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Freunde und Feinde Auf der Flucht vor Verbrechern gelangt die vierzehnjährige Ronja in ein abgelegenes Internat im Nordwesten Schwedens. Schon bald hat sie dort neue Freunde - aber auch Feinde, die ihr nach dem Leben trachten. Denn ohne es zu wissen, hütet sie ein Geheimnis ...
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Seitenzahl: 483
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Mit Liebe geschrieben für
Alice
Barney
Ronja
Bilbo
Maja
Naima
Xylanda
Wasja
Alina
Robin
und ganz besonders meine Frau Ulrika, die jahrelang sehr viel Geduld mit mir hatte.
Prolog
Die Neue
Der erste Schultag
Erste Duftmarken
Klarheiten
Alte Zeiten
Eine geheimnisvolle Region
Turbulenzen
Eifersucht
Freunde
Alinas Beobachtung
Yngforsʼ Tagebuch
Nächtlicher Besuch
Nordische Wesen
Das geheime Treffen
Das Frühlingsfest
Alinas neue Kleider
Eiseskälte
Besondere Erlebnisse
Der Unfall
Das Tribunal
Der Wettlauf gegen die Finsternis
Konsequenzen
Hinweis und Literaturverzeichnis
Es war einmal eine Zeit, in der der Mensch noch eins war mit der Natur. Er ernährte sich von dem, was ihm die Erde gab und baute seine Behausung aus natürlichen Materialien. Durch Versuch und Irrtum fand er heraus, was ihm guttut und was ihm schadet, und so tüftelte er immer weiter daran, sich sein karges und beschwerliches Leben auf die eine oder andere Weise zu erleichtern.
Das Dasein war geprägt von Not und vom Kampf ums Überleben, und vor allem fernab größerer Siedlungen war man von fortschrittlichen Errungenschaften weitestgehend abgeschnitten und auf sich allein gestellt. Immer wieder gab es Ereignisse, die man sich mit dem Wissen der damaligen Zeit nicht erklären konnte, und nach und nach entwickelten sich aus Unwissenheit und Vorstellungskraft Glaube und Aberglaube.
Besonders ausgeprägt geschah das dort, wo man glücklichen und unglücklichen Geschehnissen mehr oder weniger machtlos ausgesetzt war. Man suchte nach Erklärungen für das, was einem widerfuhr, und die Phantasie half dabei. So kamen die Menschen zu der Überzeugung, dass geheimnisvolle Wesen mitverantwortlich seien für Glück und Unglück, für Freud und Leid. Überall auf der Welt und gerade auch in den einsamen Weiten Skandinaviens entwickelte sich eine vielfältige Mythologie um unterschiedliche Wesen, die das Leben günstig oder ungünstig beeinflussen.
Je entlegener und einsamer eine Region war, desto größer und nachhaltiger zeigte sich der Einfluss solcher Vorstellungen auf das Denken und Handeln. So ist im hohen Norden bis heute bei vielen der Glaube an Sjörå, Skogsrå, Tomte, Troll und andere mystische Wesen, die für die Menschen in früheren Zeiten ganz selbstverständlich zum täglichen Leben dazugehörten, ungebrochen.
Wie zahlreiche etablierte Volkskundler wissen besonders die Alten über diese Wesen sowie ihre Gewohnheiten und Bräuche manche Geschichte zu erzählen. Viele von ihnen sind wahr – vielleicht ja auch die über den Unheilvollen Wald und Rufus Anderssons Schule am Ende der Welt ...
Für ihn war es eigentlich ein ganz normaler Auftrag: Er fährt zum Bahnhof und holt jemanden ab. Normalerweise machte Ben Karlsson, Gärtner und Chauffeur in Rufus Anderssons Internat, das gern, aber dieses Mal war es keine angenehme Aufgabe. Denn obwohl er sich alle Mühe gab, nett und freundlich zu sein, saß sein Passagier muffig auf der Rückbank und redete die ganze Zeit über nicht ein Wort mit ihm. Trotzdem wagte er immer wieder einen zaghaften Versuch: »Alles in Ordnung?«
Keine Antwort.
Im Rückspiegel traf sich sein Blick mit dem seines Fahrgasts, und die Botschaft war eindeutig: »Halte die Klappe und fahr!«
Ernüchtert sah er wieder nach vorn auf die schmale Schotterpiste und bemühte sich, wenigstens den größten Schlaglöchern auszuweichen.
Sie ist richtig hübsch, fand er und guckte erneut in den Spiegel. Ein bildhübsches Mädchen. »Ronja ist ein schöner und ungewöhnlicher Name. Ich habe noch nie eine Frau kennengelernt, die Ronja heißt.«
Die junge Dame auf der Rückbank zog die Augenbrauen hoch, drehte sich ab und schaute gelangweilt aus dem Fenster. Sie war eine sehr harte Nuss. Das spürte er bereits auf dem Bahnsteig – dieses Mädchen hatte eine Art, die selbst einem Hünen wie ihm Respekt einflößt.
»Du redest nicht gern.«
Sie antwortete nicht.
Er gab erst einmal auf, machte nach einer Weile jedoch einen neuen Anlauf: »Wir sind gleich da, nur noch ein paar Minuten. Siehst du?«
In einiger Entfernung vor ihnen tauchte ein imposantes Bauwerk auf, welches mit seinen hohen Mauern und Türmen aussah wie eine Festung, nicht wie eine Schule.
»Dort ist es. Ich weiß, die hiesige Einöde wirkt etwas gewöhnungsbedürftig. Aber es ist wunderschön hier, ich möchte an keinem Ort der Welt lieber leben.«
Keine Reaktion.
»Von hier aus kannst du das noch nicht sehen: Die Schule liegt auf einer Insel, vom Festland getrennt durch eine Zugbrücke. Wird die hochgezogen, kommt keiner mehr rein.«
»... und keiner mehr raus«, grummelte die junge Dame auf der Rückbank. Es waren nach einer Dreiviertelstunde ihre ersten Worte.
Wenig später fuhren sie über die Brücke auf das Schulgelände. Das uralte Gemäuer umrahmte einen Hof, der liebevoll gestaltet war mit Obstbäumen, Blumenbeeten und gemütlichen Sitzgruppen. In der Mitte blubberte ein Springbrunnen, und überall tummelten sich Mädchen und Jungen, denn es war gerade Unterrichtspause.
Zum Eingang des Hauptgebäudes führten zwei aufeinander zulaufende Steintreppen. Auf die deutete Ben und erklärte: »Im fünften Obergeschoss befindet sich das Büro des Schulleiters. Ich bringe dich zu ihm, und während ihr euch kennenlernt, versorge ich dein Gepäck. Einverstanden?«
Sie antwortete nicht – was konnte sie an dieser Planung schon ändern. Stattdessen wartete sie, bis Ben vor einer der Treppen anhielt und ihr von außen die Tür öffnete. Sie stieg aus und erregte sofort großes Aufsehen. Innerhalb weniger Sekunden versammelten sich unzählige Schülerinnen und Schüler um das Auto und starrten sie neugierig an.
Ronja Beck war ein bildschönes Mädchen. Ihre blonde Mähne wehte sanft im Wind, und ihre leuchtend blauen Augen strahlten ein enormes Selbstbewusstsein aus. An ihrem linken Nasenflügel funkelte ein winziger Brillant, darüber hinaus war sie an den Augenbrauen, der Unterlippe und unterhalb der Nase üppig gepierct. Sie war knapp einen Meter siebzig groß, sehr schlank und hatte dennoch einen auffallend athletischen Körper, betont durch eine gelbe Leggings und ein knappes Top. Dazu trug sie hochhackige Stiefel, nietenbesetzte Armbänder, einen locker um die Hüfte gebundenen Nietengürtel und fingerfreie, ebenfalls nietenbesetzte Handschuhe, die ihrer Erscheinung einen ziemlich martialischen Touch verliehen. Zu alledem kaute sie recht ordinär auf einem Kaugummi.
»O mein Gott«, bemerkte Pernilla Lindholm und runzelte missbilligend die Stirn. Sie und ihr langjähriger Freund Rufus Andersson, Besitzer und Leiter der Schule, standen in dessen Büro am Fenster und verfolgten Ronjas Ankunft. »Was hast du gesagt, Rufus? Wie alt ist sie?«
»Vierzehn.«
»Und was hat sie alles auf dem Kerbholz?«
»Einiges.«
»Wie war das: Sie gilt als gewalttätig?«
»Als äußerst gewalttätig!«
»Glaubst du wirklich, dass dieses Mädchen hier bei uns richtig ist? Meinst du nicht, wir haben schon genug Rabauken? Brauchen wir da noch eine punkige Schlägerin?«
»Ja!«
Unter ihnen schleppte Ben Ronjas Gepäck die Eingangstreppe hinauf und erklärte ihr derweil die verschiedenen Abschnitte des Schulkomplexes. Sie folgte ihm, ohne ihre zukünftigen Mitschülerinnen und Mitschüler auch nur eines Blickes zu würdigen. Auf halber Höhe blieb sie stehen und betrachtete die gezeigten Lokalitäten – mehr aus der Not heraus als aus wirklichem Interesse. Dabei fiel ihr Augenmerk auf einen Bereich neben Tor und Zugbrücke, in dem sich eine größere Schülermenge versammelt hatte. Das kannte sie aus ihrer ehemaligen Schule: Immer wenn es irgendwo ein Gerangel oder eine Rauferei gab, bildete sich eine Traube von Gaffern – so auch hier. Sie sah, wie einige Jungen eine deutlich jüngere Mitschülerin wiederholt hin und her schubsten, ein großes, stämmiges Mädchen, offenbar die Freundin des Anführers, gab ihr sogar eine Ohrfeige und stieß sie zu Boden. Die Anzahl der umherstehenden Jungen und Mädchen wuchs stetig an, aber niemand griff ein.
