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Tod im Weinberg.
Die Reben zwischen Meran, Kaltern und Salurn stehen in voller Blüte. Tiberio Tanner, seine Zeichens Privatdetektiv, erkennt erfreut, dass er offenbar durch den Erwerb einer Flasche Rotwein einen Rebstock gewonnen hat. Gleich am nächsten Tag macht sich Tanner auf, seinen Gewinn in Besitz zu nehmen – und findet eine Leiche. Ein junger Mann liegt beim Weinstock. Erschossen. Wer ist der Ermordete? Und was hat es mit dem kleinen Luca auf sich, der behauptet, den Mörder beobachtet zu haben?
Tanner stößt auf gewaltbereite Weinbauern, einen mysteriösen Mediziner – und auf einen weiteren Toten ...
Spannend und unterhaltsam – ein eigensinniger Detektiv ermittelt im malerischen Südtirol.
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Seitenzahl: 365
Tod im Weinberg. Die Reben zwischen Meran, Kaltern und Salurn stehen in voller Blüte. Tiberio Tanner, seine Zeichens Privatdetektiv, erkennt erfreut, dass er offenbar durch den Erwerb einer Flasche Rotwein einen Rebstock gewonnen hat. Gleich am nächsten Tag macht sich Tanner auf, seinen Gewinn in Besitz zu nehmen – und findet eine Leiche. Ein junger Mann liegt beim Weinstock. Erschossen. Wer ist der Ermordete? Und was hat es mit dem kleinen Luca auf sich, der behauptet, den Mörder beobachtet zu haben? Tanner stößt auf gewaltbereite Weinbauern, einen mysteriösen Mediziner – und auf einen weiteren Toten. Spannend und unterhaltsam – ein eigensinniger Detektiv ermittelt im malerischen Südtirol
Max Oban, geboren in Oberösterreich, studierte in Wien und Karlsruhe. Er arbeitete für einen internationalen Konzern in Deutschland, den USA und Teheran, bevor er sich seiner Tätigkeit als Schriftsteller widmete. Max Oban ist erfolgreicher Autor zahlreicher Romane, unter anderem der Paul-Peck-Krimireihe. Er lebt in Salzburg und in der Wachau.
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Max Oban
Blutroter Wein
Ein Krimi aus Südtirol
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Glossar Südtirolerisch-Deutsch
Impressum
Wer von diesem Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...
Auckenthaler August, Dr.med., Oberarzt (Primar) am Krankenhaus Meran
Chessler Maurizio, 63, Freund Tiberios und (Noch-)Commissario Capo in der Questura Bozen
Delago Kassian, 65, dem Alkohol zugewandter Landwirt in den Sarntaler Bergen
Delago Luis, 30, Journalist beim Magazin Libera Politica. Von Anfang an sehr tot
Delago Anton (Toni), 27, intellektuell gehandicapt, aus der Bergregion hoch über dem Eisacktaler Talboden
De Santis Nero, neuer Chef in der Questura, selbstbewusst, dumm und arrogant
Dilitz Greta, etwas sperrige Freundin Strickners
Gamper Sara, 45 und rothaarig, Ehefrau des HNO-Arztes
Gamper Sebastian, Dr. med., 50, HNO-Arzt in Kaltern
Gerrer Ferdinand, 55, stolzer Bauer am Ausläufer des Rittner Horns
Graderer Lutz, Commissario, Polizia di Stato Bozen
Greifenstein Gabriel und Giuseppe, gräfliche Weingutbesitzer in Untersirmian
Krohnauer Carlotta, betrogene Ehefrau aus Bozen
Krohnauer Riccardo, betrügender Ehemann aus Bozen
Morras Lana, Blondine und tüchtige Sprechstundenhilfe
Noggler Rafel, Chefredakteur und Herausgeber der Zeitung Libera Politica
Paula, 46, Apothekerin, verständnisvolle, hübsche und freche Partnerin Tanners
Riffesser Emily, 39, Psychotherapeutin, hübsch und gescheit
Rubatscher Jacopo, seriöser Procuratore di Banca Nazionale del Lavoro
Senoner Ambros, Politiker der italienischen Rechtspopulisten
Strickner Nino, Journalist und Kollege Luis Delagos
Tiberio Tanner, 56, Genussmensch und Leiter der Detektei Diskretion & Fazit mit Bürositz Bozen. Privatanschrift: Altenburg, Fraktion der Gemeinde Kaltern
Terlizzi Luca, 13. Er hat etwas beobachtet, das er besser nicht gesehen hätte
Terlizzi Vigilio, Vater Lucas, genauso reicher wie skrupelloser Unternehmer
Weitere Personen: Ehrbare Bauern, Mitarbeiter der Questura Bozen, obskure Verdächtige aus ganz Südtirol, diverse Langweiler und Snobs
»Gruess Gott beinander!«, hat der Fuchs gsagt, wie er im Hennenstall gwesen ist.
„Salute a tutti!“ – disse la volpe entrando nel pollaio.
*
Man soll nicht mehr trinken, als man mit Gewalt hinunter bringt.
Non si deve bere oltre le proprie forze.
*
Alles wissen macht Kopfweh.
Saper tutto fa dolere il corpo.
(Südtiroler Weisheiten & Begebenheiten)
Die Terrasse lag wie eine Aussichtsplattform in der Sonne. Nach Osten öffnete sich der Blick auf das weite Tal des Überetsch, das im Westen von der Mendelwand geschützt war, einige hundert Meter unterhalb der Kalterer See, umringt von ausgedehnten Weingärten, die den Berg hinaufkletterten. Am oberen Ende des Sees konnte er die Häuser des Ortes St. Josef ausmachen, hingestreut wie kleine, weiße Legosteine, und daneben die ersten Badegäste, die sich am sogenannten Lido im Wasser tummelten.
Tanner erinnerte sich, dass es die Aussicht auf das Südtiroler Unterland und den Kalterer See war, die ihn bereits beim ersten Besuch überzeugt hatten, das Haus zu kaufen, in dem er sich gerade wohl zu fühlen begann. Sein Grundstück war nicht viel größer als das Gebäude, doch von Gartenarbeit hatte er ohnehin nie viel gehalten. Deutlich interessanter war die Nähe seines neuen Heims zum Gasthaus Altenburger Hof, der ihn schon einige Male mit seinen opulenten Knödelvariationen und dem frischen Krautsalat vor dem Hungertod gerettet hatte.
Den Vormittag über war er gemeinsam mit dem Möbelschreiner aus Bozen beschäftigt gewesen, drei Bücherregale zu montieren, zwei im Wohnzimmer und eines im Flur. Während der nächsten Tage wartete die Aufgabe auf ihn, die vollbepackten Schachteln aus dem Keller nach oben zu schleppen und die Bücher in die Regale einzuordnen. Nach welchem System dies geschehen sollte, hatte er noch nicht entschieden. Jedes Buch besaß ein Eigenleben und stand in einer vielfältigen Beziehung zu anderen Bänden, die seinen Standort in den Regalen festlegte. Die klassische Lösung bestand darin, die Bücher nach Themengebieten einzureihen. Kriminalromane draußen im Flur, die Bücher zur Geschichte an einem Ehrenplatz im Wohnzimmer. Oder besser alphabetisch nach Autorennamen? Überlegenswert wäre auch eine Anordnung nach dem Erscheinungsdatum. Antiquarische Bücher ganz links und Neuerscheinungen im Wandschrank gegenüber. »Design-orientiert muss es sein. Nach der Farbe der Buchumschläge und passend zum Teppich und zu den Möbeln.« So lautete Paulas Vorschlag. Tanner nahm das nicht ernst. Sie sollte froh sein, dass im Haus endlich Sauberkeit und Ordnung einkehrte, nachdem sie seit Monaten seinen Wohnsitz als Campingplatz verunglimpft hatte.
