja auch immer gegen diese Entmündigung angekämpft. Ist ja nicht so gewesen, dass er gesagt hat: „Na ja, ich lass das jetzt mal vorbeigehen“. Ich kann mich entsinnen, er hat dann wirklich auch immer juristisch argumentiert, weil er ja auch ein Jurastudium absolviert hatte. Und das fand ich zum Beispiel immer total faszinierend. Dafür gehe ich jetzt einfach mal mit den Ämtern in einen richtig klassischen juristischen Diskurs.

Anke Euschen: Genau das hat er gerne gemacht. Also eine seiner Lieblingsfragen war schon immer „wo steht das denn?“ Es gibt ja viele, viele scheinbare Normen, die sich einfach entwickelt haben – auch aus gesellschaftlicher Sicht, weil es uns so im Leben scheinbar vernünftig oder angenehmer erscheint. Aber auf diese einfachen Plausibilitäten hat er sich eigentlich nie eingelassen, sondern es gab immer die Frage „So, dann zeigen Sie mir mal, wo das steht.“ Und wenn ja, dann gucken wir mal genau hin, was das eigentlich heißen soll.

Franz Lorenz: War das eine Folge des situationsdynamischen Denkens, oder war es mehr oder weniger schon immer der Anstoß ganz anders auf Gruppenphänomene zu schauen? Ich kann mich erinnern, zumindest in einem der Interviews war er so, dass er gesagt hat, der Begriff der Situationsdynamik ist ihm auf der Rückreise vom gruppendynamischen Training in Österreich eingefallen, weil er das zu psychologisiert, aber auch zu minimiert für die Erfassung von situativer Komplexität erlebt hat.

Anke Euschen: Ja, was genau ist die Frage,

Franz Lorenz: Die Frage ist, wo wir gerade über diese Ämter und Strukturen reden, die von außen her so mehr oder weniger entfremdend, bestimmend auf uns einwirken. War dieser Impuls von den situationsdynamischen Überlegungen getrieben, oder war er vielmehr aus seinem inneren Widerstand gegen Fremdbestimmung erwachsen, denn er war ja auch jemand, der sehr emanzipatorisch war und Freiheit betont hat. Sein agogischer Ansatz fördern und fordern hat ja immer die Emanzipation und vor allem die Emanzipation von Autoritäten intendiert. Mir fällt so ein Spruch ein, der über seinem Arbeitszimmer hing: ‚Alles ist gleich-gültig‘, insofern, dass er Autorität relativiert hat. Diese Zweckentfremdung, diese Verzweckung oder dieses Fremdbestimmte ist etwas, was den Menschen in seiner Entwicklung hemmt.

Anke Euschen: Ja, genau. Das ist, glaube ich, der entscheidende Punkt. Man muss es vielleicht so sehen, er hat schon gesehen, dass dieses Zweckrationale in unserem Leben, das wir alle kennen, immer wieder auch auftaucht. Aber er hat es zugleich erlebt als ein Hinderungsgrund gegen das selbsttätige und auch gegen das emanzipierte Leben. Und hat sehr dagegen angekämpft. Und das hat er, glaube ich, schon sehr früh auch erlebt, vielleicht auch schon in seiner Kindheit, dass das dazu führt, wenn man sich diesen Routinen unterwirft die ganze Zeit, dass wir letzten Endes ein Leben – vielleicht kann man sagen – ein Leben ableben oder runter leben. Es ist dann zwar eine Zeit verflossen, aber es gab darin nicht wirklich das Leben, das wir bewusst selbst gelebt haben, sondern wir wurden gelebt.

Franz Lorenz: Er hat ja deshalb, so wie ich ihn immer verstanden habe, auch diese alternative Szene im Grunde genommen abgelehnt, weil er noch immer auch behauptet hat, auch die haben eine hohe Normativität.

Anke Euschen: Genau. Ja, ich glaube, das ist noch mal ein wichtiger Punkt. Also es war nicht ein Schulenstreit. Es war nicht die Frage zu sagen, was ist da jetzt besser? Entweder die alternativen Lebensformen oder eine besondere Form von Theorie oder Konzeption? Da hat Herbert immer gesagt, wenn man die Situationsdynamik als Konzept denkt, ist man eigentlich schon falsch, weil es nicht in dem Sinne ein Konzept ist, nach dem man sich richtet, sondern es ist eigentlich der umgekehrte Aspekt. Es ist eigentlich so, dass die die Situation oder dass das Leben immer einmalige Ereignisse sind, die dann vielleicht über eine Situationsdynamik gemeinsam angeschaut werden können oder beschrieben werden können.

Franz Lorenz: Aber er hat die Situationsdynamik selbst immer als Wirklichkeitstheorie beschrieben, als einen Ansatz in dem Sinne, dass es Wirklichkeitstheorie ist. Jetzt kommen wir auf die – wenn man so will – die Differenz zwischen Konzept und Theorie. Also so wie ich ihn immer verstanden habe, ist die Situationsdynamik wesentlich dadurch geprägt, dass eine reflexive Ebene eingezogen ist. Neben der Prozess- und Strukturebene, die man beobachten kann, war immer auch zentral, dass der Beobachter sich selbst zum Gegenstand der Situation machen kann.

