Sitzstreik - Michael Leitzmann - E-Book

Sitzstreik E-Book

Michael Leitzmann

0,0

Beschreibung

Wir sitzen – im Auto, in der Arbeit und abends auf dem Sofa. Langes Sitzen aber begünstigt die Entstehung einer Vielzahl weitverbreiteter Erkrankungen – darunter Diabetes, Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Unterhaltsam erklären die beiden Ärzte Carmen Jochem und Michael Leitzmann, was beim Sitzen in und mit unserem Körper passiert und wie es sich auf die Entstehung von Krankheiten auswirkt. Dabei werden die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse anschaulich beschrieben. Ihr Buch liefert leicht umzusetzende Ideen und Lösungsansätze und zeigt, wie wir es schaffen können, im Alltag weniger zu sitzen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 227

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dr. med. Carmen Jochem und Prof. Dr. med. Michael Leitzmann

SITZSTREIK

Tipps und Tricks gegen die Risiken und Nebenwirkungen des Sitzens

Mit Illustrationen von Stefanie Traidl

Vermittelt durch Stefan Linde

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Chris Langohr Design

Umschlagmotiv: © fullvector/shutterstock

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN E-Book 978-3-451-81452-5

ISBN Print 978-3-451-60058-6

Inhalt

Vorwort

1 Wir sitzen – noch nicht lange, dafür umso mehr

Die Evolution des Homo sedens

Millionen Jahre in Bewegung

Was Sesshaft werden mit Sitzen zu tun hat

Über königliches Thronen und christliches Sitzen

Stuhl Nr. 14 geht in Massenproduktion

Von Stuhl zu Stuhl

Das sitzt! Das Wichtigste in Kürze: Die Evolution des Homo sedens

Gibt es eine Sitzkultur?

Sitzen muss gelernt werden

Über die Institutionalisierung des Sitzens

Warum Sitzen erster Klasse nicht unbedingt von Vorteil ist

Von Lehrstühlen, Richterstühlen und anderen berufsspezifischen Sitzen

Über Stuhlgang, Toilettensitze und Sitztoiletten

Sitzen im Sprachgebrauch

Sitzen in Kunst, Musik und Sport

Philosophie des Sitzens

Das sitzt! Das Wichtigste in Kürze: Gibt es eine Sitzkultur?

Wir sitzen … und sitzen … und sitzen

… und sitzen immer und überall

Ist Zeitunglesen schlecht für meine Gesundheit?

Über Sitzmesser und andere Gerätschaften, die das Sitzen messen

Was lässt uns sitzen?

Über die Gewohnheit zu sitzen

Wie viel Zeit wir mit Sitzen verbringen

Über Sitzen in Deutschland, Sidde in Dänemark und Sentarse in Spanien

Was Manager und Studenten gemeinsam haben? Und Über das Risiko eines Büroangestellten

Ist zu viel Sitzen nicht das gleiche wie zu wenig Bewegung?

Sitzempfehlungen

Das sitzt! Das Wichtigste in Kürze: Wir sitzen … und sitzen …

2 Was passiert beim Sitzen mit und in unserem Körper?

Diabetes mellitus: Über langes Sitzen und süßes Blut

Klingt paradox, aber Sitzen bedeutet nicht Schonung für Herz und Kreislauf

Sitzen macht Appetit, aber leider auch Übergewicht

Über sitzengelassene Knochen und Gelenke

Krebszellen mögen langes Sitzen

Sitzen entspannt – und macht depressiv und einsam

Die gesundheitlichen Auswirkungen des Sitzens im Alter

Wir sitzen uns zu Tode

Das sitzt! Das Wichtigste in Kürze: Was passiert beim Sitzen mit und in unserem Körper?

3 Wie wir wieder auf die Beine kommen

Ziele setzen gegen Dauersitzen

Warum die Ausrede Zeitmangel beim Sitzen nicht zählt

Wo man auch nicht unbedingt sitzen muss

Über Fortbewegung im Sitzen

Weg vom Sitzmarathon am Arbeitsplatz

Vom Fernstehen und von Büchern auf Notenständern

Familienaufstand! Was es heißt, den Kindern das Sitzen abzugewöhnen

Alteingesessen – von wegen!

Über bewegtes Sitzen oder Wie man richtig sitzt

Über die besten Stühle und andere technische Details zu Sitzmöbeln

Weniger sitzen – und mehr schwitzen!