Nach längerem Nachdenken und einigen Probe-Platzierungen entschied er sich, die 32‑bändige Encyclopedia Britannica repräsentativ in Augenhöhe anzuordnen. Vor einigen Jahren war vom Verlag angekündigt worden, die gedruckte Ausgabe auslaufen zu lassen, worauf sich Tanner entschied, die letzte Auflage des Lexikons zu einem Sonderpreis zu erwerben. Zwei beeindruckende Meter braune Bände mit Goldschnitt. Sie sollten den Ehrenplatz in der Mitte des Regals erhalten.
Tanner war nicht erstaunt, als ihn eine Hungerattacke überfiel. Er hatte seit mehr als vier Stunden nichts gegessen. Zeit für eine Marende. Oder besser, gleich ein rechtschaffenes Mittagessen.
Das Klingeln des Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Es war Paula.
»Wie geht es dir und wie geht es deinen Regalen? Oder sind die Bücher noch im Keller?«
»Das hat sich alles etwas verzögert«, sagte er. »Ich war gerade mit der Logistik beschäftigt. Tausend Bände in mehrere Regale einzuordnen erfordert eine akribische Planung. Eine Heidenarbeit.«
»Ich bin stolz auf dich.«
»Zurecht. Bald herrscht Ordnung im Wohnzimmer, und somit kannst du mein Haus
nicht mehr als Campingplatz beleidigen.«
»Ich komme dich besuchen. Vielleicht helfe ich dir bei der Logistik, wie du es nennst.«
»Lässt du deine Apotheke allein?«
»Es ist heute wenig los, also kann ich mir erlauben, das Geschäft meiner Mitarbeiterin zu überlassen.«
»Wann kommst du?«
»Ich sitze im Auto und bin in zwanzig Minuten bei dir.«
»Halt!« Er erinnerte sich an den Kühlschrank, der abgesehen von einer Flasche Weißwein leer war. »Nimm etwas zum Essen mit. Ich habe Hunger.«
»Ich auch«, sagte sie und legte auf.
Langsam ging er auf die Terrasse zurück und lehnte sich an die Balustrade. Vereinzelt zeigten sich ein paar Wolken über dem Mendelpass, die sich vom Roen bis nach Norden zur Furglauer Scharte zogen. Irgendwo da oben verlief die Sprachgrenze zwischen Südtirol und dem Trentino.
Tanner war kein Bergfex, dennoch war er froh, aus Turin wieder in das Überetsch zurückzukehren. Während der Zeit bei Fiat war er jahrelang auf der ganzen Welt unterwegs gewesen. Jetzt begann er, sich wieder in seiner alten Heimat wohlzufühlen. Zuhause bleiben statt unterwegs sein. Statt See you, Hello und Tschüß wieder Griaß di und pfiat di. Das würde sein Motto sein, seit er wieder hier in Kaltern und Umgebung lebte. Tanners Elternhaus, in dem er aufgewachsen war, hatte dem Bau einer Ferienwohnanlage weichen müssen, daher hatte er vor einem Jahr das alte Steinhaus in Altenburg gekauft.
Zehn Minuten später betrat Paula gutgelaunt den Raum. Mit einem fröhlichen »Eccolo!« stellte sie den Einkaufskorb auf den Küchentisch. »Grüner Tee, frischer Obstsalat und für jeden ein hartes Ei.«
»Um Gottes willen«, sagte er. »Du hast erschreckend gesund eingekauft.«
»Ein Mann in deinem Alter braucht Vitamine.«
Während er ihr beim Auspacken half, schüttelte er den Kopf. »Ich habe gelesen, dass im Obst kaum Vitamine drin sind.«
»Quatsch. Der Mensch muss fünfmal täglich Obst oder Gemüse zu sich nehmen. Wegen der Antioxydantien.«
»So etwas brauche ich nicht.«
Es wurde dennoch ein zufriedenstellendes Mahl. Unter dem Gemüse fand sich ein großes Stück Speck, ein Vinschger Paarl und einige Fladen Schüttelbrot im Korb.
Während er den Wein aus dem Kühlschrank holte, sah er auf die Uhr. Halb zwölf. »Der Wein-Toni hat recht. Kein Rotwein vor zwölf Uhr.«
»Welchen Wein kredenzt du mir?«
Er hob die Flasche und las laut vor: »Sauvignon Blanc Klassik DOC 2018, helles Strohgelb, exotische Früchte in der Nase, etwas Stachelbeere am Gaumen, fruchtbetonter Abgang. Freu dich darauf.«
Sie lächelte und hob ihr Weinglas in seine Richtung. Sie stießen miteinander an und nahmen beide einen Schluck.
»Man schaut einer Dame beim Anstoßen in die Augen, wenn man um ihre Gunst wirbt«, sagte sie. »Außerdem hätte dich mein Vater darauf aufmerksam gemacht, dass der Wein mindestens eine halbe Stunde vor dem Trinken dekantiert gehört. Auch Weißwein will atmen.«
»Dein Vater kann mich auf nichts mehr aufmerksam machen …«
»Gott hab ihn selig.« Paula warf einen kurzen Blick zur Decke. »Er hätte dich als Wein-Banausen verurteilt.«
»Erstens werbe ich nicht um deine Gunst, und zweitens bleibt zum Dekantieren keine Zeit, wenn du so überraschend vor der Tür stehst. Und wenn man durstig ist.«
»Einmal Banause – immer Banause. Der Wein ist übrigens herrlich.«
»Wie der Wein, so die Leut«, sagte er, hob die Flasche und betrachtete das kleine Etikett auf der Rückseite. Überrascht pfiff er durch die Zähne.
»Hör zu«, sagte er. »Gratulation zum Gewinn! Ein Rebstock gehört Ihnen. Folgen Sie den GPS-Daten.«
»Das ist ein dreister Marketing-Gag.«
»Ein Rebstock ergibt eine ganze Flasche Wein«, entgegnete er. »Das ist fast ein halbes Prozent meines Jahreskonsums. So etwas kann man nicht ausschlagen.«
»Steht sonst noch etwas auf der Flasche?«
Er hielt die Flasche ins Licht der Stehlampe und fixierte sie über den Rand der Brille.
