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Gegen Abend trifft Georg Dohle in der verschneiten Stadt Madberg ein, wo er einen Termin bei der Manufaktur Ramses hat. Viele entbehrungsreiche Jahre liegen hinter ihm, in denen er an seiner Erfindung gearbeitet hat. Nun ruht seine ganze Hoffnung auf der Firma, in der er am nächsten Tag seine Erfindung präsentieren wird. Beklemmende Dinge gehen in dem mächtigen Unternehmen Ramses vor sich, in dem Dohle um Erfolg und Anerkennung kämpft, jedoch auf eine unüberwindliche Mauer aus Ignoranz und Ablehnung stößt. Verzweifelt klammert er sich an jeden Strohhalm und biedert sich wahllos Personen an, die seinen Weg kreuzen. Anfangs voll Ehrgeiz und Zuversicht fühlt sich Dohle zunehmend ohnmächtig angesichts der bedrohlichen und undurchschaubaren Organisation der Firma.
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Seitenzahl: 250
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Skizze zu einem älteren Herrn
Eine Hommage von Max Oban
Engelsdorfer Verlag Leipzig 2016
Max Oban, gebürtiger Oberösterreicher, arbeitete nach seinem Studium in Wien und Karlsruhe im Management eines internationalen Konzerns. Er ist heute Dozent am Institut für Management in Salzburg und an der Hochschule Krems an der Donau. Max Oban hat zahlreiche Romane veröffentlicht, er lebt in Salzburg und in der Wachau.
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Dieses Buch erzählt eine fiktive Geschichte, die wie auch alle Personen und Institutionen in dem Roman der Fantasie des Autors entsprungen sind. Ähnlichkeiten mit existierenden Personen oder Ereignissen wären rein zufällig und unbeabsichtigt.
Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag
Alle Rechte beim Autor
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017
www.engelsdorfer-verlag.de
Cover
Titel
Der Autor
Impressum
Skizze zu einem älteren Herrn
Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.
Franz Kafka
Der Motor begann zu stottern und Georg Dohles Wagen kam genau in der Mitte der Brücke zum Stehen. Ärgerlich trat er mehrmals auf das Gaspedal und drehte den Zündschlüssel bis zum Anschlag. Nichts. Außer einer vielfarbigen Parade an Kontrolllampen am Armaturenbrett. Die Benzinuhr zeigte ihm, dass der Tank zur Hälfte voll war. Georg stieg aus, schlüpfte in den Mantel und sah sich um. Sein Wagen war vor dem Ortsschild mit der Aufschrift GROSSE KREISSTADT MADBERG zum Stehen gekommen. Er wollte den Hebel zur Entriegelung der Motorhaube betätigen, überlegte es sich aber anders und knallte die Autotür zu.
Kraftlos schien die Sonne vom Himmel, es schneite leicht und er fror in seinem dünnen Mantel. Georg fühlte sich unendlich müde. Nach einigen Schritten überfiel ihn die Lust auf einen Schnaps. Er war noch nie ein starker Trinker oder vom Alkohol abhängig gewesen, aber eine innere Stimme gaukelte ihm ein großes Glas Schnaps vor. Georg hatte immer schon auf seine innere Stimme gehört.
Ein Holzschild wies ihm die Richtung zur Stadtmitte. Die Straßen waren leer, nur manchmal holperte lautlos ein schneebedeckter Wagen vorbei. Links und rechts der Straße standen mehrstöckige Backsteingebäude mit hunderten Satellitenschüsseln vor den Fenstern. Teilnahmslos betrachtete er die tristen Mietskasernen. Ob die Menschen glücklich waren, die in diesen Häusern wohnten? Mit langsamen Schritten zogen seine Füße eine unregelmäßige Spur und stießen gegen Hindernisse, die unter der Schneedecke verborgen waren. Sein Weg führte ihn am Fluss entlang, auf dem unregelmäßig geformte Eisschollen schwammen. Kahle Bäume standen in dem dahinter liegenden Park und über den Baumwipfeln, halb eingehüllt von Nebelschwaden erkannte er ein hohes Bauwerk mit der blassblauen Leuchtschrift MANUFAKTUR RAMSES. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Mehr als eine Woche war nun vergangen, seit er die Unterlagen über seine Erfindung an die Firma Ramses geschickte hatte. Ob die Schriftstücke wohlbehalten angekommen waren? Hoffnungsfroh sah er zu dem Firmengebäude hinüber. Dort würde sich morgen der Erfolg oder Misserfolg seiner Erfindung entscheiden. Ein kalter Wind blies ihm ins Gesicht.
Zwei Frauen gingen an ihm vorbei. Sie hielten sich an den Händen und redeten laut miteinander. Reglos wie Schaufensterpuppen standen Männer in dunklen Mänteln unter dem Vordach eines Gasthauses.
