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Mick Herron

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Beschreibung

River Cartwright ist ein ausgemusterter MI5-Agent, und er ist es leid, nur noch Müllsäcke zu durchsuchen und abgehörte Telefonate zu transkribieren. Er wittert seine Chance, als ein pakistanischer Jugendlicher entführt wird und live im Netz enthauptet werden soll. Doch ist das Opfer der, der er zu sein vorgibt? Und wer steckt hinter den Entführern? Die Uhr tickt, und jeder der Beteiligten hat seine eigene Agenda. Auch Rivers Chef.

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Mick Herron

Slow Horses

Ein Fall für Jackson Lamb

Roman

Aus dem Englischen von Stefanie Schäfer

Diogenes

In memoriam

DA, SC, AS & RL

A sourcing whom my lost candle like the f‌iref‌ly loves.

John Berryman

Die Slow Horses in ›Slough House‹

Jackson Lamb, Chef der Slow Horses

Seine Mitarbeiter:

 

River Cartwright Roderick Ho Jed Moody Catherine Standish Min Harper Louisa Guy Struan Loy Sidonie Baker

Die Agenten am MI5-Hauptsitz Regent’s Park

Diana Taverner (›Lady Di‹), Vizechefin des MI5

Ihre Mitarbeiter:

 

Nick Duf‌fy, Chef der ›Dogs‹ James Webb (›Spider‹)

1

Und so kam River Cartwright von der Überholspur ab und geriet zu den Slow Horses.

 

Am Dienstagmorgen um 8:20 Uhr war King’s Cross überfüllt mit jenen, die der O.B. als die Anderen bezeichnete: »Nichtkämpfer, River. Absolut ehrenvolle Beschäftigung in Friedenszeiten.« Ergänzt mit dem Nachtrag: »Nur dass wir seit September 1914 keinen Frieden mehr hatten.«

So wie der O.B. die Zahl aussprach, verwandelte sie sich in Rivers Kopf in römische Ziffern. MCMXIV.

Er hielt inne und tat so, als blicke er auf seine Armbanduhr; ein Manöver, das sich äußerlich nicht von einem tatsächlichen Blick auf seine Armbanduhr unterschied. Pendler umspülten ihn wie Wasser einen Felsen und äußerten ihre Verärgerung durch Zungenschnalzen und übertriebenes Seufzen. Am nächsten Ausgang – eine helle Öffnung, durch die schwaches Januartageslicht strömte – waren zwei der schwarzgekleideten Vollstrecker wie Statuen postiert. Dass sie schwer bewaffnet waren, fiel den Nichtkämpfern gar nicht auf; zu weit hatte man sich schon von 1914 entfernt.

Die Vollstrecker – so genannt, weil sie Aufgaben vollstreckten – hielten sich wie befohlen im Hintergrund.

Zwanzig Meter vor ihm befand sich die Zielperson. »Weißes T-Shirt unter blauem Hemd«, wiederholte River fast lautlos. Er fügte Spiders rudimentärer Beschreibung weitere Einzelheiten hinzu: jung, männlich, von arabischem Aussehen; die Ärmel des blauen Hemdes aufgekrempelt, die schwarzen Jeans neu und noch steif. Warum kauf‌te man sich für eine solche Aktion eine neue Hose?

Außerdem trug die Zielperson einen offenbar schweren Rucksack über der rechten Schulter. Ein Kabel, das sich aus dem Ohr des Mannes schlängelte, glich dem aus Rivers eigenem, vielleicht von einem iPod.

»Bestätigen Sie Sichtkontakt.«

River berührte das linke Ohr mit der linken Hand und sprach leise in etwas hinein, das wie ein Manschettenknopf aussah. »Bestätigt.«

Ein Schwarm von Touristen bevölkerte die Halle, schwer bepackt und offensichtlich auf dem Weg zu ihren Waggons. River passierte sie, ohne die Augen von der Zielperson abzuwenden, die auf die angrenzenden Bahnsteige zustrebte, diejenigen, von denen die Züge nach Cambridge und anderen östlichen Zielen abfuhren.

Züge, die im Allgemeinen weniger überfüllt waren als der InterCity 125 nach Norden.

Unwillkürlich stiegen Bilder in ihm auf: von verbogenen Metallteilen entlang zerstörter Gleise. Von brennenden Büschen neben dem Gleisbett, in denen Fleischfetzen hingen.

»Vergiss nie« – so die Worte des O.B. –, »dass es manchmal wirklich zum Schlimmsten kommt.«

Wobei das Schlimmste sich in den letzten Jahren exponentiell verschlimmert hatte.

Zwei Bahnpolizisten an einer Fahrkartenschranke ignorierten die Zielperson, fassten aber River ins Auge. Nicht näher kommen, mahnte er lautlos. Kommt mir nicht zu nahe! An solchen Kleinigkeiten scheiterten Einsätze. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, war eine hörbare Warnung, ja, auch nur das Geringste, was die Zielperson auf ihn aufmerksam gemacht hätte.

Die Polizisten fuhren mit ihrer Unterhaltung fort.

River blieb stehen und ordnete seine Gedanken.

Er war ein junger Mann, mittelgroß, mit hellem Haar und heller Haut. Er hatte graue Augen, die oft nach innen gerichtet zu sein schienen, eine ziemlich scharfgeschnittene Nase und ein kleines Muttermal auf der Oberlippe. Wenn er sich konzentrierte, runzelte er derart die Stirn, dass er auf manche einen verwirrten Eindruck machte. Heute trug er Bluejeans und eine dunkle Jacke. Doch wenn man ihn an diesem Morgen nach seinem Aussehen gefragt hätte, hätte er zuerst sein Haar erwähnt. In letzter Zeit ging er am liebsten zu einem türkischen Friseur, wo man mit der Schere weit hinunterschnitt und die Härchen im Ohr ohne Vorwarnung mit einer offenen Flamme absengte. Danach stand River gerupft und geflämmt wie ein Hähnchen vom Stuhl auf. Seine Kopfhaut kribbelte jetzt noch im Luftzug.

Ohne die Augen von der Zielperson abzuwenden, die jetzt vierzig Meter vor ihm war – hauptsächlich, ohne die Augen von dem Rucksack abzuwenden –, sprach River erneut in seinen Manschettenknopf. »Folgen. Aber lasst ihm Freiraum.«

Wenn das Schlimmste eine Explosion im Zug war, war das Zweitschlimmste eine auf einem Bahnsteig. Die neuere Geschichte bewies, dass Leute auf dem Weg zur Arbeit am gefährdetsten waren. Nicht weil sie schwächer waren, sondern weil sich so viele in geschlossenen Räumen zusammendrängten.

Er blickte sich nicht um und vertraute darauf, dass die schwarzgekleideten Vollstrecker nicht weit hinter ihm waren.

Links von River befanden sich Sandwichbars und kleine Cafés, eine Kneipe und ein Gebäckstand. Zu seiner Rechten wartete ein langer Zug. Entlang des Bahnsteigs hievten Reisende Koffer durch die Türen, während über ihnen Tauben lärmend von einem Stahlträger zum anderen flatterten. Aus einem Lautsprecher ertönten Anweisungen. Die Menge auf dem Bahnsteig hinter River schwoll an, und Einzelne lösten sich von ihr.

In Bahnhöfen herrschte immer diese Atmosphäre verhaltener Bewegung. Eine Menge glich einer drohenden Explosion. Menschen waren Fragmente. Sie wussten es nur noch nicht.

Die Zielperson verschwand hinter einer Gruppe von Reisenden.

River bewegte sich nach links, und die Zielperson kam wieder in sein Blickfeld.

Er passierte eine der Kaffeebars, und ein dort sitzendes Paar rief eine Erinnerung wach. Gestern um die gleiche Zeit war River in Islington gewesen. Sein Upgrade-Assessment beinhaltete die Zusammenstellung einer Akte über eine öffentliche Person, und River war ein Schattenkultusminister zugeteilt worden, der zwei kleine Schlaganfälle erlitten hatte und sich in einer Privatklinik in Hertfordshire erholte. Da man ihm keinen Ersatz zugewiesen hatte, hatte River einen nach eigenem Gutdünken ausgewählt und war Lady Diana an zwei Tagen hintereinander gefolgt, ohne entdeckt zu werden – vom Büro zum Sportstudio–Büro–Weinbar– Büro–Zuhause–Cafébar–Büro–Sportstudio … Das Logo des Ladens war es, das diese Erinnerung hervorrief. Er konnte förmlich hören, wie der O.B. tadelnd bellte: »Konzentration. Job. Am selben Platz, gute Idee?«

Gute Idee.

