Mörderisches Rendezvous - Max Oban - E-Book
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Mörderisches Rendezvous E-Book

Max Oban

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Beschreibung

Mord im Bozner Unterland.

Tiberio Tanner möchte am liebsten nur seinen Wein genießen, aber dann hat er einen neuen Fall, der ihn in Anspruch nimmt. Ein Winzer wird des Mordes verdächtigt. Während Georg Rottenmann nur kurz das Apartment verlässt, um Zigaretten zu holen, wird seine Geliebte Elena ermordet. Könnte Rottenmanns Frau ein Motiv haben? Oder die vielen anderen Liebhaber Elenas? Tanner hat das Gefühl, in ein Wespennest gestochen zu haben. Dann verschwindet ein Mädchen, und seine Intuition sagt ihm, dass beide Fälle zusammengehören ... 

Ein atmosphärischer Krimi mit jeder Menge Lokalkolorit und einem unvergleichlichen Helden.

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Seitenzahl: 425

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Cover for EPUB

Über das Buch

Die Geschichte beginnt ganz harmlos: »Komm noch mit rauf«, sagt die attraktive Elena zu dem Winzer Georg Rottenmann. Eine Stunde, nachdem Rottenmann nur kurz Zigaretten holen war, liegt seine Geliebte ermordet vor ihm – und er wird verhaftet. Tiberio Tanner, Privatdetektiv und Genussmensch, nimmt sich des Falles an. Er steht zunächst vor einem Rätsel. Gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Schluzzer durchforstet er die Winzerfamilie Rottenmann. Könnte Valentina, die zweite Ehefrau Rottenmanns, etwas damit zu tun haben? Oder die zahlreichen Liebhaber Elenas, auf deren Namen Tanner stößt, als er die Wohnung durchsucht. Doch niemand scheint ein Motiv zu haben. Der Alptraum beginnt, als die siebzehnjährige Marianna spurlos verschwindet.

Über Max Oban

Max Oban, geboren in Oberösterreich, studierte in Wien und Karlsruhe. Er schlug eine Karriere als Manager ein, arbeitete für einen internationalen Konzern in Deutschland, den USA und Teheran, bevor er sich seiner Tätigkeit als Schriftsteller widmete. Max Oban hat zwei Söhne, er lebt in Salzburg und in der Wachau.

Mit dem Privatdetektiv Tiberio Tanner sind bisher zwei Kriminalromane im Aufbau Taschenbuch erschienen: »Blutroter Wein« sowie »Tödlicher Herbst«.

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Max Oban

Mörderisches Rendezvous

Ein Krimi aus Südtirol

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Zitat

Personen

Vor zwei Tagen. Am späten Abend.

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Glossar Südtirolerisch – Deutsch

Impressum

Wer von diesem Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...

»Das Bergsteigen wird durch die Existenz von Bergen sehr erschwert.«

Jan Rys

*

»Runter geht’s dann schneller.«

Tiberio Tanner

*

»Der Berg ruft!«

Luis Trenker

*

»Ich rufe zurück.«

Tiberio Tanner

Personen

Chessler, Maurizio, 63, Freund Tiberio Tanners und ehemaliger Commissario Capo in der Questura Bozen

De Santis, Nero, Nachfolger Maurizio Chesslers als Commissario Capo bei der Polizia Stato Bozen

Kompatscher, Lisa, Schulkollegin Marianna Urthalers in der Internatsschule Prokolus

Moroder, Markus, Kellermeister im Weingut der Rottenmanns

Paula, 46, Apothekerin, verständnisvolle, hübsche und schlagfertige Partnerin Tanners

Pircher, Urban, Unternehmer, DNA-Fachmann und Freund Tanners

Rottenmann, Georg, 49, unglücklich agierender Weingutsbesitzer im Südtiroler Unterland

Rottenmann, Philipp, 86, Senior am Weingut

Rottenmann, Roland, 24, Student und angehender Juniorchef am Weingut

Rottenmann, Valentina, 35, stets chic gekleidete (zweite) Ehefrau Georgs

Rubner, Verena, 23, Haushälterin und Pflegerin Philipp Rottenmanns

Schluzzer, Paulas Cousin und Tanners Famulus

Schrödinger, Alessandro, Dott., Bankprokurist in Bozen

Senoner, Elias, Single, wohnhaft in Brixen

Sonnerer, Konrad, aufmerksamer Hausbesorger

Stufles, Cassian, Dott., Rechtsanwalt der Rottenmanns

Tanner, Tiberio, 56, Genussmensch und Leiter der Detektei Diskretion & Fazit mit Bürositz Bozen, Privatanschrift: Altenburg, Fraktion der Gemeinde Kaltern

Tomasi, Mattheo, Gemeindeangestellter aus Sarnthein im Sarntal

Turato, Ophelia, (zweite) Ehefrau Patricks

Turato, Patrick, (erster) Ehemann Elena Zingerles

Turato, Laura, 17, Tochter Patricks (und Elenas)

Ulrike (Uli), rothaariges und lebenslustiges Dienstmädchen bei den Rottenmanns

Urthaler, Lukas und Erika, Mariannas Eltern

Urthaler, Marianna, 17, Schülerin in der Internatsschule Prokolus

Valloni, Claudio, verdächtiger Handelsreisender aus St. Pankraz im Ultental

Varga, Andreas, 24, Bruder von Gabriel Varga

Varga, Gabriel, junger Vater aus der Fraktion Mölten

Zingerle, Elena, attraktive, relativ amoralische und tote Single-Frau

Weitere Personen: ehrbare Bauern, Mitarbeiter der Questura Bozen, obskure Verdächtige aus ganz Südtirol, diverse Langweiler und Snobs

Vor zwei Tagen. Am späten Abend.

Ihr Kleid war kurz. Viel zu kurz. Aus den Augenwinkeln betrachtete er ihre übereinandergeschlagenen Beine. Die Tätowierung auf dem Oberschenkel sah einem Weihnachtsengel ähnlich. In Gedanken glitt seine Hand an der Innenseite des Schenkels nach oben. Bis er den Engel erreichen würde.

In einer engen Kurve berührte er ihr Knie, während er die Gangschaltung betätigte. Sie rückte nicht zur Seite.

»Sorry«, sagte er.

Sie lachte kehlig, sagte aber nichts.

Sie waren in Bozen verabredet gewesen. Bei einer Weinverkostung, die von der Winzergenossenschaft Bozen veranstaltet wurde, und wie immer ging alles ganz schnell. Schon nach zehn Minuten verließen sie die Halle. »Ich habe Hunger.« Sie deutete auf das benachbarte Gebäude. »Da drüben gibt es jede leckere Sachen zu essen.« Sie lachte, als ob sie selbst nicht an ihre Aussage glaubte. »Oder willst du gleich mit mir ins Bett?«

Als sie im Auto saßen, sagte sie: »Mein Hunger wird immer größer.«

Er deutete mit dem Zeigefinger auf die Windschutzscheibe. »Ich kenne ein gutes Gasthaus oben in den Bergen.«

»Welche Berge?«

»In Sirmian. Das ist oberhalb von Nals.«

»Meinst du das Apollonia?«

»Du kennst dich gut aus hier in der Gegend.«

»Und ich wette, deine Frau bekommt langsam Wind, dass wir uns treffen.«

Er lächelte zu ihr hinüber. »Darum fahren wir jetzt in die Berge. Dort sieht uns keiner.«

Als sie das Restaurant betraten, rechnete er nach, wie lange er Elena kannte. Fast schon ein Jahr. Sie stammte aus Bergamo, wo ihr Mann immer noch lebte, war geschieden und vor zwei Jahren nach Vilpian gezogen.

»Zeit für ein gutes Getränk«, sagte er, und sie einigten sich auf einen Blauburgunder Riserva Rottenmann aus einer Spitzen-Hanglage in fünfhundert Metern Meereshöhe, wie der Kellner erklärte.

Nach dem ersten Schluck deutete er auf das Flaschenetikett. »Rottenmann … das bin ich. Weißt du das eigentlich?«

Beeindruckt zog sie die Mundwinkel nach unten. »Du bist Winzer? Davon hatte ich keine Ahnung.« Sie griff nach der Flasche und betrachtete das Etikett. »Und das ist dein Wein? Warum verrätst du mir das erst jetzt? Riserva Rottenmann … du bist für mich reserviert.« Sie lachte kichernd und hob ihm ihr Glas entgegen. »Prost, Herr Winzer! Da schmeckt mir der Rotwein gleich doppelt gut.« Rasch kippte sie ihr Glas hinunter.