Später erreichte er die alte Stadtmauer und betrat durch einen wuchtigen steinernen Rundbogen das mittelalterliche Stadtviertel, in dem sich seine Unterkunft befand. Hotel Abendland. Im Internet hatte er es gefunden, Georg erinnerte sich nicht mehr, nach welchen Kriterien er sich für diese Herberge entschieden hatte. Schmale Straßen verliefen labyrinthartig in alle Richtungen. Eine halbe Stunde irrte er durch menschenleeren Gässchen, bis er vor der Hoteltüre stand. ENDLAND entzifferte er die Schrift neben dem Eingang. Die Buchstaben A und B hatten sich aus ihrer Verankerung gelöst.
Auf der Glastür klebten bunte Plakate, die auf Veranstaltungen in der Stadt hinwiesen. Warme Luft schlug ihm entgegen, er blieb stehen, nahm seine Brille ab, dann näherte er sich zögernd dem Empfangspult, das ihn an den Katheder in seiner Volksschule erinnerte. Das blonde Mädchen hinter dem Pult schlug mit Begeisterung auf eine Computertastatur, wobei sie mit leicht nach vorne gerecktem Kopf auf den Bildschirm starrte. Sie hob den Blick erst, als Georg unmittelbar vor ihr stand.
„Entschuldigen Sie“, sagte er. „Mein Name ist Georg Dohle.“
Das Mädchen sah ihn einige Augenblicke von oben herab an, dann blätterte sie in einem dicken Buch. „Herr Georg Dohle … Zimmer 13 im ersten Stock.“ Sie strich die blonden Haare hinter die Ohren zurück und lächelte ihn an. „Unser schönstes Zimmer.“ Das Mädchen legte den Schlüssel auf das Pult. „Sie sehen müde aus. Haben Sie einen weiten Weg hinter sich?“
Georg nickte. „Viele Stunden mit dem Auto und dann noch zu Fuß zum Hotel. Mein fahrbarer Untersatz hat mich im Stich gelassen.“ Er schilderte dem Mädchen, das ihm höflich zuhörte, sein Missgeschick. „Mein Wagen steht noch immer mitten auf der Brücke.“ Wie zur Erläuterung wies er mit dem Arm Richtung Fenster.
„Ich kann Ihnen einen Vorschlag machen.“ Das Mädchen lächelte ihn an. „Herr Wächter … das ist mein Onkel, dem auch das Hotel gehört … er ist zurzeit auf Geschäftsreise, darum kümmere ich mich hier am Empfang um die Gäste. Sein Bruder leitet eine Autowerkstätte hier in der Stadt. Lassen Sie den Wagenschlüssel bei mir. Ich rufe ihn an und bald steht Ihr Auto repariert vor dem Hotel. Vielleicht schon morgen.“
Georg bedankte sich und legte zögerlich den Wagenschlüssel auf den Tisch.
„Sie können sich auf mich und Herrn Wächter verlassen. Wir sind sehr verlässliche Leute.“ Sie neigte den Kopf zur Seite und sah neben Dohle auf den Boden. „Haben Sie kein Gepäck?“
Mit Schrecken bemerkte Georg, dass er den Koffer in seinem Wagen vergessen hatte.
„Mein Gepäck wird später hier angeliefert“, sagte er, einem spontanen Einfall folgend. Er nahm den Zimmerschlüssel in Empfang und stieg in den ersten Stock. Zimmer dreizehn. Auf dem schmalen Bett lag eine graue Decke, wie man sie in Schlafsälen beim Militär findet. Er strich darüber, setzte sich auf das Bett und legte das Gesicht in beide Hände, dann ließ er sich langsam auf das Bett gleiten. Warum sehen sich die Zimmer in kleinen, heruntergekommenen Hotels alle ähnlich? Lange betrachtete er sich in einem kleinen, fast blinden Wandspiegel, konnte sich aber keine Meinung bilden. Er schaltete den Fernseher ein und verfolgte einige Sekunden eine Quiz-Sendung mit dröhnender Musik, Gelächter und leicht beschürzten Mädchen. Dann öffnete er das Fenster. Die Häuser in der Nachbarschaft waren kaum zu erkennen. Es dämmerte, grauer Dunst stieg vom nahen Fluss hoch und mischte sich mit dem Geruch nach verbranntem Holz. Vom Gehsteig unter ihm drang der Lärm zweier Männer herauf, die sich unverständliche Sätze zuriefen. Er schloss das Fenster und betrachtete einige Augenblicke sein Zimmer, das in der aufkommenden Dämmerung merkwürdig leer wirkte. Sollte er jetzt schon zu Bett gehen? Er sah auf die Uhr. Seine Glieder waren wie benommen und in seinem Inneren spürte er immer noch das Vibrieren der langen Autofahrt. Morgen ist ein wichtiger Tag. Ein Bedürfnis nach tiefem, langem Schlaf bemächtigte sich seiner und langsam dämmerte sein Geist davon in eine immer dunkler werdende Stille. Letzte Gedankenfetzen flogen in unbestimmte Richtungen davon.