Sitz-Snacks

Das sitzt! Das Wichtigste in Kürze: Wie wir wieder auf die Beine kommen

4 Wie Schule, Chef und Staat dazu beitragen können, dass wir wieder auf die Beine kommen

Still sitzen – muss das wirklich sein?

Warum der Chef im selben Boot sitzen sollte

Sitzen am Arbeitsplatz als Gesundheitsrisiko erkennen und darüber aufklären!

Sitzen im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung

Über Anti-Sitz-Software und andere Sitzmedien

Mehr Bewegungsraum im öffentlichen Bereich

Warum wir ein Umdenken in der Politik brauchen

Das sitzt! Das Wichtigste in Kürze: Wie Schule, Chef und Staat dazu beitragen können, dass wir wieder auf die Beine kommen

5 Das sollte sitzen! Eine kurze Zusammenfassung über das Sitzen, seine Risiken und Nebenwirkungen und was wir dagegen tun können

Alles was Sie sonst noch über das Sitzen wissen sollten

Aufstand gegen die Sitzkultur

Mit Verstand gegen den Homo sedens

Sitzen muss sitzenbleiben

Das sitzt! Das Wichtigste in Kürze: Tipps und Tricks gegen die Risiken und Nebenwirkungen des Sitzens

Nachwort

Danke

Quellenangaben

Vorwort

Wir sitzen – im Auto, in der Arbeit, auf dem Sofa. Spätestens mit dem Schuleintritt lernen wir stundenlang ruhig zu sitzen. Im Erwachsenenalter gehört das tagtägliche Sitzen für die meisten von uns zum Alltag. Na und?, denken Sie, Sitzen ist doch bequem. Leider versteckt sich dahinter eine unbequeme Wahrheit: Sitzen kann nämlich krank machen! In den letzten Jahren haben Wissenschaftler weltweit herausgefunden, dass langes Sitzen die Entstehung einer Vielzahl von weit verbreiteten Krankheiten – darunter Diabetes, Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen – begünstigt. Aber auch Depression und Übergewicht gehören zu den Nebenwirkungen des langen Sitzens. Darüber hinaus steigt durch langandauerndes Sitzen das Risiko, vorzeitig zu versterben. Wir sitzen also auf einer tickenden Zeitbombe! Grund genug, um schleunigst aktiv zu werden und wieder auf die Beine zu kommen. Und genau das ist das Ziel dieses Buches.

Aus unserer langjährigen Erfahrung im Forschungsbereich der körperlichen Aktivität wissen wir, dass sich Bewegung in vielerlei Hinsicht förderlich auf unsere Gesundheit auswirkt. Was tun wir aber in den vielen Momenten oder gar Stunden, in denen wir uns nicht bewegen? Richtig, wir liegen, sitzen oder stehen. Liegen findet dabei häufig im Schlaf statt und trägt damit wesentlich zur Erholung von Körper und Geist bei. Mit Stehen wiederum verbringen die meisten von uns deutlich weniger Zeit als mit Sitzen.

Wir verbringen also einen Großteil unserer täglichen Wachzeit in einer sitzenden Position – wenn auch mit ganz unterschiedlichen Aktivitäten dabei – und gefährden damit unsere Gesundheit. Als relativ neu erkanntes, aber allgegenwärtiges Gesundheitsrisiko verdient das Sitzen daher eine etwas genauere Betrachtung. Aber nun noch einmal der Reihe nach…

Zunächst einmal möchten wir die Selbstverständlichkeit des allgegenwärtigen Sitzens hinterfragen und Sie dafür auf eine kurze Reise in die Entwicklungsgeschichte des Menschen mitnehmen. Hat der Mensch im Laufe der Entwicklung vom Menschenaffen zum modernen Menschen nicht eigentlich die Fähigkeit zum Stehen und Gehen erworben, nicht zum Sitzen? Darstellungen der menschlichen Evolution zeigen stets, wie wir Menschen uns aufrichteten und vom Affen auf allen Vieren zu dem wurden, als was man uns jetzt bezeichnet: den Homo sapiens. Was hat also dazu geführt, dass wir zu einer so sesshaften Spezies geworden sind? Und seit wann sitzen wir überhaupt?

Nach unserem kurzen Ausflug in die Vergangenheit betrachten wir einige soziokulturelle Aspekte des Sitzens. Was ist der Wendepunkt im Leben eines jeden Menschen, an dem er aufhört, voller Energie durch die Welt zu springen, und sich dem gesellschaftlich erwünschten Stillsitzen fügt? Auch möchten wir Ihnen zeigen, dass das Sitzen in vielen kulturellen Bereichen ein großes Thema darstellt. Es wird Sie überraschen, wie häufig wir mit dem Sitzen in Sprache, Musik, Kunst und Sport konfrontiert werden.