Die Zielperson wandte sich nach links.

»Potterville«, murmelte River vor sich hin.

Er ging unter der Fußgängerbrücke hindurch und wandte sich ebenfalls nach links.

Ein kurzer Blick zum Himmel über ihm – grau und feucht wie ein Spültuch –, und River betrat die Nebenhalle, in der sich die Bahnsteige 9, 10 und 11 befanden. Aus der Wand ragte ein halber Gepäckwagen hervor: Bahnsteig 9 3/4, wo der Hogwarts Express abfuhr. River ging weiter hinein. Die Zielperson lief bereits Bahnsteig 10 entlang.

Dann überschlugen sich die Ereignisse.

Es waren nicht viele Leute unterwegs – der nächste Zug fuhr erst in fünfzehn Minuten. Ein Mann auf einer Bank las eine Zeitung, und das war’s so ungefähr. River beschleunigte seine Schritte und schloss die Lücke zwischen sich und der Zielperson. Hinter ihm veränderte sich die Geräuschkulisse – diffuses Murmeln wurde zu konzentriertem Flüstern –, und er wusste, dass die Vollstrecker die Situation kommentierten.

Doch die Zielperson blickte sich nicht um. Sie ging immer weiter, als wollte sie in den hintersten Waggon einsteigen: weißes T-Shirt, blaues Hemd, Rucksack und so weiter.

Wieder sprach River in seinen Knopf. Sagte das Wort: Zugriff! und rannte los.

»Alles auf den Boden!«

Der Mann auf der Bank sprang auf und wurde von einer Gestalt in Schwarz umgerissen.

»Runter!«

Weiter vorn sprangen zwei Männer vom Dach des Zuges der Zielperson in den Weg. Der Mann drehte sich um und sah River, der ihn mit ausgestrecktem Arm und flacher Hand auf‌forderte, sich auf den Boden zu legen.

Die Vollstrecker bellten Befehle:

Der Rucksack!

Rucksack fallen lassen!

»Legen Sie den Rucksack auf den Boden«, befahl River. »Und gehen Sie auf die Knie.«

»Aber ich –«

»Rucksack fallen lassen!«

Die Zielperson ließ den Rucksack fallen. Eine Hand hob ihn auf. Andere Hände ergriffen Gliedmaßen: Die Zielperson wurde flach und mit ausgebreiteten Armen und Beinen hingeworfen und über die Bodenfliesen gezogen, während man River den Rucksack reichte. Dieser stellte ihn vorsichtig auf die jetzt leere Bank und öffnete den Reißverschluss.

Über ihm umwehte eine automatische Durchsage die Stahlträger. Inspector Samms, bitte in die Leitstelle. Inspector Samms, bitte in die Leitstelle.

Bücher, ein DIN-A4-Notizblock, ein Stiftetui.

Inspector Samms …

Eine Tupperdose mit einem Käsebrot und einem Apfel.

… bitte in die …

River blickte auf. Seine Lippe zuckte. Er sagte, sehr ruhig –

… Leitstelle.

»Durchsucht ihn.«

»Tun Sie mir nicht weh!« Die Stimme des jungen Mannes klang gedämpft: Er lag mit dem Gesicht auf dem Boden, und mehrere Waffen waren auf seinen Kopf gerichtet.

Zielperson, ermahnte sich River. Nicht junger Mann. Zielperson.

Inspector Samms …

»Durchsucht ihn!« Er wandte sich wieder dem Rucksack zu. Das Etui enthielt drei Kugelschreiber und eine Büroklammer.

… bitte in die …

»Er ist sauber.«

River ließ das Etui auf die Bank fallen und kippte den Rucksack aus. Bücher, Notizblock, ein einzelner Bleistift, Taschentücher.

… Leitstelle.

Alles fiel zu Boden. Er schüttelte den Rucksack. Auch in den Seitentaschen war nichts.

»Überprüft ihn noch mal.«

»Er ist sauber.«

Inspector Samms …

»Würde bitte mal jemand dieses verdammte Ding abschalten?«

Als er die Panik in seiner Stimme hörte, kniff er den Mund zu.

»Er ist sauber.«

… bitte in die …

River schüttelte erneut den Rucksack wie eine Ratte und ließ ihn dann fallen.

… Leitstelle.

Einer der Vollstrecker begann, leise, aber eindringlich in ein Kragenmikrophon zu sprechen.

River bemerkte, dass ihn jemand durch ein Fenster des wartenden Zuges anstarrte. Er ignorierte die Frau und machte sich auf den Weg den Bahnsteig hinunter.

»Sir?«

Es klang ziemlich sarkastisch.

Inspector Samms, bitte in die Leitstelle.

Blaues Hemd, weißes T-Shirt, dachte River.

Weißes Hemd, blaues T-Shirt?

Er beschleunigte seine Schritte. Ein Bahnpolizist trat vor, als er die Fahrkartenkontrolle erreichte, River umging ihn, schrie einen unzusammenhängenden Befehl und rannte dann in vollem Lauf zurück in die Haupthalle.

Inspector Samms – dann wurde die automatische Durchsage, eine codierte Nachricht an die Mitarbeiter, dass ein Sicherheitsalarm ausgelöst worden war, ausgeschaltet. Stattdessen ertönte eine menschliche Stimme:

»Aufgrund von Sicherheitsproblemen wird dieser Bahnhof evakuiert. Bitte begeben Sie sich zum nächsten Ausgang.«

Er hatte höchstens drei Minuten, bevor die Dogs eintrafen.

Rivers Füße wählten von selbst ihre Richtung und ließen ihn in Richtung der Halle schnellen, solange er noch durchkam. Doch überall ringsum stiegen Leute aus Zügen, weil Ankündigungen an Bord plötzlich Reisen unterbrachen, die noch gar nicht begonnen hatten. Panik war nur einen Herzschlag entfernt – eine Massenpanik lauerte immer knapp unter der Oberfläche, in allen Bahnhöfen und Flughäfen. Mit der oft zitierten Coolness der britischen Bevölkerung war es manchmal nicht weit her.

Ein lautes statisches Knistern in seinem Ohr.

Wieder eine Durchsage: »Bitte begeben Sie sich zum nächsten Ausgang. Der Bahnhof wird jetzt geschlossen.«

»River?«

Er brüllte in seinen Knopf: »Spider? Du Idiot, du hast mir die falschen Farben durchgegeben!«

»Was ist denn los? Überall kommen Leute raus.«

»Weißes T-Shirt unter einem blauen Hemd. Das hast du gesagt.«

»Nein, ich habe blaues T-Shirt unter –«

»Fuck you, Spider.« River riss seinen Ohrhörer heraus.

Er erreichte die Treppe, wo die Menge in die U-Bahn gesogen wurde. Jetzt jedoch strömte sie heraus. Sie wirkte nach außen hin gereizt, doch unterschwellig lauerten andere Emotionen: Angst, unterdrückte Panik. Die meisten von uns glauben, dass manche Dinge nur anderen zustoßen. Die meisten von uns glauben, dass der Tod so etwas ist. Die Worte der Durchsage nagten an dieser Überzeugung.

»Der Bahnhof wird jetzt geschlossen. Bitte begeben Sie sich zum nächsten Ausgang.«

Die U-Bahn ist der Herzschlag der Stadt, dachte River. Kein Bahnsteig mit Zügen nach Osten. Die U-Bahn.

Er drängte sich durch die herausströmende Menge und ignorierte ihre Feindseligkeit. Lassen Sie mich durch! Damit hatte er nur minimalen Erfolg. Security. Lassen Sie mich durch! Das war besser. Zwar öffnete sich keine Gasse, aber die Leute stießen ihn wenigstens nicht mehr zurück.

Zwei Minuten, bis die Dogs kamen. Weniger.

Am Fuß der Treppe wurde der Korridor breiter. River raste um die Ecke und gelangte in eine Zwischenhalle – Fahrkartenautomaten an den Wänden, Ticketschalter mit heruntergezogenen Jalousien, deren Schlangen sich aufgelöst hatten. Die Menge hatte sich bereits ausgedünnt. Aufzüge waren angehalten worden, und man hatte Flatterband gespannt, um Schaulustige fernzuhalten. Die unterirdischen Bahnsteige lagen verlassen da.