Er schreckte hoch und starrte in die Dunkelheit. Es war ein bedrohlicher und beunruhigender Traum gewesen, an den er sich aber nur noch bruchstückhaft erinnern konnte. Sein Herz schlug wild und der Atem ging stoßweise. In einem der Nachbarzimmer weinte ein Baby. Ein Vogel zwitscherte vor dem Fenster. War das schon der Morgengesang? Er hatte Angst, auf die Uhr zu sehen. Stöhnend drehte er sich zur Wand und schlief augenblicklich ein.
***
Das Foyer der Firma hatte einen grauglänzenden Marmorboden und eine hohe Decke. Dohles Schritte hallten in vielfachem Echo durch den menschenleeren Raum, an dessen Ende ein gemauertes Pult stand, hinter dem eine Frau in einer gut geschnittenen und goldbestickten Pförtneruniform zum Vorschein kam.
„Sie sind bestimmt Herr Dohle“, sagte sie. „Ich heiße Sie im Namen der Manufaktur Ramses herzlich willkommen.“
„Das ist ein freundlicher Empfang“, sagte Dohle lachend. „Und so aufmerksam.“
Die Frau blätterte in einem ledergebundenen Buch, das neben dem Telefon auf dem Tisch lag. „Aufmerksamkeit ist unsere Firmenphilosophie … Ich sehe, Sie haben einen Termin mit der Entwicklungsabteilung. Ich bin beauftragt, Ihnen mitzuteilen, dass Herr Prokurist Schubak leider nicht im Hause ist.“
Drei Männer durchquerten in raschem Schritt die Eingangshalle. Einer zog mit ratterndem Geräusch einen Koffer hinter sich her. Hoffentlich befand sich ein Gepäckstück noch im Auto. Wie unwohl fühlte sich Dohle in dem arg verschwitzten Hemd von gestern. Instinktiv griff er an sein unrasiertes Kinn. Er würde keinen guten Eindruck machen bei seinem ersten Gespräch. „Herr Prokurist Schubak ist nicht im Haus“, wiederholte er, als ob er die Bemerkung der Frau nicht gleich verstanden hätte.
Sie nickte. „Er musste überraschend zu einem wichtigen Meeting abreisen … außerhalb der Stadt. Er hat jedoch vor seiner Abreise Herrn Pfand, unseren Fertigungsleiter, gebeten, das erste Gespräch mit Ihnen zu führen.“ Sie schlug einige Male auf die Tastatur und führte den Telefonhörer zum Ohr, während sie ihren Blick auf ihn richtete. „Herr Dohle ist hier. Ich schicke ihn rauf.“
„Herr Magister Gregor Pfand“, sagte sie. Mit einer langsamen Bewegung streckte sie den Arm aus und zeigte in die hintere Ecke der Eingangshalle. „Dort sind die Aufzüge. Zimmer 916 im zehnten Flur.“
‚G. Pfand, Leiter Produktion‘ las Georg auf dem kleinen Türschild, bevor er das Büro betrat. Ein langer, schmaler Raum, armselig mit Licht aus einem winzigen Fenster versorgt, das sich hinter einem mächtigen Schreibtisch befand.
„Mein Kollege Schubak, unser Entwicklungsleiter, steht Ihnen heute für ein Gespräch nicht zur Verfügung. Ich habe leider erst heute erfahren, dass Sie zu uns kommen. Es geht wohl um eine Erfindung, sagte man mir. Setzen Sie sich doch.“
Dohle fühlte sich plötzlich sehr müde, als er auf dem Besucherstuhl Platz nahm. Auf der anderen Seite des Tisches lehnte sich Pfand zurück und bewegte seine Hände langsam aufeinander zu, bis sich die zehn gespreizten Finger berührten. Dabei ließ er Dohle nicht aus den Augen.
„Möglicherweise wäre es ohnehin sinnvoll gewesen, das erste Gespräch nicht mit meinem Kollegen Schubak zu führen, sondern mit mir. Natürlich sind wir als gesamtes Unternehmen daran interessiert, Zugang zu neuen Ideen zu bekommen, aber da ich in der Firma für die Produktion zuständig bin, ist es durchaus sinnvoll, dass ich als erster beurteile, ob die Erfindung, die Sie uns vorstellen wollen, technisch überhaupt bei uns hergestellt werden kann, verstehen Sie? Schließlich nennt sich Ramses aus gutem Grund eine Manufaktur.“
Wie sollte Dohle das verstehen? Es war heiß im Raum und Georgs Mund war ausgetrocknet. Obendrein wurde sein Hungergefühl mit jeder Minute stärker. Das Ticken der Uhr an der Wand schien lauter geworden zu sein. Vor dem Fenster türmten sich grauschwarze Wolkenbänke auf.
Gregor Pfand war mittelgroß, an allen Stellen seines Körpers gut gepolstert und hatte eine fettig glänzende Haut. Er trug eine dicke Hornbrille, hinter der die punktförmigen Augen in ständiger Bewegung waren. Aufgeregt rutschte er auf seinem Sessel herum, begleitet von kreisenden Bewegungen seines mächtigen Oberkörpers. An seiner Brust steckte ein rundes Abzeichen und Georg konnte erkennen, dass es sich um die Darstellung einer Schlange handelte, die einen Kreis bildete und sich selbst in den Schwanz biss.