Es war dämmrig im Restaurant, doch wenn sie sich vorbeugte, fiel das warme Licht der Lampe, die über dem Tisch hing, auf ihr Gesicht und ihr tiefes Dekolleté. Ihre Brüste berührten für kurze Zeit den Rand des Tisches. Dann lehnte sie sich zurück, und er konnte noch immer ihre großen, dunklen Augen sehen, die ihn stumm ansahen. Ihre Ohrringe klimperten leise. Verführerisch lächelnd sah sie ihn an. »Ich kann deine Gedanken erraten.«

»Dann ist es Zeit, dass wir aufbrechen.«

Es regnete leicht, als er eine halbe Stunde später vor dem Haus ankam, in dem sie wohnte. Galant öffnete ihr Georg Rottenmann die Beifahrertür, und unendlich langsam hob sie ihre Beine aus dem Wagen.

Sie hängte sich bei ihm ein, und während sie durch den Vorgarten gingen, fiel ihm auf, dass sie in einen exakten Gleichschritt verfallen waren.

»Hast du Lust, noch auf einen Kaffee reinzukommen?«

»Ich mag das Spiel«, sagte er und küsste sie.

Sie nahm ihm den Mantel ab, und Georg sah ihr beeindruckt hinterher, wie sie sich rhythmisch vor ihm den Flur entlangschwang. Das Wohnzimmer war nicht groß, aber zweckmäßig eingerichtet. Durch das breite Fenster konnte man in der Ferne ein Stück einer Schnellstraße sehen und die Lichtpunkte der vorüberfahrenden Autos.

»Was möchtest du trinken?«, fragte sie mit belegter Stimme

»Vorher war von einem Kaffee die Rede.« Georg grinste und sah ihr zu, wie sie einige Zeitschriftenstöße von der Couch und voll gerauchte Aschenbecher wegräumte. Sie stützte das Knie auf das Sofa, beugte sich vor und zog den Vorhang zu. Georg trat hinter sie und legte seine Hand auf ihre Hüfte. Seufzend drehte sie sich um und schlang ihre Arme um seinen Hals.

Sie lösten sich voneinander und lagen einige Momente schwer atmend auf dem Rücken. Elena hatte den Vorhang schlampig zugezogen, und durch den Spalt sah man den Schein einer Straßenlampe.

»Tja«, sagte sie und kroch aus dem Bett. Sie griff nach ihrer Handtasche und suchte darin herum. »Hast du eine Zigarette für mich? Ich hab keine mehr.«

»Sorry. Ich bin Nichtraucher. Schon vergessen?«

Mit gespielter Verzweiflung ließ sie sich auf das Bett fallen. »Nein! Ein Königreich für eine Zigarette.« Lachend kniete sie sich aufs Bett und wippte auf und ab. »Holst du mir Zigaretten? Bitte!«

Das ist eine Investition in die Zukunft, dachte er und richtete sich auf.

»Danke. Das vergesse ich dir nie.« Sie streckte den Arm aus und zeigte in irgendeine Richtung. »Die Straße runter. Fünfhundert Meter auf der rechten Seite ist ein Kiosk mit einem Zigarettenautomaten. In zehn Minuten bist du wieder da.« Sie ließ sich auf den Rücken fallen, lächelte ihn an und öffnete langsam ihre Schenkel. »Ich bezahle auch für deine Dienstleistung.«

Schon gut, dachte er und schlüpfte in seine Hose.

Zehn Minuten später betrat Georg wieder das Haus und läutete an Elenas Tür. Keine Reaktion. Die Wohnungstür war nur angelehnt. Langsam trat er in den dämmrigen Flur. Irgendetwas war anders. Irgendetwas hatte sich verändert. Der Geruch, dachte er.

»Hallo«, rief er laut. »Der Zigarettenmann ist da.« Keine Antwort. Georg blieb stehen. Durch die halb geöffnete Schlafzimmertür sah er Elena am Boden liegen, genau zwischen dem Bett und dem Spiegelschrank an der Wand. Warum war er sich sofort sicher, dass sie tot war? War es die Tatsache, dass sie etwas verdreht auf dem Rücken lag, den Kopf weit nach hinten geneigt, so dass sie mit Sicherheit Probleme beim Luftholen hätte, wenn sie noch am Leben wäre? Oder war es die Stellung des linken Beines, das eigenartig abgewinkelt war und wie krampfhaft zur Seite zeigte. Ihr braun karierter Pantoffel lag mit der Sohle nach oben einen Meter neben ihrem Fuß. Zitternd vor Schreck, bückte Georg sich und sah das weiße Gesicht der Toten und die entblößte Schulter. Der Schlafrock war ihr seitlich heruntergerutscht. Ihre Augen waren geöffnet und wie von den grausamen Geschehnissen, die über sie hereingebrochen waren, überrascht. Sie starrten sie auf irgendeinen Punkt an der Decke. Unter ihrer rechten Brust zeichnete sich auf dem Stoff ein großer Blutfleck ab. Hinter ihrem etwas zur Seite gedrehten Körper verlief eine dünne rote Spur, die, ein unregelmäßiges Muster formend, auf dem hellbraunen Parkettboden einige Zentimeter weit geronnen war.

Was sollte er jetzt tun? Die Flucht ergreifen? Die Carabinieri rufen? Mit zitternden Fingern zog er sein Handy aus der Tasche.

Eins

Tanner blinzelte einige Male, dann öffnete er die Augen und starrte zur Decke. Er war tatsächlich eingeschlafen. Von wegen nur ein Viertelstündchen! Der Blick auf die Uhr versetzte ihn in Panik. Fast zweieinhalb Stunden hatte er auf der Couch gelegen. In einer Stunde würde Paula da sein. Und er hatte sie bei sich zum Abendessen eingeladen. Er rannte ins Bad, frisierte sich, steckte das Hemd in die Hose und wusch sich das Gesicht. Einige Augenblicke stand er in der Tür und betrachtete missbilligend das unaufgeräumte Wohnzimmer. Das Sonnenlicht, das in das Wohnzimmer flutete, ließ die tanzenden Staubkörnchen in der Luft flimmern. Das sah nicht gut aus. Er erinnerte sich an seine Mutter, die so etwas nicht gutgeheißen hätte. »Staubfreiheit ist die erste Stufe zur Hygiene«, hatte sie immer gesagt.

Guten Freunden, dachte Tanner, ist es egal, ob die Wohnung stubenrein ist. Sie wollen, dass das Essen bereitsteht und Wein im Kühlschrank ist. Er eilte in die Küche und sah das Plakat, das Paula an die Kühlschranktür geklebt hatte: Was immer dein Problem ist, du wirst die Lösung hier drin nicht finden. Er öffnete den Kühlschrank und schlug sich bestürzt mit der flachen Hand auf die Stirn. An die kulinarischen Südtiroler Spezialitäten, die sich Paula zum Abendessen wünschte, hatte er gedacht und die Kühlregale beim Feinkost Egger am Obstplatz halb leer gekauft: Speckknödel, Käseknödel, Spinatknödel, Rohnenknödel und Leberknödel. Dazu nicht zu kleine Portionen vom Kürbisstrudel, Pilzstrudel und Krautstrudel. Nur auf den Wein hatte er vergessen. Ein Abendessen mit Paula ohne Wein war undenkbar. Zur Sicherheit lief er noch in den Keller, aber auch dort war nicht eine Flasche zu finden. Sein Weinvorrat musste sich während der letzten Tage in geradezu mysteriöser Weise in nichts aufgelöst haben. Wo bekam er jetzt auf die Schnelle einige Flaschen Wein her? Gudrun, dachte er, die Wirtin des Altenburgerhofs, muss mir helfen. Er ließ alles stehen und liegen und lief mit wehenden Haaren aus dem Haus, wo ihn Stille und der winterliche Geruch nach Frische und Kälte empfing. Tanner mochte den Winter und die Reinheit des Schnees, der hier oben wie ein sauberer, weißer Teppich über der Landschaft lag. Die hohen Winterschuhe hatte er vergessen anzuziehen, er verfluchte den Ausflug zum Gasthaus, das Gott sei Dank nur einen Steinwurf von seinem Haus entfernt lag. Nach einigen Metern war seine Hose durchnässt, und die Halbschuhe waren mit Schnee gefüllt. Der Weg auf dem tief verschneiten Gehsteig war glatt und eisig und hätte seine ganze Aufmerksamkeit verdient. Er sah ins Tal hinunter, wo sich nach Osten der Blick auf das weite Land des Überetsch öffnete, das im Westen von der Mendelwand geschützt war. Einige hundert Meter unterhalb lag der fast zur Gänze zugefrorene Kalterer See, umringt von ausgedehnten Weingärten, die die weißen Hänge hinaufkletterten. Am oberen Ende des Sees konnte er die Häuser des Ortes St. Josef ausmachen, hingestreut wie kleine Legosteine. Mit raschen Schritten pflügte er durch den Schnee Richtung Gasthaus, als er mit seinen Schuhen zwischen zwei Steinen feststeckte, die er, abgelenkt von der Aussicht ins Tal, unter dem Schnee nicht bemerkt hatte. Der Länge nach fiel er hin, so schnell, dass er keine Chance mehr hatte, den Sturz mit seinen Händen abzufangen. Nachdem er seine Brille gefunden und sich mühsam hochgestützt hatte, drehte er sich nach allen Seiten um, ob ihn auch keiner beobachtete.