Schließlich stellt sich natürlich die Frage, ob das Sitzen in unser aller Leben tatsächlich eine so große Rolle einnimmt. Wie viel Zeit verbringen wir denn eigentlich mit sitzenden Tätigkeiten? Und was genau sind überhaupt sitzende Tätigkeiten? Und warum betrifft dieses Thema eine ganze Bandbreite an Menschen unterschiedlichster Alters- und Berufsgruppen? Wir möchten Ihnen daher einen Einblick in die Häufigkeit von sitzenden Tätigkeiten und die große Verbreitung davon in unserer Gesellschaft vermitteln.

Nun möchte man vielleicht meinen, dass das viele Sitzen an sich ja kein besonders bedeutungsvolles Problem darstellt. Vielleicht bringen wir den einen oder anderen Anfall von Rückenschmerzen mit einem langen Arbeitstag im Sitzen in Verbindung – aber sonst? Da wir sozusagen an der Quelle sitzen, was den wissenschaftlichen Fortschritt und die neuesten Forschungsergebnisse aus diesem Bereich anbelangt, möchten wir Ihnen auf leicht verständliche und anschauliche Art und Weise erklären, dass beim Sitzen so einiges in unserem Körper passiert und wie sich langes Sitzen auf die Entstehung einer Vielzahl an Erkrankungen auswirkt.

Was fangen wir aber damit an, wenn wir erkannt haben, dass langandauerndes und ununterbrochenes Sitzen unsere Gesundheit gefährdet? Wenn wir uns also bewusst geworden sind, dass wir auf einer tickenden Zeitbombe sitzen – wie können wir uns und unsere Gesundheit so schnell wie möglich in Sicherheit bringen? Dazu liefern wir Ihnen in diesem Buch leicht umzusetzende Ideen und Lösungsansätze, die Ihnen in den unterschiedlichsten alltäglichen Situationen dabei helfen können, weniger zu sitzen, längere Sitzphasen häufiger zu unterbrechen und mehr in Bewegung zu sein.

Zu guter Letzt möchten wir noch auf den Einfluss eingehen, den unser Umfeld auf unser Sitzverhalten haben kann, welche Rolle die Institution Schule, aber auch das Arbeitsumfeld, die Medien und die Politik dabei spielen und vor allem, wie unser Umfeld dazu beitragen kann, dass wir weniger sitzen und wieder aktiver werden.

Bevor wir Ihnen nun eine aufschlussreiche Lektüre über die „Zeitbombe Sitzen“ wünschen, möchten wir noch auf folgende zwei Punkte hinweisen, für die wir uns aus Gründen der Lesbarkeit entschlossen haben. Zum einen haben wir darauf verzichtet, Quellenangaben im Text anzugeben. Eine vollständige Literaturliste finden Sie im Anhang dieses Buches. Zum anderen haben wir uns dazu entschieden, dass im gesamten Text nur die männliche Form verwendet wird, Frauen aber selbstverständlich mit inbegriffen sind.

Und nun wünschen wir (auch hier ist sowohl ein weiblicher als auch ein männlicher Part mit inbegriffen) Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, viel Vergnügen mit der Lektüre von „Sitzstreik: Tipps und Tricks gegen die Risiken und Nebenwirkungen des Sitzens“.

    1    Wir sitzen – noch nicht lange, dafür umso mehr

Sitzen gefährdet unsere Gesundheit. Zu den Nebenwirkungen des langen Sitzens zählen neben Krebserkrankungen und Depression eine Vielzahl an weiteren häufigen Erkrankungen. Wollen wir uns auf diese Risiken und Nebenwirkungen einlassen – indem wir ständig und überall Platz nehmen? Um zu verstehen, wie und warum Sitzen unsere Gesundheit gefährdet und wie wir auf einfache Art und Weise im Alltag wieder aktiver werden können, möchten wir Sie nun bitten, uns auf eine kurze Reise in die Entwicklungsgeschichte des Menschen zu folgen und dabei Lucy kennenzulernen.