River wurde von einem Bahnpolizisten angehalten.

»Der Bahnhof wird geräumt. Haben Sie die Durchsage nicht gehört, verdammt noch mal?«

»Geheimdi –«

»Sind die Bahnsteige geräumt?«

»Sie werden evakuiert.«

»Sind Sie sicher?«

»Das hat man mir jedenfalls –«

»Haben Sie Überwachungsmonitore?«

»Ja, natürlich, wir –«

»Zeigen Sie sie mir!«

Die Hintergrundgeräusche traten jetzt stärker hervor; Echos flüchtender Reisender waberten unter den Decken entlang. Doch noch andere Geräusche näherten sich: schnelle Schritte, die schwer auf dem Kachelboden widerhallten. Die Dogs. River hatte nur wenig Zeit, die Sache in Ordnung zu bringen.

»Schnell!«

Der Polizist blinzelte, erkannte aber Rivers Eile – sie war kaum zu übersehen – und deutete über die Schulter auf eine Tür mit der Aufschrift Kein Zutritt. River hatte sie geöffnet und hinter sich geschlossen, bevor die Verfolger erschienen.

Der kleine fensterlose Raum roch nach Schinkenspeck und sah aus wie das Kabuff eines Voyeurs. Ein Drehstuhl stand vor einer Reihe von Monitoren. Jeder wechselte regelmäßig das Bild mit immer demselben Ausschnitt: ein verlassener U-Bahnhof. Es war wie in einem langweiligen Science-Fiction-Film.

Ein Luftzug sagte ihm, dass der Polizist hereingekommen war.

»Wo sind welche Bahnsteige?«

Der Bahnpolizist zeigte es ihm; sie waren immer in Vierergruppen aufgeteilt. »Northern. Piccadilly. Victoria.«

River überflog sie. Alle zwei Sekunden ein neues Bild.

Unter der Erde ertönte ein fernes Grollen.

»Was ist das?«

Der Polizist starrte ihn an.

»Was?«

»Eine U-Bahn.«

»Fahren die noch?«

»Nur der Bahnhof ist geschlossen«, erwiderte der Polizist, als rede er mit einem Idioten. »Die U-Bahnen fahren noch.«

»Alle?«

»Ja. Aber die Züge halten nicht.«

Brauchten sie auch nicht.

»Welcher ist der Nächste?«

»Wie bitte?«

»Der nächste Zug, verdammt noch mal! Auf welchem Gleis?«

»Victoria. Richtung Norden.«

River war schon zur Tür raus.

Oben an der flachen Treppe stand ein kleiner, dunkelhaariger Mann, sprach in ein Headset und versperrte den Weg zurück zum Hauptbahnhof. Sein Tonfall veränderte sich abrupt, als er River erblickte.

»Er ist hier.«

Aber River war schon wieder weg. Er übersprang die Absperrung und stand oben auf der nächsten stillgelegten Rolltreppe. Er zog das Flatterband weg und eilte die erstarrten Stufen hinunter, immer zwei auf einmal.

Unten war es unheimlich leer. Wieder diese Science-Fiction-Atmosphäre.

U-Bahnen passierten die geschlossenen Haltestellen im Schneckentempo. River erreichte den Bahnsteig in dem Moment, als ein Zug wie ein großes, langsames Tier herbeikroch, nur Augen für ihn. Und es hatte viele Augen. River spürte alle von ihnen, all diese Augenpaare, die im Bauch des Monsters gefangen und auf ihn gerichtet waren, als er den Bahnsteig entlangstarrte, zu einer Person, die gerade aus einem Notausgang am anderen Ende aufgetaucht war.

Weißes Hemd. Blaues T-Shirt.

River rannte los.

Hinter ihm rannte noch jemand und rief seinen Namen, aber er reagierte nicht darauf. River befand sich im Wettlauf mit einem Zug. Er rannte mit ihm um die Wette und war dabei zu gewinnen – er holte ihn ein und überholte. Er hörte dessen Zeitlupengeräusche, ein knirschendes mechanisches Feedback, untermalt von der Panik, die im Inneren wuchs. Er hörte ein Hämmern an den Fenstern. War sich bewusst, dass der Fahrer ihn voller Entsetzen ansah und glaubte, er würde sich auf die Gleise werfen. Doch River konnte nicht ändern, was irgendjemand dachte – er konnte nur eines tun, und zwar in genau dieser Geschwindigkeit den Bahnsteig entlangrennen.

Vor ihm – blaues T-Shirt, weißes Hemd – tat jemand ebenfalls das Einzige, was er tun konnte.

River hatte keine Luft mehr zum Rufen. Er hatte kaum noch Luft, sich vorwärtszukatapultieren, aber er schaffte es …

… beinahe. Beinahe schaffte er es, schnell genug zu sein.

Hinter ihm wurde erneut sein Name gerufen. Hinter ihm nahm die U-Bahn Fahrt auf.

Er war sich bewusst, wie ihn die Fahrerkabine überholte, fünf Meter von der Zielperson entfernt.

Denn dies war die Zielperson. Dies war von Anfang an die Zielperson gewesen. Während er sich ihr rasch näherte, erkannte er deutlicher den Jugendlichen, denn das war er: Achtzehn? Neunzehn? Schwarze Haare. Braune Haut. Und ein blaues T-Shirt unter einem weißen Hemd – fuck you, Spider –, das er aufknöpf‌te, und darunter kam ein Gürtel, bepackt mit …

Der Zug erreichte die Zielperson.

River streckte einen Arm aus, als könnte er die Ziellinie näher an sich heranziehen.

Die Schritte hinter ihm verlangsamten sich und erstarrten. Jemand fluchte.

River hatte die Zielperson fast erreicht – er war eine halbe Sekunde entfernt.

Aber er war nicht annähernd nahe genug.

Die Zielperson zog an einer Schnur am Gürtel.

Und das war’s.

TEIL EINS

Slough House

2

So viel soll schon einmal zu Anfang verraten werden: Slough House befindet sich weder in Slough, noch ist es ein Wohnhaus. Seine Eingangstür lauert in einer Nische zwischen Geschäftsgebäuden im Viertel Finsbury, einen Steinwurf von der U-Bahn-Station Barbican entfernt. Zu seiner Linken liegt ein ehemaliger Zeitungskiosk, der sich inzwischen zum Zeitungsladen/Lebensmittelgeschäft/Spirituosenladen gemausert hat, mit einem DVD-Verleih als lukrativem Nebengeschäft. Zur Rechten befindet sich das chinesische Restaurant New Empire, dessen Fenster stets von dicken roten Vorhängen verdunkelt werden. Eine mit Schreibmaschine getippte Speisekarte an der Scheibe ist mit der Zeit vergilbt, aber nie ersetzt worden; Änderungen wurden mit Filzstift eingetragen. Wenn Diversifikation die Rettung des Zeitungskiosks bedeutet hatte, so hatte das Restaurant auf die langfristige Strategie der Einsparungen gesetzt, bei der Gerichte regelmäßig auf der Karte durchgestrichen wurden wie auf einem Bingozettel. Zu Jackson Lambs festen Überzeugungen gehört, dass das New Empire eines Tages nur noch gebratenen Reis mit Ei und Schweinefleisch süß-sauer anbieten wird – serviert hinter dicken roten Vorhängen, als sei die armselige Auswahl ein Staatsgeheimnis.

Die Eingangstür liegt, wie gesagt, in einer Nische. Ihre uralte schwarze Lackierung ist mit Straßendreck bespritzt, und durch das blinde Oberlicht darüber dringt kein Licht von innen heraus. Eine leere Milchflasche steht schon so lange davor, dass der Efeu sie an den Bürgersteig gefesselt hat. Es gibt keine Klingel, und der Briefkastenschlitz gleicht einer vernarbten Wunde aus der Kindheit: Jegliche Post – doch es kommt nie welche – würde an seine Klappe stoßen, ohne Einlass zu finden. Es ist, als wäre die Tür nur eine Attrappe und diente allein als Puffer zwischen dem Laden und dem Restaurant. Man könnte tatsächlich tagelang an der Bushaltestelle gegenüber sitzen und niemals jemanden sie benutzen sehen. Säßen Sie jedoch längere Zeit an der Bushaltestelle gegenüber, würden Sie feststellen, dass Ihre Gegenwart Aufmerksamkeit erregt. Ein untersetzter Mann, vermutlich Kaugummi kauend, würde sich möglicherweise neben sie setzen. Seine Gegenwart wirkt entmutigend. Er strahlt unterdrückte Gewalttätigkeit aus oder einen Groll, den er so lange mit sich herumgetragen hat, dass es ihm egal ist, gegen wen er ihn richtet. Und er wird Sie anstarren, bis Sie von sich aus verschwinden.