»Weingut Castel Cantina. Vigilio Terlizzi, Missian. Im Kleingedruckten kann ich noch zwei achtstellige Nummern entziffern.«
»Gib mir die Flasche und lass deine IT‑affine Liebste ran.« Sie schrieb die Nummern auf einen Zettel und angelte sich ihr Tablet vom Tisch. »N 46.485033 gibt die nördliche Breite an, auf der sich dein Rebstock befindet. Jetzt noch die die östliche Länge …«
»Das sind mir zu viele Details. Wo liegt eigentlich Missian?«
»Im Herzen des Überetsch. Vor einem Jahr haben wir dort die Drei-Burgen-Wanderung gemacht. Boymont, Hocheppan, und beim dritten Schloss haben dich die Kräfte verlassen. Wir saßen in einem sonnigen Weingarten und haben einen wunderbaren Blauburgunder getrunken. Erinnerst du dich?«
»Meine Kräfte lassen mich nie im Stich. Wo Missian liegt, weiß ich immer noch nicht. An den Blauburgunder kann ich mich erinnern.«
»Nördliche Breite, östliche Länge«, murmelte Paula mehr für sich. Sie tippte auf einige Tasten und schlug auf ENTER. »Hier!« Sie hielt ihm das Tablet vor die Nase.
»Missian am Fuße des Gantkofels ist eine Fraktion der Gemeinde Eppan. Ein Stück weiter westlich beim roten Punkt befindet sich dein Weinstock. Alles klar?«
»Ja. Verrät dein GPS auch, welche Trauben der Weinstock trägt?«
Paula trank ihr Glas aus und sah ihn prüfend an. »Willst du wirklich da hinfahren?«
»Morgen. Ich habe in der Nähe zu tun. Wegen meines neuen Falles.«
»Du langweilst dich, und das ist nicht gut für einen Mann. Früher hast du dich öfters mit Maurizio getroffen.«
»Aber nicht aus Langeweile. Außerdem … Maurizio ist alt geworden.«
»Ich will dir nicht zu nahetreten, mein Schatz, aber er ist nur sieben Jahre älter als du.«
»Manchmal denke ich mir, dass er krank ist. Maurizio trinkt und raucht zu viel.«
Sie nickte. »Ich habe ihn vor ein paar Tagen am Kornplatz getroffen. Er ist so dick, dass er kaum noch laufen kann.«
»Er hat berufliche Sorgen, glaube ich. Sein Vizequestore ist ein Tscheggl.«
»Es ist gut, dass du einen neuen Auftrag hast.«
»Ich genieße die Muße. Von Langeweile kann keine Rede sein.«
Sie hielt ihm das leere Glas hin. »Schenk mir noch ein Glas ein. Ohne Auftrag kannst du dir einen so teuren Wein ohnehin nicht mehr lange leisten. Worum geht es in deinem neuen Fall?«
»Gestern war eine potenzielle Klientin bei mir im Büro.«
»Was ist sie noch? Außer potenziell.«
»Sie heißt Carlotta mit Vornamen, hat eine tolle Figur und ist die hübscheste betrogene Ehefrau in Bozen.«
»Lehn den Auftrag ab.«
»Die Überwachung eines treulosen Gatten …« Tanner seufzte. »Der Traum eines jeden Detektivs. Die Frau hat Verdacht geschöpft, weil ihr Mann seit kurzem Überstunden macht und komisch riecht, wenn er spät abends nach Hause kommt. Außerdem achtet er plötzlich auf seine Figur und wechselt häufiger als sonst seine Unterwäsche.«
»Und was ist dein Beitrag bei diesem Ehedrama?«
»Die hübsche Carlotta will sich scheiden lassen und braucht Beweise. Für die Untreue ihres Ehemannes. Sie hat mir eine Fotografie von ihm gegeben.«
»Und … wie sieht er aus?«
»So wie viele Männer. Zuverlässig, unschuldig und harmlos.«
*
Am nächsten Morgen fuhr Tanner die engen Kurven ins Tal und wunderte sich, wie vertraut ihm die Landschaft um Altenburg bereits geworden war. Der dunkle Wald, der sich den Mendelhang entlang zog, und weiter auf die Strada del Vino, die ihn in einer Viertelstunde gemütlicher Fahrt durch die ersten Ortsteile der Gemeinde Eppan führte. Er liebte diese Strecke, die ein paar Minuten länger war als die parallel verlaufende Schnellstraße, aber idyllische Panoramablicke über das Überetsch bis nach Bozen und zu den Dolomiten versprach.
Das f‑Moll von Donizettis siebtem Streichquartett drückte seine Stimmung etwas, als er unkonzentriert eine Kreuzung erreichte, an der sich die Straße teilte. Während der westliche Strang zum Mendelpass hinauf führte, folgte er der Weinstraße Richtung Sankt Pauls. Er verließ sich öfters auf sein GPS-Gerät, wenn ihn ein Fall in unbekannte Regionen entführte, noch nie hatte er es aber eingesetzt, um einen einsamen Rebstock aufzusuchen. An einer autobahnähnlichen Kreuzung nahm er die Abzweigung Richtung Norden, dort, wo der Missianer Weg zur Mendel hinaufstieg, unten lückenlos mit Obstbäumen und Weingärten besetzt, gefolgt von Kastanien und dicht wachsenden Buchen und Eichenwäldern.
Im Schritttempo rollte er über den leicht abschüssigen Dorfplatz und parkte den Wagen vor der Volksschule, die sich weithin sichtbar auf dem mit Weinreben bepflanzten Hügel erhob. Zwischen der Kirche und dem Pfarrhaus, das hier, wie ein kleines Schild verriet, Widum hieß, ließ er sich auf eine Bank nieder. Hinter ihm ragten die Mauern einer Ruine über das vielfältige Buschwerk, auf der anderen Seite sah man weit über das Etschtal hinweg bis zu einem auffallend geformten Berg mit zwei Spitzen. Das musste der Schlern sein. Ein Stück talabwärts war ein schlossähnliches Gebäude zu erkennen. Tanner erinnerte sich an die Dreiburgen-Wanderung, von der Paula gesprochen hatte. Hier soll er sich schon einmal aufgehalten haben. Daran konnte er sich nicht erinnern.
Er hatte noch nie darüber nachgedacht, warum alte Kirchen eine solche Faszination auf ihn auswirkten. Möglicherweise spielte das historische Bauwerk dabei eine größere Rolle als Religion und Gottesglaube. Er betrat die Dämmerung der Kirche, die menschenleer war. Eine Kerze brannte am Altar. Am auffälligsten war jedoch die Stille. Einer Art Anschlagtafel neben der Eingangstür entnahm er die Information, dass die Kirche der Heiligen Apollonia geweiht war. Als Nebenpatron war der Heilige Zeno aufgeführt. Tanner nahm sich vor, Paula zu fragen, was die Aufgabe eines Nebenpatrons war. Einige Augenblicke blieb er hinter der letzten Bankreihe stehen, von wo ein roter Teppich bis zum in Gold gehaltenen Barockaltar führte. Der rote Teppich war also keine Erfindung Hollywoods.