Die Evolution des Homo sedens

Wir möchten Sie daher auffordern, die nachfolgenden Kapitel unter Zuhilfenahme Ihrer Vernunftbegabung zu lesen. Dabei werden Sie feststellen, dass uns diese Eigenschaft schon sehr lange zugeschrieben wird. Das übermäßige Sitzen hingegen ist in unserer Geschichte als Homo sapiens erst seit relativ kurzer Zeit präsent und nimmt dafür vergleichsweise viel Zeit und Raum in Anspruch. Wenn wir daran nichts ändern, wird man uns daher möglicherweise bald eher als sitzenden Menschen oder Homo sedens bezeichnen.

Millionen Jahre in Bewegung

Vor mehr als drei Millionen Jahren spazierte im heutigen Äthiopien eine frühe Vertreterin der Menschenaffen aufrecht durch die Welt. Sie hieß Lucy und gilt als das bekannteste Fossil von Australopithecus afarensis (eine Art der ausgestorbenen Gattung Australopithecus). Die Namensgebung beruht übrigens auf dem bei der Ausgrabung vom Tonband ablaufenden Song der Beatles „Lucy in the sky with diamonds“. Was man von Lucy weiß, ist nicht viel. Sie war etwa 1,05 Meter groß, wog 27 Kilo und starb als junge Erwachsene. Sie konnte sich auf zwei Beinen fortbewegen – auch wenn ihre Beine im Vergleich zu den Armen noch verhältnismäßig kurz waren. Wir können aber davon ausgehen, dass Lucy die meiste Zeit in Bewegung war. Sie musste sich schließlich ihre Nahrung besorgen und konnte dafür nicht mit dem Auto bis direkt vor den Supermarkt fahren – ganz zu schweigen von einem Heimlieferservice, der ihr die frischen Bio-Beeren direkt in die Höhle geliefert hätte. Nicht einmal das regelmäßige Entleeren von Blase und Darm erledigte sie im Sitzen. Und auch wenn es überraschen mag, selbst drei Millionen Jahre später verrichten bei Weitem nicht alle Menschen ihr Geschäft im Sitzen (auch wenn dieser Gedanke dem überzeugten Comics-auf-dem-Klo-Leser kaum nachvollziehbar erscheint), sondern im Hocken – mehr dazu später.

Einige Zeit nach Lucys Ableben, also vor rund 2,5 Millionen Jahren, trat eine neue Gattung in Erscheinung: der Homo. Die Angehörigen der Gattung Homo unterscheiden sich von der Gattung Australopithecus, der Lucy angehörte, unter anderem durch eine Zunahme von Körper- und Gehirngröße, längere Beine und kürzere Arme. Die beiden ältesten Homo-Arten sind der Homo rudolfensis und der Homo habilis. Danach, vor etwa zwei Millionen Jahren, entwickelten sich der Homo ergaster und der Homo erectus. Über verschiedene Wege, die hier nicht weiter ausgeführt werden sollen, entstanden aus dem Homo erectus der Neandertaler (Homo neanderthalensis) und der Homo sapiens – der moderne Mensch. Auch wenn die zeitlichen Dimensionen im Vergleich zu Lucys Existenz überschaubarer sind, so sind auch die ältesten derzeit bekannten Funde immerhin über 150000 Jahre alt. Zu den wichtigsten Merkmalen der Gattung Homo und damit auch des Homo sapiens gehört unter anderem der aufrechte Gang auf zwei Beinen (Bipedie), der uns das Stehen, aber auch die Fortbewegung im Gehen oder Laufen ermöglicht. Zwar konnte auch Lucy bereits aufrecht gehen, das Laufen oder Rennen in ausgereifter Form war jedoch erst der Gattung Homo möglich.

Damit waren unsere Vorfahren perfekt dafür ausgerüstet, ihrem Jäger- und Sammlertum zu frönen. Sie hatten eine starke Gesäßmuskulatur und lange Beine mit relativ kurzen Füßen und Zehen, die es ihnen ermöglichten, weite Strecken per pedes zurückzulegen. Dass das anstrengend war, kann man sich gut vorstellen. Und dass jeder Jäger, Sammler oder Nomade sich auch einmal ausruhen wollte, ist ebenso klar wie die Tatsache, dass keiner von ihnen einen Klappstuhl dabei hatte, um sich bei Gelegenheit darauf niederzulassen. Was taten sie also? Vermutlich das Gleiche, was auch wir tun würden, wenn nach einem langen Marsch weit und breit keine Bank in Sicht ist und wir unseren Campingstuhl dummerweise nicht in den Rucksack gepackt haben. Sie hockten, kauerten oder legten sich einfach hin.