Währenddessen bleibt das Kommen und Gehen im Zeitungsladen mehr oder weniger konstant, und auch auf dem Bürgersteig ist immer etwas los. Stets streben Leute in die eine oder andere Richtung. Eine Straßenkehrmaschine brummt vorbei, und ihre rotierenden Bürsten schaufeln ihr Zigarettenkippen, Glassplitter und Kronkorken ins Maul. Zwei Männer, die einander entgegenkommen, führen diesen typischen kleinen Vermeidungstanz auf, wobei das Manöver des einen jeweils vom anderen gespiegelt wird, aber sie schaffen es, ohne zu kollidieren, aneinander vorbeizugehen. Eine Frau, die in ihr Handy spricht, überprüft im Vorübergehen ihr Spiegelbild im Fenster. Hoch oben am Himmel kreist knatternd ein Hubschrauber und berichtet für einen Radiosender über Behinderungen im Straßenverkehr.

Und während all der alltäglichen Ereignisse bleibt die Tür geschlossen. Über dem New Empire und dem Zeitungsladen ragen die Fenster von Slough House drei Stockwerke hoch in den unfreundlichen Oktoberhimmel. Die Fensterscheiben sind fleckig und schmutzig, aber nicht undurchsichtig. Dem Fahrgast im oberen Stockwerk eines vorbeifahrenden Busses, der eine Zeitlang davor aufgehalten würde – was leicht passieren kann: ein Zusammentreffen von roten Ampeln, fast ununterbrochenen Straßenbauarbeiten und der berüchtigten Trägheit der Londoner Busse –, bieten sie einen Blick in die Räume im ersten Stock, die überwiegend gelb und grau sind. Altes Gelb und altes Grau. Das Gelbe sind die Wände, jedenfalls das, was man von ihnen sieht zwischen den grauen Aktenschränken und grauen Behördenbücherregalen, auf denen sich veraltete Nachschlagewerke reihen. Einige liegen, andere lehnen sich zur Unterstützung an ihre Kameraden. Wieder andere stehen noch aufrecht, und die Schrift auf ihren Rücken wird auch bei Tag gespenstisch von Kunstlicht erhellt. An anderen Stellen wurden Aktenordner kreuz und quer in zu kleine Zwischenräume gequetscht. Ganze Stapel drängeln sich vertikal zwischen Regalen, so dass der oberste hinausgedrückt wird und fast herunterfällt. Auch die Decken sind vergilbt; ein ungesunder Farbton, hier und da mit Spinnweben bedeckt. Die Schreibtische und Stühle in diesen Räumen im ersten Stock bestehen aus demselben praktischen Metall wie die Bücherregale und stammen möglicherweise aus derselben behördlichen Quelle: einer verlassenen Kaserne oder einer Gefängnisverwaltung. Die Stühle sind keine, auf denen man sich zurücklehnt und gedankenverloren in die Luft starrt. Die Tische kann man nicht als Erweiterung der eigenen Persönlichkeit gestalten und mit Fotos und Nippes dekorieren. Diese Tatsachen an sich lassen schon gewisse Rückschlüsse zu, nämlich dass jene, die hier arbeiten, nicht so hoch in der Hierarchie stehen, als dass ihre Bequemlichkeit von Interesse wäre. Sie sollen dasitzen und ihre Aufgaben mit einem Minimum an Ablenkung erledigen. Danach müssen sie durch die Hintertür hinausgehen, unbeobachtet von Straßenkehrern oder Frauen mit Handys.

Das obere Deck eines Busses bietet wenig Einblick in die nächste Etage, obwohl man Blicke auf dieselben nikotinvergilbten Decken erhaschen kann. Doch nicht mal ein Dreideckerbus würde wesentlich mehr Aufschluss ermöglichen, da die Büros im zweiten Stock jenen im unteren deprimierend ähneln. Außerdem besagt die Information in goldenen Lettern auf ihren Fenstern genug, um das Interesse zu dämpfen: W.W. Henderson, steht da. Rechtsanwalt und Notar. Manchmal erscheint hinter dem kursiven Schwung dieses längst obsoleten Logos eine Gestalt und blickt zur Straße hinunter, als halte sie nach etwas ganz anderem Ausschau. Doch was immer es ist, es weckt nicht lange ihre Aufmerksamkeit. Nach ein, zwei Augenblicken ist sie wieder verschwunden.

Das oberste Stockwerk verspricht keine derartige Unterhaltung, da die Jalousien heruntergezogen sind. Wer auch immer diese Etage besetzt, ist offenbar nicht geneigt, an die Welt draußen erinnert zu werden oder zu erlauben, dass zufällige Sonnenstrahlen das Halbdunkel im Inneren durchstoßen. Doch dies ist ebenfalls ein Hinweis: Wer auch immer in diesem Stockwerk herumgeistert, hat die Freiheit, die Dunkelheit zu wählen, und Wahlfreiheit beschränkt sich in der Regel auf die, die das Sagen haben. Also wird Slough House – ein Name, der auf keiner offiziellen Dokumentation erscheint und auch auf keinem Namensschild oder Briefkopf, auf keiner Stromrechnung und keinem Mietvertrag, keiner Visitenkarte, in keinem Telefonbuch und auf keiner Maklerliste, da er gar nicht der Name dieses Gebäudes ist, sondern nur ein Schimpfwort – von oben nach unten verwaltet, obwohl man aufgrund des allgemein schäbigen Dekors davon ausgehen kann, dass die Hierarchie sehr überschaubar ist, mit nur zwei Positionen: Man ist entweder ganz oben oder nicht. Und nur Jackson Lamb ist ganz oben.

Irgendwann springt die Ampel auf Grün. Schnaufend setzt sich der Bus in Bewegung und schleicht in Richtung St. Paul’s davon. Und in den letzten Sekunden seiner Betrachtung könnte sich unser Passagier im Oberdeck fragen, wie es sein mag, in diesen Büros zu arbeiten, ja, könnte vielleicht sogar eine kurze Phantasie heraufbeschwören, in der das Gebäude anstatt einer dahinsiechenden Anwaltskanzlei zu einem oberirdischen Verlies wird, in das die Versager irgendeiner größeren Behörde zur Strafe abgeschoben werden: wegen Drogendelikten, Trunkenheit und Bestechlichkeit, aus politischen Gründen oder wegen Betrugs, wegen Depression und Zweifeln und der unverzeihlichen Nachlässigkeit, einen Mann in einer U-Bahn-Station nicht daran gehindert zu haben, sich selbst in die Luft zu sprengen und damit nahezu hundertzwanzig Menschen zu töten oder zu verstümmeln, und der einen auf dreißig Millionen Pfund bezifferbaren Schaden sowie an die zweieinhalb Milliarden geschätzten wirtschaftlichen Schaden durch das Ausbleiben von Touristen verursacht hat – ja, es wird zu einem vergessenen Behördenkerker, wo neben einem prä-digitalen Überfluss an Papierkram eine post-nützliche Mannschaft von Versagern geparkt und dem Verstauben überlassen werden kann.

Eine solche Phantasie würde natürlich nicht länger anhalten als bis zur nächsten Fußgängerbrücke, die der Bus unterquert. Doch ein Eindruck könnte länger zurückbleiben: dass das Gelb und das Grau, die das Farbschema dominieren, nicht das sind, als was sie zunächst erschienen – dass das Gelb gar kein Gelb ist, sondern Weiß, beschlagen mit schlechtem Atem und Nikotin, den Dämpfen von Instantnudelsuppe und auf Heizkörpern trocknenden Mänteln, und dass das Grau gar kein Grau ist, sondern erschöpf‌tes Schwarz. Doch auch dieser Gedanke wird sich rasch verflüchtigen, denn nur wenige Dinge im Zusammenhang mit Slough House bleiben im Gedächtnis haften. Einzig sein Spitzname, der vor Jahren in einer beiläufigen Unterhaltung zwischen Spionen geboren wurde, ist hängengeblieben:

Lamb ist verbannt worden.