Das Gespräch kam ihm in den Sinn, das er gestern Abend mit Paula geführt hatte, in dem sie beschlossen, sich mehr mit der Geschichte und der Kultur des Landes vertraut zu machen. »Das ist ein weites Feld«, hatte Paula gesagt, und so verabredeten sie, sich die Sache aufzuteilen. Paula gewann die Verantwortlichkeit für die anspruchslosen Bereiche Kunst und Architektur sowie die Kulturgeschichte des Landes zwischen Sterzing und Salurn. Aufgrund seiner eher genießerischen Kompetenzen akzeptierte Tanner schließlich den deutlich komplexeren Teil der regionalen Küche sowie die Verantwortlichkeit für den Südtiroler Wein. Er beschloss, diese Aufgabe sehr ernst zu nehmen.
Das Klingeln seines Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Es war Paula. Mit hallenden Schritten rannte er aus der Kirche.
»Hast du deinen Rebstock schon in Besitz genommen?«
»Das hat sich alles etwas verzögert«, sagte er. »Ich musste gerade über die Kultur des Landes nachdenken. Und über dich.«
»Ändere sofort die Reihenfolge«, sagte sie. »Wo bist du gerade?«
»In Missian. Direkt hinter mir am Berg thront eine protzige Burg.«
»Das ist Obereppan. Die Grafen von Eppan waren die größten Feinde der Tiroler Grafen.«
»Muss aber ziemlich lange her sein. Jetzt ist es nur noch eine Ruine.«
»Die Trümmer stammen aus dem 12. Jahrhundert.«
»Du hast wieder deine archäologische Kompetenz unter Beweis gestellt.«
»Du weißt, Archäologie ist mein Hobby.« Tanner konnte förmlich hören, dass sie grinste. »Je älter du wirst, desto interessanter bist du für mich.«
»Ich wünsche dir noch einen schönen Tag in deiner Apotheke«, sagte er und drückte auf den Aus-Knopf.
Tanner warf einen Blick hinauf zu dem Felskegel, auf dem die Burg thronte, als wäre sie die Krone des gesamten Landes. Er wusste, dass Südtirol seit dem Mittelalter von einer Unmenge von Adelssitzen überzogen war, in denen früher mächtige und einflussreiche Herren wohnten. Heute lebten deren Nachkommen immer noch in ihren luxuriösen Ansitzen und Burgen, hatten aber über die Jahrhunderte an Macht und meist auch an Reichtum eingebüßt. Er kannte eine Reihe von Südtiroler Adligen, die ihre Schlösser den Touristen öffneten und sich als Museumsführer verdingten, als Hoteliers oder im günstigsten Fall als Winzer.
Zwanzig Minuten später folgte er zu Fuß dem Pfeil seines Navigationsgerätes, das ihn einen schmalen Wiesenpfad bergauf lenkte. Hier musste es irgendwo sein. Genauigkeit zwei Meter, entnahm er dem Display des GPS-Empfängers. Ob das ausreichte, um einen einzelnen Rebstock zu finden?
Der grasbewachsene Weg wurde steiler und war an manchen Stellen kaum mehr zu erkennen. Tanner musste ständig über Steine klettern, bis er die Grenze des Weingartens erreichte, in dem sich die hölzernen Gerüste wie mit dem Lineal gezeichnet in unzählige Reihen den Hang hinaufzogen. Pergelsystem hieß diese Art des Anbaus, hatte ihm ein Winzer aus Kaltern erklärt.
Deine Kondition ist verbesserungsbedürftig, sagte er sich, als er schnaufend den Rand des Weingartens erreichte. Noch einmal warf er einen prüfenden Blick auf das Navigationsgerät. Einer der Weinstöcke stand etwas abseits von den anderen. War das sein Rebstock? Doch das war nicht das Einzige, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Das Ungewöhnliche war die Leiche, die am Fuß des Rebstocks lag.
*
Warum war er sich sofort sicher, dass der Mann tot war? War es die Tatsache, dass er etwas verdreht auf dem Rücken lag, den Kopf weit nach hinten geneigt, so dass er mit Sicherheit Probleme beim Luftholen hätte, wenn er noch am Leben wäre? Oder war es die Stellung des linken Beines, das eigenartig abgewinkelt war und wie krampfhaft zur Seite zeigte?
Der Anblick der verkrümmten Leiche ließ Tanner vor Schreck erstarren. Langsam ging er näher und bückte sich zu dem Toten hinunter. In diesem Moment erhob sich mit Geschrei und lautem Flügelschlagen ein Schwarm Vögel in die Luft. Mit einer Hand stützte sich Tanner am Boden ab und bot seine ganze Willenskraft auf, die schreckliche Szenerie zu betrachten. Plötzlich hatte er das Gefühl, als ob seine Professionalität, die ihn in solchen Momenten wie eine Rüstung schützte, von ihm abgefallen war.
Die dunkle Hose des Mannes wies zahlreichen Flecken auf, seine braunen Schuhe passten nicht zur Farbe des Anzugs. Das gestreifte Hemd war ihm aus der Hose gerutscht und bis auf die Brust aufgeknöpft. Vorsichtig berührte Tanner die Schulter des Mannes. Keine Reaktion. Er beugte sich nach vorne und betrachtete das Gesicht. Kein junger Bursche mehr. Dreißig Jahre, vielleicht auch ein paar Jahre älter. Und eindeutig tot. Tanner sah ein kleines, rundes Loch genau zwischen den Augenbrauen. Wie ein drittes Auge. Ein Schuss aus geringer Entfernung. Mein Gott … eine regelrechte Hinrichtung. Er untersuchte den Hinterkopf, fand aber keine Austrittswunde.
Am rechten Handgelenk, das zahlreiche Hautabschürfungen zeigte, trug der Tote ein schwarzes Metallarmband in Form einer Schlange, die sich in den Schwanz biss. Tanner beugte sich zur Seite und entdeckte eine Platzwunde am Kopf des Mannes, aus der kein Blut ausgetreten war. Wie lange mochte er tot sein? Aus einem Nasenloch kroch eine Ameise. Tanner wischte sie weg. Als er sich aufrichtete, wurde ihm schwarz vor Augen.
Er lehnte sich an einen der Bäume, die auf der anderen Seite des Weges standen, und betrachtete die Szenerie. Wie kam die Leiche in den Weinberg? Hatte jemand den Mann hierher gelockt und erschossen? Er glaubte das nicht. Vermutlich wurde der Mann an einer anderen Stelle getötet und die Leiche hier aus dem Auto geworfen. Die Obduktion würde zeigen, wie lange der Mann schon tot war. Wenige Stunden wahrscheinlich. Der Weg, der von der Straße hier hinaufführte, war hart und steinig und hinterließ keine Fußabdrücke. Also auch keine Reifenspuren. Größere Steine und Unebenheiten machten es für einen normalen Wagen unmöglich, den Weg zu befahren. Möglicherweise ein Traktor. Oder ein vierradgetriebener Geländewagen mit großer Bodenfreiheit.