„Verstehen Sie?“, wiederholte er und seine Stimme schien lauter geworden zu sein. Mit Nachdruck unterstützte er seine Worte durch kräftiges Schütteln des mächtigen, hoch erhobenen Zeigefingers.
„Schubak ist als Entwicklungsleiter eher der Wissenschaftler in unserem Unternehmen und versteht als Theoretiker weniger von den praktischen Anforderungen einer technologiegetriebenen Produktion.“
Georg beschloss, die Konflikte zwischen den beiden Herren nicht zu kommentieren. „Wie geht es jetzt weiter? Ich meine … wann kann ich den Herrn der Geschäftsleitung meine Erfindung vorstellen?“
„Wahrscheinlich wird Schubak morgen von seiner Reise zurück sein. Geben Sie mir Ihre Adresse, unter der wir Sie hier in Madberg erreichen können, wir melden uns, sobald unser Entwicklungschef zurück ist.“ Pfand wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von seiner Stirn. „Um Ihre Frage zu beantworten, wie wir weiter vorgehen … als nächsten Schritt sollten Sie mit Schubak sprechen. Da er ohnehin nicht über die nötigen Fachkenntnisse verfügt, wird er Sie wahrscheinlich beauftragen, eine sogenannte Präsentation vorzubereiten, in der Sie Ihre Erfindung mehreren Mitarbeitern aus dem Management unseres Unternehmens vorstellen.“
„Präsentation?“
„Ja. Ein kurzes Referat mit erklärenden Skizzen und technischen Erläuterungen sowie verbindenden Worten, aus denen unser Führungskreis die Vorteile Ihrer Erfindung ablesen kann. Wenn Sie so etwas noch nicht gemacht haben, können Sie sich Ratschläge von mir holen.“
Dohle holte eine Visitenkarte aus der Tasche und zückte seinen Kugelschreiber. „Hotel Abendland“, sagte er. „Das liegt in der Altstadt. Bitte verständigen Sie mich, wenn Herr Schubak von seiner Reise zurück ist.“
„Das wird Felicitas erledigen.“
Georg, der bereits Richtung Tür eilte, wandte sich um und sah Pfand fragend an. „Felicitas?“
„Felicitas Farmer. Schubaks Sekretärin. Auch sie ist heute nicht im Büro. Die beiden verreisen immer zusammen.“ Er lachte glucksend, was Dohle etwas unpassend erschien. „Wahrscheinlich holt Sie Karl-Fritz mit dem Wagen ab, einer unserer Hausdiener.“
„Karl-Fritz?“ Dohle lachte nun auch. „Das ist ein eigenartiger Name für einen Angestellten.“
„Bei uns ist vieles eigenartig“, sagte Pfand.
***
Der alte Mann, der hinter dem Tresen stand und ihn misstrauisch ansah, missfiel Georg auf den ersten Blick.
„Wo ist das blonde Mädchen?“, fragte Georg.
Der Mann trug ein unleserliches Namensschild auf der Brust. „Mein Name ist Theo Wächter. Ich bin der Hotelbesitzer und das blonde Mädchen, wie Sie es nennen, ist meine Nichte Ottilie. Und das da ist der Meldeschein.“ Er wies auf ein Formular, das auf dem Tresen lag. „Ottilie geht noch zur Schule und ist neu in der Hotelbranche, deswegen hat sie vergessen, Ihnen den Meldeschein vorzulegen. Höchste Zeit also, tragen Sie sich ein. Woher kommen Sie eigentlich?“
Georg sah auf das zweiseitige Formular. Er zögerte.
„Eigentlich? Von weit her.“ Georg sagte es fast ärgerlich. Die Gedanken an Alkohol kamen zurück. Und der Hunger. Sein Rücken juckte und beschämt erinnerte er sich daran, dass er noch immer das verschwitzte Hemd von gestern trug. „Wo ist mein Koffer?“; fragte er. „Und vor allem, wo ist mein Auto. Ich habe die Wagenschlüssel Ihrer Nichte gegeben.“
Theo Wächter deutete auf einen Umschlag, der vor ihm auf der Theke lag. „Das wurde für Sie abgegeben.“
Georg nahm ihm das Kuvert aus der Hand. Ramses Manufaktur las er auf der Rückseite.
„Haben Sie bei Ramses zu tun?“, fragte der Hotelbesitzer. „Das ist ein wichtiges und einflussreiches Unternehmen in unserer Stadt.“
„Das ist mir bekannt. Ich komme gerade von dort“, sagte Dohle. „Was ist nun mit meinem Wagen?“
„Mein Bruder kümmert sich darum.“ Er sah auf die altertümliche Wanduhr. „Ihr Auto ist wohl schon in seiner Werkstätte. Sehr zuverlässig … der Betrieb wie mein Bruder. Mit sehr gewissenhaften Mitarbeitern. Machen Sie sich keine Sorgen um Ihren kostbaren Wagen. Öffnen Sie doch die Nachricht.“ Wächter beugte seinen Oberkörper neugierig nach vor. „Es ist wahrscheinlich wichtig. Für Sie, meine ich.“
Georg, der den Brief immer noch in der Hand gehalten hatte, steckte ihn achtlos in die Manteltasche. „Welches Gasthaus empfehlen Sie mir? Ich habe Hunger.“
Ruckartig nahm Wächter seinen Oberkörper zurück. „Den Gracchushof. Kann ich empfehlen. Nicht weit von hier.“
Georg wandte sich dem Ausgang zu, als ihm der Hotelbesitzer ein lautes „Übrigens“ nachrief.