Wo haben sie ihn hingeschickt? Irgendein Drecksloch, wo es richtig schrecklich ist?

Schlimmer geht’s nicht.

O mein Gott, doch nicht in das Drecksloch, nicht Slough House?

Könnte sein.

Und mehr war nicht nötig, um in einer Welt von Geheimnissen und Legenden Jackson Lambs neuem Reich einen Namen zu geben: das Drecksloch, ein Ort von Gelb- und Grautönen, wo einst alles schwarz und weiß war.

 

Kurz nach sieben Uhr morgens leuchtete Licht hinter dem Fenster im zweiten Stock auf, und ein Umriss erschien hinter W.W. Henderson, Rechtsanwalt und Notar. Auf der Straße unten ratterte ein Milchwagen vorbei. Die Gestalt blieb einen Augenblick stehen, als erwartete sie, dass von dem Milchwagen Gefahr ausging, zog sich jedoch zurück, als dieser aus ihrem Blickfeld verschwand. Im Inneren des Hauses wandte sich die Person wieder ihrer Aufgabe zu und kippte einen nassen schwarzen Müllsack auf alte Zeitungen, die ausgebreitet auf dem abgetretenen und ausgeblichenen Teppichboden lagen.

Sofort war die Luft von Gestank erfüllt.

Mit Gummihandschuhen und gerümpf‌ter Nase ging die Person in die Knie und begann, den Müll zu durchsuchen.

Eierschalen, Gemüsereste, Kaffeesatz in durchweichten Papierfiltern, pergamentfarbene Teebeutel, ein dünner Seifenrest, Etiketten von Dosen und Glasbehältern, eine Plastikflasche, zusammengeknüllte, schmutzige Küchenpapiertücher, zerrissene braune Umschläge, Korken, Kronkorken, die verbogene Feder und Papprückseite eines Spiralnotizblocks, einige Keramikscherben, die nicht zusammenpassten, Alutabletts von Liefermahlzeiten, zusammengeknüllte Post-its, eine Pizzaschachtel, eine ausgequetschte Tube Zahnpasta, zwei Saftkartons, eine leere Dose Schuhcreme, ein Plastikschöpf‌löffel und sieben kleine Päckchen, die aus Seiten der Zeitschrift Searchlight gefaltet waren.

Und vieles andere, was nicht auf den ersten Blick identifizierbar war. Das Ganze lag klatschnass und schleimig glänzend wie Schnecken im Licht der nackten Birne an der Decke.

Er kippte zurück auf die Fersen, nahm das erste der Searchlight-Päckchen in die Hand und faltete es so vorsichtig wie möglich auseinander.

Der Inhalt eines Aschenbechers fiel auf den Teppichboden.

Er schüttelte den Kopf und ließ die verrottende Zeitschriftenseite zurück auf den Haufen fallen. Ein Geräusch kam die Hintertreppe herauf, und er hielt inne, aber es wiederholte sich nicht. Alle Eingänge und Ausgänge von Slough House führten über einen Hinterhof mit schimmeligen, glitschigen Wänden, und jeder, der hereinkam, verursachte ein lautes, unfreundliches Geräusch, weil die Tür klemmte und – wie die meisten der Leute, die sie benutzten – einen kräftigen Tritt brauchte. Doch dieses Geräusch hatte nicht so geklungen, daher schüttelte er den Kopf und entschied, dass es wohl das erwachende Gebäude gewesen sein musste, das seine Balken reckte, oder was immer alte Gebäude morgens nach einer verregneten Nacht taten. In diesem Regen war er unterwegs gewesen und hatte den Müll des Journalisten aufgelesen.

Eierschalen, Gemüsereste, Kaffeesatz in durchweichten Papierfiltern …

Er nahm ein weiteres Päckchen, die zerknüllte Schlagzeile betraf eine Demo der rechtsnationalen BNP. Er schnupperte versuchsweise daran. Roch nicht nach Aschenbecher.

»Sinn für Humor kann richtig scheiße sein«, bemerkte Jackson Lamb.

River ließ das Päckchen fallen.

Lamb lehnte im Türrahmen. Seine Wangen glänzten leicht, wie oft nach einer Anstrengung, wozu auch das Hinaufsteigen einer Treppe zählte, obwohl er sie nicht mal zum Knarren gebracht hatte. Selbst River schaffte es kaum, so leise zu sein, und er schleppte nicht annähernd Lambs Gewicht mit sich herum, das sich hauptsächlich um dessen Mitte angesammelt hatte, wie bei einer Schwangerschaft. Der Wanst wurde jetzt von einem schäbigen grauen Regenmantel bedeckt, während der an seinem Arm hängende Regenschirm auf den Boden tropf‌te.

River versuchte die Tatsache zu ignorieren, dass sein Herz ihn gerade in die Rippen geboxt hatte, und fragte: »Glauben Sie, dass er uns als Nazis beschimpft?«

»Ja, das tue ich. Natürlich beschimpft er uns als Nazis. Aber ich wollte, Sie würden das nicht in Sids Hälfte des Zimmers erledigen.«

River hob das heruntergefallene Bündel auf und dabei öffnete es sich, da das Papier zu nass war, um seinen Inhalt zu schützen. Heraus fiel ein Durcheinander von kleinen Knochen und abgekratzter Haut – für einen grässlichen Moment das Indiz eines brutalen Babymordes. Doch dann erschien die Gestalt eines Hühnchens aus dem Sammelsurium, eines missgestalteten Hühnchens – nur aus Keulen und Flügeln bestehend –, aber unverkennbar ein ehemaliger Vogel. Lamb schnaubte. River rieb seine behandschuhten Finger aneinander und formte dadurch die weichen Zeitungspapierklumpen zu Kügelchen, die er auf den Haufen abschüttelte. Die schwarze und rote Tinte ging nicht so schnell ab, und die einst gelben Handschuhe nahmen die Farbe von Kohlekumpelhänden an.

Lamb bemerkte: »Das war nicht besonders klug.«

Vielen Dank auch, dachte River. Danke, dass Sie mich darauf hingewiesen haben.

In der Nacht zuvor hatte er bis nach Mitternacht draußen vor dem Haus des Schreiberlings Wache geschoben und sich so gut wie möglich unter dem schmalen Vorsprung des gegenüberliegenden Gebäudes untergestellt, während der Regen herunterprasselte wie Noahs Alptraum. Die meisten Nachbarn hatten ihre Bürgerpflicht erfüllt, und schwarze Säcke reihten sich wie kauernde Schweine am Straßenrand auf, oder städtische Mülltonnen auf Rädern standen Wache neben Türen. Nicht jedoch vor der Tür des Journalisten. Kalter Regen rann Rivers Nacken hinunter und bahnte sich einen Weg bis hinab zu seiner Poritze, und er wusste, egal, wie lange er dort stehen würde, er würde keine Freude daran haben.

»Lassen Sie sich nicht erwischen«, hatte Lamb gesagt.

Natürlich werde ich mich nicht erwischen lassen, einen Scheiß werde ich tun, hatte er sich gedacht. »Ich werde es versuchen.«

Und: »Anwohnerparken«, hatte Lamb hinzugefügt, als teilte er ihm ein hochgeheimes Passwort mit.

Anwohnerparken. Na und?

Deswegen konnte er nicht in seinem Auto sitzen, hatte er zu spät erkannt. Er konnte es sich nicht gemütlich machen, den Regen auf das wasserdichte Dach prasseln lassen und darauf warten, dass Müllsäcke rausgestellt wurden. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Politesse – oder wie immer die heutzutage genannt wurden – nach Mitternacht ihre Runde drehte, war gering, aber nicht gleich null.

Ein Strafzettel hätte ihm noch gefehlt. Ein sofort zu zahlendes Bußgeld. Sein Name in den Akten.

Lassen Sie sich nicht erwischen.

