9,49 €
Heiße Augusttage in Flötsching, einem gottverlassenen Dorf in den Lungauer Bergen. Der Alptraum beginnt, als die Postbedienstete Franziska auf die Leiche des Bürgermeisters stößt, der mit einem Messer im Rücken in seinem Büro liegt. Während die Beamten des LKA die Nachforschungen aufnehmen, ermitteln Franziska und ihr Freund Karl auf eigene Faust. Sie stoßen auf militante Umweltschützer, die gegen das Liftprojekt auf den Wengerkopf und das Murkraftwerk protestieren und einen geheimnisvollen Wilderer, der nachts in den Wäldern sein Unwesen treibt.
Nagelt er die Hirschgeweihe an die Haustüren einiger Dorfbewohner? Und ist der Schwarze Hund aus einer alten Lungauer Sage auferstanden? Erst als es zu einem weiteren Mord kommt, durchschaut Franziska die tödlichen Zusammenhänge, die weit in die Vergangenheit zurück führen. Doch dann gerät sie selbst in das Visier des Mörders …
Zum Autor: Max Oban, geboren in Oberösterreich, arbeitete nach seinem Studium in Wien und Karlsruhe im Management eines internationalen Konzerns in Deutschland. Er ist heute Dozent in Salzburg und Krems an der Donau, wo er Internationales Marketing und Management lehrt. Max Oban lebt seit zwanzig Jahren in Salzburg.
"Der Tod zieht durchs Dorf" - auch erschienen als Printversion ISBN 978-3-901496-32-5
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Prolog
13. Juni vor 15 Jahren
Des Dramas geheimnisvolle Wurzeln
Plötzlich ist da ein Geräusch. Erschrocken schaut er sich um. Doch da ist nichts. Nur die Bäume rauschen bedrohlich. Regenschwere Wolken hängen tief am Himmel. Nach rechts zweigen die beiden Waldwege ab. Er weiß, dass er den ersten Weg nehmen muss, um zu der kleinen Lichtung zu kommen, auf dem das verfallene Haus steht. Dort, erzählt man, treibt um Mitternacht der Schwarze Hund sein Unwesen, so wie in der Sage von der Ruine Thurnschall, die ihm seine Mutter so oft erzählt hat. Er watet durch das hohe Gras, bis er vor den brüchigen Mauern der Ruine steht, die von Efeu überwuchert sind. Er bückt sich, um durch eine der Maueröffnungen zu kriechen und als er sich aufrichtet, packt ihn der Schwindel.
Entsetzt starrt er nach oben und sein Körper beginnt zu zittern. Nur wenige Zentimeter über seinen Augen baumeln zwei Füße, der linke ist nackt, schmutzig und mit rissiger Fußsohle. Dann richtet er den Blick nach oben und das blanke Entsetzen packt ihn. Er kann nicht glauben, was er sieht. Sonja! Sie hängt an einem Strick, der oben an einem morschen Deckenbalken verknotet ist. Ein Windstoß fegt durch die Maueröffnungen und starr vor Schrecken beobachtet er, wie ihr Körper beginnt, hin und her zu schwingen und sich dann in eine langsame Drehbewegung versetzt. Wie im Tanz. Sonja!
Ihr Kopf ist unnatürlich verdreht und das Gesicht blau angelaufen. Er reibt sich die Augen. Sonja, mit nach vorn gequollenen Augen und leicht geöffnetem Mund, die Haare in langen Strähnen an den Kopf geklatscht. Wo ist ihr linker Schuh? Er taumelt zurück und die hohen Bäume ringsum fangen an, um ihn herumzutanzen. Ein Krähenschwarm erhebt sich kreischend in die Luft. Als er sich endlich von dem schrecklichen Anblick los reißen kann, sieht er einen weißen Fleck unter der sich langsam drehenden Gestalt. Ein Brief.
Er bückt sich, liest. den Namen auf dem Umschlag und stopft den Fund in seine Hosentasche. Nach einigen Sekunden beginnt er langsam zurückzuweichen, stößt mit dem Rücken gegen einen Baum, dreht sich um und läuft mit einem lauten Schrei panisch davon.
Samstag, 21. August
Die Rückkehr des Italieners und der Schwarze Hund
Etwas war anders als früher, und er konnte genau sagen, was.Zwar erkannte er die schmalen Straßen und Gassen wieder,die asphaltierten, wie die ungepflasterten. Die Ufer des Reuterbachswaren befestigt worden, und die Tamswegerstraße führte nun über eine Brücke am Sportplatz und an langweiligen Neubauten vorbei, bevor sie einige hundert Meter weiter in den kreisförmigen Dorfplatz mündete.
Er parkte seinenWagen neben dem gelb gestrichenen Trafohaus und blickte nach Westen, wo die Sonne gerade noch knapp über die grasbewachsenen Gipfel der Hinterwöltingerberge schien.
Die Leute, die ihm entgegenkamen, musterten ihn ungeniert. Sie erkannten ihn also immer noch, obwohl so viele Jahre vergangen waren, seit er das Dorf nicht freiwillig verlassen hatte. Einige der Leute starrten ihm unverschämt ins Gesicht, andere warfen ihm verstohlene Blicke zu, und sahen dann schnell weg, so als ob sie überprüfen müssten, ob die ringsum stehenden Häuser noch an Ort und Stelle standen.
Flötsching lag in einer sanften Mulde zwischen den Reuterwiesen und dem Wöltingerwald, genau südlich des Wengerkopfes, ein abgelegenes und gottverlassenes Dorf im Lungau, in das sich nur selten Touristen verirrten.
Einige Einheimische standen vor dem Kirchenwirt und beobachteten aufmerksam zwei Männer, die fluchend und schwitzend hölzerne Pferde aus einem dreckverschmierten Lastwagen zogen und nebeneinander auf den sandigen Dorfplatz krachen ließen. Morgen ist Kirchtag, dachte er, und seine Gedanken führten ihn zurück in seine Kindheit, zu Luftballons, Zuckerwatte und Ringelspiel.
Als die Sonne hinter dem Bergkamm im Westen verschwunden war, senkte sich plötzlich die Dämmerung über den Platz, die aber keine Abkühlung brachte. Er streifte noch einmal mit seinem Blick das Gemeindeamt, den wuchtigen Pfarrhof daneben und dahinter die Kirche mit ihrem niedrigen, gedrungenen Turm. Dann ging er auf das Wirtshaus zu, neben dem einige Männer standen, die graue Wolken in die Luft rauchten und ihm feindselig entgegen sahen.