»Es ist schön hier, ruhig und friedlich«, meinte Ben, der von dem Streit nichts mitbekommen hatte. »Wir müssen uns beeilen, Professor Andersson wartet bereits.«
Zunächst merkte er nicht, dass sie nicht mehr hinter ihm ist, doch dann sah er Ronja unten auf dem Hof. Energischen Schrittes ging sie hinüber zu der Streiterei, drängte sich ruppig durch die Schülermenge und vorbei an zwei Lehrern, die erstaunlicherweise keine Veranlassung sahen, einzugreifen. Sie stieß die Rabauken zur Seite und nahm das schluchzend auf dem Boden kauernde Mädchen in den Arm. Mit den Worten »Keine Angst, steh auf und komm mit mir« zog sie es an sich heran und richtete sich zusammen mit ihm auf.
»Hast du sie noch alle?«, schrie der Anführer sie an.
Ohne sich um ihn zu kümmern, bahnte sich Ronja mit der Kleinen im Arm einen Weg durch die Zuschauer. Beschämt bildeten die eine Gasse, welche sich hinter den beiden sofort wieder schloss, sodass die Übeltäter ihnen nicht folgen konnten. Wüst schrien sie Ronja alle möglichen Beschimpfungen und Drohungen hinterher. Die ging jedoch unbeirrt weiter und zeigte ihnen, ohne sich umzudrehen, den gestreckten Mittelfinger.
»Hmm«, staunte Rufus Andersson. »Unaufgeregt und keine Gewalt. Nicht schlecht!«
Pernilla Lindholm war weniger begeistert und murmelte mit versteinerter Miene: »Das wird nicht gutgehen ...«
Ronja brachte ihre Mitschülerin zur Krankenstation, wo sie von Schwester Kristina, einer etwa vierzigjährigen, sehr attraktiven Frau in Empfang genommen wurde. Die besah sich Ronja von oben bis unten und fragte: »Darf ich mal wissen, wer du bist?«
Ronja betrachtete die Krankenschwester abfällig, kaute betont vulgär auf ihrem Kaugummi und bestätigte kurz angebunden: »Ja.«
»Und«, wollte Schwester Kristina nach einigen Sekunden wissen, »bekomme ich auch eine Antwort?«
»Nein«, erwiderte Ronja frech und fauchte das immer noch vor Angst zitternde Mädchen an: »Jetzt reiß dich mal zusammen! Dir wird in deinem Leben noch viel Schlimmeres passieren.« Dann gab sie ihm einen aufmunternden Klaps, drehte sich um und verließ ohne ein weiteres Wort die Krankenstation.
»Gut gemacht!«, meinte Ben, doch Ronja rollte nur die Augen, stolzierte an ihm vorbei zur Treppe, nahm ihr Gepäck und schleppte es selbst zur Eingangstür.
»Lass nur, das trage ich«, erhob er Einspruch und nahm ihr die Sachen wieder ab.
Gemeinsam gingen sie Etage für Etage die Stufen hinauf zum Büro des Schulleiters. Dessen Sekretärin Ulrika Källmark, eine elegant gekleidete Dame um die Fünfzig, beäugte Ronja argwöhnisch, deutete auf eine schwere Holztür und sagte: »Bitte sehr, der Chef wartet schon.«
Ronja klopfte und betrat den Raum. Rufus Andersson kam mit einem Lächeln auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen. Sein Händedruck war fest, aber angenehm. Er war ein stattlicher Mann, hatte schneeweißes Haar und einen langen Bart – ungefähr so hatte sich Ronja als Kind den Nikolaus vorgestellt.
Nach der Begrüßung setzte er sich wieder hinter seinen Schreibtisch, wies ihr den Platz ihm gegenüber zu und sagte: »Ich freue mich, dass du gut angekommen bist, und hoffe, dass es dir bei uns gefallen wird. Natürlich ist hier alles neu für dich, und es wird eine Weile dauern, bis du dich eingelebt hast. Aber ich bin sicher, dass du bald neue Freunde finden wirst.«
Ronja hatte inzwischen das Kaugummi in ihrem Unterkiefer geparkt und sah dem Schulleiter regungslos in die Augen. Der war merklich verunsichert, hatte er doch wenigstens eine kleine Reaktion erwartet. Doch die kam nicht, und so fuhr er fort: »Du weißt ja, warum du hier bist. Deine Großmutter glaubt, dass der Überfall auf euren Bauernhof dir gegolten hat. Sie möchte verhindern, dass dir etwas passiert, und hat mich deshalb gebeten, dich hier bei uns aufzunehmen. Hier bist du sicher!«
Ronja schaute vor sich auf die Tischplatte. Sie war traurig und unzufrieden, denn freiwillig war sie nicht hier in dieser Schule am Ende der Welt.
»Nehmen wir mal an, deine Großmutter hätte mit ihrer Vermutung recht: Kannst du dir vorstellen, wer einen Grund hat, dir etwas anzutun?«
O ja, es gab viele Leute, die sie am liebsten auf den Mond geschossen hätten. Aber was ging das diesen Professor an?
Seine Kollegin stand bislang mit dem Rücken zu Ronja am Fenster und brachte dadurch unmissverständlich zum Ausdruck, wie wenig Wert sie auf deren Anwesenheit legt. Nun schaltete sie sich in unfreundlichem Ton ein: »Sag mal, kannst du nicht reden?«
Ronja warf ihr einen giftigen Blick zu, antwortete nicht, sondern kaute wieder auf ihrem Kaugummi.
Pernilla Lindholm drehte sich angewidert ab und guckte aus dem Fenster.
Derweil atmete Rufus Andersson tief durch und unternahm einen Versuch, die Situation zu entschärfen: »Was du vorhin auf dem Schulhof getan hast, war sehr mutig von dir. Wir haben von hier oben gesehen, wie du deiner Mitschülerin geholfen hast.«
»Anders als die beiden Lehrer von der Pausenaufsicht«, maulte Ronja.
Professor Andersson schluckte. »Sie haben es offenbar nicht bemerkt«, verteidigte er seine Kollegen etwas halbherzig. Er deutete auf die Dame am Fenster und sagte: »Darf ich vorstellen? Das ist Professor Lindholm, meine Stellvertreterin.«
Ronja sah hinüber zu Pernilla Lindholm, die immer noch am Fenster stand, sich erneut zu ihr umdrehte und sie herablassend musterte. »Mischst du dich immer in die Angelegenheiten anderer ein?«, meckerte sie.
»Nur wenn die, die dafür bezahlt werden, es nicht tun«, entgegnete Ronja pampig – ein erneuter Seitenhieb auf die Untätigkeit der beiden Lehrer.
Professor Lindholm zuckte irritiert zusammen. Dann setzte sie nach: »Trinkst du Alkohol, nimmst du Drogen?«
»Natürlich!«, erwiderte Ronja. »Anders ist dieses Leben ja nicht zu ertragen.«
Das fand die stellvertretende Schulleiterin überhaupt nicht lustig – sie war außer sich.
Ronja durchschaute ihre Gedankengänge und fügte mit einem breiten Schmunzeln hinzu: »... in einer relevanten Dosis tue ich das aber nur, wenn ich vorhabe, ein Verbrechen zu begehen – Sie wissen schon: Wegen der Schuldunfähigkeit …«
»Hast du das gehört, Rufus?«, rief Professor Lindholm entsetzt.
»Ja, Pernilla«, versicherte er ihr und nickte eifrig – es fiel ihm schwer, ernst zu bleiben, obwohl er die Empörung seiner Kollegin durchaus nachvollziehen konnte. Er und Ronja warfen sich einen intensiven Blick zu, schienen einander zu verstehen.
Ganz anders Professor Lindholm. Verärgert hakte sie nach: »Warst du schon mal im Gefängnis?«
Ronja sah sie erstaunt an und antwortete: »Klar! Eigentlich habʼ ich lebenslänglich – bin aber abgehauen.«
Pernilla Lindholm starrte hilfesuchend ihren Kollegen an und ließ sich entnervt in einen Sessel fallen. Sie war einem Herzinfarkt nahe und benötigte erst einmal ein Päuschen. Dann sprang sie auf und ging erneut auf Ronja los: »Deine Aufmachung gefällt mir nicht!«
»Da sind Sie wahrscheinlich die Einzige, Frau Professor«, entgegnete Ronja und sah zufrieden an sich hinunter. »Ich trage jedenfalls keine Kartoffelsäcke.«
»Schluss, ihr beiden! Was soll denn das?«, ging der Schulleiter dazwischen. »Ihr benehmt euch ja wie zwei eifersüchtige Hühnchen.« Seine Vertreterin drehte sich um und ging beleidigt zum Fenster.