Georg drehte sich langsam um. „Was, übrigens?“
„Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass das Hotel Abendland ein Haus der Ruhe und der Stille ist. Es muss gestern gewesen sein …“ Wächter schlug das vor ihm liegendes Buch auf und tat so, als ob er eine bestimmte Stelle suchte. „Einige Gäste haben sich über Ihr lautes Fernsehen beschwert.“
Kopfschüttelnd verließ Georg das Hotel und betrat zehn Minuten später die lärmende Gaststube des Gasthauses Gracchushof. Da alle Plätze besetzt waren, blieb er einen Moment an der Türe stehen, dann näherte er sich zögernd einem Tisch am Fenster, an dem ein alter Mann vor einem Glas Bier saß. Noch bevor Georg fragen konnte, lud ihn der Alte mit einer freundlichen Geste ein, Platz zu nehmen.
Um kein Gespräch beginnen zu müssen, vertiefte sich Georg zuerst in die Speisekarte, dann öffnete er den Brief, der für ihn im Hotel abgegeben wurde.
„Sehr geehrter Herr Doktor. Wir setzen große Hoffnung in Ihre Erfindung und entschuldigen uns dafür, dass Sie heute Herr Prokurist Schubak nicht empfangen konnte. Morgen wird Sie einer unserer zuverlässigsten Assistenten abholen und in die Firma geleiten, wo Sie Herr Schubak um elf Uhr erwartet. Bitte seien Sie pünktlich. Mit freundlichem Gruß, Felicitas Farmer, Sekretariat von Prokurist Joachim Schubak.“
Bitte seien Sie pünktlich. Er spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Sehr geehrter Herr Doktor … Georg musste lächeln, faltete den Brief sorgfältig zusammen und bestellte bei der Kellnerin ein Glas Bier.
Der Alte, der ihm gegenüber saß, schmunzelte. Hatte der Mann ihn schon die ganze Zeit beobachtet? Er hielt sich eine antik aussehende Taschenuhr zuerst vor die Augen, dann an sein rechtes Ohr.
„Die Zeit tickt“, sagte der Alte mit bedeutungsvoller Stimme. Er hob sein Glas Georg entgegen. „Zum Wohl. Sind Sie wohl neu hier in unserer Stadt?“ Eine heisere, brüchige Stimme. Noch einmal sah er auf seine Uhr, dann legte er sie vor sich auf den Tisch. Unvermutet lachte er laut auf. Links unten fehlte ihm ein Zahn. Das Gesicht des Mannes war ungesund gelb und von Falten durchfurcht. Ein bisschen sah er wie ein Hund aus. Mindestens fünfundsiebzig Jahre alt, wahrscheinlich schon gegen achtzig. Georg trank das Bierglas in einem Zug leer. Er hatte großen Durst.
„Neu hier?“, wiederholte der Mann und beugte sich über den Tisch. Jetzt kam Georg an einer Antwort nicht mehr vorbei. Er nickte. „Eine schöne, alte Taschenuhr“, sagte er.
„Oder sind Sie auf Durchreise? Ich habe Sie hier noch nie gesehen.“
„Sozusagen auf Durchreise.“
Der Alte wackelte halb zustimmend mit dem Kopf. „Sozusagen. Das gilt auch für mich. Ich bin schon seit mehreren Jahren auf der Reise. Eigentlich immer schon.“
„Wie kann man sein ganzes Leben auf Reise sein?“
„Das ist etwas verwirrend und nicht einfach zu erklären. Ich lebe in zwei Welten … sozusagen.“
„Zwei Welten.“ Georg wiederholte es und hielt sein leeres Bierglas in Richtung der Kellnerin, das diese aus der Ferne mit kräftigem Kopfnicken quittierte.
„Übrigens, mein Name ist Hermann Jäger.“
„Und aus welcher Gegend kommen Sie?“, fragte Georg, obwohl es ihn wenig interessierte.