Also blieb ihm nichts als der schmale Vorsprung im strömenden Regen. Schlimmer noch waren das flackernde Licht hinter den dünnen Gardinen in der Erdgeschosswohnung des Schmierfinks und der Schatten, der ständig hinter ihnen erschien. Als wenn der Kerl dort drin, trocken wie ein Toast, sich bei dem Gedanken an River im Regen ins Fäustchen lachte und absichtlich lange wartete, um seinen Müllsack rauszustellen, damit er ihn für eine verdeckte Ermittlung klauen konnte. Es war, als wüsste der Schreiberling alles.

Nicht lange nach Mitternacht kam River der Gedanke, dass er es vielleicht tatsächlich wusste.

So war es die ganzen letzten acht Monate gegangen. Hin und wieder nahm er das Gesamtbild und schüttelte es, als wäre es ein loses Puzzle. Manchmal fügten sich die Teile unterschiedlich zusammen, manchmal gar nicht. Warum wollte Jackson Lamb den Müll des Journalisten, und zwar so dringend, dass er dafür River auf seinen ersten Außeneinsatz schickte, seitdem er nach Slough House versetzt worden war? Vielleicht ging es aber auch gar nicht darum, den Müll einzusammeln. Vielleicht lag der Sinn darin, dass River stundenlang im Regen stand, während der Schmierfink mit Lamb am Telefon über ihn lachte.

Der Regen war vorhergesagt worden. Verdammt, es hatte schon geregnet, als Lamb ihm den Auf‌trag erteilt hatte.

Anwohnerparken, hatte er gesagt.

Lassen Sie sich nicht erwischen.

Nach zehn weiteren Minuten beschloss River, dass es nun genug war. Entweder würde kein Müllsack mehr kommen, oder wenn, würde er nichts zu bedeuten haben, außer, dass man ihn für einen Idiotenjob rausgeschickt hatte. Er kehrte auf dem Weg zurück, den er gekommen war, las unterwegs einen willkürlichen Müllsack auf und schwang ihn in den Kofferraum seines Autos, das er an der nächsten Parkuhr abgestellt hatte. Dann war er nach Hause gefahren und zu Bett gegangen.

Zwei Stunden lang hatte er wach gelegen und zugesehen, wie sich das Puzzle von selbst zusammensetzte. Jackson Lambs Lassen Sie sich nicht erwischen konnte genau das bedeutet haben: dass River eine wichtige Aufgabe übertragen worden war und er sich dabei nicht erwischen lassen sollte. Nichts von entscheidender Bedeutung – wenn es so gewesen wäre, hätte Lamb Sid oder vielleicht Moody geschickt –, aber wichtig genug, dass sie erledigt werden musste.

Ansonsten war es vielleicht ein Test. Ein Test, um festzustellen, ob River in der Lage war, sich draußen in den Regen zu stellen und einen Sack voller Müll zurückzubringen. Kurze Zeit später machte sich River wieder auf den Weg, warf den willkürlich gegriffenen Müllsack in den nächsten Abfalleimer, und als er langsam an der Wohnung des Journalisten vorbeifuhr, konnte er kaum glauben, dass er tatsächlich da war und an der Wand unter dem Fenster lehnte: ein zugeknoteter schwarzer Sack …

Und der Inhalt ebendiesen Sacks war jetzt über den Fußboden vor ihm verstreut.

Lamb sagte: »Ich lasse Sie das jetzt in Ruhe aufräumen, in Ordnung?«

River fragte: »Wonach suche ich eigentlich genau?«

Aber Lamb war schon weg, stieg, diesmal hörbar, die Treppe hinauf – jedes Knarren und Ächzen hallte wider –, und River blieb allein in Sids Hälfte des Büros zurück, immer noch umgeben von eklig riechendem Müll und bedrückt von dem vagen, aber unverkennbaren Eindruck, Jackson Lambs Prügelknabe zu sein.

 

Bei Max’s standen die Tische zu dicht beisammen, in der optimistischen Vorbereitung für einen Ansturm von Gästen, der niemals kam. Max’s war nicht populär, denn es war nicht sehr gut. Der Kaffee wurde zweimal aufgebrüht, und die Croissants waren pappig. Stammkunden waren die Ausnahme, nicht die Regel. Doch einen Stammgast gab es, und in dem Moment, wo er jeden Morgen durch die Tür trat, die Zeitungen unter dem Arm, füllte die Bedienung an der Theke seinen Kaffee in eine Tasse. Es war egal, wie oft die Mannschaft wechselte: Seine Beschreibung wurde weitergegeben, begleitet von Anweisungen zur Bedienung der Cappuccino-Maschine. Beigefarbener Regenmantel. Schütteres, bräunliches Haar. Ständig gereizt. Und, natürlich, diese Zeitungen.

An diesem Morgen waren die Scheiben beschlagen, und draußen rannen Tropfen daran herunter. Auch der Regenmantel des Mannes tropf‌te auf das Schachbrettlinoleum. Wenn er seine Zeitungen nicht in einer Plastiktüte transportiert hätte, wären sie zu Pappmaché aufgeweicht.

»Guten Morgen.«

»Ein lausiger Morgen.«

»Aber es ist immer schön, Sie zu sehen, Sir.«

Das sagte der Max von der Frühschicht. Max – so nannte Robert Hobden alle Angestellten hier. Wenn sie wollten, dass er sie voneinander unterschied, durf‌ten sie nicht alle an derselben Theke arbeiten.

Er ließ sich in seiner üblichen Ecke nieder. Eine Rothaarige, eine von nur drei anderen Gästen, saß am Nebentisch, mit dem Gesicht zum Fenster. Ein schwarzer Regenmantel hing von ihrer Stuhllehne. Sie trug eine kragenlose weiße Bluse und schwarze, über dem Knöchel abgeschnittene Leggins. Das fiel ihm auf, weil sie ihre Füße um die Stuhlbeine gewickelt hatte, wie Kinder das tun. Ein Minilaptop stand vor ihr. Sie blickte nicht auf.

Max servierte ihm seinen Milchkaffee. Hobden dankte ihm mit einem Grunzen und legte Schlüssel, Handy und Brief‌tasche auf den Tisch vor sich, so wie immer. Er hasste es, mit vollen Taschen dasitzen zu müssen. Dann folgten ein Stift und sein Notizblock. Der Stift war ein dünner schwarzer Filzstift, der Schlüsselanhänger ein USB-Stick. Die Zeitungen waren die guten Tageszeitungen plus die Mail. Aufgestapelt waren sie zehn Zentimeter hoch, wovon er ungefähr vier Zentimeter las, montags wesentlich weniger, wenn die Sportteile dicker waren. Heute war es Dienstag, kurz nach sieben. Es regnete schon wieder. Wie schon die ganze Nacht über.

Telegraph, Times, Mail, Independent, Guardian.

Irgendwann einmal hatte er für all diese Blätter geschrieben. Er dachte das nicht bewusst, sondern es stieg eher als unwillkürliche Erinnerung in ihm auf, die ihn meistens morgens um diese Zeit plagte: Jungreporter – lächerlicher Ausdruck – in Peterborough, dann die unvermeidliche Versetzung nach London und die unterschiedlichen Rhythmen der wichtigsten Rubriken, Verbrechen und Politik, bevor er mit achtundvierzig zu seiner eigentlichen Berufung aufstieg: die wöchentliche Kolumne. Sogar zwei. Sonntags und mittwochs. Regelmäßige Auf‌tritte in der Talkshow Question Time. Vom jungen Hitzkopf zum geschätzten Querdenker: ein zugegeben langer Weg, aber das machte das Erreichen seines Ziels nur umso süßer. Wenn sein Leben so geblieben wäre wie damals, hätte er sich nicht beschweren können.

Derzeit schrieb er nicht länger für Zeitungen, und wenn Taxifahrer ihn erkannten, dann aus den falschen Gründen.

Den beigen Regenmantel legte er nun ab, so dass von seinen typischen Kennzeichen nur das schüttere bräunliche Haar und der gereizte Blick blieben. Robert Hobden zog die Kappe von seinem Stift, trank einen Schluck Milchkaffee und begann zu arbeiten.