»Verklemmte alte Schachtel«, moserte Ronja, allerdings so leise, dass die das nicht hören konnte.
Aber Rufus Andersson bekam es mit und erhob sich. »Ich würde vorschlagen, du gehst jetzt in dein Zimmer«, meinte er und geleitete Ronja zur Tür.
Dort drehte sie sich noch mal um zu Professor Lindholm und schaute danach den Schulleiter vielsagend an. Der war froh, dass in diesem Moment Ben ins Vorzimmer hereinplatzte und verkündete: »So, ich bin soweit ...«
Nachdem Ronja sein Büro verlassen hatte, schimpfte er: »Was soll denn das, Pernilla? Das Mädchen ist keine zehn Minuten hier, hat sogar schon eine kleine Heldentat vollbracht, und du hast nichts Besseres zu tun, als sie aus heiterem Himmel anzugreifen.«
»Wir haben schon genug Probleme, Rufus«, erwiderte sie aufgebracht. »Da brauchen wir nicht noch eine arrogante, übermütige Göre, die sich innerhalb der ersten zehn Minuten ausgerechnet mit dem schlimmsten Rabauken weit und breit anlegt. Glaubst du etwa, das bringt Ruhe in die Schule? Hast du mitgekriegt, mit welcher Begeisterung die Jungs sie ansehen? Die sind alle hin und weg und werden sich um sie prügeln. Und die Mädchen würden ihr schon jetzt am liebsten die Augen auskratzen.
Willst du das? Rufus, die ist nicht einfach nur cool, die ist eiskalt – und respektlos und rotzfrech obendrein. Ich weiß nicht, was sie da, wo sie herkommt, alles angestellt hat. Aber der traue ich alles zu.«
»Du kennst sie doch überhaupt nicht«, beschwichtigte er. »Das Einzige, was wir von ihr wissen, ist, dass sie gut aussieht, das auch weiß und zeigt, und dass sie Courage hat. Sie hat sich eingemischt, und das finde ich gut. Du musst sie ja nicht mögen, aber gib ihr eine Chance. Vielleicht ist sie sogar gut für unsere Schule. Sie ist die Einzige, die sich gegen Ted Dolan und seine Bande behaupten kann. Die lässt sich nicht unterbuttern, und genau das ist es, was uns jetzt hilft.«
»Ja, Rufus, aber es ist das Geld von Dolans Vater, das diese Schule überleben lässt. Wenn der dir den Hahn zudreht, ist alles vorbei.«
»Mag sein, Pernilla. Aber ich bin es leid, immer gute Miene zum bösen Spiel zu machen und immer wieder untätig zuzusehen, wie sein Sprössling hier macht, was er will. Der ist aufsässig und boshaft und piesackt ständig seine Mitschüler. Was glaubst du wohl, warum Hallberg und Otterdahl nicht dazwischengegangen sind? Glaubst du wirklich, die hätten die Rauferei nicht mitbekommen? Alle kuschen vor John Dolan. Ich bin hier der Schulleiter, du bist meine Stellvertreterin – aber das Sagen hat in Wirklichkeit unser Englischlehrer. Schon immer konnten seine Söhne hier treiben, was sie wollten. Gott sei Dank sind die beiden anderen schon weg, aber Ted ist noch schlimmer. Dieses Mädchen kommt wie gerufen. Ich finde es gut, wenn sie ihm die Hammelbeine langzieht. Es ist viel wirksamer, wenn er Widerstand aus den eigenen Reihen verspürt, wenn sich die Schüler selbst gegen ihn wehren. Das ist heilsamer, als wenn immer wieder wir Lehrer eingreifen. Was glaubst du, wie der sich die Zähne an ihr ausbeißen wird.«
»Ja, und sein Vater macht sie fertig.«
»Nein, Pernilla, das macht er nicht, das werde ich nicht zulassen – und du auch nicht.«
Pernilla Lindholm legte die Stirn in Falten, atmete tief durch, drehte sich zum Fenster und blickte besorgt hinaus auf den Schulhof …
Im Treppenhaus angekommen hielt Ben kurz an und deutete nach oben: »Dort befindet sich die Wohnung des Schulleiters, aber der Bereich ist für uns tabu.«
Dann ging er zwei Etagen hinunter und bog ab zu einer großen, wunderschön verzierten zweiflügligen Holztür, deren wertvolles Aussehen vermuten ließ, dass sich hinter ihr ein besonderer Raum verbirgt. Er vergewisserte sich, dass niemand ihn und seine Begleiterin sieht, legte einen Finger auf die Lippen und flüsterte: »Komm mit, ich zeige dir was.«
Er kramte in seiner Hosentasche, zog einen Schlüssel heraus und öffnete andächtig die Tür. »Bitte sehr«, sagte er mit einer einladenden Armbewegung, und Ronja betrat den Raum.
Es war ein riesiger Saal mit hohen Fenstern wie in einer Kirche. Der Boden bestand aus edlem Parkett, die Wände waren im unteren Bereich holzvertäfelt. An den Stirnseiten hingen Kerzenhalter aus Messing, und an der Decke befanden sich drei riesige Kristallleuchter, von denen jeder gut hundert Kerzen tragen konnte. Zwischen den Fenstern an den Längsseiten hingen wertvolle Gemälde, die unterschiedliche Personen darstellten.
Mit weit geöffneten Augen durchschritt Ronja den Raum, fuhr vorsichtig mit den Fingern über die Bilderrahmen und betastete die Holzvertäfelung. Immer wieder blieb sie stehen und schaute sich um, die Begeisterung stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Das ist der Festsaal«, erklärte Ben. »Hier werden große Ereignisse gefeiert, zum Beispiel die ersten und letzten Tage eines Schuljahrs, aber auch das Weihnachts- und das Frühlingsfest. Da du die Begrüßungszeremonie verpasst hast, wollte ich ihn dir wenigstens mal zeigen. Er gefällt dir, stimmtʼs?«
Sie antwortete nicht, aber ihre Augen leuchteten fasziniert.
»Komm, wir gehen weiter«, sagte Ben, begleitete sie aus dem Saal und schloss hinter sich die Tür wieder ab. »Ich bringe dich jetzt in dein Zimmer.«
Er ging entlang eines offenen Gangs, der auf der Innenseite des Gebäudes in Höhe des dritten Stockwerks um den ganzen Hof herumführte, bis zur Mitte des Seitenflügels, in einem weiteren Treppenhaus hinauf ins fünfte Obergeschoss und dort in entgegengesetzter Richtung wieder auf den Gebäudetrakt zu, in dem der Schulleiter sein Büro hatte.
»Wie umständlich«, grummelte Ronja. »Waren wir nicht gerade dort drüben?« Sie deutete auf die Tür am Ende des Gangs, hinter der sie ein Treppenhaus und jenseits davon Professor Anderssons Büro vermutete.
»Du hast recht. Aber zu dieser Seite hin ist das Treppenhaus auf allen Etagen verschlossen. Für euch Schüler gibt es die beiden Treppenhäuser in der Mitte der Seitenflügel. Schau her, das hier ist dein Zimmer. Wenn du mich fragst, ist es das Schönste im ganzen Haus.«
Er öffnete die letzte Tür auf der linken Seite des Gangs und ließ Ronja eintreten.
»Abendessen gibt es im Speisesaal ab siebzehn Uhr. Es lohnt sich, das Essen hier ist sehr gut. Morgens gibt es Frühstück ab sechs Uhr. Auch das ist äußerst üppig, ruiniert früher oder später sogar dein Figürchen.«
Ronja schmunzelte zufrieden, wollte aber nicht, dass er das merkt.
»So, ich lasse dich jetzt allein. Hier sind deine Sachen, du kannst sie in aller Ruhe auspacken. Wenn irgendwas ist, wenn du Hilfe brauchst oder etwas wissen willst, dann melde dich bei mir.«
Mit diesen Worten legte er einen Zettel auf den Tisch, darauf seine Zimmernummer. Er zwinkerte ihr zu, verließ den Raum und schloss hinter sich die Tür.
Ronja öffnete sie noch einmal: »Ben!«
Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um.
»Danke«, sagte sie leise und lächelte ihn an.
Es war das erste Mal, dass er sie lächeln sah – sie war wirklich unvorstellbar hübsch. Jetzt war er glücklich, er mochte dieses Mädchen.