Was Sesshaft werden mit Sitzen zu tun hat

Wie ging es nun weiter mit den Jägern und Sammlern, die sich zum Ausruhen hinhockten? Es kam die Zeit, in der sie begannen, sesshaft zu werden.

Was Sesshaft-Werden mit Sitzen zu tun hat? Nun ja, das Sesshaft-Werden ist gewissermaßen der Ursprung des Sitzens. Zumindest hierzulande haben die Menschen angefangen, sich – in zweierlei Hinsicht – niederzulassen. Zum einen gingen sie zu einer ortsgebundenen Landwirtschaft über und blieben in Form von Siedlungen am selben Ort: sie besetzten sozusagen ein Stück Land, um sich dort häuslich niederzulassen. Zum anderen ermöglichte diese Sesshaftigkeit die Entwicklung und Etablierung von ersten Sitzgeräten.

Dennoch, wie kommt es, dass wir uns, nachdem wir uns über Millionen von Jahren zu einem Homo erectus entwickelt haben, der die Hände vom Boden genommen hat, die Hüfte gestreckt hat, um auf beiden Beinen in aufrechtem Gang zu laufen, innerhalb kürzester Zeit zu einem überall und fast dauerhaft sitzenden Wesen entwickelt haben?

Über königliches Thronen und christliches Sitzen

Während wir uns ein Leben in einer Umwelt, in der sich nicht an jeder Ecke Sitzgelegenheiten finden, heutzutage nur schwer vorstellen können, war dies noch vor einigen tausend Jahren durchaus die Realität. So war das Sitzen nur einigen wenigen und besonders mächtigen Personen wie beispielsweise Königen oder Priestern vorbehalten. Der königliche Thron stellt damit einen besonders edlen Vorfahren des Stuhls dar.

Im Christentum war das Sitzen auf Stühlen zuerst nur den Kirchenältesten erlaubt. Schließlich erhielten auch die Priester Sitze, und die Erfindung des Chorgestühls ermöglichte es den Priestern schon in frühchristlicher Zeit, während der Liturgie auch einmal Platz zu nehmen. Der Gemeinde war das Sitzen während des Gottesdienstes jedoch noch lange Zeit vorenthalten – sie wohnte dem Gottesdienst entweder kniend oder stehend bei.

Im Laufe der Zeit und mit wachsendem Reichtum wurden schließlich auch Sitze für Nichtgeistliche in der Kirche aufgestellt. Diese waren jedoch zunächst den angesehenen Vertretern des Bürgertums vorbehalten. Erst während der Reformation, also vor rund 500 Jahren, forderte die protestantische Gemeinde die Bestuhlung der Kirchen. Die katholische Gemeinde ließ sich damit noch etwas mehr Zeit.

Die Hockprobe – ein Selbstversuch:

Stellen Sie Ihre Füße mit etwas Abstand zueinander fest auf den Boden. Nun beugen Sie die Knie und bringen Sie Ihr Gesäß nach unten – und zwar so weit es geht. Die Fußsohlen bleiben allerdings auf dem Boden. Verweilen Sie ruhig eine Weile in der sogenannten Tiefen Hocke…

Geschafft? Dann können Sie sich nun einer der folgenden Gruppen zuordnen:

Gruppe 1) Ich bin weit davon entfernt, überhaupt in die Hocke zu kommen;

Gruppe 2) In die Tiefe Hocke komme ich schon – aber meine Fersen wollen einfach nicht am Boden bleiben;

Gruppe 3) Ich komme in die Tiefe Hocke, finde es allerdings höchst ungemütlich;

Gruppe 4) Ich kann mich in der Tiefen Hocke absolut entspannen.

Sie sind sicher nicht alleine, wenn Sie diese als „Tiefe Hocke“ bezeichnete Haltung nicht unbedingt als erholsam empfinden. Hierzulande ist Hocken (mit beiden Füßen am Boden) den meisten Menschen heutzutage nicht mehr möglich. Hierzulande, weil in vielen Teilen dieser Welt ein Großteil der Bevölkerung sehr wohl hocken kann. Und nicht mehr, weil es uns im Kindesalter durchaus möglich ist, zu hocken, und zwar sogar über einen längeren Zeitraum. Interessanterweise nehmen wir die Hockhaltung beim Kind auch durchaus als normal wahr. Umgekehrt verhält es sich, wenn man sich als Erwachsener beispielsweise am Bahnsteig oder im Wartesaal einfach hinhockt. Oder wie würden Sie reagieren, wenn Sie den Büronachbarn am Boden oder auf dem Schreibtischstuhl hockend vor seinem Laptop vorfinden würden?