„Ich bin weit weg von hier in einer ländlichen Gegend aufgewachsen, wo ich viele Jahre fest verankert war.“
„Verankert?“
„Ja. Familie, Eltern, Geschwister, später eine liebe Frau und lebenstüchtige Kinder. Fest verankert. Das bedeutete in meinem Fall neben meiner Familie auch Freunde, Bekannte und das Trompetenspiel in der Dorfmusik.“
Der Mann war drauf und dran, ihm seine ganze Lebensgeschichte zu erzählen. „Und wo sind die zwei Welten, von denen Sie sprachen?“
„Die eine Welt bestand aus dem Dorf, in dem ich viele Jahre zu Hause war. Doch dann habe ich meine Trompete verschenkt, mich von der Familie, den Freunden verabschiedet und bin zum Bahnhof gegangen.“
Georg nahm einen Schluck aus dem Bierglas. „Mit der Bahn nach Madberg?“
„Nach einigen Irrwegen. Diese Stadt war nicht mein Ziel und ich weiß bis heute nicht, warum ich hier gelandet bin. Entweder nahm ich einen verkehrten Zug oder es war der richtige und eine falsch gestellte Weiche hat mich in die Irre geführt. Aber ich bin hier in dieser Stadt nie wirklich angekommen.“
„Nie richtig angekommen“, wiederholte Georg leise. „Das kenne ich.“
Hermann Jäger schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Also muss ich die Reise fortsetzen.“
Georg schüttelte den Kopf. „Das klingt für mich so, als ob Sie zur Weiterreise …“ Georg suchte nach einem geeigneten Wort.
„Gezwungen …“, schlug Jäger vor.
„Verurteilt worden sind“, sagte Georg. „Warum bleiben Sie nicht hier?“
„Was habe ich mich bemüht, wieder eine feste Ordnung in mein Leben zu bringen. Ich habe eine neue Familie gegründet, ein Haus gebaut und eine Stellung angenommen, die meinen Interessen entspricht.“
Georg hatte unkonzentriert die Ausführungen seines Tischnachbarn verfolgt. „Vielen Menschen geht es ähnlich. Seit wann leben Sie schon in Madberg?“
„Dreizehn Jahre und einige Monate.“
„So lange?“ Georg sah zum Fenster. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Warum unterhielt er sich überhaupt mit dem Mann?
„Meine Geschichte interessiert Sie wohl nicht.“
„Doch, doch“, log Dohle und nickte. „In welcher Firma arbeiten Sie?“
„Mir geht es nicht gut und ich schlafe seit einiger Zeit schlecht. Sie müssen wissen, dass ich immer schon schlecht geschlafen habe, wohl als Folge meiner ständigen Gedanken und Sorgen. Doch nun ist alles noch schlimmer geworden, verstehen Sie?“
„Ich verstehe Sie“, sagte Georg, der keine Ahnung hatte, was der Mann ihm mitteilen wollte. „Seit wann ist das so?“
„Seit ich in dieser Firma arbeite, in der alle Vorgänge fremdartig bleiben und die Kollegen meine Feinde sind.“
„Wie heißt diese Firma?“
„Manufaktur Ramses. Ich arbeite dort als Handelsreisender. Handelsreisende sind eigentümliche Menschen. Vorwiegend sind sie es, die in ihrer Welt nie wirklich ankommen.“
Dohle hob die Hand und winkte der Kellnerin. Das Geschwätz dieses Mannes wollte er sich nicht länger anhören.
***
In sein Hotelzimmer zurückgekehrt setzte sich Dohle auf das Bett und dachte nach. Bei dem hellbraunen Resopalschrank an der Wand hing die Tür schief in den Angeln und ließ sich nicht schließen. Würde er sich in diesem Hotel wohl fühlen? Georg hatte ohnehin nicht vor, länger als zwei Tage zu bleiben. Er dachte an seine morgige Besprechung bei der Firma Ramses. Wir setzen große Hoffnung in Ihre Erfindung. Mehr als zehn Jahre hatte er daran gearbeitet, Jahre, mit großen Entbehrungen, einsam und abgeschieden von Eltern und Freunden. Nach unzähligen Rückschlägen war ihm schließlich der Durchbruch gelungen und seine Versuche im Keller hatten erstmals zu sinnvollen Ergebnissen geführt.
Wie sehr freute er sich darauf, der Mutter endlich von seinem Erfolg zu berichten, der, da war er sich sicher, kurz bevor stand. Das kleine Schwarz-Weiß-Foto der Eltern, an dem er so sehr hing, befand sich ebenso in seinem Koffer wie die Wäsche und der Computer mit allen Daten seiner Erfindung. Wütend beschloss er, am nächsten Tag den Hotelbesitzer nochmals wegen des Autos zur Rede zu stellen. Das Bild seiner Eltern bedeutete viel für ihn, obwohl sein Vater bereits vor vier Jahren gestorben war und er zu seiner greisen Mutter kaum Kontakt pflegte. Sie lebte, bereits neunzigjährig, weit weg in einem Altersheim. Olga, Georgs Verlobte hatte sich während der jahrelangen intensiven Arbeit an seiner Erfindung immer mehr von ihm abgewandt. Warum hatte er sie nicht geheiratet? Einmal hatte er auf einem Blatt Papier sorgfältig die Vorteile einer Ehe den Nachteilen gegenübergestellt und einige Wochen danach kam es zum Bruch und Olga verschwand endgültig aus seinem Leben. Auch seine enge Verbindung zu Siegfried war damals zerbrochen. Sein früherer Freund lebte nun schon seit vielen Jahren in den Vereinigten Staaten, wo er in einer der großen Banken arbeitete. Erst vor wenigen Tagen war ein Brief angekommen, aus dem Georg erfuhr, dass Siegfried ein unglückliches Leben in der Fremde führte. Regelmäßig hatte er seinem Freund über die Geschehnisse in der Heimat und die Fortschritte an seiner Entwicklung berichtet, doch die Briefe, die aus Amerika zurückkamen, waren seltsam nichtssagend. Missverständnisse waren es, langweiliges Zeug und Banalitäten. Siegfried, so machte es den Eindruck auf Georg, verstand seine alte Heimat nicht mehr. Früher waren sie stets einer Meinung gewesen. Einmal beschlossen sie sogar, zusammen einen Roman zu schreiben, mit gemeinsam ausgedachten Handlungssträngen und einem jungen Protagonisten, der ihnen selbst sehr ähnlich war. Ein literarisches Werk sollte es werden, in dem mystische Erlebnisse und philosophische Erkenntnisse im Vordergrund standen. Sie hatten den Roman nie zu Ende gebracht.