Ronja fand ihr Zimmer sehr gemütlich. Es hatte einen angenehmen Boden, Wände und Decke waren in warmen Farben gehalten, und das Mobiliar war schön und zweckmäßig. Eine Gemeinschaftsdusche gab es am Anfang des Gangs, dort waren auch die Toiletten. Sie fand es nicht schlecht, dass ihr Zimmer das letzte im Flur ist, denn dadurch war es unwahrscheinlich, dass mitten in der Nacht andere Schüler grölend an ihrer Tür vorbeitrampeln.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie ihre Sachen ausgepackt und im Schrank verstaut hatte. Als Letztes stellte sie ein Bild auf den Nachttisch, darauf zu sehen ihre Eltern Linda und Eric, ihre beiden älteren Brüder Björn und Sven, die Schäferhündin Kajsa und sie selbst. Dieses Familienfoto war kurz vor dem schrecklichen Ereignis aufgenommen worden, das sie als Einzige überlebt hat. Sie nahm es, legte sich aufs Bett, streichelte ihre Eltern, ihre Brüder und den Hund und versuchte, sich an sie zu erinnern. Das gelang ihr nur schemenhaft, schließlich war sie damals nicht einmal sechs Jahre alt. Aber sie wusste: Ihre Eltern waren liebevolle Menschen, und auch ihre Brüder, die immer nur Unfug im Kopf hatten, achteten sehr auf ihre kleine Schwester. Die ganze Familie war so friedlich, harmonisch und glücklich …
Wie durch einen Schleier sah sie sich mit ihren Eltern und Brüdern beim Frühstück und hörte ihre Stimmen, allerdings nur sehr undeutlich. Die plapperten gleichzeitig – wie immer. Plötzlich wurde es laut und hektisch, alle rannten durcheinander. Irgendwann stopfte ihre Mutter sie in den Bauch der Küchensitzgruppe mit den Worten: »Hab keine Angst, Ronja, es ist nur ein Spiel, hörst du, nur ein Spiel. Wir müssen uns verstecken. Also sei leise! Sei ganz still, egal was passiert!« Sie hängte ihr ein Medaillon um den Hals und fügte eindringlich hinzu: »Das gehört jetzt dir, Ronja. Es ist sehr wertvoll, pass gut darauf auf, du darfst es nicht verlieren! Ich liebe dich!«
Über diese Gedanken schlief Ronja ein. Es war ein langer und anstrengender Tag ...
Als Ronja aufwachte, wurde es schon wieder hell. Einige Minuten lang starrte sie gedankenverloren an die Decke, stand dann auf, ging zum Fenster und guckte hinaus. Es war wirklich ein sehr schönes Zimmer, denn es war nicht nur das letzte im Gang, es lag auch hoch oben im fünften Obergeschoss auf der Außenseite des Gebäudekomplexes. Dadurch hatte sie eine wunderbare Aussicht über den See, der die Insel umgab, und auf dem weit draußen ein Schwanenpärchen seine Kreise zog und sanfte, allmählich auslaufende Wellen hinterließ.
Eigentlich hätte sie es sich gern erspart, in den Speisesaal zu gehen und sich den Blicken und dem Gerede der anderen Schülerinnen und Schüler auszusetzen. Aber ihr Reiseproviant war aufgebraucht, und sie wollte nicht gleich an ihrem ersten Schultag mit knurrendem Magen in den Unterricht gehen. Sie beeilte sich, um als Erste und allein im Duschraum zu sein, setzte sich anschließend noch mal in ihrem Zimmer an den Tisch vor dem Fenster und ließ die Gedanken schweifen. Um sie herum war es ganz still, kein menschengemachtes Geräusch zerstörte die friedliche Morgenstimmung. Am liebsten wäre sie noch eine Weile sitzengeblieben, aber die Uhr mahnte zur Eile. Und so machte sie sich auf den Weg in den Speisesaal.
Nach einem ausgiebigen Frühstück zurück in ihrem Zimmer, putzte sie sich die Zähne und suchte nach dem Zettel, den ihr die Sekretärin des Schulleiters gegeben hatte. Auf dem stand, wo sie an diesem Tag ihren ersten Unterricht haben sollte: K3 – was auch immer das zu bedeuten hatte. Die hiesige Anlage war allerdings begrenzt, und anders als früher brauchte sie nicht mit dem Bus zur Schule zu fahren. So sah sie keine Notwendigkeit zu übertriebener Hetze – das war eh nicht ihre Art. In aller Ruhe machte sie sich ausgehfertig, und das ganz bewusst in der gleichen provozierenden Weise wie am Vortag: Ein knappes Top, Leggings und dazu hochhackige Stiefel. Nicht fehlen durften die fingerlosen Lederhandschuhe, die nietenbesetzten Armbänder und ihr Nietengürtel, an dem ein Täschchen befestigt war, darin ein Butterflymesser – für alle Fälle. So zurechtgemacht begab sie sich auf den Weg zu K3.
Wieder erregte ihre Erscheinung enormes Aufsehen. Als würde sie das überhaupt nicht bemerken, stolzierte sie das Treppenhaus hinunter. Die Jungen blieben stehen und schauten ihr nach, als wäre sie ein Wesen von einem anderen Stern – die Mädchen ebenfalls, nur mit anderen Gedanken.
Da die Zeit langsam knapp wurde, erkundigte sie sich bei einer Gruppe jüngerer Mitschülerinnen nach dem Weg. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte sie unter ihnen die junge Dame, der sie gleich nach ihrer Ankunft aus der Bredouille geholfen hatte. »Alles wieder gut?«, fragte sie.
»Ja. Danke, dass du mir geholfen hast!«
»Schon gut. Weißt du, wo K3 ist?«
»Natürlich!«, bestätigte das Mädchen, sah sich Ronja noch mal ausführlich an und meinte keck: »Du siehst cool aus.«
»Danke. Und wo …«
»Das ist ein Kellerraum, das K steht für Keller. K3 ist aber am anderen Ende. Du musst also entweder den Säulengang benutzen, oder du gehst hier unten raus, dann quer über den Hof, dort drüben wieder rein und dann hinunter in den Keller. Über den Hof ist kürzer. Ich heiße Sofia, und du?«
»Danke!« murmelte Ronja knapp, ließ ihre jüngere Mitschülerin einfach stehen und entschied sich für den kürzeren Weg über den Hof.
Dennoch kam sie zu spät. Die Tür zum Raum K3 war geschlossen, der Unterricht hatte bereits begonnen. »Super«, schimpfte sie über sich selbst. »Gleich am ersten Tag!« Sie öffnete die Tür und betrat den Raum.
Es war ein schmaler, langer Gewölbekeller mit unverputzten Bruchsteinwänden, kalt, feucht und nur spärlich beleuchtet. Links und rechts standen hintereinander die Tische für jeweils zwei Schüler. Vorn in der Mitte befand sich der Schreibtisch des Lehrers, dahinter eine Schiefertafel mit irgendwelchen Kreideschmierereien.
Als sie hinter sich die Tür ins Schloss zog, drehten sich die Mädchen und Jungen nach ihr um, und im Raum wurde es schlagartig still.
»Du musst die neue Schülerin sein«, bemerkte ein kleiner, dicker Mann mit nur noch wenigen, quer über den Kopf gekämmten Haaren am anderen Ende des Raums. Der war offensichtlich der Lehrer. Ronja sagte nichts.
»Hier gibt es noch einen freien Platz, bitte sehr«, sagte er in einem besonders sanften Tonfall und deutete auf einen Tisch auf der von ihr aus linken Seite, an dem ein zierliches Mädchen mit schneeweißen Haaren saß.
Mit einem unüberhörbaren Klack-Klack ihrer Stiefel auf dem Steinboden stolzierte sie unter den aufmerksamen Blicken der Mitschüler an den hinteren Reihen vorbei. Dort erkannte sie drei der Jungen, die auf dem Schulhof die kleine Sofia drangsaliert hatten. Mit ein paar abfälligen Bemerkungen ging sie an ihnen vorbei und setzte sich auf den freien Platz.
»Hej, ich bin Alina«, freute sich das Mädchen.
Ronja sah ihre Mitschülerin kurz an, sagte aber nichts. Dann betrachtete sie Alina noch mal genauer: Sie hatte nicht nur weißes Haar, auch ihre Haut war auffallend hell. Sie trug ein mindestens knielanges, unförmiges weißes Kleid, weiße Ballerinas und dicke weiße Kniestrümpfe. Bisschen viel Weiß, dachte sich Ronja, drehte sich ab und sagte emotionslos: »Hallo.«
Alina lächelte zufrieden – nun hatte sie auch eine Tischnachbarin.
»Wenn mich nicht alles täuscht, ist das eure neue Mitschülerin Ronja Beck«, meinte der Lehrer.
Besonders das Wort Ronja war halb gehaucht und halb gesungen – für das handfeste Mädchen genau das Richtige. Sie hatte das Gefühl, dass sich gerade ihre Fußnägel rollen, und hoffte inständig, dass ihr ein schmalziges Begrüßungsgelaber erspart bliebe. Doch weit gefehlt: Ausschweifend übergoss der Lehrer seine Klasse mit Hinweisen, wie schwer es für einen neuen Mitschüler sei, in der Gemeinschaft eines bestehenden Klassenverbands aufgenommen zu werden. Und so empfahl er am Ende, man möge sie so nehmen, wie sie ist.
Na immerhin – welch ein vernünftiger Gedanke!
»Du hast recht«, flüsterte Alina von der Seite. »Er ist ein wenig merkwürdig.«
Genau das war Ronjas Eindruck. Konnte Alina etwa ihre Gedanken lesen?