Stuhl Nr. 14 geht in Massenproduktion

Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts (also vor rund 200 Jahren) galten Stühle als Luxusobjekte, die in aufwendiger Handarbeit und häufig aus edlen Materialien gefertigt wurden und somit nur für einen kleinen Teil der Gesellschaft überhaupt erschwinglich waren.

Bis Michael Thonet in den 1850er-Jahren mit der Herstellung des Stuhls Nr. 14 die Stuhlbauweise revolutionierte. Der 1796 in Boppard am Rhein geborene Tischlermeister folgte der Einladung von Fürst Metternich nach Wien und entwickelte mithilfe einer neuartigen Technik, dem Biegen von Massivholz, die sogenannten Bugholz-Möbel. Diese Möbel konnten in Serienfertigung und damit sehr preiswert produziert werden und wurden im Baukastenprinzip weltweit verkauft. Im Jahr 1859 entstand der berühmte und als „Wiener Kaffeehausstuhl“ bekannte „Stuhl Nr. 14“, der allein bis 1930 über 50 Millionen Mal verkauft wurde. Damit trug Michael Thonet wesentlich zum Übergang vom Handwerk zur industriellen Massenproduktion bei und machte den Stuhl dabei zum Massenprodukt, der leicht, elastisch, robust und vor allem erschwinglich war.

Von Stuhl zu Stuhl

Eine weitere praktische Erfindung, die es uns ermöglicht, schnell und bequem von einem Stuhl, sagen wir dem Bürostuhl, zu einem anderen Stuhl, nehmen wir das heimische Sofa, zu kommen, ist – Sie ahnen es schon – ein weit verbreiteter, gern genutzter, motorisierter, bewegter Stuhl. Dieser kommt meist in Form eines Autos daher. Bus oder Bahn beherbergen eine ganze Reihe bewegter Stühle. Wir müssen also meist nur die häufig recht kurze Wegstrecke von unserem Bürostuhl bis zum motorisierten Stuhl überwinden – vielleicht kommt uns dabei ein Fahrstuhl oder eine Rolltreppe zugute. Denn wir möchten uns möglichst schnell wieder setzen, um dann sitzend in höchster Form mobil sein zu können. Oder anders gesagt: Es besteht keinerlei Gefahr, zwischen den Stühlen sitzen zu müssen, denn dafür haben wir ja unseren mobilen Stuhl.

Eine Fortbewegung, die stattfinden kann, ohne dass wir uns dabei selbst vom Platz bzw. vom Stuhl bewegen müssen, ist in unserer modernen Gesellschaft kaum mehr wegzudenken. Wir legen mit Auto, Bus und Bahn tagtäglich viele Kilometer zurück, ohne uns dabei anstrengen zu müssen. Mit dem Flugzeug bringen wir tausende von Kilometern in kurzer Zeit hinter uns, ohne dabei auch nur einmal aufstehen zu müssen. Die Möglichkeiten der Fortbewegung sind also so weit fortgeschritten, dass wir sie vielmehr als Möglichkeiten des Fortsitzens – um nicht zu sagen Festsitzens – bezeichnen müssten.

Das sitzt! Das Wichtigste in Kürze: Die Evolution des Homo sedens

Im Laufe der Evolution hat sich der Mensch zum Homo erectus aufgerichtet und verbrachte als Jäger und Sammler einen Großteil des Tages in Bewegung.Im Zuge des Sesshaft-Werdens besetzten die Menschen Land und erschufen erste Sitzgeräte.Vor wenigen hundert Jahren war das Sitzen auf Stühlen noch einzelnen und besonders mächtigen Personen vorbehalten.Erst Mitte des 20. Jahrhunderts wurde der Stuhl zum Massenprodukt, das für jedermann erschwinglich wurde.Transportmittel wie Auto, Bahn und Bus tragen dazu bei, dass wir uns auch sitzend fortbewegen können. Die Industrialisierung sowie technische Fortschritte haben dazu beigetragen, dass der Mensch immer mehr Zeit im Sitzen verbringt und damit zum Homo sedens wird.

Gibt es eine Sitzkultur?