Fast körperlich spürte Georg die Angst vor den nächsten Tagen. Viel stand auf dem Spiel: Endgültiges Scheitern als eine Möglichkeit, Ansehen, Glück und Reichtum, wenn sich die Firma Ramses bereit erklärte, sein Patent zu kaufen. Wir setzen große Hoffnung in Ihre Erfindung.
***
Unmittelbar nach dem Erwachen stellte Georg fest, dass der Wecker fast um eine Stunde zu spät geläutet hatte. In Panik sprang er aus dem Bett. Das Fehlläuten des Weckers. Es würde ihn in eine peinliche Situation bringen. Und das bei seinem entscheidenden Gespräch bei Ramses.
Zehn Minuten später lief er ohne Frühstück durch die leere Hotelhalle und drehte sich einige Male um seine eigene Achse. „Hat jemand nach mir gefragt?“, rief er Theo Wächter zu, der lächelnd hinter der Theke stand, dann die Arme vor der Brust verschränkte und den Kopf schüttelte. „Draußen vor dem Hotel schreit ein erwachsener Mann sinnlos herum. Vielleicht ist das Ihr Partner. Jedenfalls ruft er andauernd Ihren Namen. Einige meiner Gäste haben sich bereits beschwert.“
„Kümmern Sie sich um meinen Wagen“, rief Georg und eilte auf die Straße.
Vor dem Hotel bot sich Georg ein eigenartiges Bild. Ein geradezu beängstigend hagerer Mann lehnte neben der Hotelpforte, hielt beide Hände wie einen Trichter vor seinen Mund und rief: „Dohle, Herr Georg Dohle.“
„Hier bin ich doch.“
Der hagere Mann drehte den Kopf. „Ich habe lange auf Sie gewartet.“ Er streckte Georg die Hand entgegen. „Mein Name ist Karl-Fritz. Ich soll Sie zu unserem Prokuristen bringen.“
„Mit etwas Konzentration finde ich den Weg zu Ihrer Firma“, lachte Georg und sah sich um. „Wo ist Ihr Auto? Herr Pfand sagte mir, Sie würden mich mit dem Firmenwagen abholen.“
Der Mann machte eine abfällige Handbewegung. „Herr Pfand hat mir nichts zu sagen.“
„Wer dann?“
„Mein Chef ist Joachim Schubak“, sagte er laut. „Und damit auch Felicitas, seine Sekretärin.“
„Sie meinen Frau Felicitas Farmer.“ Georg korrigierte ihn in vorwurfsvollem Ton. „Und dämpfen Sie Ihre Stimme.“
„Ich darf Felicitas sagen.“ Er sah auf die Uhr. „Wir müssen zu Fuß durch die ganze Altstadt. Und es ist schon spät. Es wäre nicht gut, wenn Sie Herrn Schubak warten ließen.“
„Dann gehen wir endlich. Über Ihr lautes Gerede haben sich ohnehin schon Leute beschwert.“
Der Mann rührte sich nicht, sondern sah ihn starr an. „Geht es Ihnen nicht gut?“
„Warum?“
„Sie antworten gerne mit einer Gegenfrage. Weil Sie einen bekümmerten Eindruck auf mich machen.“
Georg schüttelte energisch den Kopf. „Ich bin ein positiv denkender Mensch und ich habe große Pläne in der Stadt und in Ihrer Firma.“ In diesem Moment erblickte er Theo Wächter, den Hotelbesitzer, der ihnen durch eines der Fenster nachsah.
„Was sind Sie von Beruf?“, fragte Georg und folgte dem Mann, der mit Riesenschritten davoneilte.