Mit einem eher peinlichen Lobgesang auf ihre offensichtliche Individualität beendete er Ronjas Einführung in die Klasse. Die hatte mittlerweile eine Gänsehaut und das Bedürfnis, ein paar Liter Schleim abzuduschen.
»Er ist zwar ein Dampfplauderer, ansonsten aber in Ordnung«, flüsterte Alina von links. Ronja staunte erneut: Dieses merkwürdige Mädchen konnte offenbar wirklich ihre Gedanken lesen.
Dann vernahm sie wieder die Stimme des Lehrers: »Wo sind denn deine Schulsachen, Ronja?« Die Silbe »Schul-« betonte er mit besonderer Inbrunst.
Ronja zuckte desinteressiert mit den Achseln.
»Hast du keine bekommen? Dann muss du dich fürs Erste mit deiner netten Tischnachbarin arrangieren.«
Bei »nette Tischnachbarin« wirkte Alina besonders zufrieden und nickte zustimmend. An Ronja gewandt bekräftigte sie: »Ich sagʼs ja.«
Ronja fand Alina eigentlich ganz nett, vielleicht ein bisschen zu kontaktfreudig.
»Ich rede zu viel?«
Ungläubig dreht sich Ronja einmal mehr zu ihr um. Die konzentrierte sich breit grinsend auf ihre Unterlagen.
»So«, hauchte der Lehrer, »lasset uns weitermachen.«
Der Chemieunterricht dümpelte eine ganze Weile ermüdend vor sich hin, und das Interesse unter den Schülerinnen und Schülern sank minütlich. Ronja war sich irgendwann sicher, aus den hinteren Rängen schnarchverdächtige Geräusche zu vernehmen. Ein ziemlich übergewichtiger Junge konnte es nicht unterlassen, seinen Unmut über den unspannenden Unterricht durch lautstarkes Gähnen kundzutun – sehr zum Missfallen des Lehrers, der endlich merkte, dass er etwas unternehmen muss und in die Runde fragte: »Wer von euch hat schon mal eine Bombe gebaut?«
Diese in einem Chemieunterricht eher nicht zu erwartende Frage erfüllte ihren Zweck, denn schlagartig wurde es in der Klasse ganz still, und das, obwohl nun auch die Letzten aufgewacht sind. Die Mädchen und Jungen begannen zu tuscheln, doch schon nach wenigen Sekunden kehrte wieder Ruhe ein.
Zu ihrer Verwunderung hob Ronja als Einzige die Hand, zur der des Lehrers hob überhaupt jemand die Hand. Die meisten Schüler fingen an zu kichern – sie hielten Ronjas Aufzeigen für einen Scherz.
»Wie, Ronja«, fragte er überrascht, »du hast schon mal eine Bombe gebaut?«
Im Klassenraum wurde es ganz still.
»Ja«, antwortete Ronja. Und das war nicht einmal geschwindelt. Sie hatte tatsächlich schon mal eine Bombe gebastelt und die im Lehrerzimmer ihrer ehemaligen Schule deponiert. Glücklicherweise war sie dank eines Konstruktionsfehlers nicht explodiert.
»Und was wolltest du damit erreichen?«, hakte der Lehrer nach.
»Eine Explosion«, erwiderte Ronja wahrheitsgemäß.
Die gab es jetzt auch im Klassenraum. Ronjas Mitschüler brachen in schallendes Gelächter aus und fanden gar kein Ende mehr. Sie selbst verzog keine Miene und schaute den Lehrer ernst an.
Der rang nach Fassung und versuchte verzweifelt, wieder Ruhe herzustellen, was ihm jedoch erst nach mehreren Minuten gelang. Anschließend fragte er Ronja nach ihrer Motivation, eine Bombe zu bauen.
In der gegebenen Situation erschien es ihr nicht vorteilhaft, erneut ehrlich zu antworten, und so zog sie eine kleine Notlüge vor: »Wollte nur mal sehen, was passiert.«
Das Gelächter brandete erneut auf, und ein weiteres Mal musste der Lehrer alle Register ziehen, um die Situation wieder in den Griff zu kriegen.
»So, du wolltest nur mal sehen, was passiert. Was hast du denn erwartet?«, fragte er zunehmend im Gefühl, veräppelt zu werden und daher deutlich erbost.
»Eine Explosion«, bestätigte Ronja und rollte genervt die Augen.
Nun gab es für ihre Mitschüler kein Halten mehr. Doch das erneut ausbrechende Gegröle endete in einem Fiasko: Der Lehrer platzte vor Wut, und in seinem Zorn bestrafte er kurzerhand die ganze Klasse mit einem Extraunterricht am Abend des nächsten Tages – den aktuellen Unterricht konnte er allerdings nicht mehr retten.
Nach der Stunde löste sich die Runde auf. Einige Schüler waren bereits verschwunden, Ronja und Alina hingegen hatten es nicht so eilig.
Auf dem Weg zum nächsten Unterricht, Geographie war angesagt, meinte Alina: »So viel zum Chemieunterricht.«
»Bastelt man hier im Chemieunterricht Bomben? Was wollte der überhaupt?«, ärgerte sich Ronja.
»Ach was. Das war doch nur ein Trick, um Aufmerksamkeit zu erreichen. Er spinnt ein bisschen. Nun ja, es gibt Schlimmere.«
Das waren ja gute Aussichten. Unüberhörbar schritt Ronja neben Alina her ins zweite Obergeschoss und sah gelegentlich aus einem der Fenster in den Hof. Die Sonne schien, der Springbrunnen plätscherte sanft vor sich hin, und an der Eingangstreppe verprügelten fünf große Jungen einen kleinen.
Auch Alina registrierte das. »Ted Dolan, dieser Drecksack«, schimpfte sie. »Er ist in unserer Klasse. Den wirst du auch noch kennenlernen.«
»Habʼ ich schon …«
Die beiden Mädchen wandten sich ab und spazierten weiter in den Geographieraum. Auf dem Weg dorthin fragte Alina neugierig: »Zu welchem Sportkurs hast du dich denn angemeldet?«
»Wie – was – Sportkurs?«
»Oh, du weißt das noch nicht? Also: In jedem Schuljahr müssen wir uns zu einem Sportkurs anmelden. Das Angebot ist gar nicht schlecht. Letztes Jahr habe ich Ballett gemacht, aber darauf habe ich diesmal keine Lust. Dieses Jahr habe ich mich zum Boxen angemeldet – kann ja nicht schaden, wenn man sich gegen aufdringliche Verehrer wehren kann.« Bei diesen Worten machte sie ein unglückliches Gesicht und fügte hinzu: »Na ja, ehrlich gesagt, habe ich keine aufdringlichen Verehrer – genau genommen gar keine.«
»Dann sei froh.«, bemerkte Ronja trocken. »Gegen die würde dir Boxen eh nicht viel bringen. Was will ein Sägemehlgewicht wie du mit Boxen gegen ein Schwergewicht ausrichten. Aber zum Fliegenverjagen wirdʼs schon reichen.«
Alina schaute Ronja deprimiert an, und die merkte, dass sie gegenüber ihrer zerbrechlichen und offenbar äußerst sensiblen Tischnachbarin ein wenig zu schroff gewesen ist. Deswegen beeilte sie sich hinzuzufügen: »Aber wenn du erst mal eine gute Technik hast, kannst du bestimmt einiges wettmachen.«
»Danke«, erwiderte Alina. »Sehr beruhigend!«
»Was gibt es denn noch außer Ballett und Boxen? Wo muss ich mich anmelden?«
»Am besten gehst du zu Ulrika Källmark. Die verwaltet die Anmeldelisten. Sie kann dir sagen, zu welchen Kursen du dich noch anmelden kannst. Aber das solltest du bald tun, damit du nicht noch mehr verpasst. Die Kurse laufen ja schon.«
In der kommenden Pause schlenderte Ronja zum Vorzimmer des Schulleiters, suchte sich einen Kurs aus, trug sich ein und war rechtzeitig zum nächsten Unterricht wieder im Klassenraum.
»Und? Hast du was gefunden?«, fragte Alina neugierig.
»Ja, beim interessantesten Kurs waren noch Plätze frei: Gleitschirmfliegen.«
»Nicht schlecht«, bemerkte Alina anerkennend, »den Mut hätte ich nicht.«
»Ach was, das ist für mich nicht gefährlicher als für dich das Boxen!«
Alina guckte irritiert drein ob Ronjas unverblümter Deutlichkeit. Sie war nicht unbedingt einverstanden mit deren ruppiger Art, trotzdem mochte sie ihre neue Mitschülerin gut leiden. Die war offen und ehrlich, nahm kein Blatt vor den Mund und war eine der wenigen, die sie so akzeptierte, wie sie ist. Und darüber freute sich Alina besonders.
Den Geographieunterricht fand Ronja ganz ordentlich und auch den nachfolgenden Physikunterricht. Beide Lehrer machten auf den ersten Blick einen brauchbaren Eindruck. In allen Klassenräumen saß Alina immer allein am Tisch, sodass sich Ronja jedes Mal neben sie setzen konnte. Das lag ganz sicher nicht an Alinas Körpergeruch, im Gegenteil: Sie duftete sogar sehr gut, schien aber ihren Mitschülern nicht ganz geheuer zu sein, vermutlich wegen ihrer unmöglichen Aufmachung.