Was sollte er jetzt tun? Einen kurzen Moment spielte er mit dem Gedanken, die Flucht zu ergreifen, ohne die Polizei zu verständigen. Nein! Ein Detektiv hat sich der Realität zu stellen. Noch einmal ging er in die Knie, wickelte sich sein Taschentuch um die Finger, schlug das Jackett zurück und studierte das eingenähte Etikett. Der Anzug stammte von einer Allerweltsfirma. Billige Konfektionsware, die man in allen Fußgängerzonen Europas kaufen kann. Die Innentaschen der Jacke waren genauso leer wie die Hosentaschen. Nichts. Kein Ausweis, kein Telefon und keine Geldtasche. Das Einzige, das er aus einer der Innentaschen des Sakkos zutage förderte, war ein zerknittertes und leicht unscharfes Schwarz-Weiß-Foto, das den Eingang zu einer Höhle zeigte. Sträucher und Bäume waren darauf zu erkennen, die das dunkle Loch des Einganges umwucherten. Auf der Rückseite entdeckte er einen halb verwitterten Stempel: Fotostudio Soyer, Meran. Tanner steckte die Fotografie ein.
In seinem Notizbuch fand er den Namen des Winzers, dem er den glücklichen Gewinn des Rebstocks zu verdanken hatte. Des todbringenden Rebstocks. Weingut Castel Cantina. Besitzer Vigilio Terlizzi. Keine Adresse. Wahrscheinlich war das eines der Häuser unten im Tal, die man von hier oben sehen konnte, dort, wo sich die schmale Straße den Berg hinaufwand. Das Gebäude im Vordergrund sah wie ein heruntergekommener Ansitz aus. Sollte er Terlizzi aufsuchen und sich als der neue Eigentümer des Rebstocks mit der Leiche vorstellen? Er entschied sich dagegen, holte sein Handy aus der Tasche und rief Maurizio an, der sofort ans Telefon ging.
»Hier liegt ein Toter.«
Lautes Schnaufen am anderen Ende der Leitung. »Wo liegt ein Toter?«
»Ich kann dir die GPS-Daten der Leiche durchgeben. Auf zwei Meter genau.«
»Du machst Scherze.«
»Mir ist nicht zum Scherzen zumute. Hast du was zum Schreiben? Ich diktiere dir die Koordinaten.«
»Ich verständige meine Leute. Bleib, wo du bist.«
»Kannst du herkommen?«
»Ich bin schon unterwegs. Wahrscheinlich bin ich vor den anderen bei dir.«
Als Nächstes kam weder Maurizio noch die Carabinieri, sondern ein großer, stämmiger Mann mit einem Stock in der Hand, der weit ausschreitend aus dem Tal herauf stapfte. Die hünenhafte Gestalt erinnerte ihn an die Sage vom wilden Mann auf dem Ritten, die ihm seine Mutter immer vorgelesen hatte. Genauso hatte Tanner sich in seiner Fantasie die Figur des Wilden Mannes vorgestellt. Wirre, dunkle Haare hingen ihm ins Gesicht, ein ungepflegter Bart bedeckte Kinn und Wangen.
»Was tun Sie auf meinem Grundstück?«, rief der Mann von weitem und schwenkte seinen Stock.
Tanner wartete, bis der Mann näher gekommen war, und begrüßte ihn mit den Worten: »Ich bewache eine Leiche.«
Ein Ruck ging durch die riesige Gestalt. Er konnte offenbar nicht glauben, was er sah. Zuerst blieb er wie angewurzelt stehen, dann beugte er sich langsam nach vorne und beäugte die Leiche. Mit seinem Holzstock zeigte er auf den Toten und sah Tanner an. »Haben Sie ihn getötet?«
»Nicht herumtrampeln«, sagte Tanner. »Sonst zerstören Sie mögliche Spuren. Und nein, ich habe ihn nicht getötet.«
»Und was tun Sie dann hier?« Wieder deutete der Hüne auf die Leiche. »Haben Sie etwas mit dem Toten zu tun?« Er bückte sich und streckte die Hand aus, als wollte er den leblosen Körper berühren.
»Hände weg!«, rief Tanner.
»Sie haben mir gar nichts zu sagen.« Der Fremde zog seine Hand zurück. »Wer ist der Mann?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Tanner. »Er hat keine Papiere bei sich. Ich habe bereits die Polizei verständigt.« Wie um es zu beweisen, zeigte er dem Mann sein Handy.
»Hat der Bursche Selbstmord begangen? Ausgerechnet auf meinem Grund und Boden.«
»Ich habe keine Waffe gesehen. Außerdem …« Tanner grinste. »… der Rebstock, bei dem die Leiche liegt, gehört mir.«
Überrascht sah ihn der Hüne an. »Mein Name ist Vigilio Terlizzi. Mir gehört die gesamte Gegend hier.«
Tanner griff in die Tasche und hielt dem Mann das Etikett hin, das er von der Weinflasche abgelöst hatte. »Und ich bin der glückliche Gewinner.«
Terlizzi sah zuerst auf das wellige Stück Papier, dann wandte er sich kopfschüttelnd Tanner zu. »Das mit dem Etikett und dem Rebstock war eine dumme Idee meiner Frau. Ich habe nie damit gerechnet, dass sich jemand meldet. Wollen Sie tatsächlich den Weinstock haben?«
Tanner sah auf die Leiche. »Ich glaube nicht, dass ich den Wein aus diesen Trauben noch trinken möchte.«
»Das ist sicher ein verdammter Asylant oder so ein linker Chaot, von denen man jeden Tag in der Zeitung liest.«
»Ein Asylant? So sieht der Mann nicht aus.«
»Dunkle Hautfarbe. Sehen Sie das nicht?«
»Das ist Schmutz. Er ist genauso ein Weißer wie Sie und ich.«
»Soweit ist das hier in unserem Land gekommen.« Die Stimme Terlizzis war laut geworden. »Ich weiß, wovon ich rede. Entweder ein Wirtschaftsflüchtling, der über das Mittelmeer kam, oder ein linker Krimineller.«
Leise hörte man die Sirene eines Polizeiwagens. Tanner drehte sich um. Terlizzi redete einfach weiter. »Ich habe das alles kommen gesehen. Gott sei Dank haben wir jetzt verantwortungsvolle Politiker in der Regierung. Auch bei uns in Südtirol. Wir leben in gefährlichen Zeiten. Für mich besteht kein Zweifel, dass …«
Tanner ging den ersten beiden Uniformierten entgegen, die den Hang heraufhetzten und direkt zu dem Rebstock trampelten, um sich die Leiche anzusehen.
»Wer sind Sie?«, fragte Tanner den Mann, der sich, die Hände in die Hüften gestemmt, vor ihn hingestellt hatte.
»Die Fragen stellen wir.« Der Carabiniero sah Tanner scharf an und wandte sich dann einer in vornehmes Tuch gekleideten Frau zu, die gerade mit einem großen Aktenkoffer angeschnauft kam. Offenbar die Ärztin.
Ein weiterer Polizeibeamter, der in einem kleinkarierten, schlecht geschnittenen Anzug steckte, blieb vor Tanner stehen. »Wer sind Sie, woher kommen Sie und was haben Sie hier zu suchen?« Bevor Tanner antworten konnte, schob er nach: »Commissario Graderer, Polizia di Stato Bozen.«
Graderers Äußeres war von einer imponierenden Knollennase geprägt, ergänzt durch ein fliehendes Kinn und einer schwammigen Unschärfe in seinen verträumten Augen.