Anke Euschen: Ja genau.

Franz Lorenz: Und damit, wenn man so will eine reflexive Ebene, dann auch immer noch mal von dort aus gucken konnte auf diese intentionale Dimension, die Sinn-Dimension, wenn man so will.

Anke Euschen: Genau er hat mir mal geschrieben in einer Mail, dass die Situationsdynamik die praxisorientierte Optimierung dessen ist, was vor allem Sollen tatsächlich passiert. Also es ist genau dieser Aspekt, bevor die Norm zum Tragen kommt, es ist vorne dran, davor, wenn man es jetzt mal kurz zeitlich betrachtet oder eigentlich strukturell-zeitlich, nicht zeitlichzeitlich betrachtet, dann ist davor die Situationsdynamik. Und in dem Moment, wo das Sollen da ist oder die Norm da ist, ist man eigentlich schon raus, ist man schon entfremdet. Und das ist ja das Phänomen der ganzen konzeptgesteuerten Lebensformen, dass die ja im Grunde da erst ansetzen. Sie beschreiben eine Form und dann ist es schon zu weit.

Franz Lorenz: Resultiert daraus die Ablehnung, ähnlich wie bei Foucault, der es immer abgelehnt hat, sich Strukturalist oder Poststrukturalist bezeichnen zu lassen, dass Herbert sich nie als Phänomenologe, als Strukturalist oder Poststrukturalist oder Systemtheoretiker verhaften ließ? Er hat immer, wenn man es in ein Bild fassen will, sich zwischen den Welten bewegt und auch bewusst damit changiert. Er hat immer gesagt, dieses comperantumtertium ist wichtig: Du musst zwei Dinge gegeneinander austarieren, um dann im Hegelschen Sinne eine Synthese zu finden, die, wenn man so will, ein Emergenzniveau darstellt.

Anke Euschen: Genau. Also weil natürlich immer das sich in einer dieser Welten zu bewegen immer auch schon den Horizont dessen einschränkt, was in der Situation wirklich ist oder wirksam ist. Und das hat ihn immer sehr geärgert. Auch in unserer Auseinandersetzung war das immer auch einer der Streitpunkte, weil er mich natürlich auch in der Art und Weise des Diskutierens da immer wieder sehr klar und manchmal auch wirklich gnadenlos in jeder Situation darauf hingewiesen hat. Nur wenn ich da, wenn ich zum Beispiel auch in gewissem Schulendenken unterwegs war, was ja im Alltag wahrscheinlich auch immer mal passiert. Aber ich glaube, es ging ihm nicht darum auszuschließen, dass das passiert, als immer diesen Bewusstseinsprozess miteinander zu haben. Das war auch das Wir-Projekt, sich nicht einfach einem Leben zu verschreiben, sondern kontinuierlich daran zu arbeiten und zu sagen, was ist denn die Situation für uns?

Franz Lorenz: Ja, jetzt – über sein Leben hinaus – haben wir einfach dieses Buchprojekt ins Leben gerufen und ich glaube, das ist jetzt eine gute Vorbereitung gewesen, als Beobachter in die Systemtheorie zu starten, indem man zunächst mal den Beobachter konstituiert, dann aber auch aus dem Alltag die Situation rekonstruiert, um dann einfach unter Bezugswissenschaften noch mal die einzelnen Felder Ich, Wir, Sache und Intentionalität näher zu beleuchten.

Anke Euschen: Genau, ich glaube das, das ist es. Und man sieht ja schon in dem, was du sagst, dass das eine unermessliche Vielfalt ist, die da drinsteckt. Und wenn man die alle ausreichend bedenken würde und miteinander bearbeiten würde, ist das wahrscheinlich ein Jahrhundertwerk.

Franz Lorenz: … zumindest eine Zumutung für die Leser.

Anke Euschen: Absolut. Auf der anderen Seite ist es glaube ich auch richtig, diesen Ansatz auch in dieser Vielfalt weiterzuverfolgen, denn die Situationsdynamik lässt sich nicht auf einen Übungskatalog reduzieren.

Franz Lorenz: Ich sehe es genauso. Das Instrumentelle und was sich daraus als mögliche Instrumentarien entwickeln lässt haben wir ganz bewusst überlegt, in der Publikationsreihe nach hinten zu setzen. Davor setzen wir ebenso bewusst die Auseinandersetzung mit eigener Haltung, eigener Sichtweise und eigener Perspektive mit der Absicht – ganz im Sinne Herberts – sich permanent durch Theorie irritieren zu lassen, z. B. durch die systemtheoretische … wie soll ich sagen … Reflexionsebene. Herbert hat sie gerne als metatheoretische Ebene genutzt und er hat sich wirklich im wahrsten Sinne des Wortes mit Luhmann auseinandergesetzt, als er in den 90er-Jahren eine, wenn auch nur kurze briefliche Auseinandersetzung mit ihm angezettelt hatte …

Anke Euschen: Genau … über die Situation.

Franz Lorenz: Ja, über die Situation. Insofern freuen wir uns auf das, was es jetzt zu lesen gibt.

Anke Euschen: Absolut.