Gudrun, die Wirtin, wartete bereits in der Gaststube auf ihn. »Wenn es etwas ganz Besonderes sein soll«, sagte sie und lächelte ihn wissend an.

Sie wittert ein Geschäft, dachte Tanner.

»Ich habe noch zwei ganz besondere Flaschen von der Kellerei Kaltern, einen Weißburgunder mit dem Namen Kunst-Stück, eine limitierte Auflage der Winzergenossenschaft aus dem Jahr 2014. Bekommt man im Handel nicht mehr.«

»Weißburgunder. Limitierte Auflage«, wiederholte er. »Nehme ich.«

Auf dem Weg zurück machte sich Tanner Vorwürfe, nicht vorher nach dem Preis der limitierten Spezialität gefragt zu haben.

Als er mit fliegenden Haaren und den beiden Flaschen unter den Armen zu seinem Haus lief, bog Paula in ihrem Fiat Spider um die Ecke.

Sie schälte sich aus dem Sportwagen und zog den Rock nach unten. »Du wirkst verwirrt«, sagte sie. »Bin ich zu früh gekommen?«

»Du kommst immer zur richtigen Zeit.« Er deutete auf ein stacheliges Gewächs, das sie in der Hand hielt. »Was ist das?«

»Das ist ein Greisenhaupt. Cephalocereus senilis. Stammt aus Mexiko.« Sie hielt ihm den kleinen Blumenstock hin. »Ein Geschenk für dich.«

»Seniles Greisenhaupt«, sagte er und schüttelte abwertend den Kopf. »Ist das eine Anspielung?«

»Nein. Eine Pflanze für dein Büro. Übrigens habe ich Hunger. Was hast du für deine Liebste vorbereitet?«

Eine halbe Stunde später teilten sie die Knödel und Strudel gerecht untereinander auf.

»Das ist ein typisches Männeressen«, sagte sie. »Deftig und fett.«

Er zeigte auf ihren leer gegessenen Teller. »Aber offenbar schmeckt es dir. Südtiroler Tradition, hast du gesagt. Ecco!«

»Der Wein ist herrlich.« Paula drehte die Flasche und betrachtete das Etikett. »Weinbaugebiet Überetsch, limitierte Auflage … ich kann mich daran erinnern. Die Kellerei in Kaltern hat einen Künstler aus der Gegend beauftragt, das Etikett für die Flaschen zu entwerfen.«

»Die Trauben kommen von Lagen oberhalb vom Dorf Kaltern auf sechshundert Meter Höhe.«

»Woher weißt du das?«

»Gudrun vom Altenburger Hof hat es mir erzählt. Strahlend gelber Weißburgunder. Aromatische Frucht, mineralische Würze und pikante Säure.« Tanner hob sein Glas gegen die Lampe, die über dem Tisch hing, und lächelte dann zu ihr hin. »Erinnerst du dich noch an die grausamen Weine, die in der sechziger Jahren unter dem Namen Kalterer verkauft worden sind?«

»Für solche Erinnerungen bin ich zu jung, mein Schatz.« Ihr Lächeln war mehr ein Grinsen. »Während deiner Fiat-Zeit in Turin … welche Weine hast du eigentlich damals getrunken?«

»Gewächse aus dem Piemont. Nicht zu verachten übrigens. Barolo, Barbera und Barberesco. Damit habe ich mir damals die Zeit vertrieben.« Er trank sein Glas leer und stellte es zurück. »Aber ich mag das hier lieber … es lebe das Unterland.«

Paula deutete in Richtung Wohnzimmer. »Lass uns rübergehen. Auf der Couch ist es bequemer.«

Tanner nahm die zur Hälfte geleerte Flasche mit. Paula ließ sich auf die Couch fallen, zog die Beine unter sich und klopfte mit der Hand einladend neben sich auf das Sofa.

»Wie geht es eigentlich Maurizio? Hast du in letzter Zeit mit ihm geredet?«

»Maurizio ist alt geworden. Er hat abgebaut, seit er nicht mehr arbeitet.«

»Er ist kaum älter als du.«

»Kommst du jetzt wieder mit deinem senilen Greisenhaupt?«

»Wie lange ist das her? Seit er in Pension gegangen ist, meine ich.«

»Maurizio ist nicht in Pension gegangen«, sagte Tanner. »Er wurde gegangen. Vor einem Jahr ungefähr. Zwanzig Jahre lang war er Commissario Capo bei der Bozner Polizei, dann bekam er Streit mit dem Vizequestore, und der hat ihn kurzerhand pensioniert. Von heute auf morgen. Aber das weißt du ja alles.«

»Wie heißt noch mal sein Nachfolger, mit dem du auch schon Zerwürfnisse hattest?«

»Nero De Santis heißt der Mann. Maurizio nennt ihn ein Arschloch … und weiß Gott, er hat recht.«

»Du solltest dich um Maurizio kümmern.«

Tanner nickte. »Wir haben verabredet, uns demnächst zu treffen.«

Paula nickte und gähnte dabei.

»Bist du müde?«

»Es war anstrengend in der Apotheke. Kaum ist es Winter, werden die Menschen krank. Und alle gleichzeitig.«

»Umso mehr freue ich mich, dass du zu mir gekommen bist.«

Paula sah sich im Zimmer um. »Wann hast du dein Haus hier gekauft? Vor zwei Jahren?«

Er dachte nach. »Im Frühjahr werden es drei.«

Während der langen Zeit bei Fiat war er auf der ganzen Welt unterwegs gewesen. Jetzt fühlte er sich wieder in seiner alten Heimat wohl. Zu Hause bleiben statt unterwegs sein. Griaß di und pfiat di statt See you, Hello und Tschüss. Tanners Elternhaus, in dem er aufgewachsen war, hatte dem Bau einer Ferienwohnanlage weichen müssen, daher hatte er vor einem Jahr das alte Steinhaus in Altenburg gekauft.

»Mein Nachbar in Bozen hat sein Haus gestrichen«, sagte Paula. »Hellblau. Sieht furchtbar aus.«

»Dein Nachbar … ist das der scheißfreundliche Alleskönner?«

»Mach dich nicht lustig über Kassian. In der Nacht sind mindestens zehn Zentimeter Schnee gefallen. Und heute früh hat er mir die gesamte Garagenausfahrt freigeschaufelt.«

»Der rechtschaffene Kassian … er trinkt nicht, er raucht nicht, kommt jeden Tag pünktlich nach Hause, bringt seiner Frau Blumen mit und hilft ihr beim Staubsaugen. Ein richtiger Mister Perfekt. Ich kann ihn nicht leiden.«

»Lukas hat mich heute in der Apotheke besucht.«

»Wer ist Lukas? Auch einer deiner Nachbarn?«

Paula schüttelte den Kopf. »Ein Freund aus früheren Zeiten.«

»Ein alter Verehrer?«

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Er war ein attraktiver Mann. Aber keine Aufregung. Lange her. Er kommt dich morgen besuchen.«

»Wo? Hier?«

»Du bist Detektiv, und du hast ein Büro … schon vergessen?«

»Lukas … hat der attraktive Mann auch einen Nachnamen?«

»Habe ich vergessen. Ist Jahre her.«

»Was will er von mir?«

»Ich glaube, er will dir einen Auftrag geben. Mehr weiß ich nicht. Ich habe ihm deine Adresse gegeben. Er wird dich morgen aufsuchen. Im Büro.«

»Ein Auftrag wäre gut.«

»Stimmt. Du hattest schon lange keinen. Ein Mann braucht eine Beschäftigung. Wann kommt eigentlich dein Adlatus Schluzzer aus dem Urlaub zurück?«

»In zwei oder drei Tagen.«

»Was macht ein Mann wie er im Winter auf Mallorca?«

Tanner zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich ist da alles billiger. Der Sangria und das Hotel.«

»Apropos Getränk«, sagte Paula und erhob sich. »Du hast doch sicher noch eine Flasche von diesem herrlichen Weißburgunder. Während ich auf die Toilette gehe, könntest du sie öffnen.«

Als Tanner mit der geöffneten Weinflasche ins Wohnzimmer trat, stand Paula mit suchendem Blick vor dem raumhohen Bücherregal.