Dass es in der Evolution des Homo sedens mit der Sesshaftwerdung und der schrittweisen Verbreitung des Stuhlsitzens in sämtliche Gesellschaftsschichten einige kritische Punkte gab, die das übermäßige Sitzen förderten, ist die eine Sache. Die andere aber ist die Kultur des Sitzens. In unserer Gesellschaft spielt das Sitzen eine zentrale Rolle und muss mühevoll erlernt werden. Dabei hat sich das Sitzen wiederum in unserem Alltag ebenso wie in unserem Sprachgebrauch schon ziemlich festgesetzt.

Sitzen muss gelernt werden

Dass man die Ursprünge des Sitzens neben den evolutionären Aspekten auch aus einer ganz anderen Perspektive betrachten kann, fällt bei der Beobachtung von Kindern auf.

Vermutlich kommt einigen Eltern folgende Situation bekannt vor: Man gibt sich bei der Zubereitung des Essens Mühe, deckt den Tisch und freut sich auf eine gemeinsame Mahlzeit. Während man das Essen verteilt, rutschen die Kinder aber bereits ungeduldig auf ihren Stühlen herum, sodass einem der Satz „Könnt ihr euch bitte ruhig hinsetzen!“ schnell herausrutscht. Ist das Essen in vollem Gange und wechselt der Sprössling seine Position bereits zum fünften Mal von Auf-dem-Stuhl-Hocken zu Ein-Bein-Anziehen-und-auf-dem-anderen-Bein-Knien, entwischt einem vielleicht ein „Setz dich doch mal bitte ordentlich hin!“. Wenn der kindliche Appetit dann abklingt und das Kind am liebsten wieder spielen möchte, kommt es schon einmal vor, dass die letzten Happen im Stehen verdrückt werden – was von Seiten der Eltern hin und wieder mit einem „Wir essen aber im Sitzen!“ kommentiert wird. Na dann, Prost Mahlzeit! Auch im Restaurant passiert es ab und an, dass die Familie am Nachbartisch einen etwas angespannten Eindruck macht: die Eltern, weil sie ihre Kinder ständig zum Stillsitzen und Sitzenbleiben auffordern, und die Kinder, weil sie eben genau das nicht wollen.

Wer von Ihnen Kindergartenkinder in der Familie oder im Freundeskreis hat, der wird bestätigen können, dass zwei- bis sechsjährige Energiebündel die meiste Zeit des Tages mit Laufen, Rennen, Hüpfen, Klettern, Kriechen, Krabbeln und Turnen verbringen – das ganze wahlweise und je nach Wetter entweder drinnen oder draußen. Und das tun sie mit Sicherheit nicht, weil es ihnen an Sitzgelegenheiten mangelt. Werfen Sie doch einmal einen Blick in die eigenen vier Wände und zählen Sie alle möglichen Sitzplätze. Sie werden erstaunt darüber sein, wie viele Sitzmöglichkeiten sich Ihnen (selbst unter Vernachlässigung von Kloschüsseln und Gartenmöbeln) im privaten Umfeld bieten.

Warum sind also die meisten der kleinen Springinsfelde (noch) keine Stubenhocker? Der springende Punkt ist: Sie sind Kita- oder Kindergartenkinder. Das bedeutet, sie dürfen die meiste Zeit des Tages mit Spielen, Laufen, Klettern, Turnen, Hüpfen usw. verbringen – noch! Denn ab dem Alter von etwa sechs Jahren endet das Vergnügen abrupt – mit dem Schuleintritt. Die Schulpflicht alias Stuhlpflicht ruft, und spätestens dann heißt es: Stillgesessen!

Über die Institutionalisierung des Sitzens

Was in der Schule noch vor dem Erlernen von Lesen und Schreiben eingeübt wird, ist das Sitzen. Erstaunlich eigentlich, dass man den Satz „Ich gehe in die Schule, um sitzen zu lernen“ nicht gerade häufig zu hören bekommt.

Immanuel Kant (deutscher Philosoph, 1724–1804) stellte in einer Abhandlung über die Pädagogik folgendes fest: „Wildheit ist die Unabhängigkeit von Gesetzen. Disciplin unterwirft den Menschen den Gesetzen der Menschheit, und fängt an, ihn den Zwang der Gesetze fühlen zu lassen. Dieses muß aber frühe geschehen. So schickt man z.E. Kinder Anfangs in die Schule, nicht schon in der Absicht, damit sie dort etwas lernen sollen, sondern damit sie sich daran gewöhnen mögen, still zu sitzen, und pünktlich das zu beobachten, was ihnen vorgeschrieben wird, damit sie nicht in Zukunft, jeden ihrer Einfälle würklich auch und augenblicklich in Ausübung bringen mögen.“ (Über die Pädagogik, 1803). Man soll sich also schon in möglichst jungen Jahren daran gewöhnen, stillzusitzen und brav zu sein, um ja nicht auf dumme Gedanken zu kommen.