»Bist also zurück?« Eine Stimme hinter ihm. Ruckartig drehte er sich um. Der Mann hatte eine Glatze und in seinem fettglänzenden Gesicht waren die Augen zu kurzsichtigen Schlitzen verengt. »Sind Sie nicht der Lehrer hier?«, fragte Luca. Der Mann nickte. »Und du heißt Luca Graziano«, sagte er leise. »Was machst du bei uns im Dorf? Bleibst lange?« Sein Atem stank nach Bier. Welche Frage sollte er zuerst beantworten? »Bis meine Arbeit erledigt ist.« »Welche Arbeit?« »Ich bin Vermessungsingenieur.« »Vermessen warst du immer schon. Auch bei mir in der Klasse.«
Luca nickte langsam. »Jetzt erinnere ich mich wieder deutlich an Sie.« »Und wo wirst du wohnen?« Luca zog ein Blatt Papier aus der Brusttasche. »Bei Severin Grimminger«, las er von dem Zettel. »Im Gartenhaus. Wo muss ich da hin?« »Wirst nicht viel Freunde haben bei dem Arbeitgeber«, sagte der Lehrer und deutete mit einer ausholenden Handbewegung Richtung Kirche. »Da rauf, und dann nach links am Friedhof vorbei, und immer der Straße entlang. Das protzige Haus ist nicht zu übersehen. Und das Gartenhaus steht hinten im Schatten. Ein feuchtes Loch, wenn du mich fragst.«
Luca wandte sich um und sah zuerst die roten Haare der Frau, die hinter ihm stand und an die er sich noch gut erinnern konnte. »Luca«, rief die Frau, streckte ihm beide Arme entgegen und trat mit flinken Schritten auf ihn zu. »Vermessungsingenieur, habe ich gerade gehört.« Sie sah ihm ins Gesicht und lachte. »Du hast also Karriere gemacht.«
Den Italiener hatten ihn früher die Leute im Dorf genannt, erinnerte sich Franziska. Luca war in all den Jahren schlank geblieben, er hatte dunkelblonde Haare und ein markantes Kinn, wie einer der bekannten Schauspieler aus Hollywood. Er war immer erfolgreich gewesen bei den Mädchen wie auch bei so manchen Ehefrauen, und beides war damals nicht bei allen hier im Dorf gut angekommen. Luca schüttelte den Kopf. »Ich bin nur Landvermesser. Ein Beruf, wie viele andere auch.«
»Es war spät abends, als der Landvermesser im Dorf ankam.« Sie sagte es wie ein Zitat. Er sah sie stirnrunzelnd an und wartete auf eine Erklärung. »Das ist der erste Satz aus einem Roman von Kafka, den ich gerade lese«, sagte sie. »Früher hast du solch hochgestochene Sachen nicht gelesen.« »Komm mit ins Gasthaus. Wir müssen unser Wiedersehen feiern. Dort sind auch die alten Bekannten, die du noch von früher kennst. Die werden schauen! Auch wenn du damals nicht allen sympathisch warst.«
»Und vice versa«, ergänzte er. »Aber ein Begrüßungstrunk … nach den vielen Jahren. Wie lange warst du eigentlich weg?« »Fünfzehn Jahre. Ich bringe meine Sachen zum Grimminger. Dann komme ich ins Gasthaus. Bist du noch bei der Post?« Sie nickte. »Franziska von der Post. Pakete und Briefmarken en detail und stets zuverlässig. Unzuverlässig sind nur meine Öffnungszeiten.« Luca lachte. »Du hast dich nicht verändert.«
»Karl wird auch da sein.« »Karl?« »Mein Liebster. Oder mein Lebenspartner. Ganz, wie du willst. Ich warte auf dich.« »Also bis gleich«, sagte er und ging zu seinem Auto.
Er umkreiste langsam den Dorfplatz und bog nach rechts in die Kirchengasse ab. Die Scheinwerfer seines Autos schnitten durch die Dämmerung und streiften die weiß getünchten Hausfassaden, die alle herausgeputzt und mit Blumen geschmückt waren. Nur das Gebäude, das er zehn Minuten später auf der nach Norden führenden Straße erreichte, war anders.
Schmuckloser, kühler Sichtbeton, eine große Villa mit hohen Fenstern und hellen Zimmern dahinter, hellblau geraffte Vorhänge und Messingklinken, die noch in der Dämmerung blitzten. Luca kletterte aus dem Wagen und sah sich um. Eine seelenlose Prunkbude, ein Haus, das nicht für sich selbst stand, sondern den Geschmack seines Besitzers widerspiegelte. Oder noch schlimmer, den Geschmack des Architekten. Aber er würde ja hinten im Gartenhaus wohnen. »Ein feuchtes Loch, wenn du mich fragst.«
Wie immer! Die am Stammtisch haben bereits am meisten getrunken. Lautes Stimmengewirr und Rauchschwaden schlugen Franziska entgegen, als sie die Gaststube des Kirchenwirtes betrat und kurz stehenblieb, um sich zu orientieren. Im Hintergrund grölten einige Burschen ein Lied von da Hoamat und waunn in da Friah üba de Berg de Sunn aufgeht, dass dann da Adler einsam überm Gipfe steht.
Ein Lied von den Querschlägern, dachte sie. Nur ziemlich verhunzt. Rechts an dem großen, runden Tisch dicht bei der Theke saß ihr Karl inmitten einiger anderer Männer und erzählte offensichtlich gerade einen Witz. »Zum Totlachen«, sagte der Mann links von ihm, worauf sich Karl Franziska zuwandte und sie angrinste. »Mein Witz war gut«, sagte er. »Aber nur für Männer geeignet.«
Franziska rollte die Augen und suchte sich einen freien Platz. »Was gibt’s draußen Neues?«, fragte Karl, wobei nicht klar war, ob er Franziska oder den Lehrer meinte, der von draußen ebenfalls an den Tisch getreten war. »Der Italiener ist wieder im Dorf«, sagte Ludwig. »Luca?« Karl zuckte mit den Schultern. »Und?« »Nichts und«, erwiderte der Lehrer. »Er hat Arbeit hier.« Mit dem Kinn deutete er zu einer Tür im Hintergrund, die ins Extrazimmer führte. »Da drinnen sitzt sein neuer Boss.« Franziska sah hin. An der Tür hing ein Zettel, auf den jemand mit schlampiger Schrift ›Private Gesellschaft‹ geschrieben hatte. Was da drinnen wohl besprochen wurde? Die Neugierde überfiel sie wie ein Schnupfenanfall.