»Was suchst du?«, fragte Tanner.

»Ein Buch.«

»Zum Lesen?«

»Deine Fragen waren schon mal intelligenter.« Sie sagte es, ohne sich umzudrehen, und deutete auf die Bücherwand. »Hast du eigentlich das alles gelesen?«

»Deine Fragen waren schon mal intelligenter.«

Sie blickte über ihre Schulter, sagte aber nichts. Immer wieder wollten Bekannte, die ihn besuchten, wissen, ob er denn um Himmels willen alle diese Bücher gelesen hätte. Natürlich nicht! Und gerade die Tatsache, dass er über ein großes Reservoir an noch unbekanntem Lesefutter verfügte, empfand Tanner als tröstlich. Erst vor Kurzem machte er die Rechnung auf, dass sich der Kauf eines Buches sechshundertmal schneller bewerkstelligen ließ, als das Buch hinterher zu lesen. Aus dieser Sicht galt es für ihn als physikalisch begründbares Faktum, warum sich so viele ungelesene Bände in seinen Regalen befinden mussten.

Paula zog einen dicken Band aus dem Regal und nahm wieder auf der Couch Platz.

»Für was hast du dich entschieden?«

Sie hielt ihm das Buch hin. »Rückwärts in die Zukunft«, las er laut. »Ein interessanter Titel.«

Sie nickte. »Es geht um Paul Flora. Der wurde übrigens in Glurns im Vinschgau geboren. Wusstest du das?«

»Wie viel Seiten hat das Buch?«

»Keine Ahnung«, sagte sie.

»Wie kann man ein Buch lesen, ohne zu wissen, wie viel Seiten es hat?«

»Du hast beschlossen, lästig zu sein. Stimmt’s?«

»Hat das Buch mehr als dreihundert Seiten?«

»Erinnerst du dich, wir haben vor einiger Zeit darüber gesprochen, wer von uns beiden mehr Blödsinn redet?«

»Und?«

»Du hast soeben die Wette gewonnen.«

Zwei

Um in sein Büro zu kommen, konnte Tanner entweder am Talferbach entlanggehen oder die Außenbezirke Bozens durchqueren, um zur St.-Anton-Brücke zu gelangen. Meist nahm er den Weg am Flussufer entlang, nicht nur weil er kürzer war, sondern ruhiger, und es gab ihm auch das Gefühl, durchatmen zu können wie im Urlaub an einer Uferpromenade in einem Seebad.

Tanners Schritte verlangsamten sich, je näher er dem Büro kam. Leichte Kopfschmerzen plagten ihn. Nicht die 13,5 Prozent Alkohol des Weißburgunders gestern Abend waren das Problem, sondern die zweite Flasche, die er auf Paulas Anraten geöffnet hatte. Sie war schuld. Nach einer weiterführenden Analyse stellte er fest, dass ihm auch jeglicher Enthusiasmus für die Büroarbeit abhandengekommen war. Einen Moment blieb er vor der Tür stehen und starrte auf das Schild, das so blank geputzt war, dass er darin sein Spiegelbild sehen konnte.

DETEKTEI DISKRETION & FAZIT

DISCREZIONE E RISULTATO

TIBERIO TANNER

Sein Schreibtisch sah genauso aus, wie er ihn vor einem Tag hinterlassen hatte. Unaufgeräumt. Wie sein Wohnzimmer. Das Wort »Chaos« drängte sich ihm auf. Auf dem Weg zur Wasserleitung machte er am Abreißkalender halt und las den Spruch des Tages: Arbeit hat noch niemanden umgebracht, aber ich will kein Risiko eingehen.

Mit einem Glas Wasser stellte er sich ans Fenster und sah auf die steinerne Mauer am Ufer des Talferbachs, der Richtung Süden floss, wo er sich nach Bozen mit dem Eisack vereinte. Das Feld am anderen Flussufer war tief verschneit und wurde von zahlreichen umherhüpfenden Krähen bevölkert. Tanner mochte den Winter, besonders wenn alles zugeschneit war. Der Gedanke, dass die Natur zum Nichtstun gezwungen war, gefiel ihm. Mit einem weißen Mantel zugedeckt, so dass alle Bewegungen und Abläufe gebremst wurden und so ihre Hektik verloren. Der einzige Nachteil war, dass er manchmal auf einem schneeglatten Gehweg ausrutschte und auf die Nase fiel.

Von irgendwoher hörte man Kirchenglocken läuten. Neun Uhr. Um diese Zeit hatte er bei Fiat schon zwei Stunden in seinem Büro gesessen und begonnen, die diversen Besprechungen in seinem Terminkalender abzuarbeiten. Tanners Gedanken wanderten zurück zu seiner ehemaligen Firma in Turin und an das Ende seiner beruflichen Tätigkeit. Nach dreißig Jahren im Management war es im Zuge der Fusion des Fiat-Konzerns mit Chrysler auch zu Anpassungen im Personalbereich gekommen. Er erinnerte sich, als ihn der Chef in sein Büro beordert hatte und sagte: »Nehmen Sie Platz, Tanner.« Während sein Boss vor ihm unruhig auf und ab marschierte, beschlich Tanner mit einem Mal das Gefühl, nur noch Befehlsempfänger zu sein. Fünf Minuten später war sein Vertrag einseitig aufgelöst worden, und er stand mit sechsundfünfzig und einer mageren Abfindung auf der Straße.

Ohne lange zu überlegen, beschloss er damals, Zeit und Geld in eine neue Karriere zu investieren. Er verbrachte einige Monate als Lehrling bei einem Mailänder Detektivbüro und erwarb in einer mehrmonatigen Ausbildung die Arbeitsberechtigung als sogenannter Berufsdetektiv, ausgestattet mit Kompetenz und Faktenwissen in Kriminologie, Rechtskunde und Personenschutz, amtlich examiniert und einer von der Behörde ausgestellten Legitimation. Mit farbigem Lichtbild. Er lockerte den Gürtel um zwei Löcher und setzte sich an seinen Schreibtisch.

Das Notebook war noch nicht hochgefahren, als sein Besucher an der Tür läutete.

»Sie heißen Lukas mit Vornamen«, sagte Tanner zur Begrüßung. »Ihren Familiennamen hat Paula vergessen.« Ein guter Gesprächsstart. Tanner lächelte innerlich und deutete auf den Besuchersessel.

»Ich heiße Lukas Urthaler«, sagte der Mann.

Fast eine totale Glatze. Tanner betrachtete den Mann kritisch. Nur an den Ohren waren noch ein paar Haarbüschel, die störrisch zur Seite standen. Was ihm auf dem Kopf fehlte, hatte er am Kinn: einen nach Tanners Meinung zu langen Bart, der Urthalers Aussehen in die Nähe von Osama bin Laden rückte. Und Paula hatte den Mann als attraktiv bezeichnet!

»Was können wir für Sie tun?« Es lebe das Selbstbewusstsein, dachte Tanner und entschied sich für den Pluralis Majestatis.

»Darf ich?« Urthaler erhob sich noch einmal kurz und zog seine dick wattierte Jacke aus. Darunter kam ein blütenweißes Hemd zum Vorschein.

»Ich bin leitender Angestellter im Tourismusverein Eppan, und ich komme mit einem Problem zu Ihnen.«

»Bei uns sind Sie richtig«, sagte Tanner. »Wir vernetzen jedes Problem mit der Lösung.« Er forderte sein Gegenüber mit einer Handbewegung auf zu sprechen.