Alina war höchstens einen Meter sechzig groß. Ihr weißes, unterschenkellanges Kleid war unvorteilhaft geschnitten und sah aus wie ein Umstandskleidchen. Gegen die braven Ballerinas war gewiss nichts einzuwenden, aber die dicken weißen Kniestrümpfe waren dazu einfach furchtbar. Zudem wirkte sie etwas weltfremd und war nicht unbedingt ein Mädchen, auf das man als Junge ein Auge werfen muss, aber auch keines, mit dem sich andere Mädchen über Mode, Schminke oder Jungs unterhalten wollen. Alina Bergman war eine Außenseiterin, intelligent, nett und freundlich, aber einsam.
In der großen Pause trennten sich die beiden. Ronja wollte ihre Ruhe haben und allein sein. Sie setzte sich mit einem Buch in der Hand am Durchgang zum Park auf eine Bank, aus sicherer Entfernung intensiv beobachtet von unzähligen Jungs.
Das konnte sie noch nie leiden. Ihr perfektes Äußeres war naturgegeben – gut, eine halbwegs vernünftige Ernährung und ein bisschen Training hatten sicher nicht geschadet. Ihre Kleidung war einfach ihr Stil, so gefiel sie sich selbst und auch den meisten anderen. Das war aber keine Einladung, sie ununterbrochen anzugaffen. An ihrer alten Schule hatte sie oft genug bewiesen, dass das sehr schmerzhaft werden kann, so oft, dass sich keiner mehr an sie herantraute. Wie schön wäre es, wenn das hier anders läuft!
»Hej, dürfen wir uns zu dir setzen?«, fragte eine Stimme dicht hinter ihr. In Gedanken versunken hat sie die Jungen nicht bemerkt, die sich ihr Schritt für Schritt näherten. Erschrocken fuhr sie herum: »Nein, haut ab! Ich will allein sein«, fauchte sie. Sie erkannte die beiden: Die waren in ihrer Klasse, saßen im Kellerraum dicht vor ihr auf der anderen Seite des Gangs.
Einer kam um die Bank herum auf sie zu und stellte sich vor: »Ich heiße Tom, und das ist ...«
»Verzieh dich, du Penner, sonst trete ich dir wo hin!«, fuhr Ronja ihn an, sprang auf und ging angriffslustig auf ihn zu. Er machte sofort ein paar Schritte von ihr weg und schluckte nervös. »Jaja, schon gut, bin ja schon weg.«
Entsetzt über so viel Aggressivität zogen sich die beiden zurück.
»Glaubst du, die macht so was?«, fragte Tom merklich eingeschüchtert.
»O ja, ohne mit der Wimper zu zucken«, war sich sein Kumpel sicher. »Der traue ich alles zu.«
Ronja blieb noch eine Weile stehen und sah den Jungs kampfbereit hinterher. Da sagte von der anderen Seite Alina: »Das war aber nicht nett. Tom und Marc sind anständige Jungs. Ich wäre froh, sie hätten Interesse an mir. Die beiden sind superlieb, immer freundlich und hilfsbereit. Die haben das nicht verdient.«
»Mag sein, aber ich will meine Ruhe«, erwiderte Ronja, schien ihr schroffes Verhalten aber bereits zu bedauern.
»Da gibt es ganz andere – die da zum Beispiel …« Alina deutete auf eine Gruppe von großen, kräftigen Kerlen, die einige Meter entfernt beisammenstanden und zu ihnen herüberguckten. »Der Zweite von rechts ist Ted Dolan«, erklärte sie. »Den kennst du ja schon. Die anderen sind seine Handlanger. Das ist ʼne miese Bande.«
»Die können mich mal«, sagte Ronja unaufgeregt, setzte sich wieder auf die Bank und schlug betont aufreizend die Beine übereinander. Alina setzte sich neben sie und schwieg – zu Ronjas freudiger Überraschung.
Die folgenden Unterrichtsstunden verliefen ohne besondere Vorkommnisse, und bald war Ronjas erster Schultag in ihrem neuen Zuhause schon wieder zu Ende. Seitens ihrer Mitschüler gab es keine weiteren Kontaktversuche mit ihr – die meisten hatten ihre höchst aggressive Reaktion auf den von Tom und Marc sehr wohl mitbekommen. Ihr war es recht.
Als sie zum Abendessen in den Speisesaal kam, wartete Alina bereits, kam auf sie zu und bot ihr an: »Möchtest du dich zu uns setzen?«
»Zu uns?«, fragte Ronja skeptisch.
»Ja, dort drüben. Tina und Lea sitzen schon dort«, erklärte Alina und zeigte auf einen Tisch ganz hinten in der Ecke. »Seitdem Cindy nicht mehr da ist, ist bei uns ein Platz frei. Die beiden sind die Einzigen, die mit mir etwas zu tun haben wollen, alle anderen lehnen mich irgendwie ab. Nun ja, habʼ mich dran gewöhnt.« Sie wirkte wieder einmal bedrückt, setzte aber sogleich ein Lächeln auf und erneuerte ihre Einladung: »Komm, setz dich zu uns.«
»Und wo ist diese Cindy?«, wollte Ronja wissen.
»Im Himmel. Sie ist von einem der Türme gefallen.«
»Oh«, meinte Ronja, ließ es aber auf sich beruhen.
Sie sah sich um. An vielen Tischen waren noch Plätze frei, allerdings saßen dort überall auch Jungs, die sich anscheinend wünschten, dass sie sich zu ihnen setzen möge – am besten gleich auf ihren Schoß. Unter diesen Umständen war Alinas Vorschlag eine entspannende Alternative, zumal Tina und Lea, ebenfalls in ihrer Klasse, freundlich wirkende und bislang unaufdringliche Mädchen waren, gegen die sie nichts einzuwenden hatte.
»Die abendliche Nahrungsaufnahme erfolgt meistens in Form eines Buffets«, erklärte Alina. »Ich finde das gut, so kann sich jeder nehmen, was er möchte. Wir haben schon. Hol dir was und komm dann rüber zu uns.« Sie strahlte, denn nun waren es wieder drei, die sie als ihre Freundinnen betrachten konnte.
»Abendliche Nahrungsaufnahme?!« Ronja runzelte verwundert die Stirn. Alina war manchmal schon ein bisschen merkwürdig, aber eigentlich ganz nett.
Der Speisesaal war überfüllt. Unzählige Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Klassen und Jahrgangsstufen saßen an den Tischen, naschten an diversen Köstlichkeiten und redeten lebhaft miteinander.
Ronja hasste Menschenaufläufe, und auch die unglaubliche Lautstärke, die Hunderte plappernder Mäuler zu erzeugen in der Lage sind, mochte sie nicht – aber so war es nun mal. Sie ging hinüber zum Buffet, schritt es erst einmal ab, nahm dann einen Teller und pickte sich aus dem enormen Angebot der Speisen diejenigen heraus, die sie besonders gern hatte. Und wie überall wurde sie beobachtet. Einer nach dem anderen blickte zur ihr herüber, Jungen wie Mädchen. Das kannte sie bereits von ihrer bisherigen Schule, so extrem wie hier war es dort aber nicht.
Unbeeindruckt marschierte sie mit ihrem Teller in der Hand hinüber zu den drei anderen Mädels, ohne weiter auf die Mitschüler zu achten. Doch der von ihr eingeschlagene Weg führte unglücklicherweise am Tisch von Ted Dolan und seinen Spießgesellen vorbei. Im letzten Moment rutschte der ihr mit seinem Stuhl in den Weg. Wortlos drehte sie sich um, doch auch hier schloss einer von Dolans Kumpanen die Lücke. Somit war sie eingeklemmt und konnte nicht weiter.
»Ich möchte euch nicht wehtun«, sagte sie gelassen.
Die Jungen lachten, und Dolan meinte überheblich: »Das ist aber nett von dir.«
»Lasst mich durch!«, forderte Ronja. Die Lautstärke im Raum nahm deutlich ab, und alle, die die Situation bemerkten, erwarteten gespannt, was nun kommt.
»Jetzt pass mal auf, Süße ...«, sagte Dolan.
Doch Ronja fiel ihm energisch ins Wort: »Nenn mich nicht Süße, und lass mich jetzt bitte durch!«
In diesem Moment ertönte eine Stimme von der anderen Seite: »Lasst sie in Ruhe, sie hat euch nichts getan!« Es war Tom.
»Oh, seht mal«, machte sich Dolan über ihn lustig. »Unser Held, ein echter Kavalier. Ist sie deine Freundin? Heute Mittag wirkte das noch ganz anders. Da bist du vor ihr weggelaufen.« Er und seine Gesellen lachten.
Tom stand etwas hilflos knapp zwei Meter entfernt neben dem Nachbartisch, den die dort sitzenden Jungen umgehend räumten. Offenbar erwarteten sie, dass Dolan auf Tom losgeht.
»Lasst sie in Ruhe!«, wiederholte der seine Forderung, diesmal deutlich mutiger als beim ersten Mal, denn zwischenzeitlich hinter ihm aufgebaut hatten sich sein bester Freund Marc Lundqvist und einige weitere Jungen, bereit, ihm zu helfen.