»Haben Sie den Mann erschossen?«, fragte der Polizist, während er aufmerksam Tanners Ausweis studierte. »Sie sind also Privatdetektiv.« Er hob den Blick und sah Tanner ins Gesicht. »Ein Schnüffler … das hat uns gerade noch gefehlt. Seit wann sind Sie hier, und haben Sie was angerührt?«
»Eine halbe Stunde und nichts angerührt. Nur Ihre Leute trampeln gerade ziemlich unbedarft um die Leiche herum. Spuren zerstören, nennt man das in der Fachsprache.«
»Davon verstehen Sie nichts, also halten Sie sich bitte mit Ihrer unqualifizierten Meinung zurück. Und rühren Sie sich nicht vom Fleck.« Graderer entzog ihm den Blick und wandte sich dem danebenstehenden Terlizzi zu.
In diesem Moment stapfte Maurizio Chessler den Hügel herauf und wischte sich mit dem Taschentusch zuerst über die Stirn, dann hinten um den Nacken. Als Graderer ihn sah, nahm er ruckartig Haltung an. »Capo«, flüsterte er, und es klang mehr ehrfurchtsvoll als überrascht.
»Guten Tag, Lutz«, sagte Maurizio und deutete auf Tanner. »Das ist mein Freund Tiberio, Inhaber einer bedeutenden Detektei in Bozen und Freund der Polizia. Alles klar?«
»Alles klar«, sagte Graderer in beleidigtem Ton. Er zückte ein Notizbuch und dreht sich wieder Terlizzi zu.
Tanner deutete auf den Rebstock, neben dem jetzt die Ärztin am Boden kniete und mit einer Taschenlampe dem Toten in den Mund leuchtete.
»Mein Weinstock ist entehrt«, flüsterte Tanner.
In der nächsten Stunde wurde der Hang immer belebter. Unten an der Straße waren zwei weitere Autos angekommen. Männer in weißen Kunststoffanzügen luden schwere Koffer aus und schleppten sie den Hang herauf. An einem der Einsatzfahrzeuge rotierte immer noch das Blaulicht.
Tanner beobachtete einige Uniformierte, die den Weinberg und den angrenzenden Wald durchkämmten. Ein rotes Kunststoffband schlängelte sich durch die Bäume und Rebstöcke und markierte ein großes, abgesperrtes Gebiet, das fast den gesamten Hügel umfasste. Der Fotograf lief hektisch um die Leiche herum und machte Aufnahmen.
Laute und schnippische Worte fielen im Hintergrund. Die Stimmung wirkte angespannt. Tanner beobachtete die Männer, die feixend auf Graderer deuteten. Dann wurde ihm klar, dass der Commissario von den Carabinieri nicht ernst genommen wurde.
Auch Maurizio war das aufgefallen. Er sah zu Tanner, der wie entschuldigend die Schultern hob. »Wenn sich der eigene Commissario bei den Carabinieris nicht durchsetzen kann, ist er ein Arschloch. Das ist bei Graderer der Fall. Ich wollte ihn schon vor einem Jahr nach Trient versetzen. Zur Überwachung der Parklätze.«
Die Ärztin hatte ihre Tasche zusammengepackt und trat näher. »Ich war in einem
Restaurant in der Nähe, als der Anruf kam«, sagte sie.
»Das tut mir leid.« Maurizio sah auf die Uhr. »Für das Dessert reicht die Zeit vielleicht noch.«
Sie machte einen Seitenblick auf die Leiche und lächelte säuerlich. »Appetit vergangen. Wir können übrigens von einem Steckschuss ausgehen.«
»War er sofort tot?«
»Nicht unbedingt. Mehr kann ich noch nicht sagen.«
»Der Tatort …«
»Ist wahrscheinlich nicht hier am Weinberg. Der arme Kerl wurde irgendwo erschossen und hierher gebracht.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Der skeptische Capo.« Sie lächelte. »Jedenfalls bin ich sicher, dass die Leiche nach ihrem Tod bewegt wurde. Wie lange der Mann tot ist, kann ich nicht genau sagen. Die Leichenflecke deuten darauf hin, dass der Tote einige Stunden auf dem Rücken gelegen hat. Der Bericht kommt spätestens übermorgen.«
»Das musst du dem ungeduldigen Staatsanwalt sagen.« Die Frau gab Maurizio die Hand, nickte Tanner zu und ging zu ihrem Wagen.
»Dottoressa Zanchetti«, sagte Maurizio und sah der Frau nach. »Sie ist aus Lucca. Eine famose Frau.«
Tanner nickte. »Ich hatte schon einmal mit ihr zu tun.«
Vom Hang aus beobachteten sie zwei Carabinieri, die unten an der Straße vor einem Haus standen und mit einer Frau redeten. Wie auf einen Befehl drehten alle die Köpfe und sahen herauf. Drei Häuser konnte man von hier oben sehen, und Tanner nahm sich vor, mit den Leuten, die darin wohnten, zu reden.
»Sehen wir uns morgen?«, fragte Maurizio, nachdem sie sich einige Schritte von der Leiche entfernt hatten.
»Ich weiß es nicht. Ich muss das alles erst einmal verdauen.«
Maurizio blieb stehen und blickte Tanner ins Gesicht. »Du siehst müde aus. Geh nach Hause.«
»Nach Hause«, wiederholte Tanner.
»Leg dich ins Bett. Ich rufe dich morgen an.«
Es war noch früh am Tag. Tanner saß in der Sonne und beobachtete das kleinstädtische Treiben auf dem Marktplatz. Die Touristen waren noch nicht nach Kaltern angereist oder saßen bei ihrem Frühstück in den Hotels. Die Straßenreinigung war zwei Mal vor der Pfarrkirche und um die barocke Mariensäule herumgekurvt, die Angestellten der Geschäfte und Cafés fegten vor ihren Eingangstüren oder stellten Tische und Sonnenschirme auf. Mütter begleiteten die Kinder in die Schule.
Der Morgen roch frisch, und ein Windstoß fegte über den Platz und wirbelte Tanners Haare durcheinander. Neben ihm saßen zwei Männer und lasen in der weit ausgebreiteten »Alto Adige«, so dass man ihre Gesichter nicht sehen konnte. Ein frühes Touristenpaar zog ihre zwei quengeligen Kinder hinter sich her. Wahrscheinlich auf dem Weg in eines der Museen oder eine von den Kindern heiß ersehnten barocken Kirchen.
Laubencafé, Caldaro sulla strada del vino stand auf der ersten Seite der kleinformatigen Getränkekarte, in die er einen kurzen Blick warf und bei dem jungen Mädchen einen Caffè Doppio und einen Bauerntoast bestellte, der seinem Speckbrot am nächsten kam.
Er stellte fest, dass schon einige Tage vergangen waren, seit er das letzte Mal hier am Dorfplatz war. Neben dem Brunnen erhob sich glatt glänzend ein Maibaum, oben begrenzt mit einem dünnen, grünen Kranz sowie der weiß-roten Fahne Südtirols.