»Möglicherweise geht es um Betrug.« Urthaler holte ein kleines Büchlein aus der Brusttasche. »Jeder Tourismusverein in Südtirol finanziert sich zu rund achtzig Prozent über die Ortstaxe, manchmal auch Kurtaxe genannt. Mit diesem Geld verbessern wir die Infrastruktur für den Fremdenverkehr und finanzieren kulturelle Veranstaltung sowie die Fremdenverkehrswerbung.« Er grinste. »Tourismusmarketing kostet Geld.«

»Ich mache in Südtirol selten Urlaub. Wie hoch ist die Ortstaxe?«

»Das hängt vom Luxus ab, den der Gast bei uns erwartet. In einfachen Pensionen oder am Campingplatz weniger als ein Euro, ab einem Viersterne-Hotel bezahlen Urlauber mindestens ein Euro sechzig. Pro Tag und pro Person.«

»Sie sprachen von Betrug …«

Urthaler hob die Hand und unterbrach ihn: »Dazu komme ich gleich. Es geht um das Boutique-Hotel am kleinen Montiggler See. Fünfsterne-Unterkunft und Spitzenrestaurant. Francesco Zaccone heißt der Besitzer.«

Tanner nickte. Kenne ich, hieß das. »Ich dachte immer, Montiggl gehört zu Kaltern.«

»Montiggl ist eine Fraktion der Gemeinde Eppan. Nun zu dem Grund, warum ich von Betrug sprach. Von möglichem Betrug …« Er lächelte etwas verlegen und blätterte in seinem Notizbuch, bis er die passende Seite fand. »In allen Fraktionen der Großgemeinde Eppan an der Weinstraße stiegen die Nächtigungen im letzten Jahr um sechs Prozent, im Jahr davor sogar um sieben und noch ein Jahr davor um fünf Prozent.« Er lächelte und schlug in seinem Büchlein eine neue Seite auf. »Eppan liegt damit im Vergleich mit ganz Südtirol auf einem der vorderen Ränge.«

»Tüchtiger leitender Angestellter im Tourismusverein«, sagte Tanner. »Und was ist nun mit dem Hotel am Montiggler See?«

»Das Boutiquehotel ist kein Kleinbetrieb, sondern ein erfolgreicher Riesenschuppen. Und ausgerechnet dort sollen die Zahlen rückläufig sein. Und zwar extrem rückläufig.« Er drehte sein Notizbuch um und hielt es Tanner hin. »Sehen Sie sich das Diagramm an. Die Kurve der gemeldeten Nächtigungen geht bei diesem Hotel ständig nach unten. Völlig unverständlich und gegen den Trend. Vor einem Jahr um minus siebenundzwanzig Prozent, und dieses Jahr sollen es sogar minus vierunddreißig Prozent sein. Ein Drittel weniger als im Vorjahr.« Er klappte das Büchlein zu und sah Tanner scharf an. »Alle wachsen, nur das Boutiquehotel bewegt sich nach unten.«

»Und das stört Sie?«

»Natürlich stört mich das. So viele Vier- und Fünfsterne-Häuser haben wir nicht im Unterland. Verstehen Sie? Da schlägt ein großes Hotel enorm zu Buche. Unsere Kosten im Tourismusverein steigen, weil wir viel vorhaben.« Mit dem Zeigefinger klopfte er auf sein Notizbuch. »Aber unsere Einnahmen sinken. Und ich glaube das nicht.«

»Sie meinen … die betrügen?«

»Natürlich. Ich bin sicher, der Zacchone meldet uns falsche Übernachtungszahlen. Meine Meinung ist: Er manipuliert die Zahlen, kassiert zwar von den Kunden die Kurtaxe, gibt sie aber nicht an uns weiter.« Urthaler nahm einen Hochglanzprospekt und legte ihn vor Tanner auf den Tisch. Am Titelbild saß eine halb nackte Frau im Schneidersitz, die ihr glücklich entspanntes Gesicht in die untergehende Sonne hielt. Interessiert faltete Tanner den Hotelprospekt auseinander.

Der klare Montiggler See und der Tannenduft des angrenzenden Waldes wird genauso auf die Bühne gebracht wie die wilde Schönheit der kalkweißen Dolomitenkette. Yoga, Ayurveda-Retreat, Detox & Fitness-Meditation, Waldbaden und unsere gesamte Poollandschaft, bestehend aus Wellnesspool, Solepool, Sportpool sowie unserem Nacktpool auf der Dachterrasse.

Bei dem Begriff Ayurveda-Retreat lief Tanner ein Schauer über den Rücken.

»Womöglich haben einige Kunden die Lust an Yoga und Meditationen im Nacktpool verloren. Vielleicht ist der Hotelmensch unfreundlich zu seinen Gästen, oder die Betten sind dreckig.« Tanner legte den Prospekt zur Seite und sah Urthaler ins Gesicht. »Das alles könnte den Rückgang erklären.«

»Sie sind ein tüchtiger Detektiv, erzählt man. Aber ich bin ein tüchtiger Touristikfachmann. Zacchone ist ein Profi. Der versteht sein Geschäft. Außerdem kenne ich die Übernachtungszahlen im Land. Eppan ist die sechstgrößte Gemeinde Südtirols und somit einer Kleinstadt vergleichbar. Wir liegen direkt an der Weinstraße im Überetsch und genau im touristischen Zentrum zwischen Bozen und Kaltern. Ich kenne auch die Zahlen von Terlan, wo ich mit meiner Familie wohne. Der Fremdenverkehr boomt. Überall. Und noch etwas …« Er hob seinen Zeigefinger. »Ich habe einen Cousin, der ist der Besitzer des Weingutes Rottenmann in Hofstatt …«

»Rottenmann habe ich schon gehört«, unterbrach Tanner. »Wo liegt Hofstatt?«

»Eine kleine Siedlung oberhalb von Kurtatsch. Dort gibt’s phantastischen Wein. Worauf ich hinauswill … die Firma von meinem Cousin beliefert schon seit Jahren das Hotel am Kleinen Montiggler See. Und jetzt kommt’s: Die Weingeschäfte mit dem Hotel laufen hervorragend. Ich habe mit meinem Cousin Georg telefoniert. Francesco Zacchone kauft jedes Jahr mehr Wein bei ihm. Bis jetzt schon fünfzehn Prozent mehr als im vorigen Jahr.« Urthaler verschränkte die Arme vor der Brust. »Verstehen Sie jetzt? Da der Hotelbesitzer den Wein nicht selber trinkt, bechern den seine Kunden. Fünfzehn Prozent mehr Wein bei einem Drittel weniger Gästen … das passt nicht.«

»Also …«, sagte Tanner, und in diesem Moment erinnerte er sich an seinen alten Deutschlehrer, der im Gymnasium nicht müde geworden war, darauf hinzuweisen, dass das Wort »Also« einen geradezu verbotenen Satzanfang darstellte. »Ihrer Vermutung nach hat das Boutiquehotel also wesentlich höhere Nächtigungszahlen, und dieser Zacchone führt die Kurtaxe nicht an die Gemeinde ab. Richtig?«

Urthaler nickte. »Vermutlich führt er eine manipulierte Buchhaltung.«

Tanner hob den Kopf. »Dann steckt er nicht nur die Ortstaxe in die eigene Tasche, sondern begeht auch Steuerhinterziehung. Das betrifft mindestens Umsatzsteuer und Körperschaftssteuer. Wahrscheinlich noch weitere. Sie haben doch in Ihrer Gemeinde einen Amtsdirektor oder Steuerreferenten. Das wird den auch interessieren. Haben Sie mit dem gesprochen?«

Urthaler machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist auch ein Cousin von mir. Mit dem bin ich zerstritten. Wir reden schon seit Jahren nicht miteinander.«

»Schicken Sie doch dem Hotel eine Rechnungsprüfung ins Haus. Dann klärt sich alles ganz schnell.«

»Das gibt große Unruhe. Genau das möchte ich nicht.«

»Warum zeigen Sie Zacchone nicht einfach an? Dazu haben wir eine Polizei und eine Staatsanwaltschaft.«

Urthaler schnaufte. »Wenn es so einfach wäre. Wer glaubt mir kleinem Licht schon? Natürlich werde ich irgendwann die Carabinieri einschalten. Aber vorher brauche ich Beweise. Und deshalb bin ich bei Ihnen.«

»Okay.« Tanner lehnte sich zurück. »Wie lautet Ihr Auftrag?«

»Ganz einfach. Schaffen Sie mir die Beweise! Die Nächtigungszahlen der letzten zwei Jahre. Als Fleißaufgabe wären die Umsätze des Hotels noch interessant. In Euro.«

»Nächtigungszahlen? Und wie soll ich an die rankommen?«

»Keine Ahnung.« Urthaler erhob sich. »Sie sind der Detektiv.«

*

Als Tanner aus dem Haus trat, hatte es wieder zu schneien begonnen. Er schaltete das Radio ein. In den Nachrichten hörte er, dass einige Südtiroler Orte wegen der Schneefälle von der Außenwelt abgeschnitten waren. Für die gesamte Region galt weiterhin Wetterwarnstufe Rot. Der heftige Schneefall sorgte für verschüttete Straßen und Stromausfälle. Im Martelltal, einem Seitental des Vinschgaus, waren einige Gebäude von Lawinen verschüttet worden.