Im Hintergrund plärrten jetzt einige Männerstimmen, dass hintan Tauern de Menschen sauba sand und storch, und dass der die meisten Weiber kriagt, der am schnellstn Auto fohcht. Es war Abendessenszeit und am Nebentisch saß ein älteres Ehepaar vor zwei riesigen Portionen Lungauer Schafbratl.
»Schau dir den Ludwig an!« Franziska deutete auf den Lehrer, der schwankend wie ein Schilfrohr zuerst zweimal den Tisch umkreiste und dann das Paar am Tisch ansprach, worauf die Frau gnädig mit dem Kopf nickte, während ihr Mann sich mit tiefem Ernst seinem Braten widmete. Nur von Zeit zu Zeit wagte er einen interessierten Blick, wenn Erna, die Kellnerin, mit beeindruckendem Hüftschwung die Tische und die zumeist männlichen Gäste umrundete.
»Sie sollten Ihre Reise in den Süden hier unterbrechen«, hörte Franziska die Fistelstimme des Lehrers, der sich gerade einen Sessel angelte und neben dem Touristenpaar Platz nahm. »Bei uns beginnt jetzt der Lungauer Bauernherbst.« Der Herr Lehrer im Heimatkunde-Unterricht.
An der Theke stritten sich jetzt zwei Bauernburschen, die beide dunkelgrüne Lodenjoppen trugen. Sie bestellten bei einem blassen Mädchen hinter der Schank einige Halbe Bier und konnten sich nicht einigen, auf wen diese Runde gehen sollte. Am Tisch daneben saßen einige Männer lautstark beim Wattn, lachten und riefen sich in regelmäßigen Abständen Worte zu, deren Bedeutung Franziska nicht verstand.
Die Touristen am Nebentisch schienen aus Wien zu sein. Der Mann hatte in der Zwischenzeit den Braten verdrückt und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Hier bei uns gibt es viel zu entdecken«, sagte der Lehrer. »Hier sind wir … und da geht die Straße zum Prebersee.« Er markierte alle Punkte mit dem Messer auf dem fleckigen Tischtuch. »Und wenn Sie da rechts in den Wald abbiegen, kommen Sie zu dem alten, geheimnisvollen Gemäuer, das früher mal ein stolzes Gebäude war. Aber das ist schon hundert Jahre her.«
Der Mann hatte sich einen Schnaps bestellt und hörte dem Lehrer aufmerksam zu, während seine Frau immer wieder auf ihr Handy starrte, ob irgendwelche wichtige Nachrichten eingetroffen waren. »Da gibt es eine alte Lungauer Sage, die da oben spielt.« »Erzählen Sie«, sagte die Wienerin. »Ich liebe Dorfgeschichten. Die sind so urig.« Der Lehrer zog die Jacke seines Salzburger Anzugs aus, hängte sie über die Stuhllehne und blickte einmal in die Runde, um sich der Aufmerksamkeit aller zu vergewissern. »Ein alter Bauer aus Lessach ist einmal um Mitternacht da oben vorbeigegangen«, begann er mit bedeutungsvoller Stimme und unterstrich das Gesagte mit seinem rechten Zeigefinger. »Plötzlich stand ein schwarzer Hund an seiner Seite, worüber der Bauer natürlich zu Tode erschrak, noch dazu, weil der Hund wenig später kläglich zu winseln begann und versuchte, den Bauern zu bewegen, ihm zu der alten Ruine zu folgen.« Der Tourist starrte unbeweglich und mit leicht geöffnetem Mund den Lehrer an, so als ob er jede Nuance der Geschichte genau verstehen wollte.
Karl stand am Nebentisch auf, kam zu ihr herüber und grinste sie mit seinem pausbäckigen Gesicht an. Er war nicht sehr großgewachen, nur wenige Zentimeter größer als sie selbst. Seine weißen Haare waren strähnig und außerdem zu lang. »Dem rennt schon der Frisör nach«, hätte ihre Mutter gesagt. Obwohl er sich immer gut rasierte, zeigten sich seit dem Nachmittag schon wieder dunkle Bartstoppeln auf seinen Wangen. »Trink nicht so viel«, sagte sie. »Morgen wirst du es bereuen. « »Ich gehe jede Wette ein, dass ich morgen einen klaren Kopf habe.« Franziska lächelte. »Mich stört nur, dass der Mann, der mich einmal heiraten wird, soviel trinkt.« Karl sah sie kurz an und schüttelte dann den Kopf. »Aber ich habe dir noch nicht mal einen Heiratsantrag gemacht.« Sie verzog das Gesicht. »Das ist es ja, was mich stört.«
Es war heiß und laut in der Gaststube, und das Bier floss in Strömen. Ein typischer Samstagabend in Flötsching. Franziska war schon oft in Salzburg gewesen, und dort, wie auch in anderen Städten, gab es in den Cafés und Gasthäusern Terrassen und Gärten, wo man schon ab Ende April im Freien sein Essen und Trinken genießen konnte. In Flötsching machte man so etwas nicht. Hier gab es auch wenig laue Sommernächte und so sperrte man sich zum Trinken ein, im Sommer, wie im Winter. Keine frische Luft, nur der Geruch nach Wein, Bier und Zigaretten. Franziska deutete zum Nebentisch, an dem der Lehrer trotz des ringsum herrschenden Lärms unbeirrt die Geschichte fortsetzte. »Als plötzlich der Schwarze Hund verschwunden war, begann der Bauer, nach ihm zu suchen, konnte aber nirgends die Spur von dem unheimlichen Vieh entdecken, obwohl der Vollmond die Landschaft hell beleuchtete.«
»Und das soll wirklich passiert sein?«, fragte die Frau. »Was heißt soll! Das ist mehr als eine Sage. Seit sich bei dem alten Gemäuer vor einigen Jahren ein junges Mädchen erhängt hat, ist der Ort da oben verwunschen, und so manchem ist der Schwarze Hund schon erschienen in der letzten Zeit. Aber keiner hat sich bisher getraut, dem Tier in das unterirdische Verlies zu folgen.«
Einer der Bauern am Nachbartisch drehte sich um und bestätigte aufgeregt die Worte des Lehrers. »Mir ist vor einigen Wochen der Schwarze Hund erschienen. Gliarate Augn und kohlschwochz. Und er stank bestialisch nach Schwefel. Wia der leibhaftige Teife.« »Hast an Fetzn? Oder bist tramhappat?«, stänkerte ein anderer, und alle lachten. »Die Sage spielt doch ganz woanders und nid da oben«, meinte ein dritter. Der Betrunkene schüttelte heftig den Kopf, sodass seine langen Haare durcheinander gerieten. »Der is völlig zua!«, hörte man eine Stimme aus dem Hintergrund.