 

Von außen hatte man Licht in den Fenstern gesehen. Schon bevor er die Tür geöffnet hatte, hatte Ho gewusst, dass er nicht der Erste in Slough House sein würde. Spätestens gemerkt hätte er es jedoch im Treppenhaus – feuchte Schuhabdrücke auf den Stufen, ein Geruch nach Regen in der Luft. Alle Jubeljahre traf Jackson Lamb vor Ho ein, willkürliche Auf‌tritte im Morgengrauen, mit denen er sein Revier markierte. Sie können hier herumgeistern, so viel Sie wollen, gab ihm Lamb damit zu verstehen, aber wenn man hier die Wände einreißt, wird man nur einen Hausgeist finden – meinen. Es gab viele gute Gründe, Jackson Lamb nicht ausstehen zu können, und dies war einer von Hos Favoriten.

Aber heute war Lamb nicht alleine. Dort oben war noch jemand.

Es konnte Jed Moody sein, aber das war doch eher unwahrscheinlich. Halb zehn war früh für Moody, und im Allgemeinen war er nicht vor elf bereit für irgendetwas Komplizierteres als ein Heißgetränk. Roderick Ho mochte Jed Moody nicht, aber das war kein Problem: Moody erwartete nicht, gemocht zu werden. Schon bevor er nach Slough House versetzt worden war, hatte er wahrscheinlich weniger Freunde als Fäuste gehabt. Daher kamen Ho und Moody ganz gut miteinander aus in ihrem gemeinsamen Büro: Keiner mochte den anderen, und keiner scherte sich darum, dass der andere das wusste. Aber auf gar keinen Fall war Moody vor ihm eingetroffen. Es war erst kurz vor sieben.

Catherine Standish war schon wahrscheinlicher. Ho konnte sich zwar nicht daran erinnern, dass Catherine Standish jemals als Erste eingetroffen war, was bedeutete, dass es tatsächlich nie geschehen war, aber sie kam normalerweise als Zweite. Dann hörte er, wie sich die Tür gequält öffnete, und danach das leise Knarren ihrer Schritte auf der Treppe; dann nichts mehr. Sie saß zwei Stockwerke über ihm, in dem kleinen Raum neben Lamb, und kaum außer Sicht, konnte man sie leicht vergessen, ja, sogar wenn sie direkt vor einem stand, war sie leicht zu vergessen. Die Wahrscheinlichkeit, ihre Anwesenheit wahrzunehmen, war nicht hoch. Daher konnte sie es also nicht sein.

Ho war zufrieden. Ho mochte Standish nicht.

Er ging hinauf in sein Büro im ersten Stock, hängte seinen Regenmantel an einen Haken, schaltete den Computer ein und ging in die Küche. Ein seltsamer Geruch wehte die Treppe herunter. Irgendetwas Verrottetes hatte den Hauch von Regen überlagert.

Folgende Verdächtige kamen noch in Frage: Min Harper, ein nervöser Idiot, der dauernd seine Taschen abklopf‌te, um zu überprüfen, ob er nichts verloren hatte, Louisa Guy, die Ho nicht ansehen konnte, ohne an einen Druckkochtopf zu denken, in der ständigen Erwartung, dass Dampf aus ihren Ohren kam, Struan Loy, der Büroclown – Ho konnte keinen von ihnen leiden, aber ganz besonders verachtete er Loy: Büroclowns waren an sich schon ein Verbrechen –, und Kay White, die früher im obersten Stockwerk mit Catherine zusammengearbeitet hatte, aber dann nach unten verbannt worden war, weil sie »zu viel Scheißkrach machte«: Vielen Dank, Lamb. Vielen Dank, dass jetzt alle anderen leiden müssen. Wenn Sie ihr Geplapper nicht ausstehen können, warum schicken Sie sie nicht einfach zurück nach Regent’s Park? Nun, aus dem einfachen Grund, dass niemand von ihnen zurückkehrte nach Regent’s Park, denn sie alle hatten dort Geschichte geschrieben, Schmutzflecken in den Annalen des Secret Service hinterlassen.

Und Ho kannte die Gestalt und Farbe jedes einzelnen Flecks: Drogen, Trunkenheit, sexuelle Belästigung, politische Einstellung und Betrug – Slough House steckte voller Geheimnisse, und Ho kannte das Ausmaß und die Schwere jedes Einzelnen von ihnen, außer zweien.

Was ihn auf Sid brachte. Sid konnte es nicht sein dort oben.

Das Besondere an Sid Baker war: Ho wusste nicht, für welches Vergehen sie bestraft worden war. Es war eines von zwei Geheimnissen, die er nicht kannte.

Das war wahrscheinlich der Grund, warum er Sid nicht mochte.

Als das Wasser im Kessel zu kochen anfing, dachte Ho über die Geheimnisse von Slough House nach. Der nervöse Idiot Min Harper hatte eine CD-Rom mit Geheiminformationen in einem Zug liegenlassen. Er hätte damit glimpf‌lich davonkommen können, wenn die CD nicht in einer knallroten Hülle mit dem Stempel Top Secret gesteckt hätte. Und selbst dann hätte er wohl Glück haben können, wenn die Frau, die sie fand, sie nicht der BBC ausgehändigt hätte. Manches war einfach zu gut, um wahr zu sein, es sei denn, man war der Leidtragende: Für Min Harper war diese Episode zu schrecklich gewesen, um wahr zu sein, aber geschehen war sie trotzdem. Und deswegen hatte Min die letzten beiden Jahre einer einst vielversprechenden Karriere mit der Bedienung des Aktenvernichters im ersten Stock verbracht.

Dampf wallte aus der Tülle des Wasserkochers. Die Küche war schlecht belüftet, und oft fiel Putz von der Decke. Bald würde das ganze Ding runterkommen. Ho goss Wasser in einen Becher mit Teebeutel. Die Tage waren in solche Segmente gewürfelt und geschnitzelt, aufgeteilt in Momente, in denen man eine Tasse Tee einschenkte oder Sandwiches holte, und ansonsten gedanklich unterteilt in das Wiederholen von Slough-House-Geheimnissen, allen, außer zweien … Die übrige Zeit verbrachte Ho vor seinem Monitor, wo er damit beschäftigt schien, Daten längst abgeschlossener Fälle einzugeben. Die meiste Zeit über forschte er jedoch nach dem zweiten Geheimnis, dem, das unablässig an ihm nagte und niemals schlief.

Mit einem Löffel fischte er den Teebeutel heraus, ließ ihn in die Spüle fallen, und während er das tat, traf ihn ein Geistesblitz. Ich weiß, wer da oben ist. Das ist River Cartwright. Er muss es sein.

Ihm fiel kein Grund ein, warum Cartwright um diese frühe Stunde hier sein sollte, aber dennoch: Er hätte darauf gewettet. Auf Cartwright. Dass er jetzt dort oben war.

Typisch. River Cartwright konnte er nämlich nicht ausstehen.

Ho trug die Tasse zu seinem Schreibtisch, wo sein Monitor zum Leben erwacht war.

 

Hobden legte den Telegraph beiseite, dessen Titelseite einen grimassierenden Peter Judd zeigte. Er hatte ein paar Aussagen über die anstehende Nachwahl gemacht – der Schattenkultusminister hatte seinen Rücktritt eingereicht, da mehrere Schlaganfälle im Januar das Ende seiner Karriere bedeuteten –, aber sonst nichts. Wenn Politiker freiwillig ein Rücktrittsgesuch einreichten, lohnte es sich meist, näher hinzusehen, aber Robert Hobden war ein alter Hase in der Analyse von Artikeln. Er las Gedrucktes noch immer wie Braille: Kleine Unebenheiten in der Sprache verrieten ihm, wenn Informationen auf Weisung von oben unterdrückt wurden, wenn der Regent’s-Park-Mob seine Fingerabdrücke auf den Fakten hinterlassen hatte. Und genauso verhielt es sich wahrscheinlich: Ein Politiker quittierte aufgrund gesundheitlicher Probleme den Dienst. Robert Hobden vertraute seinen Instinkten. Man hörte nicht auf, ein Journalist zu sein, nur weil man nicht länger gedruckt wurde. Besonders, wenn man wusste, dass man eine Story an der Angel hatte und darauf wartete, dass sie ihre Rückenflosse über den Wellen der alltäglichen Nachrichten zeigte. Früher oder später würde sie an die Oberfläche kommen. Und wenn sie es tat, würde er sie als das erkennen, was sie war.

Währenddessen fuhr er mit seinem täglichen Fischzug im Meer der Printmedien fort. Schließlich hatte er nicht viel anderes zu tun. Hobden hatte nicht mehr so gute Beziehungen wie früher.