„Ich bin Handlungsreisender. Ein sehr bedeutender übrigens.“
Georg dachte an den alten Mann, den er gestern im Gasthaus kennengelernt hatte. „Kennen Sie einen Mann mit dem Namen Hermann Jäger? Er ist Handelsvertreter bei Ramses, so wie Sie. Aber wahrscheinlich beschäftigt die Firma hunderte Handelsvertreter …“
Karl-Fritz schüttelte den Kopf, dass seine Frisur in Unordnung kam. „Warum erzählen Sie es mir dann? Ich kenne diesen Jäger tatsächlich nicht und es kümmert mich nicht, ob er Handelsvertreter ist oder Automechaniker. Die Weltordnung wird dadurch ganz wenig beeinflusst. Habe ich Recht?“
„Ich habe es nur beiläufig erwähnt“, sagte Georg leise.
Viele Menschen waren in der Stadt unterwegs, Frauen mit riesigen Einkaufskörben, Kinder mit Schultaschen auf dem Rücken, alleine und an der Hand eines Erwachsenen und wichtig aussehende Männer mit schlanken Aktenkoffern. Karl-Fritz bahnte sich mit rudernden Bewegungen seiner Arme einen Weg durch die Menschenmenge. Dabei stolzierte er mit seinen langen Beinen eckig den Gehsteig entlang, wobei er wie ein großer, exotischer Vogel wirkte. Was für ein merkwürdiger Mensch, dachte Georg. Handlungsreisende waren wichtige Persönlichkeiten in der Vertriebsorganisation eines Unternehmens. Er konnte sich das von dem Mann mit diesem eigentümlichen Gehabe nicht vorstellen. Vor ihnen tauchte eine Kirche auf und Georg sah auf die Turm-Uhr. Es war bereits später als er dachte. Wahrscheinlich geht meine Uhr geht nach. Er machte einige hastige Schritte, um zu Karl-Fritz aufzuholen. „Es ist schon spät“, sagte Georg. „Wie lange gehen wir noch bis zur Firma? Ich kenne mich nicht so gut aus in diesem Teil der Stadt.“
Der Mann vor ihm blieb abrupt stehen und wandte sich um. „Was, du kennst deinen Weg nicht?“
„Warum duzen Sie mich?“
„Schon wieder eine Gegenfrage. Auch wenn du den richtigen Weg nicht kennst: Gib nie auf.“
Es hatte wieder zu schneien begonnen und erst nach einer mühsamen Wanderung erreichten sie das Firmengebäude, dessen bläulich schimmernde Glasfassade sich weit in die Höhe erstreckte, bis sie im Schneegestöber verschwand.
Karl-Fritz blieb stehen und wies mit ausgestrecktem Arm auf die blitzblank geputzte Glasfront, durch die man schemenhaft ins Innere des Gebäudes sehen konnte.
„Gehen Sie rein. Der Pförtner wartet bereits.“
Statt der Frau in der gut geschnittenen Uniform, die ihn gestern begrüßt hatte, erhob sich ein älterer Mann, dem sich Georg langsam näherte, bis er die Schrift auf dem kleinen Schild entziffern konnte, das der Pförtner auf der gestärkten Brust seiner Uniform trug. Walter Janus, Torwächter. Georg bewunderte die glitzernde, fantasiereiche Uniform des Mannes, der ihn einige Sekunden unfreundlich ansah.
„Was wollen Sie hier?“
„Mein Name ist Georg Dohle. Ich war gestern bereits hier.“
„Das ist keine Antwort auf meine Frage“, sagte der Portier, grinste dabei und verbeugte sich übertrieben tief, wobei er die linke Hand an seine Brust presste. Wie ein Lakai Ludwig des Vierzehnten machte er mit dem rechten Arm eine weit ausholende Geste, die Georg zum Eintreten einlud. Dieser schüttelte irritiert den Kopf und blieb einige Augenblicke hoch aufgerichtet mitten in der großen Halle stehen, dann griff er in seine Jackentaschen und suchte das Schreiben, das er gestern erhalten hatte. „Ich möchte in die Vorstandsetage.“
„In die Vorstandsetage“, wiederholte der Pförtner, „das möchten viele.“ Er zog Georg den Brief aus der Hand und begann, übertrieben laut, wie es Georg erschien, den Inhalt vorzulesen, wobei er mit dem angefeuchteten Zeigefinger die Zeilen entlang fuhr. „Mit freundlichem Gruß, Felicitas Farmer, Sekretariat von Prokurist Joachim Schubak.“
Zwei Männer und eine Frau gingen laut lachend an ihnen vorbei, worauf sich mit einem dezenten Klingeln eine der Lifttüren öffnete und der Aufzug geräuschlos nach oben schwebte.
Der Pförtner warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und tippte auf das Papier. „Bitte seien Sie pünktlich, steht hier.“ Er deutete auf die große Uhr an der Wand. „Sie sind mindestens zehn Minuten zu spät. Das ist kein guter Start in der Zusammenarbeit mit unserer Firma.“
„Ich erinnere mich, dass die Herren ihr Büro im zehnten Stock haben“, sagte Georg.
Walter Janus nickte und zeigte auf die andere Seite der Halle. „Zehnte Etage.“
Georg ging zu einem der Aufzüge, als sich hinter ihm der Pförtner räusperte. „Leider sind unsere Fahrstühle außer Betrieb.“