In diesem Moment betrat Luca Graziano die Wirtsstube, blieb an der Tür stehen und sah sich suchend um, bis er Fran- ziska entdeckt hatte, dann ging er aufrecht und selbstbewusst lächelnd auf sie zu. Mit einem Mal wurde es still in der Gaststube. »Schön, dass du da bist«, sagte Franziska. »Das ist der Karl, unser Inspektor.« Luca gab ihm die Hand. »Mich hat vor fünf Minuten der Grimminger am Handy angerufen, dass ich mich bei ihm melden soll. Er sagte mir, dass er da im Gasthaus auf mich wartet.« Franziska deutete mit dem Kopf auf das Extrazimmer und das Schild ›Private Gesellschaft‹. In diesem Moment tönte Lärm und Geschrei aus dem Zimmer. Da war ein heftiger Streit im Gange.
»Da drin wahrscheinlich. Komm!«, sagte sie zu Luca. Entschlossen erhob sie sich, und es sah aus, wie wenn sie Anlauf nahm, als sie immer schneller werdend auf die Tür zusteuerte. Fast der gesamte Gemeinderat ist da versammelt, dachte sie, und versuchte die Situation mit einem Blick zu erfassen. Links saß Severin Grimminger, der Bauunternehmer und neben ihm Branco Willomitzer, der Bürgermeister, der die Ellbogen auf den Tisch stützte. Beide waren im Hemd und selbst ohne Krawatte sahen sie wie höhere Beamte aus. Etwas abseits und weit über den Tisch vorgebeugt sah sie das wütende Gesicht des Wengerbauern, der trotz der Hitze einen Hut auf dem Kopf hatte, daneben Alois Mooshammer, der Volksschuldirektor und am Ende des Tisches der Postenkommandant Granitzl. Am auffallendsten aber war der künstliche Berg aus Gips, der in der Mitte des Tisches thronte und sich fast bis zur Decke emporstreckte. Der Wengerkopf, dachte sie. Maßstäblich verkleinert und naturgetreu waren am Fuß des Berges das Dorf und der Dürrenecksee dargestellt, sowie am Osthang der große Steinbruch, der Severin Grimminger gehörte. Nur etwas gab es in der Realität nicht: Bleistiftgroße Masten steckten im Berg und schlängelten sich vom nördlichen Dorfrand durch den Wald fast bis zum Gipfel des Wengerkopfes hinauf, mit einem dünnen Draht verbunden. War das der geplante Sechserlift?
Alle fünf Männer hatten ihr den Kopf zugedreht und starrten sie an. »Hier geht’s um Männersachen«, knurrte der Mooshammer. »Des Schild draußen is do net zum Übersehen.« Der Schuldirektor sprach mit schnarrender Stimme. Seine wie immer gut rasierten Wangen und die vollendete Glatze erstrahlten im Licht des Lüsters, der über dem Gipsmodell des Wengerkopfmassivs hing. Mooshammer wirkte selbstbewusst, nur manchmal, wenn er nachdachte, hob er den Blick zur Decke, so als ob da eine Formulierungshilfe stünde. Vielleicht hatte er aber diese Geste nur von seinen Schülern übernommen. »Sie haben Besuch«, sagte Franziska laut, blieb im Türrahmen stehen und nickte dann Luca zu, der mit festem Schritt den Raum betrat.
»Da sind Sie ja«, sagte der Grimminger, und setzte hinzu: »Endlich!« »Gibt’s noch was?«, grunzte er dann und sah Franziska so herausfordernd an, dass sein langer Schnurrbart zu zittern begann. Er zeigte wie immer ein griesgrämiges Gesicht, so als würde er ständig unter Bauchschmerzen leiden. Franziska stemmte die Hände in die Hüften. »Wer möchte noch was trinken?« »A Bier damoch ma no!« Das kam vom Postenkommandanten. »Das kann aber dauern, wenn jetzt unser Bier schon mit der Post kommt«, rief der Schuldirektor und lachte laut polternd über seinen eigenen Witz.
Es war heiß im Extrazimmer, das einzige Fenster war geschlossen und der Schweiß der hitzigen Diskussionen vermengte sich mit den grauen, stinkenden Tabakwolken und hüllte den Gipfel des Gipsberges ein. Franziska sprach einige Worte mit dem Wirt und kehrte einige Minuten später in das Extrazimmer zurück, sechs Halbe Bier auf einem Tablett balancierend. »Bist damisch«, hörte sie den Wengerbauern rufen. »der Lift soll ja fast über die ganze Länge auf meinem Grund und Boden gebaut werden.« Der Aflenzer starrte Severin Grimminger wütend von der Seite an.
»Deshalb soll der Luca das genau vermessen. Und jeder Quadratmeter wird gut bezahlt.« »Nid so husig!« Der Bürgermeister zeigte auf die kleinen Masten, die den Berg hinaufkrochen. »Wir haben in der Gemeinde kein Geld für dieses Projekt. Außerdem gehört das Gelände ab hier zur Kernzone des Biosphärenparks. Wenn wir hier auch nur einen Masten aufstellen, haben wir die UNESCO am Hals.«
Der Wengerbauer nickte so eifrig, dass sein Hut ins Rutschen kam. »Der Bürgermeister hat Recht. Das wird nie als umweltverträglich genehmigt.« »Du Oaschkappemuster! Von dir lass ich mir das Liftprojekt nid vahunzen. Eher passiert ein Unglück.«
Severin Grimminger war aufgesprungen. »Ich versteh euch nicht! Das Liftprojekt ziehe ich durch, weil es für unser Dorf den Tourismus ankurbelt. Und ich werde auch dafür sorgen, dass das Murkraftwerk gebaut wird, das schafft Arbeitsplätze in meiner Firma und für unsere Jugend im Dorf.« »Aber nid auf unsere Kosten. Und genau wegen dem Kraftwerk wird es Demonstrationen geben in Flötsching. Man munkelt, dass es morgen schon einen Massenprotest geben wird.« »Du Pumpara, du bleda!«, rief er wütend dem Wengerbauern zu, und rannte mit geballten Fäusten auf ihn zu, worauf Franziska leise den Rückzug antrat.
Karl sah sie draußen fragend an. »Und?« »Dein Chef da drinnen macht große Politik. Er sitzt dabei und redet kein Wort.« »Darum heißt er auch Schante-Hansei. Und die anderen? Dem Geschrei nach geht es hoch her da drinnen.« Franziska nickte. »Ich bin müde«, sagte sie dann. »Lass uns gehen.« Ein leichter Wind, der jedoch kaum Abkühlung brachte, wehte über den Platz, als Franziska und Karl aus dem Gasthaus kamen. Das Ringelspiel stand fast fertig aufgebaut genau in der Mitte des Dorfplatzes. Einige Männer schleppten im Licht eines grellen Scheinwerfers großformatige Holzplatten, aus denen sie die Marktstände zusammenschraubten, die um das Karussell angeordnet waren.