»Aha, verstehe«, reagierte Dolan verunsichert, musterte Ronja noch einmal von oben bis unten, machte eine unanständige Bewegung mit der Zunge und gab den Weg für sie frei.
Die sah sich jeden der Jungs an, die Tom und damit auch ihr soeben geholfen hatten, sagte aber erst mal nichts. Nach einigen Sekunden jedoch fauchte sie Tom giftig an: »Ich kann mir selber helfen!« Dann ging sie weiter zu dem Tisch mit den drei Mädels, setzte sich wortlos hin und begann zu essen.
Tom stand da wie ein begossener Pudel. Marc und die anderen schauten ebenfalls pikiert drein – so ein bisschen Dankbarkeit hätte schon sein dürfen. Und Tom wusste, dass er soeben Kopf und Kragen riskiert hat.
Dolan grinste gemein. »Hast wohl kein Glück bei der Lady. Solltest dir besser ʼne andere Freundin suchen«, feixte er und freute sich, dass sich Tom erneut einen Dämpfer eingefangen hat. Dann wurde er ernst und murmelte mit wuterfülltem Blick: »Na warte, Nyberg, wir sprechen uns noch!«
Das Abendessen war gut, die Stimmung allerdings nicht ungetrübt. Eindringlich warnten Alina, Tina und Lea Ronja davor, sich mit Ted Dolan anzulegen, und sie spekulierten, dass Tom alsbald Dresche kriegen wird.
Das ließ Ronja den ganzen Abend über keine Ruhe. Bereits im Bett musste sie immer wieder daran denken. Warum hat er das getan, warum hat er ihr geholfen – so unfreundlich, wie sie zuvor zu ihm war? Es tat ihr leid, sich so undankbar verhalten zu haben, und sie nahm sich vor, das wiedergutzumachen. Über diesen Gedanken schlief sie ein, ohne zu ahnen, dass sie schon am nächsten Tag dazu Gelegenheit haben wird ...
Im anderen Gang, in dem die Jungen untergebracht waren, lag Tom Nyberg in seinem Bett und starrte gegen die Decke. Da hilft er einem Mädchen, das ihn wenige Stunden zuvor noch beschimpft, ja sogar bedroht hat, legt sich mit dem schlimmsten Raufbold der Schule an, wofür er getrost mit Vergeltung rechnen darf. Und wofür?! »Ich kann mir selber helfen«, hat sie gesagt. Nicht einmal »danke«. Hätte sie wenigstens gesagt: »Danke, aber ich kann mir selber helfen.« Nein, nicht mal das! Er lag noch lange wach in seinem Bett, seine Gedanken immer bei ein und demselben Thema: Ronja Beck ...
Der folgende Schultag plätscherte so dahin. Wie seitens ihrer neuen Freundin Alina angekündigt, erwies sich der Mathematiklehrer – er war einer der beiden Lehrer, die es unterlassen hatten, der kleinen Sofia zu helfen – als außerordentlich widerwärtig und außerdem Ted Dolan und seinen Kumpanen sehr zugetan. Das bekam während des Unterrichts am meisten Tom Nyberg zu spüren, den der noch recht junge Göran Otterdahl offensichtlich nicht leiden konnte. Auch Ronja musste sich blöde Bemerkungen über ihr ausgefallenes Erscheinungsbild anhören, aber immerhin ließ es sich Professor Otterdahl nicht nehmen, hinzuzufügen, dass sie sich das durchaus leisten könne. Ansonsten verlief der Tag zunächst ohne besondere Vorkommnisse.
Nach dem Abendessen – wieder gab es Buffet, und wieder saß Ronja mit den drei anderen Mädchen am selben Tisch – stand noch der Chemie-Strafunterricht auf dem Plan, den sie am vergangenen Tag mit ihren aus Sicht des Lehrers, dessen Name sie immer noch nicht kannte, frechen Antworten verursacht hatte. Also fanden sich alle abends um neunzehn Uhr in K3 ein, und auch wenn sich ihre Begeisterung darüber in Grenzen hielt, war sie gespannt darauf, was in ihrer neuen Schule ein Chemielehrer über das Bauen von Bomben zu erzählen hat.
Der Unterricht begann eher langweilig. Immer wieder stellte der Lehrer Fragen und zitierte Schüler an die Tafel. Zur Überraschung aller meldete sich sogar Ted Dolan zu Wort, der es ansonsten vorzog, sich mangels Wissens aus den Unterrichten herauszuhalten. Auch er wurde aufgefordert, an die Tafel zu kommen, um eine Aufgabe zu bearbeiten – die Formulierung »zu lösen« war in seinem Fall nicht wirklich angebracht.
Er ging den langen Gang entlang nach vorn, drehte dabei den Kopf nach links und rechts, sah seine Mitschüler mit einem gemeinen Grinsen an und nickte und winkte ihnen zu, als begrüße ein Herrscher seine Untertanen. Bei seiner neuen Mitschülerin ließ er sich etwas mehr Zeit, doch die ignorierte ihn einfach. So ging er weiter und wandte sich auf der anderen Seite dem Tisch zu, an dem Tom und Marc saßen.
Auch die reagierten nicht auf ihn. Wieder ging Dolan einen Meter weiter, blieb dann aber stehen, drehte erneut den Kopf gönnerhaft nach rechts und links, zog ein Bein hoch und furzte mehr oder weniger gezielt in Richtung des Tischs von Tom und Marc. Anschließend verbeugte er sich, grinste dämlich und wollte gerade weitergehen, als Marc sich angewidert abdrehte, sich die Nase zuhielt und halblaut bemerkte: »Boah, wie kann einer allein nur so stinken!«
Das war Dolans Stichwort. Wütend drehte er sich um und ging unvermittelt auf den am Gang sitzenden Tom los. Doch Ronja hatte die Situation beobachtet und erahnt, was passieren wird. Blitzschnell sprang sie hoch und baute sich vor Dolan auf. Wie ein Boxer streckte sie eine Hand nach vorn aus und hielt Dolan auf Abstand, die andere Hand zur Faust geballt an ihrem Kinn. Es war eine eindeutige Geste und Dolan hielt inne. Ganz langsam streckte sie den Zeigefinger der Hand, die an ihrem Kinn darauf wartete, wie ein Pfeil gegen seine Nase abgeschossen zu werden, machte damit eine warnende Linksrechts-Bewegung und starrte ihm dabei eiskalt in die Augen.
Schon nach wenigen Sekunden konnte er ihrem Blick nicht mehr standhalten, lächelte verlegen, hob beschwichtigend die Arme und wich ein, zwei Schritte zurück. Dann wandte er sich an Tom und drohte ihm: »Na warte, Nyberg!« Stinksauer biss er die Zähne zusammen, drehte sich um und ging weiter zur Tafel.
Ronja verharrte noch einige Sekunden in ihrer Kampfposition. Dann setzte sie sich wieder hin, ohne Dolan auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
»Puuh«, meinte ihre Tischnachbarin bewundernd, »das war cool!«
Ronja runzelte gelangweilt die Stirn und ging auf Alinas Kompliment gar nicht erst ein.
Auch Tom und Marc drehten sich erstaunt zu ihr um. Besonders Tom war noch deutlich erregt – es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass er von Ted Dolan Prügel bezieht.
Auf seine übliche Art versuchte der Lehrer, mäßigend einzuschreiten, aber erstens zu spät und zweitens nunmehr überflüssig. Nach und nach beruhigten sich die Gemüter, und außer einem erneut aggressiven Blickkontakt zwischen Ronja und Dolan auf dessen Rückweg zu seinem Platz gab es keine weiteren Vorfälle.
Nach Ende des Unterrichts verließen der und seine Kumpane als Erste den Raum. Ronja packte in aller Ruhe ihre Sachen zusammen, und auch Tom und Marc ließen sich viel Zeit – keiner von ihnen wollte Dolan draußen vor dem Klassenzimmer noch mal begegnen. Tom wandte sich an Ronja und sagte: »Danke, das war sehr nett von dir.«
»Vergiss es! Du hattest was gut bei mir, jetzt sind wir quitt«, fauchte sie ihn an, drehte sich um und ließ ihn stehen.
»Also ganz ehrlich: Mit der möchte ich keinen Ärger kriegen«, bemerkte Marc ausgesprochen respektvoll und trottete zusammen mit dem völlig konsternierten Tom hinter den anderen her.
»Kannst du mir mal sagen, warum die so unfreundlich ist? Ich habe ihr doch nichts getan, im Gegenteil: Ich will doch nur nett sein. Oder bin ich zu aufdringlich, oder was?«, fragte Tom mehr sich selbst als den neben ihm hergehenden Marc.