Unkonzentriert blätterte er sich durch die »Dolomiten«, dem Tagblatt der Südtiroler, wo er auf Seite vier einen Bericht mit der Überschrift »Der Tote im Weinberg« fand. Die Polizei steht vor einem Rätsel, las er. Nicht nur der Täter, sondern auch das Mordopfer sei unbekannt. Unter dem Artikel war ein unscharfes Foto des Toten abgebildet.
Nach gut einer halben Stunde watschelte Maurizio Chessler quer über den Marktplatz und ließ sich stöhnend gegenüber Tanner auf den filigranen Stuhl fallen. »Schon in der Früh ist es schweißtreibend und schwül. Wie geht’s dir heute, lieber Freund? Hast du den Leichenschock überwunden? Tut mir übrigens leid …« Er sah auf die Uhr. »Von Bozen bis Sankt Pauls ging es gut. Dann kam eine Baustelle, und ich stand im Stau. Deshalb bin ich etwas spät dran.«
Ohne einen Blick in die Karte zu werfen, bestellte er eine Buchweizentorte und ein Glas Weißburgunder. »Und ein Vinschger Paarl«, schob er nach.
Maurizio hob wie entschuldigend die Schultern und lächelte Tanner an. »Ich kannte mal eine Frau hier in Kaltern, da war ich beinahe täglich im Laubencafé. Deshalb kenne ich die Karte auswendig.« Er lehnte sich zurück und sah einer hübschen Mutter nach, die einen Kinderwagen vorbei schob. »Ich habe übrigens nur eine gute Stunde Zeit. Meiner Sekretärin habe ich gesagt, ich müsse auf die Bank.«
Das junge Mädchen näherte sich auf leisen Sohlen und stellte das Weinglas vor Maurizio auf den Tisch und einen zweiten Caffè für Tanner.
»Und nach Kaltern steht Bozen und Meran auf dem Programm.« Eine laute Frauenstimme aus dem Hintergrund. Tanner drehte sich um und sah, dass am Nebentisch zwei gut gekleidete, ältere Frauen Platz genommen hatten. »Hinterher fahren wir nach Verona, leider nur zwei Tage, da wir rechtzeitig in Venedig sein müssen, wo wir unser Kreuzfahrtschiff nach Mallorca besteigen. Venedig grüßt Malle … Ist das nicht ein herrliches Motto?«
Tanner lief ein eisiger Schauer über den Rücken.
Maurizio lächelte die vor ihm stehende Buchweizentorte an, packte entschlossen die Gabel, rückte den Sessel etwas nach vorn und ließ mit einem wohligen Stöhnen seinen Kugelbauch der Tischplatte entgegensacken. »Buchweizen produziert im Körper weniger Zucker als weißes Mehl. Soweit es geht, vermeide ich Zucker. Der Arzt hat bei mir vor einigen Tagen ein bereits ziemlich ausgewachsener Diabetes diagnostiziert.« Er lehnte sich zurück, nahm die Brille ab und legte sie neben das Weinglas. »Wusstest du, dass Kohlenhydrate, Vernatsch und Grappa nur ein anderes Wort für Zucker darstellen?«
Maurizios Jacke war über dem Bauch zugeknöpft, und man musste Angst haben, ob der Knopf die Spannung aushalten würde.
»Wer ist der Tote, der bei meinem Weinstock in Missian lag? Gibt es in der Questura schon Erkenntnisse?«
Maurizio schüttelte den Kopf, winkte der Kellnerin und zeigte ihr den leeren Tortenteller, was sie mit einem erhobenen Daumen quittierte.
»Noch keine Spur. Wir warten auf eine Abgängigkeitsanzeige. In der gesamten Region Südtirol wird derzeit nur eine Person vermisst, und das ist eine sechzigjährige Frau aus Trient.«
»Ein dreißigjähriger Mann muss doch Verwandte haben. Oder Freunde. Bevor die Carabinieri kamen, habe ich übrigens kurz mit dem Besitzer des Weinbergs gesprochen.«
»Ich habe ihn gesehen. Wie hieß er noch mal?«
Tanner blätterte in seinem Notizbuch. »Terlizzi. Vorname Vigilio. Er verdächtigt einen Asylanten, hat aber keine Beweise für seine Behauptung. Gibt es schon Ergebnisse von der hübschen Dottoressa?«
Maurizio richtete seine Schweinsäuglein auf Tanner »Nichts. Die Dame lässt sich Zeit. Sicher ist nur, dass sich das Projektil im Kopf befindet. Ich habe mir das von einem unserer Fachleute erklären lassen. Steckschüsse im Kopf kommen heutzutage relativ selten vor, deshalb vermuten meine Leute eine 7,65 × 21er Luger-Patrone. Die gehörte früher unter anderem zur Standardausrüstung der italienischen Armee. Meine Mitarbeiter glauben übrigens, dass der Mann nicht im Weinberg getötet wurde.«
Tanner nickte. »Bei dem geringen Abstand zu den Häusern wäre das Risiko eines Schusses auch zu groß.«
»Kein Geld, kein Ausweis, kein Handy«, sagte Maurizio, mehr zu sich selbst.
Tanner griff in die Innentasche seiner Jacke. »Nur eine Fotografie hatte der Tote eingesteckt.«
Maurizio pfiff durch die Zähne. Während er das Foto betrachtete, bildeten sich tiefe Falten auf seiner Stirn. »Das ist illegal.«
»Was ist illegal?«
»Dass du die Fotografie an dich genommen hast. Das ist ein wichtiges Beweisstück, das du der Polizei vorenthalten hast. Was hast du zu deiner Entschuldigung vorzubringen?«
»Ich griff in die Innentasche des Toten. Das Bild muss an meinen Fingern kleben geblieben sein.«
»Ein Höhleneingang«, sagte Maurizio. »Irgendwo in den Bergen.«
»Weißt du, wo das aufgenommen wurde? Du hast doch dein ganzes Leben hier in der Gegend verbracht.«
Maurizio schüttelte den Kopf, so dass seine fetten Hamsterbacken und das Doppelkinn leicht zu zittern begannen.
»Schau dir die Rückseite an.«
»Der Stempel ist schlecht zu entziffern. Fotostudio Soyer, Meran. Oder so ähnlich.«
»Ich werde morgen hinfahren. Mal sehen, ob es den Laden noch gibt. Das ist übrigens meine Fotografie.« Tanner streckte fordernd seine Hand über den Tisch.
»Von mir aus.« Maurizio seufzte. »Wer weiß, wie lange ich meinen Job noch habe.«
»Das hast du einmal schon angedeutet. Was ist los?«
Maurizio drehte sich um, ob auch keiner mithörte. »Tiberio, ich ahne nichts Gutes. Da läuft was gegen mich. Aus Rom gibt es bereits Gerüchte, dass ich abgelöst werden soll. Sogar der Vizequestore ist kühl zu mir. Seit einigen Tagen schon.«
»Das kann doch nicht sein. Du bist jetzt zwanzig Jahre Commissario Capo in Bozen und hast dir große Verdienste erworben. Da kann doch nicht irgendein Dahergelaufener kommen und …«
Maurizio hob die Hand und stoppte Tanners Redefluss. »Zwanzig Jahre Capo sein ist keine Ehre. Zumal meine Beförderung zum Vizequestore schon lange überfällig wäre.« Er beendete den Satz mit einer wegwerfenden Handbewegung.