»Kauf dir endlich eine warme Mütze.« Erst gestern hatte er die Empfehlung von Paula wieder gehört. Zum x‑ten Mal.

»Ich bin kein Mützentyp.«

»Unsinn«, sagte sie. »Es gibt Mützen für jede Gesichtsform. Auch für deinen Kopf.«

»Ich mag diese Dinger nicht.« Außerdem war Tanner überzeugt, dass eine Mütze den Haarausfall begünstigte.

Im Schritttempo fuhr er am Gasthof in Altenburg vorbei, bis er im Tal die SP 15 erreichte, die vorbildlich geräumt war. Immer noch fielen dichte Flocken, und von der Umgebung war wenig zu erkennen. Er umrundete Kaltern und nahm die Südtiroler Weinstraße, die er kurz vor St. Michael verließ und rechts auf die kurvige Montiggler Straße abbog. Der Weg durch den Wald war eisig, und immer wieder kam sein Wagen ins Schleudern. Fünf Minuten später fuhr er an der kleinen Kirche vorbei, die, so hatte ihm Paula einmal erklärt, den Heiligen Drei Königen gewidmet war. Sie bildete den Dorfkern, um den herum sich einige alte Bauernhäuser und traditionelle Städel gruppierten. Beim Tennisplatz bog er nach links ins Frühlingstal ab, das zum Großen Montiggler See führte und unter der Schneedecke nicht nach Frühling aussah. Tanner kannte die Gegend hier oben gut. Wie alt war er gewesen, als er seinen Vater das letzte Mal zum Angeln hierherauf hatte begleiten dürfen? Sechs Jahre. Oder sieben vielleicht. Damals konnte man im See noch kostenlos fischen. Einmal, am Beginn der großen Ferien, fing er einen Schwarzbarsch. Irgendwo musste er zu Hause noch ein Foto von sich haben, das ihn gemeinsam mit dem Fisch zeigt. Lange her.

Langsam fuhr er die Uferstraße entlang, die sich wie die ganze Umgebung in den letzten Jahren stark verändert hatte. Der Gasthof Fischerhaus hatte eine neue Fassade bekommen, und der Zufahrtsweg war asphaltiert und breiter geworden. Das Ufer des Sees war nur noch an wenigen Stellen zugänglich. Wohin man sah, mannshohe Mauern und Schilder mit Einfahrts- und Parkverboten. Da, wo früher feuchte Wiesen zum See hinunterführten, standen jetzt protzige Villen, ihre schmucke Seite dem See zugewandt. Im Fischerhaus war Tanner oft gewesen. Dort hatte er auch sein erstes Bier trinken dürfen. Ob in der Gaststube noch die Musicbox stand, die sein Vater Wurlitzer nannte? Eine schmale Privatstraße, die für den öffentlichen Verkehr gesperrt war, führte zum Kleinen Montiggler See. Dort musste sich das sagenhafte Boutiquehotel befinden.

Nach einem kleinen Wiesenstück öffnete sich der Blick auf einen steilen Hang, der sich bis zum Wald hinaufzog. Ein paar Kinder waren mit Skiern unterwegs oder sausten auf ihren Schlitten gut gelaunt die Böschung herunter. Einer der Rodler saß wie ein wilder Reiter auf einem durchgehenden Pferd und jagte mit voller Wucht den Hang herunter über den Gehsteig hinweg, wo er zwei Meter vor Tanners Auto zum Stehen kam.

Tanner sprang auf die Bremse und kurbelte das Fenster herunter.

»So etwas könnte auch schiefgehen.«

»Ich habe meinem Schlitten zugerufen, stehen zu bleiben«, sagte der Kleine, »aber er hat nicht auf mich gehört.«

Tanner lächelte dem Buben zu. »Hat denn deine Rodel einen Namen?«

»Meine Rodel ist keine Rodel, sondern ein Schlitten. Und er heißt Rosebud.«

»Das ist ein toller Name für einen Schlitten«, sagte Tanner und schloss das Wagenfenster.

Fünf Minuten später umrundete er eine verfallene Scheune, und dahinter kam das Gebäude des Hotels zum Vorschein. Hässliche supermoderne Architektur war sein erster Gedanke, ein klobiger Sichtbetonklotz mit bläulich spiegelnder Glasfront. Der Nacktpool auf der Dachterrasse fiel ihm ein, doch der war zu dieser Jahreszeit sicher nicht in Betrieb.

Die Winterlandschaft war tief verschneit. Beinahe geräuschlos rollte sein Wagen den leicht abschüssigen Fahrweg hinunter. Nach einer leichten Rechtskurve entdeckte Tanner den Parkplatz des Hotels, auf dem zehn zugeschneite Autos standen. Der Wind war fast ein Sturm, der seine Hose flattern ließ, als er vor dem Portal stand. Ein paarmal stampfte er auf, um den Schnee von den Schuhen zu schütteln. Eine Katze lief ihm regelrecht über die Füße, wahrscheinlich auf dem Weg zurück ins Haus und in die Wärme.

Durch eine schnell rotierende Glastür betrat er die Hotelhalle, die still dalag. Wie sollte er jetzt am besten vorgehen? Schaffen Sie mir Beweise. Die Nächtigungszahlen der letzten zwei Jahre. Während der Autofahrt hatte er sich den Kopf zerbrochen, wie er es anstellen sollte, sich einen Einblick in die Buchhaltung des Hotels zu verschaffen.

In der Hotelhalle war es angenehm warm. Etwas unschlüssig schnappte er sich eine Zeitung, die auf einem der niedrigen Tische lag, und ließ sich in einem der Sessel nieder. Wie in einer gotischen Kathedrale erhoben sich schlanke Säulen bis zum sternenförmigen Gewirr eines Kreuzrippengewölbes, das von farbigen Lampen angestrahlt wurde. Der rundliche, goldbetresste Portier lümmelte gelangweilt hinter dem Tresen und richtete sich schlagartig auf, wenn ein Hotelgast die Lobby betrat. Ein Ehepaar kam eiligen Schrittes in die Halle, steuerte die Rezeption an und begann übergangslos ein lautstarkes Gespräch mit dem Portier. Soweit Tanner aus der Ferne verstehen konnte, gab es Probleme mit dem Zimmer, das von dem Ehepaar reserviert worden war.

Leise Musik tönte aus unsichtbaren Lautsprechern, lyrische Folklore, irgendwo zwischen seichten Schlagern und volkstümlichen Heile-Welt-Klängen. Ein gut frisierter Herr in dunkelblauem Anzug mit schwarzem Aktenkoffer stand am Fenster und sprach leise in sein Mobiltelefon.

Nach fünf Minuten des Nachdenkens näherte sich Tanner der Empfangstheke, wo ihn der Uniformierte lächelnd erwartete.

»Ich habe Sie schon beobachtet«, sagte der kleine Mann mit rotem Gesicht, dessen Mund hinter einem mächtigen Schnurrbart verborgen war. Tanner erinnerte sich an eine alte Verfilmung des Don Quijote, in der die Figur des Sancho Pansa genauso aussah. Auf seiner mächtigen Brust prangte das Schild »Paolo Bertram«.

Diensteifrig fuhr sich Paolo durch sein sprödes, nach allen Seiten wegstehendes Haar und blickte Tanner erwartungsvoll an. Er überlegte wohl, ob Tanner ein Gast war oder nur einer, der sich verfahren hatte und nach dem Weg fragen wollte.

»Ich möchte zwei Doppelzimmer buchen«, sagte Tanner, und um die Seriosität seiner Worte zu unterstreichen, holte er sein Notizbuch heraus und blätterte darin.