So gilt die Schule schon seit geraumer Zeit als die gesellschaftliche Einrichtung, die den Menschen das Sitzen lehrt. Das Schulwesen fungiert sozusagen als Stuhlwesen. Je nach Bundesland haben Kinder in Deutschland eine sogenannte Vollzeitschulpflicht von neun oder zehn Jahren, was bedeutet, dass alle Kinder während dieser Zeit die Schulbank drücken müssen. Jugendliche haben mit dem Ende der Schulpflicht das tägliche Sitzen als eine der Grundfähigkeiten für das Überleben in (und auch außerhalb) der Schule und als normale Arbeitsposition verinnerlicht. So sind Schulabgänger bereits bestens auf die sitzende Lebensweise vorbereitet. Möglicherweise ist das institutionalisierte Sitzen, also das Sitzen als gesellschaftlich anerkannte und verbreitete Haltung innerhalb und auch außerhalb von Einrichtungen wie beispielsweise Schulen, die Erklärung dafür, weshalb Sitzen für die allermeisten von uns so normal zu sein scheint. Wir alle haben für mehrere Jahre die Schulbank gedrückt, und wir alle hatten Sitznachbarn in der Schule. Die meisten von uns wurden mal umgesetzt und der ein oder andere kam sogar einmal in den ganz besonderen Genuss des Nachsitzens. Den Sitzenbleibern wurde sogar ein weiteres Jahr Stillsitzen gewährt. Es wird also größter Wert darauf gelegt, dass das Sitzen sorgfältig eingeübt wird und aus jedem Kind ein möglichst diszipliniertes Stuhlwesen wird.

nachsitzen

unregelmäßiges Verb

Worttrennung:

nach|sit|zen

Betonung:

nachsitzen

Bedeutung:

zur Strafe außerhalb des Unterrichts noch in der Schule bleiben

Die wenigsten Eltern werden beim ersten Elternabend in der Grundschule ihrer Kinder hinterfragen, warum das Klassenzimmer mit Tischen und Stühlen ausgestattet ist. Dass es in einem Hörsaal oder einem Konferenzraum Sitzgelegenheiten gibt, stellt man in der Regel nicht in Frage. Und wenn man einen neuen Büroarbeitsplatz zugewiesen bekommt, wäre die Reaktion vermutlich etwas verhalten, wenn kein Stuhl am Schreibtisch stünde, ebenso wie ein Fußballstadion ohne Sitzplätze die meisten Zuschauer wohl eher überraschen würde.

Warum Sitzen erster Klasse nicht unbedingt von Vorteil ist

Haben wir das Sitzen einmal erlernt, merken wir, dass das Sitzen in unserer Gesellschaft in zweierlei Hinsicht mit einer sozialen Ordnung verbunden ist. Der erste Aspekt ist offensichtlich. So ist es Ihnen vielleicht auch schon einmal passiert, dass Sie in einen überfüllten Zug eingestiegen und auf der Suche nach einem freien Sitzplatz zu einem vermeintlich freien Abteil gelaufen sind, um dann direkt davor festzustellen, dass das Abteil für Reisende der ersten Klasse vorgesehen ist. Pech gehabt. Ebenso wird sich vermutlich jeder Economy-Class-Passagier im Flugzeug schon einmal nach der Beinfreiheit der Passagiere in der Business Class gesehnt haben. Aber auch Massagesessel in Kinos und komfortable Sitzgelegenheiten in Wartezimmern für Privatpatienten sind Beispiele, die zeigen, dass es Sitzen erster und zweiter Klasse gibt.

Dass Sitzen erster Klasse in aller Regel teurer ist als Sitzen zweiter Klasse, ist nachvollziehbar. Schließlich haben Beinfreiheit, breitere und dicker gepolsterte Sessel in einer ruhigeren Umgebung einen gewissen Mehrwert. Dagegen kann man kaum etwas einwenden. Aber, und Sie werden es schon ahnen, teuer und bequemer sitzen schützt leider nicht vor den negativen Auswirkungen des Sitzens auf die Ge