Franziska atmete tief durch und sah auf die Kirchenuhr. Halb elf. Welche Erholung nach dem Gestank und dem Rauch in der Gastwirtschaft, bei der die Nichtraucherregelung noch nicht angekommen war. Sie gingen in der noch immer aufgeheizten Dämmerung quer über den Platz, am Karussell vorbei, an dem die auf den Eisenstangen aufgespießten Holzpferde unbeweglich in die Dunkelheit starrten. Daneben, halb vom Schatten des Karussells verdeckt, erkannte Franziska eine dunkle Gestalt. Ein Mann stand da. Sie ging langsam auf ihn zu.
»Hias!«, rief sie überrascht aus. »Was machst du hier noch so spät?« Der Bursche sah sie verschreckt an. »Der Tod zieht durchs Dorf«, flüsterte er. »Geh nach Haus. Dein Date wartet sicher schon auf dich.« Sie blieben stehen und sahen dem jungen Mann nach, wie er sich aus der Dunkelheit schälte und dann über den Dorfplatz trottete, wo er sich nochmals zu ihnen umdrehte. Dann verschwand er durch die Tür des Kirchenwirts. »Wie lange ist sein Unfall jetzt schon her?« »Zwölf Jahre. Seitdem ist der arme Bub behindert und einige Böswillige nennen ihn sogar den Dorftrottel.« Karl nahm sie bei der Hand. »Die Streitereien da drin.« Karl zeigte zum Gasthaus. »War das wegen dem Schilift auf den Wengerkopf?« Franziska nickte. »Deshalb hat der Grimminger Luca angestellt. « »Was soll er genau tun?« »Er wird nicht lange bleiben«, sagte Franziska. »Er soll die Trasse des Lifts vermessen.« »Da gibt es aber noch keine Baugenehmigung.«
Franziska blieb bei einer der Straßenlampen stehen und nickte. »Es gibt überhaupt nichts, keine Umweltprüfung, keine Finanzierung, und der Grimminger streitet mit dem Wengerbauer noch über die Abtretung der Waldschneise, in der die Trasse verlaufen soll.« »Warum baut er den Lift nicht durch seinen eigenen Wald?« Sie zuckte mit den Schultern. »Angeblich ist da der Geländeverlauf für einen Lift ungünstig. Aber ich glaube dem Grimminger kein Wort.« »Der Wengerbauer muss sich das nicht gefallen lassen, das mit der Trassenführung. Ein festes Nein würde reichen.«
»Du kennst den Grimminger schlecht. Wenn der was will, bekommt er es auch. Mit Unverfrorenheit, Druck und, wenn notwendig, auch mit Erpressung.« »Wie heißt er eigentlich mit dem Vornamen?« »Severin.« »Wie mein Wasserkocher«, sagte Karl. Dann deutete er auf den grasbewachsenen Fußweg, der von der Tamswegerstraße nach rechts in die Dunkelheit führte. »Eine kleine Runde noch. Fünf Minuten nur. Ich mag noch nicht ins Bett.« Sie gingen auf dem schmalen Pfad an der Friedhofsmauer vorbei, wo es stockdunkel war, und sie sich nur zurechtfanden, weil sie den Weg gut kannten und dann weiter Richtung Dürrenecksee. Karl blieb stehen. »Wo war der Luca eigentlich die ganzen Jahre?« »Überall und nirgends. Studiert haben soll er in Amerika.« »Und warum ist er damals weg?« »Seine Mutter war Kellnerin beim Kirchenwirt. Und dann ist sie auf einen schmalzlockigen Adonis aus Neapel hereingefallen. Der hat zwar Lucas Mutter geheiratet, als der Bub zur Welt kam, nach einem Jahr ist er aber nach Italien zurück und hat sich nie wieder gemeldet. Lucas Mutter ist einige Zeit später an Krebs gestorben.«
»Als ich nach Flötsching kam«, sagte Karl, »war Luca Ende zwanzig, und ein richtiger Schönling, der allen Mädchen im Dorf den Kopf verdrehte. Auch dir.« »Luca ist vier Jahre jünger als ich.« »Ein jüngerer Mann hat eine Frau noch nie gestört. Hast du eigentlich was mit ihm gehabt?« »Nie.« »Wer so schnell antwortet, sagt nicht die Wahrheit.« »Ich bin so ehrlich, wie der Tag lang ist.« »Wir haben Ende August. Da werden die Tage schon wieder kürzer.« Franziska fauchte ihn an. »Lass mich zufrieden mit deiner blöden Eifersucht. Okay, er war ein gut aussehender Bursche, und viele andere Männer im Dorf mochten das Lächeln nicht, das ihre Frauen zeigten, wenn Luca auftauchte. Ich habe nie herausgefunden, ob es nur der Rassismus der Einheimischen war, der Luca vertrieben hat, oder eine konzertierte Aktion von dummen, eifersüchtigen Männern, so wie du einer bist. Auf jeden Fall wurde Luca rausgeekelt. Brutal und heimtückisch.