»Zimmer buchen.« Das freute Sancho Pansa. Er angelte nach einem Stück Papier und suchte einige Zeit nach einem Stift, den er schließlich hinter seinem Ohr fand.

Tanner beugte sich vor und lehnte sich mit dem Ellbogen auf die Theke. »Wissen Sie, Onkel Ludwig besucht mich. Er und Tante Gerda kommen aus Düsseldorf, und beide haben hohe Ansprüche. Was könnten Sie mir bieten?«

»Zuerst die Eckdaten«, sagte Paolo. »Von wann bis wann dürfen wir Onkel und Tante aus Düsseldorf begrüßen?«

Tanner blätterte in seinem Notizbuch. »Vom zehnten bis achtzehnten Februar. Höchster Komfort … Sie haben verstanden?«

»Höchster Komfort. Ich habe verstanden.«

Mit einem eigenartigen Gang watschelte er ein paar Schritte den Tresen entlang und zog eine in Augenhöhe befindliche Schranktür auf. Dahinter befand sich ein Tresor, dessen Tür nur angelehnt war. Sancho Pansa griff nach einem dicken Buch, das vorne in dem Safe lag, drehte sich schwungvoll um und legte den Wälzer auf die Theke.

»Ecco!« Er begann in dem Buch zu blättern. »Zehnter bis achtzehnter Februar. In dieser Woche kann ich Ihnen das Apartment ›Wilder Mann‹ und die Suite ›Mitterberg‹ bieten. Die Suite bietet eine Herzbadewanne, gemütliche Bauernstube und Panoramabalkon mit See- und Bergblick.«

Tanner deutete auf das dicke Buch. »Alles analog. Das gefällt mir.«

»Was meinen Sie mit analog?«

»Die meisten Hotels planen ihre Buchungen mit dem Computer. Digitaler Terminkalender, verstehen Sie. Sie schreiben alles mit der Hand in ein Buch. Das ist zwar etwas altmodisch, aber äußerst sympathisch.«

»Francesco … das ist mein Chef … er mag keine Computer. Keine Ahnung, warum.« Paolo sah sich nach allen Seiten um, ob auch niemand mithörte. Dann beugte er sich über die Theke, und Tanner fiel auf, dass die Augen des Mannes verdächtig glänzten und er nach Alkohol roch. Grappa vermutlich. »Ich glaube, mein Chef ist zu dumm für einen Computer. Den Fernseher zu Hause bedient nur seine Frau. Das kann ich beschwören.«

Mit der ausgestreckten Hand zeigte Tanner über Paolos Schulter auf den im Wandschrank eingebauten Tresor. »Ich erkenne ihn wieder«, sagte Tanner mit aufgeregter Stimme. »Das ist ein Tresor der Firma Krupp.« Erklärend fügte er hinzu. »Ich habe mal bei der Firma gearbeitet. Das ist eine richtige Freude, so einen Panzerschrank hier zu finden. Pflegen Sie ihn gut. Ein guter Safe wird mit dem Alter immer wertvoller. So wie ein guter Vernatsch.«

Paolo grinste. »Das mit dem Vernatsch verstehe ich.«

»Ich wette, das ist ein Krupp XY 1000.« Tanner streckte wieder die Hand aus und zeigte auf den Tresor.

Paolo drehte sich um, setzte umständlich die Brille auf und besah sich den Tresor aus der Nähe und schüttelte den Kopf. »Leider falsch«, sagte er und wies auf die aufgeklappte Tresortür. »Tresor Krupp MX 15 steht hier.«

»Ja, ja.« Tanner nickte wissend. »Der gute alte MX 15. Der hat sicher schon einige Jahre auf dem Buckel.«

Paolo zuckte mit den Schultern. »Schon möglich. Ich arbeite erst seit einem Jahr hier. Was ist nun mit Ihrer Buchung für Onkel Ludwig und Tante Gerda aus Düsseldorf?«

Tanner machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Gemach! Ich rufe Sie dazu an. Kurzfristig.« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr Hotel jetzt im Winter ausgebucht ist.«

»Sie haben recht«, sagte Paolo, und es klang fast etwas traurig. »Im Frühjahr kommen die Gäste wieder. Jetzt ist Tote-Hose-Zeit.«

»Ein fast leeres Hotel … haben Sie und Ihr Chef nicht Angst, dass in der Nacht eingebrochen wird?«

»Ach nein.« Er machte eine verneinende Handbewegung. »Alles gesichert! Wir haben Bewegungsmelder und Sicherheitsschlösser an den Türen. Von außen kommt hier keiner rein.«

Tanner bedankte sich für die Auskunft und verabschiedet sich. Von außen kommt keiner rein, dachte er.

*

Eisige Luft schlug ihm entgegen. Der Wind pfiff durch die Wipfel der Bäume, die jenseits des Sees standen. Von Zeit zu Zeit jagten Wolken über den blauen Himmel. Tanner zog seine Jacke fester um sich und stapfte zum Parkplatz, auf dem sein Wagen stand. Die Mondsichel stand hoch über der Bergkette. Es würde eine kalte Nacht werden, dachte er, während er zurück in den Ort Montiggl fuhr.

Als er die erste warme Luft aus dem Gebläse spürte, blieb er in einer Parkbucht stehen und rief Paula an, die sofort ans Telefon ging.

»Wo bist du, und wann kommst du?«, fragte sie.

»Welche Frage soll ich zuerst beantworten?«

»Wir haben nichts im Kühlschrank.«

»Das trifft sich gut«, sagte er. »Es ist zwar kalt, aber was hältst du von einem romantischen Spaziergang mit Mondschein und mir am See entlang.«

»Romantik am Kalterer See. Das klingt überzeugend.«

»Und hinterher lade ich dich zum Abendessen ein. Beim Klughammer.«

»Abendessen klingt doppelt überzeugend.«

»Reservierst du bitte einen Tisch? In einer Stunde.«

»Du lädst mich ein, und ich soll reservieren?«

»Halt! Noch eine Frage. Wie heißt noch mal dein Neffe?«

»Ich habe viele Neffen. Welchen meinst du?«

»Den Schlosser. Seine Frau heißt Ursula. Ich glaube, er wohnt in Nals.«

»Das ist mein Lieblingsneffe Daniel. Daniel Plankensteiner. Ein tüchtiger Handwerker.«

Tanner ließ sich die Telefonnummer geben und sagte Paula, dass er sich auf das gemeinsame Abendessen freue.

Es läutete einige Male, bis ein Mann ans Telefon ging, der sich mit einem etwas bellenden Ton meldete »Hier Plankensteiner.«

Tanner musste den Stammbaum Paulas einige Male rauf und runter erklären, bis der Mann wusste, wen er am Telefon hatte. »Tiberio … wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen.«

Das soll sich schon morgen in der Nacht ändern, dachte Tanner. »Deshalb rufe ich dich an«, sagte er. »Du bist doch Schlosser, oder?«

»Nicht nur. Eisen, Maschinenbau und Bleche sind meine Welt. Warum fragst du?«

»Weil ich deine Unterstützung brauche. Als Detektiv. Ich muss einen Safe knacken.«

»Einen Safe knacken ist ungesetzlich. Dafür wandern wir beide ins Gefängnis.«

»Na ja«, sagte Tanner. »Erstens lassen wir uns nicht erwischen, und zweitens arbeite ich mit der Questura in Bozen zusammen.« Dieses Argument zieht immer, dachte er. »Große Sache … wir sind betrügerischen Machenschaften auf der Spur. Und die letzten Beweise befinden sich in einem altertümlichen Tresor. Um den geht es.«

»Wie sehr altertümlich?«

»Es geht um einen Tresor Krupp MX 15.«

Er hörte Daniel am anderen Ende der Leitung kurz auflachen. »Den MX 15 kenne ich wie meine Unterhosenschublade. Vierzig Millimeter Verbundplattenkonstruktion aus Krupp-Stahl und ein Chubbschloss. Der Safe stammt aus Deutschland. Wahrscheinlich noch aus der Zeit vor dem Weltkrieg. Völlig veraltete Technik. Für das Chubbschloss brauche ich maximal zwanzig Minuten.«

»Ich weiß zwar nicht, was ein Chubbschloss ist«, sagte Tanner, »aber ich habe volles Vertrauen zu dir.«

»Wann soll das Ganze über die Bühne gehen? Hast du schon einen Plan?«

»Ich habe immer einen Plan. Deine Tante Paula kann dir das bestätigen. Morgen in der Nacht. Punkt eine halbe Stunde nach Mitternacht. Hast du was zum Schreiben? Ich sag dir jetzt die Adresse? Und zieh was Dunkles an. Nachts sind alle Schlosser schwarz.«

Während der Fahrt ins Tal merkte Tanner, wie müde er war. Er schob die Gesamtaufnahme von Verdis Macbeth in den CD‑Player und hoffte, dass sich die dramatischen Klänge positiv auf seine Befindlichkeit auswirkten. Er freute sich auf den heutigen Abend mit Paula.