»Welche Gerüchte sind das, die aus Rom kommen?«
»Nichts Konkretes … Ablöse, Frühpension, was weiß ich. Jedenfalls nichts Ehrenhaftes.«
Tanner versuchte ein verständnisvolles Lächeln. »Denk daran, was mir bei Fiat passiert ist. Frühpension ist nicht das Schlechteste.«
Maurizio erhob sich und streckte Tanner die Hand hin. »Ich muss zurück.«
Tanner beobachtete ihn, wie er leicht nach vorne gebeugt über den Platz schlich. Wie ein alter Mann.
*
Es ging auf Mittag zu, das Laubencafé hatte sich bis auf den letzten Platz gefüllt. Was sollte er jetzt als Nächstes unternehmen? Ein Detektiv muss von Zeit zu Zeit strategische Entscheidungen treffen, sagte Tanner sich, winkte die junge Kellnerin herbei und bestellte noch einen Bauerntoast. Und ein Glas Sauvignon Blanc.
Er genoss gerade den ersten Schluck des gut gekühlten, trockenen Weißweins, als sein Handy klingelte.
»Hier ist Carlotta Krohnauer, guten Tag, Herr Tanner.«
Seine Klientin. Die betrogene Ehefrau. Mit einem Ruck setzte er sich aufrecht hin und blätterte in seinem Notizbuch. »Guten Tag, Frau Krohnauer. Ich wollte Sie gerade anrufen.«
»Erzählen Sie keine Märchen und hören Sie zu. Riccardo … mein Mann … er wird sich in genau einer Stunde mit seiner Geliebten treffen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Simone, meine Freundin, ist mit Riccardos Sekretärin befreundet. Und die hat soeben ein Telefonat mitgehört, in dem er sich mit dieser Schlampe verabredet hat.«
»Eine Freundin, die mit der Sekretärin befreundet ist. Das nenne ich ein engmaschiges Netzwerk. Sie arbeiten mit allen Tricks.«
»Frauen müssen zusammenhalten.«
»Wie heißt sie? Die Schlampe meine ich.«
»Na wie schon? Abigail natürlich. Abigail Ferrari.«
In der Zwischenzeit hatte er die richtige Seite in seinem Notizbuch gefunden. »Ich erinnere mich«, sagte er mit fester Stimme. »Ihr Mann Riccardo arbeitet in der Stadtverwaltung Bozen, die sich am Angela-Nikoletti-Platz befindet. Richtig?«
»Da ich es Ihnen erzählt habe, muss es richtig sein. In einer Stunde, um Punkt vierzehn Uhr, verlässt Riccardo sein Büro und fährt irgendwohin, wo er sich mit diesem Trompl zu seinem wöchentlichen Schäferstündchen trifft.«
»Irgendwohin?« Um Gottes willen, dachte Tanner. »Wo könnte das sein?«
»Folgen Sie ihm. Dann wissen Sie es.«
»Fährt er mit dem Auto?«
»Kann er nicht.« Sie lachte laut. »Den Wagen habe ich. Entweder trifft er sich in Bozen mit ihr, oder er fährt mit dem Zug.«
»Mit dem Zug«, wiederholte Tanner. »Vielleicht nach Paris?«
Wieder lachte sie. »Seine erotische Reichweite liegt bei maximal hundert Minuten Fahrzeit. In dieser Beziehung können Sie sich auf meinen Instinkt und die langjährige Erfahrung einer Frau verlassen.«
»Natürlich«, sagte er.
»Und merken Sie sich. Ich brauche Beweise.«
»Ich merke mir das«, sagte Tanner und versprach, spätestens morgen die Erfolgsmeldung bei der Frau abzuliefern.
Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihm, dass er noch genügend Zeit hatte, seine Ausrüstung zu komplettieren. Observieren und Beweise sicherstellen lautete sein Auftrag, und dafür musste er sich sachgerecht ausstaffieren. Er fuhr zu sich nach Altenburg und holte seinen Fotoapparat samt professionellem Teleobjektiv. Entschlossen befestigte er das GPS-Gerät auf der Windschutzscheibe.
Frauen müssen zusammenhalten, hatte seine Klientin Carlotta gesagt. Der Satz ging ihm nicht aus dem Kopf, während er auf der SS 42 Richtung Norden fuhr. Halten auch Männer zusammen? Er hatte da seine Zweifel. Frauen wissen nicht, was sie wollen, aber sie sind fest entschlossen, es zu bekommen. Tanner hatte keine Ahnung, von wem dieser Spruch stammte. Aber er dürfte von einem Mann sein.
Er kannte die zwanzigminütige Strecke gut, die ihn zuerst über die Etsch und kurz danach über den Eisack führte.
Es regnete, als er aus der Parkgarage ins Freie kam. Mit aufgespanntem Schirm spazierte er auf dem weitläufigen, asphaltierten Platz auf und ab, wobei er das mehrstöckige Gebäude mit der bläulich schimmernden Glasfassade, in dem er den Arbeitsplatz Riccardo Krohnauers wusste, nicht aus den Augen ließ.
Vor der gegenüberliegenden Berufsschule stand eine lärmende Schülerschar, die meisten mit einem Handy am Ohr.
In diesem Moment verließ Riccardo das Gebäude und überquerte in einer schrägen Diagonale mit quirligen Schritten den Platz. Riccardo liebte mitternachtsblau. Anzug, Schuhe und sogar die Aktentasche, die der Mann, leicht im Takt seiner Schritte hin und her schwenkend, in der rechten Hand trug, waren in Dunkelblau gehalten. Er marschierte die lange Front des Verwaltungsgebäudes entlang und verschwand links um die Ecke. Tanner eilte ihm nach und sah gerade noch, wie Riccardo in einem Taxi sitzend quer über den Platz fuhr. Tanner überlegte nicht lange und bestieg das dahinterstehende Taxi.
»Gestern war Gomorrha mit Marco D’Amore im Fernsehen«, sagte der Fahrer, »da gab es auch so eine Verfolgungsjagd im Taxi. Und dann fanden sie eine Leiche.«
»Das hier ist kein Krimi«, sagte Tanner. »Ich möchte nur von dem Fahrgast vor uns nicht entdeckt werden.«
Es herrschte viel Verkehr in der Innenstadt. Sie fuhren über die Rombrücke und durchquerten die Stadtviertel, in denen während der faschistischen Zeit Tausende Arbeiter aus dem Veneto und anderen italienischen Regionen angesiedelt und in Sozialwohnungen untergebracht wurden.
»Fahren Sie schneller«, sagte Tanner.
Auf der Triesterstraße überholten sie zwei Lastwagen, bogen nach rechts in die Viale Druso ab, auf der sie den Talferbach überquerten und schließlich den Bahnhof erreichten. In aller Eile bezahlte er das Taxi, während Riccardo bereits im Bahnhofsgebäude verschwunden war.
»Halt!«, rief der Taxifahrer und stoppte Tanner, der schon im Laufschritt Richtung Eingang unterwegs war. »Ihr Schirm!«