»Wie geht es eigentlich deinem Ex-Gatten?« Jetzt kommt das wieder … Warum hatte sie den Eindruck, als ob er diese harmlos klingende Frage von langer Hand vorbereitet hatte? »Lange nichts mehr gehört von ihm.« »Stimmt das wirklich? Immerhin war auch er ein gut aussehender Mann.« »Karl, du bist a Depp. Natürlich stimmt das wirklich. Er lebt irgendwo in Bayern, und ich habe seit Jahren keinen Kontakt mehr zu dem Falott.« »Ist das auch die Wahrheit?« »Natürlich ist das wahr. Sei nid so a mißtrauischer Mensch.« Sie standen jetzt in völliger Dunkelheit auf dem schmalen Holzsteg, der über den Dürreneckbach führte. »Was sind das für Lichtspiele da drüben?« Am anderen Ufer des Dürrenecksees brannten zwei Feuer und im Schein der Flammen waren einige Leute erkennbar, wie kleine, schwarze Scherenschnitte, die sich ruckartig vor dem Feuerschein hin und her bewegten. »Lagerfeuer«, sagte Karl. »Da campiert jemand auf der Gemeindewiese.« »Die dunklen Dreiecke … sind das etwa Zelte?« »Ich glaube, ich weiß, was da drüben los ist. Das sind die Vorboten der Demo, die wir morgen erleben werden. Ich hab die Meldung im Büro gelesen.« Karl legte seinen Arm um sie. »Warum gerade bei uns?«
»Revolte gegen das Murkraftwerk. Diese Leute sind gut vernetzt und bestens darüber informiert, wo die Meinungsbildner zuhause sind. Dann zielen sie mit ihren Protestveranstaltungen genau ins Zentrum der Kraftwerksbefürworter.« »Du meinst, es hat sich herumgesprochen, dass nicht nur der Grimminger, sondern auch unser Bürgermeister für den Bau ist?« »Es hat sich sicher auch herumgesprochen, dass die meisten Leute hier im Dorf gegen das Kraftwerk sind.«
»Also ist das eine Demonstration gegen den Bürgermeister?« »Und gegen den Grimminger. Lass uns zurück gehen.« »Früher hast du mich hier immer geküsst«, sagte sie, und drückte seine Hand. »Aber so was passiert heute nicht mehr.« »Doch. Das passiert heute auch noch. Wann habe ich dich das letzte Mal geküsst?« »Moment«, sagte sie. »Der Krieg war 1945 zu Ende, und seitdem …« Er zog sie an sich und küsste sie. In diesem Moment hörten sie aus der Ferne einen Schuss. Erschrocken warf sie ihren Kopf in den Nacken und schaute hinauf zu den Bergen. »Das war im Wengerforst.« »Ein Gewehrschuss …« »Warum schaust du so skeptisch?« »Weil das kein Jagdgewehr war. Glaube ich wenigstens.« »Was soll das sonst gewesen sein? Ein Kuckuck?« Sie sah ihn kurz von der Seite an, zuckte mit den Achseln und kramte lange in der Tasche, bis sie den Hausschlüssel gefunden hatte.
Zehn Minuten später lag Karl in Franziskas Wohnzimmer auf der Couch, hatte die Hände unter dem Kopf und betrachtete die Decke, die einige großformatige Stuckverzierungen aufwies, die ihm bisher noch nie aufgefallen waren. Es war ein ganz normales Wohnzimmer, etwas übervoll mit den dunkelbraunen Möbeln und einem großen, runden Tisch in der Mitte des Raumes. An der rechten Wand hingen zwei Lithografien von Paul Flora aus seinem Venedig-Zyklus. Den Großteil der gegenüber liegenden Wand nahm ein raumhohes Bücherregal ein. Kriminalromane, wohin man sah. Franziska mochte Krimis, wenn möglich, von Frauen geschrieben, und am liebsten mit einer Polizistin als Heldin, die intelligent und selbstsicher die Fälle löste. Und Franziska liebte die Fernsehfilme, in denen sich abgeklärte Kommissarinnen, wie Bella Block oder Rosa Roth durch ihre Midlifekrisen und die Verwicklungen mit Bösewichtern oder den eigenen Ehemännern kämpften.
»Möchtest du ein Glas Wein?« Franziska lächelte ihn an. »Dunkelrot, trocken und kräftig, bitte.« Franziska kam mit einer Flasche Shiraz und zwei Weingläsern aus der Küche zurück. »Ich habe gestern unseren Bürgermeister ins Haus des Schuldirektors Mooshammer schleichen sehen.« »A brennta Hund«, sagte Franziska. »Vielleicht wollt er in die Tafeiklass?« »Aber ich weiß, dass die Edith alleine zu Hause war.« »A brennta Hund. Aber er macht sich Feinde, unser Bürgermeister. Ich habe übrigens die Edith mal in Salzburg auf der Terrasse des Café Bazar gesehen, wie sie sich mit einem Mann getroffen hat. Und der Mann war ausnehmend höflich zu ihr …« »Also war das nicht ihr Ehemann …« »Aber der Mann war sicher verheiratet. Ich konnte leider nicht sehen, ob er einen Ehering trug.«
»Die Geschicht, die der Lehrer erzählte, von dem Schwarzen Hund bei dem alten Gemäuer oben im Wengerforst …« »… Ist eine alte Lungauer Sage. Aber der Lehrer sprach auch von einem Mädchen, das sich in dem verfallenen Haus erhängt hat. Und das ist keine Sage.« »Wer war das Mädchen?« »Das Ganze ist passiert, bevor du zur Polizei hierher versetzt worden bist. Sonja hieß das Mädchen, die Tochter der Aflenzers. Sie war damals noch nicht einmal achtzehn.« »Die Schwester vom Sepp? Warum Selbstmord?« »Das weiß keiner so genau. Die Aflenzers reden nicht gern darüber. Ich kannte das Mädchen. Sie war eine Schönheit, eine hochintelligente Schülerin und jeder hat sie gemocht, ganz besonders übrigens der Luca. Vielleicht war sogar Liebe im Spiel. Aber dann veränderte sich alles, so als ob sich dunkle Wolken über ihre Seele schoben. Heute würde man das wahrscheinlich Depression nennen. Und am Morgen des 13. Juni vor fünfzehn Jahren fand man sie erhängt oben in dem alten Gemäuer.« Karl sah wieder auf die unzähligen Kriminalromane in dem Bücherregal an der Wand. »Hast du die eigentlich alle gelesen?« »Alle. Darum weiß ich auch alles über Verbrechen und die Mordmotive der Täter. Wenn du einmal einen Mord aufzuklären hast, frag mich.« »In Flötsching gibt es keine Morde.«