Während Lady Macbeth überdrehte Koloraturen im Rahmen des von Verdi ersonnenen Ehekrachs durch den Wagen schmetterte, überlegte Tanner, dass er zu seiner Essenseinladung noch ein paar Blumen hinzufügen sollte. Damit polierte er sein Image bei Paula wieder so weit auf, dass es für die nächsten zwei Wochen reichen müsste. Als er bei der ENI-Tankstelle kurz vor Girlan vorbeifuhr, sprang er auf die Bremse und erstand einen schon etwas zusammengeschrumpften Strauß Nelken. Paula mochte zwar Nelken nicht besonders, aber was sollte man machen? Im Winter war die Auswahl an Blumen deutlich eingeschränkt.

*

»Der ganze Kalterer See ist zugefroren«, sagte Paula. »So was gab es schon lange nicht mehr.«

Gemächlich spazierten sie am Ostufer des Sees entlang. Von einem der Holzstege kletterten sie auf die Eisfläche hinunter. Der Nachmittag ging langsam zur Neige, dennoch war viel los auf dem spiegelnden Eis. Spaziergänger, Schlittschuhläufer und Kinder, die Hockey spielten. Vor ihnen ging eine Familie, die ihre Sprösslinge auf einem Schlitten hinter sich herzog. Alle paar Meter stand ein Warnschild, das auf die Gefahr hinwies, die brüchige Eisfläche zu betreten.

»Ab zehn Zentimeter Dicke trägt das Eis sicher«, sagte Tanner. »Haben wir in der Schule gelernt.«

Paula wandte ihm den Kopf zu. »Und wie dick ist das Eis jetzt?«

»Keine Ahnung. Das haben wir nicht gelernt. Bleiben wir in der Nähe des Ufers. Es knirscht so komisch beim Gehen.«

Sie blieben einige Augenblicke stehen und sahen dem bunten Treiben zu. Schließlich wandten sie dem Leuchtenburger Berg den Rücken zu und wanderten zügig bis zum Biotop am südlichen Ende des Sees. Im Frühjahr war der Aufstieg auf die Leuchtenburg ihr Standardprogramm zum Start der Wandersaison, nicht so sehr weil Tanner es so wollte, sondern weil Paula ihn dazu überredete. Zwang also.

In der eisfreien Zone, die sich das Ufer entlangzog, tummelten sich ganze Entenfamilien und schnappten nach den Brotkrumen, die ihnen Spaziergänger von der Aussichtsplattform am Kuchlweg zuwarfen.

»Wie geht es eigentlich Maurizio?«, fragte Paula.

»Das hast du mich schon einmal gefragt. Er ist einsam. Seit seine Frau gestorben ist.«

»Was tut er dagegen?«

»Maurizio liest viel, vor allem Bücher, die zwischenmenschliche Beziehungen zum Thema haben. Von Zeit zu Zeit hat er depressive Phasen und trinkt zu viel. Gott sei Dank hat er eine widerstandsfähige Leber.«

»Du solltest ihn gelegentlich zu uns einladen.«

»Ich habe mit ihm telefoniert, und wir haben uns für die nächsten Tage verabredet.«

Paula deutete zu den Enten. »Hast du was für die Enten dabei? Zum Füttern meine ich.«

Tanner schüttelte den Kopf. »Ich hab Hunger. Wenn ich etwas hätte, würde ich es selber essen.«

»Tiberio geht vor Erpel«, sagte Paula und sah auf die Uhr. »Gehen wir zurück. Ich hab auch Hunger.«

»Ich soll dir übrigens einen schönen Gruß von deinem Neffen Daniel bestellen. Ich habe mit ihm telefoniert.«

»Warum?«

Auf die Frage war er nicht vorbereitet, daher brauchte er einen Moment, bis ihm eine unverfängliche Antwort einfiel. »Ich habe seine Expertise als Schlosser in Anspruch genommen.« Tanner war froh, dass sie nicht nachfragte.

Langsam legte sich die Dämmerung über den See. Die Mischwälder rund um den See waren weiß gefroren, und auch die Weingärten auf den ringsum liegenden Hängen ähnelten mit ihren regelmäßigen Mustern weiß angestaubten Schachbrettern. Tanner sah nach Altenburg hinauf, wo man jetzt im Winter sein kleines Haus erkennen konnte. Ein Stück nördlich lag der Mendelkamm mit dem Penegal, die sich schon an der Grenze zum Trentino befanden.

Am oberen Ende des Sees angekommen, stiegen sie vom Eis wieder aufs feste Land und betraten das Lokal von der Seeterrasse her. Im Windfang blieb Paula stehen und sah an ihm herunter, als ob sie überrascht wäre. »Lässig, aber etwas desolat bist du angezogen. Wir waren am See wandern … dafür ist das okay, doch für ein gutbürgerliches Gasthaus siehst du heruntergekommen aus.«

»Quatsch.« Er blickte an sich herunter und wischte sich den Staub von der Hose. »Ich passe zum Gasthof. Von Kopf bis Fuß gutbürgerlich.«

»Wann hast du dir zuletzt etwas zum Anziehen gekauft?«

»Darüber möchte ich jetzt nicht diskutieren. Hier ist es kalt. Gehen wir rein.« Tanner deutete zur Glastür, durch die man ins Innere der Gaststube sehen konnte.

An einem kalten Winterabend während der Woche war es im Gasthof Klughammer nie besonders voll. Sie waren früh dran, zu spät für Leute, die ein frühes Mittagessen wollten, und zu früh für welche, die nach eher italienischer Manier gewohnt waren, erst nach neun zum Nachtmahl zu kommen. Am Nebentisch saß Franz Perathoner, einer seiner Nachbarn, mit einer aufgetakelten Blondine, die Tanner nicht kannte. Jedenfalls war es nicht Frau Perathoner. Warum fiel ihm gerade jetzt das Lied Die Kirschen in Nachbars Garten ein? Als Perathoner ihn und Paula entdeckte, erschrak er sichtlich, dann winkte er mit einer verschämten Handbewegung zu ihrem Tisch herüber. Ansonsten war die Gaststube leer bis auf einen Mann vom Typ einsamer Trinker, der, den Kopf in beide Hände gestützt, an der Bar lümmelte.

Tanner klappte die Weinkarte zu und sagte: »Philosophie ist etwas Wunderbares. Sie schafft Bildung und ein tieferes Verständnis für das Leben. Ein Beispiel: ›Alle Südtiroler trinken Wein. Ich bin ein Südtiroler.‹ Was kannst du daraus schließen? Philosophisch, meine ich.«

Paula ließ die Speisekarte sinken und zog die Augenbrauen in die Höhe. »Welchen Wein schlägst du also vor?«

»Zum Start einen Sauvignon Blanc. Funkelndes Goldgelb steht da. Das klingt überzeugend.«

»Was meinst du mit ›zum Start‹?«

»Man sollte vom Beginn weg den gesamten Abend planen. Bezüglich des Weins, meine ich.«

»Du solltest vor allem weniger Alkohol trinken«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. »Ein Detektiv braucht aktive Gehirnzellen. Und Alkohol tötet sie ab.«

»Das ist ein verbissenes Vorurteil. Die Wissenschaft sagt etwas ganz anderes, nämlich dass unser Gehirn aus unterschiedlich schnellen Gehirnzellen besteht. Und Schnaps zum Beispiel tötet zuerst die langsamen und schwachen. Alkohol ist also äußerst nützlich, da er die labilen und saumseligen Gehirnzellen zuerst eliminiert. Dadurch wird mein Gehirn zu einer effizienteren und schnellen Denkmaschine.«

Ihre Augenbrauen wanderten noch ein Stück höher. »Deshalb hältst du dich nach drei Gläsern Kalterer für so schlau.«