»Sie mag dich!«, behauptete eine Mädchenstimme von schräg hinten. »Ja, ich weiß, was du jetzt denkst. Und deshalb mag ich dich auch.«
Tom sah Alina verdutzt an, doch bevor er etwas sagen konnte, erklärte sie: »Nun ja, kann schon verstehen, dass du das für Unsinn hältst. Aber die anderen Jungs, die irgendwas über mich denken, verknüpfen das eigentlich immer mit einer unfreundlichen Formulierung wie »blöde Kuh« oder »dummes Huhn«. Du machst das nicht«, strahlte sie und wandte sich an Marc: »Und du auch nicht. Ihr seid nette Jungs, und deswegen mag ich euch.« Sie drehte ab und marschierte an den beiden staunend dreinblickenden Jungen vorbei. Ein paar Meter weiter blieb sie stehen, drehte sich um und sagte zu Tom: »Sie mag dich, kann damit aber nicht so richtig umgehen. Deswegen ist sie so unfreundlich zu dir. Hab Geduld!« Dann verließ sie den Unterrichtsraum.
Eine Weile lang schaute Ronja aus dem Fenster ihres Zimmers. Dann zog sie sich aus, legte sich auf ihr Bett und streichelte wie immer vor dem Einschlafen die Personen auf dem Foto, welches auf ihrem Nachttischchen stand. Sie knipste das Licht aus und machte die Augen zu. Doch wie so oft konnte sie nicht einschlafen. In ihrem Kopf kreisten die Gedanken an ihre Kindheit.
Geboren in Schweden wuchs sie in der Vulkaneifel auf, einer ländlich geprägten Region im Westen Deutschlands. Dort lebte sie mit ihren Eltern, ihren Brüdern und Hündin Kajsa in einem Dorf mit nur wenigen Hundert Einwohnern. Schon als kleines Mädchen verbrachte sie den ganzen Tag draußen im Freien und hatte mehr Kontakt zu Jungen als zu anderen Mädchen. Sie fand es langweilig, mit Puppen zu spielen oder Plastikpferdchen zu frisieren. Viel lieber streifte sie mit den Jungs durch die umliegenden Wälder und baute Höhlen oder errichtete Baumhäuser. Auch auf den verschiedenen Bauernhöfen, die es gab, war sie ein gern gesehener Gast. Sie versorgte die Pferde, spielte ohne Rücksicht auf ihre Klamotten mit den Schweinen im Stall und half beim Melken der Kühe. Auch ihren Eltern gefiel das gut.
Ihr Vater war Chemieprofessor an einer Universität. Seitdem er an einem Forschungsprojekt in England teilnahm, so hatte es ihre Mutter erklärt, war er oft nicht daheim. Dieses Projekt sei sehr wichtig und fordere seine Anwesenheit an anderer Stelle. Ihre Mutter war für sie und ihre Brüder eine Lichtgestalt, ein Mensch, den ihre Kinder über alles liebten, verehrten und bewunderten. Auch sie war Professorin, allerdings für das Fach Biologie. Wegen ihrer Kinder und der häufigen Abwesenheiten ihres Mannes hatte sie ihre Arbeitszeiten reduziert und auch nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie zwar sehr gern arbeitet, ihre Zeit aber noch viel lieber mit ihren Kindern verbringt.
Ronja war das Nesthäkchen. Ihre Brüder waren ein paar Jahre älter als sie und sehr stolz darauf, dass ihre kleine Schwester die Zeit gern mit ihnen und ihren Freunden verbringt und die Gegend unsicher macht. Sie alle waren ziemliche Rabauken, Freunde und Nachbarn meinten sogar, Ronja sei die Schlimmste von allen. Zwar war sie überall als nettes und pfiffiges Mädchen bekannt und beliebt, dennoch galt sie auch als äußerst durchsetzungsfähig und hatte auch ihre beiden älteren Brüder immer fest im Griff.
Nicht ganz unschuldig an dieser Entwicklung war es, dass ihre Mutter sie schon mit vier Jahren regelmäßig zu einem Selbstverteidigungstraining mitschleppte, welches ein Freund der Familie für Frauen und Mädchen anbot. Das machte ihr richtig Spaß, und sie war so gut und eifrig, dass der Lehrer ihr immer noch ein bisschen mehr beibrachte als allen anderen.
Ihre Kindheit in diesem Dörfchen war glücklich und unbeschwert – bis zu diesem grausigen Ereignis im Mai. Was ist da bloß passiert? Wie hat es sich zugetragen? So lebhaft ihre Erinnerungen an die Zeiten davor und danach auch waren, so wenig konnte sie sich an Einzelheiten dessen erinnern, was an diesem Morgen geschah.
Nach dem Tod ihrer Eltern und Brüder – Ronja war nicht einmal sechs Jahre alt – lebte sie bei ihrer Großmutter, der Mutter ihrer Mutter. Auch die war Schwedin und ist nach dem Tod ihres Mannes zu ihrer Tochter nach Deutschland umgesiedelt, denn sie wollte nicht den Rest ihres Lebens mutterseelenallein auf ihrem Hof im hohen Norden verbringen, so schön dieses Fleckchen Erde auch war.
Schon zu Lebzeiten ihrer Eltern waren Ronja und ihre Brüder oft bei ihrer Oma, denn nur so konnte ihre Mutter Linda auch weiterhin wenigstens in reduziertem Umfang ihrer beruflichen Tätigkeit nachgehen. Die Großmutter bewohnte einen schmucken Bauernhof, etwas außerhalb des Dörfchens direkt am Waldrand gelegen und nur wenige Hundert Meter entfernt. In dem schön gestalteten Garten war ein großer Bereich für diverse Kräuter reserviert, und unzählige Male hatte sie ihr geduldig erklärt, welchen Nutzen diese Pflanzen in Heil- und Kochkunst haben. Außerdem gab es eine Scheune, in der die landwirtschaftlichen Geräte abgestellt waren, die zum Betrieb des Hofs benötigt wurden. Wie sehr hatte sie es als kleines Mädchen genossen, zusammen mit ihren Brüdern auf diesen Gerätschaften herumzuklettern. Später dann, als die nicht mehr da waren, hat sie den Spaß daran verloren, und überhaupt hat sich durch das besagte Ereignis eine ganze Menge verändert.
Nach dem Tod ihrer Eltern machten die Behörden einen ziemlichen Zirkus, und nur mit viel Mühe durfte sie bei ihrer Oma bleiben. Dann kam sie in die Grundschule, und auch in dieser Zeit war die Welt noch in Ordnung. Ihre Großmutter kümmerte sich liebevoll um sie, und die Freunde ihrer verstorbenen Brüder waren auch ihre Freunde und passten gut auf sie auf. Zudem entwickelte sie beachtliche Fähigkeiten, sich und ihre Belange auch gegen Größere und Stärkere durchzusetzen, was schnell dazu führte, dass sie überall als Raufbold gefürchtet war. Ihre Oma hatte es nicht immer leicht mir ihr.
Mit dem Wechsel an die weiterführende Schule ging der Kontakt zu ihren ehemaligen Spielkameraden immer mehr verloren. Natürlich fand sie in ihrer neuen Schule neue Freunde, aber das war irgendwie anders. Die einzigen Konstanten aus den früheren Jahren waren ihre Oma und das Selbstverteidigungstraining, welches sie nun noch intensiver betrieb als zuvor. Dabei konnte sie angestaute Aggressionen loswerden – und in ihr steckten viele Aggressionen. Ihre schulischen Leistungen waren zwar immer sehr gut, aber bei der Entwicklung ihrer Persönlichkeit fehlte ihr irgendwie der rechte Halt.
Eben weil sie ein so beliebtes Mädchen war, hatte sie einen sehr großen Freundeskreis und fand schon in frühen Jahren Kontakt auch zu eher unkonventionellen Gruppierungen. Sie begeisterte sich eine Zeit lang für die Grufti-Szene, traf sich mit anderen auf dem Friedhof und feierte okkultistische Totenmessen – sie war gerade mal elf Jahre alt. Doch irgendwann wurde ein Älterer aus der Gruppe wegen einer Straftat verhaftet, für sie das Signal zum Umdenken. Brav und bieder, wie die meisten anderen Mädchen, wollte sie allerdings nicht sein, und so landete sie in der Punk-Szene. Schon bald betrachtete sie auch das wieder mit einer gewissen Distanz, sah aber keine Notwendigkeit, sich endgültig davon zu lösen.
Und dann der Überfall auf ihre Großmutter. Wer macht so was? Wer überfällt eine alte Frau und ihre dreizehnjährige Enkelin auf ihrem kleinen Bauernhof? Was für ein sinnloses Verbrechen. Nun ja, wenigstens ist es ihr gelungen, die Einbrecher in die Flucht zu schlagen. Komisch: In diesem Zusammenhang hat sich niemand über ihre Gewaltbereitschaft aufgeregt …
Dieses Ereignis markierte allerdings das Ende einer Ära, denn es war letztendlich der Auslöser dafür, dass sie nun nicht mehr in Deutschland bei ihrer Oma lebt, sondern hier, gut zweitausend Kilometer von dort entfernt, in dieser Schule am Ende der Welt. Mit ihr will das Glück offensichtlich nichts zu tun haben. Aber warum ausgerechnet hier in der nordschwedischen Wildnis? Vielleicht war das ja ganz gut so. Hier gab es keine Gruftis, hier gab es keine Punks – nur biedere Langweiler, und das musste wohl so sein. Oder war das sogar der Grund?
Über alle diese Gedanken schlief sie schließlich weit nach Mitternacht ein.