»Warum saß eigentlich dein Chef im Extrazimmer mit dabei? Versteht der Schante-Hansei was vom Liftbauen?« »Johann Granitzel ist bei der richtigen Partei und folglich Mitglied im Gemeinderat, wo er aufrichtig und stets die gleiche Meinung wie Severin Grimminger vertritt.« »Du siehst müde aus«, sagte Franziska. »Ich habe alles satt im Moment. Zum Kotzen satt.« »Was ist los?« Er richtete sich mit Stöhnen auf und nahm einen großen Schluck aus seinem Weinglas. »Ich habe einen Job, bei dem die einzige Abwechslung darin besteht, dass irgendeiner vor der Kirche im Halteverbot steht. Mein Chef ist ein Arschloch und korrupt bis in die Haarspitzen. Mir hängt alles zum Hals heraus. « »Fang doch den Wilderer, der hängt uns auch schon langsam zum Hals heraus. Und dann kommt endlich die Beförderung, die dir schon lange zusteht.« »Sobald die Anzeige bei uns ist, lege ich los.« »Du darfst doch auch ohne Anzeige ermitteln. Gehst du übrigens mit mir morgen zum Kirtag?« »Nur wenn du mit mir Geisterbahn fährst.« »Ich habe mal einen Krimi gelesen«, sagte sie, »da wurde ein Mann in der Geisterbahn umgebracht. Von seiner eigenen Frau.«
Franziska sah ihn lange an. »Du bist zwar zu jung für deine weißen Haare, aber eigentlich stehen sie dir ganz gut.« »Ich weiß. Sie lassen mich seriös aussehen.« »Weißt du noch, wann du dein erstes weißes Haar entdeckt hast?« »Als die Sorgen in meinem Leben angewachsen sind und die Verzweiflung überhand nahm.Vor ziemlich exakt zehn Jahren. « »Aber das war ja genau dann, als wir uns kennengelernt haben. « »Sag ich ja.« Franziska nahm eines der Bücher aus dem Regal und warf es Karl an den Kopf. Er hielt die Arme schützend über seinen Kopf. »Aua! Was war das für ein Buch?« »Partnerkonflikte gewaltfrei lösen.«
Franziska lächelte ihm zu, ging zum Fenster und öffnete es weit. Aus der Ferne war Kindergeschrei zu hören, und irgendwo lief ein Fernseher um vieles zu laut. Aber vielleicht war derjenige auch nur schwerhörig. Sie schloss die Augen und beugte sich aus dem Fenster. Es war einer jener Sommernächte, in denen die Hitze nicht nachzulassen schien, obwohl sich manchmal schon der Herbst ankündigte. Aus dem Moor hörte sie die Frösche quaken, das Summen der Mücken und das Gezwitscher der Vögel. Der Himmel über den schwarzen Wäldern und den Bergen im Norden war fast wolkenlos und dunkel, nur im Westen zog sich noch eine Spur rötlicher Helligkeit über die Hügel des Wöltinger Waldes, und aus dem Moor stiegen feine Nebelschleier zum Himmel und gaben manchmal den Blick auf funkelnde Sterne und einen auf der Seite liegenden Kipferlmond frei.
Hinter ihr hatte Karl den Fernseher aufgedreht, und ein kurzer Blick über ihre Schulter zeigte, dass er irgendeinen Krimi sah, in dem ein älterer Kommissar mit struppigen Haaren und einem Dreitagebart gerade eine Bierflasche leertrank. »Verbrechen im Fernsehen sind nur dazu da«, hörte sie von hinten Karls Stimme, »damit ein alkoholabhängiger Polizist seine Neurosen ausleben kann.«
Karl schaltete auf ein anderes Programm um und eine ohrenbetäubendlaute Ansprache war zu hören und eine vielstimmigbrüllende Menschenmenge, die sich mit hoch erhobenen Armen um ein handgemaltes Plakat scharten, auf dem RETTET DIE MUR zu lesen war. Von der Seite kamen weitere, entschlossen aussehende Demonstranten ins Bild, die ihre Plakate Richtung Fernsehkamera hielten. WIR LASSEN UNS DAS WASSER NICHT ABGRABEN - UNSERE FISCHE MÜSSEN LEBEN. »Und das kommt jetzt auch zu uns«, sagte sie, mehr zu sich selbst und sah wieder aus dem Fenster. Sie hatte keine Lust auf eine weitere Diskussion. Solche Abende waren am schlimmsten, wenn die Hitze alle Energie auffraß.
Sonntag, 22. August
Der Kirchtag und der Schuss im Wengerforst
Zum Schlafen war es zu heiß. Schon in der Früh zeigte das Thermometer zwanzig Grad. Also war sie schon um halb sieben grantig aus dem Bett gekrochen. Sie hatte Karl nicht gehört, der noch früher aufgestanden sein musste. »Du bist vom Typ her eher eine Eule«, hatte Karl einmal zu ihr gesagt. »Und ich bin eine Lerche, die schon in der Früh gut gelaunt ist.« Franziska war frühmorgens noch nie gut gelaunt gewesen. Sie horchte lächelnd zum Fenster. Jetzt würden sie gerne läuten, unsere Kirchenglocken, majestätisch und wohlklingend. Wenn wir richtige Glocken hätten. So aber ertönte nur ein armseliges Gebimmel.
Und dann fiel ihr der Einschreibebrief in die Hände, der schon seit zwei Tagen auf der Kommode im Vorzimmer lag und auf den sie ganz vergessen hatte. Sie setzte sich im Nachthemd in die Küche und öffnete den Brief. Oberpostdirektion Salzburg stand als Absender auf dem Kuvert. Ein Brief aus der Zentrale. Von ihren Chefs.
Sehr geehrte Frau Franziska Stierlitzer, hiermit teilen wir Ihnen mit, dass wir die Postfiliale in Flötsching mit Wirkung vom 1. Oktober d. J. schließen werden. Die Agenden werden wir ab diesem Zeitpunkt auf einen Postpartner übertragen.
Mit freundlichem Gruß
Alfons Irgendwie.
Unleserliche Unterschrift, dachte sie. »Scheiße«, rief sie laut, knüllte den Brief zusammen und feuerte ihn in eine Ecke. Zwanzig Jahre war sie das Postfräulein von Flötsching gewesen. Pakete, Einschreiben, manchmal Telefonate nach Amerika und hie und da ein Fax. Und immer fleißig und kundenorientiert. Die Wut stieg in ihr hoch, und sie überlegte, was sie zerhauen könnte, um einen größeren Tobsuchtsanfall zu vermeiden. Ihr Blick fiel auf die violette Blumenvase mit Zebrastreifen, die am Fensterbrett stand. Die hatte ihr noch nie gefallen. Außerdem hatte sie die Vase vor zwei Jahren vom Bürgermeister geschenkt bekommen. Wegen ihrer Verlässlichkeit im Postdienst. Aus mit der Verlässlichkeit! Als sie die Vase mit Wucht auf den Boden schleuderte, ging sie nicht zu Bruch, sondern sprang wie ein Gummiball zurück. Kunststoff! Natürlich, was konnte man vom Bürgermeister auch anderes erwarten, als billiges Plastikzeug! Wutschnaubend warf sie die bauchige Vase aus dem Fenster.
Immer noch fluchend schlurfte sie ins Schlafzimmer, holte trotz der Hitze ihr Steppmieder mit Unterröckl aus dem Kleiderkasten und eilte ohne Frühstück zur Messe. Als sie eine gute Stunde später aus dem Dunkel der Kirche ins grelle Licht trat, musste sie blinzeln, und mit bedachtsamen Schritten erreichte sie über die wenigen Stufen den Dorfplatz, wo die Frauen lachend und laut redend in Gruppen beieinander standen, während die Männer dem Wirtshaus oder dem Bierzelt am Rand des Kirchtagsgeländes zustrebten.
Franziska erinnerte sich an ihre Kindheit in Muhr, als sie Schutz suchend nach der Hand der Mutter gegriffen hatte, sobald sie die Kirche verließen. »Das ist unser Gotteshaus«, sagte ihre Mutter immer mit einem wehmütigen Lächeln, »hier heiratest du einmal deinen Mann und hier wirst mich zu Grabe tragen.« Sie grinste. Das mit dem Grab stimmte, nur der Teil mit der Hochzeit war schwierig zu realisieren. Entweder waren die Männer, die sie kennenlernte, schon verheiratet, oder sie zeigten eine große Abneigung gegen Traualtäre. So vergingen die Jahre, und erst als ihr der morgendliche Blick deutlich vor Augen führte, dass sie im Begriff war, eine alte Jungfer zu werden, hat sie den Emil geheiratet. Und das war ein Falott, weshalb die Ehe auch nicht lange gedauert hat. Und jetzt hatte sie noch ihren Job eingebüßt.
Otto Taferner stand vor seinem Kramerladen, den er wegen des Kirchtags auch heute am Sonntag geöffnet hatte, und grüßte die Vorbeikommenden. Wo wohl seine Frau gerade ist, dachte Franziska. Wenn man den Gerüchten glaubte, und Franziska war auch in dieser Hinsicht ein gläubiger Mensch, dann könnte Anita vielleicht auf einen Kurzbesuch zum Schuldirektor geeilt sein. Dabei ist der Mooshammer zwölf Jahre älter als sie!
Auf dem Dorfplatz waren noch nicht allzu viele Leute zwischen den Jahrmarktbuden unterwegs. Zu lauter Musik, die wie ein Harmonium klang, drehten sich einige Kinder auf den Holzpferden des Karussells im Kreis, lachten laut und winkten ihren Müttern oder Vätern zu, die stolz daneben standen, zurückwinkten oder fotografierten. Franziska erinnerte sich, dass in ihrer Kindheit ein großes Holzpferd neben ihrem Bett stand, und dass sie oft noch schlaftrunken in der Früh auf den Pferderücken kletterte, erfüllt von dem sehnsüchtigen Wunsch, dass das Pferd Flügel hätte, um sie im Flug nach Arabien oder Persien zu bringen.
Neben dem Ringelspiel stand ein Mann mit einem kleinen Äffchen auf der Schulter und drehte konzentriert an einer Kurbel, was eine etwas unrhythmische Melodie erzeugte, die irgendeinem Walzer von Johann Strauß ähnelte. Der Leierkastenmann ist neu, sinnierte sie, sonst stehen alle Belustigungen und Standln an der gleichen Stelle wie jedes Jahr. Das Tauern-Panorama zum Beispiel, eine in üppigen Farben auf ein Holzbrett gemalte Berglandschaft mit einem ovalen Loch in der Mitte, durch das man von hinten seinen Kopf stecken konnte, was jedes Jahr die Angehörigen zu Lachanfällen und mehreren teuren Fotos animierte.
Einige ältere Frauen, der Tracht nach aus St. Michael, standen lachend um einen der urigen Marktfahrer und feilschten lautstark um den Preis, sodass Franziska den Eindruck bekam, auf einem orientalischen Bazar zu sein. Heiße Luft flutete durch die improvisierten Gassen zwischen den Holzbuden, und aus dem Bierzelt hörte man gedämpft die Blasmusik. Die Samsongruppe Mauterndorf begegnete ihr, und sie ging zur Seite, um die Riesenfigur und deren Begleitpersonen vorbei zu lassen. »Franziska! Hast es eilig?«, hörte sie hinter sich eine tiefe Stimme.
Sie drehte sich um. Leicht schwankend und mit rotem Kopf stand Erich Prodinger, der Schuldiener, vor ihr, der sie mit seinembekannt trotteligen Charme angrinste. Seine strohblondenHaare standen zerzaust nach allen Richtungen weg und eswar offensichtlich, dass er bereits jetzt einige Bier zu viel getankthatte.»Trinkst a Halbe mit mir? Weißt, schon früher hab ich immereinen Mordsdurst bekommen, wenn ich neben dem Bierzeltg’standen bin.«Sie schüttelte den Kopf. »Keine Zeit. Mir scheint, du amüsierstdich gut am Kirchtag?«»Du meinst, ob es mir Spaß macht?«Sie nickte. »Und du meinst, ob es mir gefällt, hier zu sein beiall den Leuten?«Sie nickte wieder. »Ja. Bist alleine da, oder mit deiner Frau?«»Wie meinst du das?«, fragte er lachend, so als ob sie einenWitz erzählt hätteFranziska winkte ab. »Egal. Aber ich habe eine andere Frage an dich …«»Du meinst, du willst mich etwas fragen, und ich soll dirdann eine Antwort geben?«»Erich, ich bewundere deinen Scharfsinn. Ich möchte wissen,ob du in den letzten Wochen unseren Bürgermeister öftersgesehen hast, ich meine, bei euch in der Schule?« »Der Herr Bürgermeister ist oft bei uns. Aber er geht nichtin den Unterricht, sondern besucht unsere Frau Direktor. Und damit er den Unterricht nicht stört, geht der Herr Bürgermeisterimmer hinten ins Haus rein.« »Erich, du hast mir geholfen.«»Was ist jetzt, trinkst a Halbe mit mir?«
Franziska sah auf die Uhr. »Ich wünsche dir noch einen durstigen Tag.« Sie war um zehn Uhr mit Karl verabredet, doch der war nirgends zu sehen. Ärger stieg in ihr auf, als sie ihn auch im Bierzelt nicht finden konnte. Beim Bier saß er also nicht.
Neben der Geisterbahn lud ein buntes Plakat zum Besuch des Spiegelkabinetts ein und Franziska stellte sich vor den zwei Meter hohen Spiegel neben dem Eingang. Verzückt blieb sie stehen. Zwar etwas verzerrt, aber schlank und zierlich sah ihre Figur in dem Spiegel aus, anders als die Realität. Ihre Taille war zwar schlank, und auch die Beine, aber die Hüften … die waren ihr Problem. Und da war der leichte Hängebauch, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Sie konnte noch so lange hungern, die Hüften blieben unbeeindruckt und unverändert. Wie ein Pferd, dachte sie. Allerdings ein graziles. Vielleicht sollte sie sich so einen schlankmachenden Spiegel für zu Hause anschaffen …