Ehrlich gesagt war Hobden ein Paria.

Und auch daran war Regent’s Park schuld: Irgendwann hatte er für alle diese Zeitungen geschrieben, aber die Geheimagenten hatten dem ein Ende gesetzt. Deswegen verbrachte er jetzt seine Vormittage im Max’s auf der Jagd nach einer Sensation … Das gehörte dazu, wenn man einer Story auf der Spur war: Man befürchtete ständig, andere könnten einem den Scoop streitig machen. Wozu umso mehr Grund bestand, wenn der Secret Service dahintersteckte. Hobden war kein Idiot. Sein Notebook enthielt nichts, das nicht öffentlichkeitstauglich war. Erst wenn er seine Notizen ausformulierte, fügte er Spekulationen hinzu und sicherte anschließend alles auf seinem USB-Stick, um seine Festplatte sauber zu halten. Außerdem besaß er einen Dummy, falls irgendjemand auf dumme Gedanken kommen sollte. Er war nicht paranoid, aber er war kein Idiot. Gestern Abend war er unruhig in seiner Wohnung auf und ab gelaufen, in dem Gefühl, irgendetwas vergessen zu haben. Er hatte überlegt, ob er in letzter Zeit unerwartete Begegnungen gehabt hatte, ob Fremde ihn angesprochen hatten, aber er konnte sich an nichts dergleichen erinnern. Dann war er andere kürzliche Begegnungen durchgegangen, mit seiner Exfrau, mit seinen Kindern, mit früheren Kollegen und Freunden, doch auch dazu fiel ihm nichts ein. Abgesehen von den Leuten im Max’s wünschte ihm niemand einen guten Morgen. Das Einzige, was er also vergessen hatte zu tun, war, den Müll rauszustellen, aber das war ihm irgendwann eingefallen.

»Entschuldigen Sie?«

Es war die hübsche Rothaarige vom Nebentisch.

»Ich sagte: Entschuldigen Sie?«

Es stellte sich heraus, dass sie mit ihm redete.

 

Fischreste. Das letzte Searchlight-Päckchen enthielt Fischreste: nicht die Gräten und Köpfe, die andeuten würden, dass der Journalist sich in der Küche betätigte, sondern die verhärteten Ränder von Teig und Haut und Krümel verkohlter Pommes frites, die darauf hinwiesen, dass sein lokaler Imbiss nicht der beste war.

River hatte den größten Teil des Mülls durchgesehen, und nichts davon ergab irgendeinen Hinweis. Nicht einmal die Post-its, die er sorgfältig glattgestrichen hatte, gaben mehr preis als Einkaufslisten: Eier, Teebeutel, Saft, Zahnpasta – deren Überreste sich nun in dem Sack befanden. Mit dem Papprücken des Spiralnotizblocks war es genau dasselbe. Keine der Seiten hatte überlebt. River war mit den Fingerspitzen über die Pappe gefahren, falls sich irgendwelche Schrift darin abgedrückt hatte, fand aber nichts.

Von der Decke über ihm kam ein Stampfen. Lambs Lieblingsmethode, seine Mitarbeiter herzuzitieren.

Sie waren nicht länger die Einzigen hier. Es war kurz vor acht Uhr; die Tür hatte sich zweimal geöffnet und die Treppe ihre übliche Begrüßung geknarrt. Die Geräusche im unteren Stockwerk gehörten zu Roderick Ho. Ho war normalerweise als Erster hier und oft als Letzter wieder weg, und wie er die Stunden dazwischen verbrachte, war River ein Rätsel. Obwohl die Cola-Dosen und Pizzaschachteln rings um seinen Schreibtisch ein Indiz dafür sein konnten, dass er ein Fort baute.

Die anderen Schritte waren an Rivers Stockwerk vorbeigegangen, also mussten sie Catherine gehört haben. Er musste überlegen, um auf ihren Nachnamen zu kommen: Catherine Standish. Miss Havisham hätte besser zu ihr gepasst, der erinnerte sie an die alte Jungfer in Dickens’ Roman, die kurz vor der Trauung verlassen worden war und nie mehr ihr Hochzeitskleid ablegte. River hatte keine Ahnung von Hochzeitskleidern, aber sie hätte ebenso gut in Spinnweben herumlaufen können.

Ein erneutes Stampfen auf der Decke. Wenn er einen Besenstiel gehabt hätte, hätte er zurückgehämmert.

Das Chaos hatte sich ausgeweitet. Anfangs hatte es sich mit der Zeitungsinsel zufriedengegeben, die River ausgebreitet hatte. Doch inzwischen war es metastasiert und bedeckte den größten Teil von Sids Hälfte des Fußbodens. Der Geruch war demokratischer und füllte den ganzen Raum. Ein Kringel Orangenschale, unentzifferbar wie eine Arztunterschrift, lag zusammengerollt unter dem Schreibtisch.

Wieder ein Stampfen. Ohne seine Gummihandschuhe auszuziehen, stand River auf und ging zur Tür.

 

Er war sechsundfünfzig Jahre alt. Hübsche junge Rothaarige sprachen nicht mit ihm. Aber als Robert Hobden ihr einen forschenden Blick zuwarf, lächelte und nickte sie. Sie signalisierte all die Offenheit, die ein Säugetier dem anderen erwies, wenn es etwas wollte oder brauchte.

»Kann ich Ihnen helfen?«

»Ja, vielleicht. Wissen Sie, ich sitze gerade an meiner Doktorarbeit.«

Hobden hasste es, in dieser Art und Weise angesprochen zu werden. Doch die junge Frau war hübsch, hatte zarte Sommersprossen und ihre Bluse war so weit aufgeknöpft, dass er erkennen konnte, dass diese bis zu ihren Brüsten reichten. Ein Medaillon an einer Silberkette hing in ihrem Ausschnitt. Ihr Ringfinger war nackt. Ihm fielen weiterhin solche Details auf, lange, nachdem sie bereits keine Relevanz mehr besaßen.

»Ja?«

»Ich konnte nicht anders, als die Schlagzeile zu lesen. Auf Ihrer Zeitung. Auf einer Ihrer Zeitungen …«

Sie langte herüber und tippte auf seine Ausgabe des Guardian, so dass er ihre Sommersprossen und das Medaillon noch besser erkennen konnte. Sie meinte jedoch keine Schlagzeile, sondern einen Teaser über dem Titelkopf: die Ankündigung eines Interviews mit Russell T. Davies in der Beilage.

»Meine Dissertation handelt von berühmten Mediengrößen.«

»Wovon sonst.«

»Wie bitte?«

»Bitte bedienen Sie sich.«

Er zupf‌te die Beilage G2 aus dem Inneren der Zeitung heraus und reichte sie ihr. Sie lächelte reizend und dankte ihm, und ihm fielen ihre schönen blaugrauen Augen und die volle Unterlippe auf.

Doch als sie sich wieder an ihren Platz setzte, musste sie über ihre hübschen Beine gestolpert sein, denn im nächsten Augenblick war überall Cappuccino, und ihre Sprache wurde sehr undamenhaft.

»Oh, Scheiße, es tut mir so leid!«

»Max!«

»Ich muss …«

»Können wir hier drüben ein Wischtuch haben, bitte?«

 

Für Catherine Standish war Slough House der rettende Fels in der Brandung: feucht, reizlos, schmerzlich vertraut und etwas, an das man sich klammern konnte, wenn die Brandung herandonnerte. Doch das Öffnen der Tür war jedes Mal ein Kampf. Man hätte sie leicht reparieren können, aber nein, in Slough House konnte man nicht einfach einen Schreiner anrufen: Man musste zuerst ein Immobilieninstandhaltungsformular ausfüllen, einen Budgetantrag stellen und eine Zutrittserlaubnis für einen akkreditierten Handwerker organisieren – Outsourcing war »fiskalisch adäquat«, wie die Instandhaltungsrichtlinien erklärten, aber die Summen, die für kleinere Reparaturen ausgegeben wurden, straf‌ten dies Lügen. Nachdem man die Formulare ausgefüllt hatte, musste man sie nach Regent’s Park schicken, wo sie gelesen, mit Initialen versehen, abgestempelt und ignoriert werden würden. Deswegen musste sie sich jeden Morgen dieser Prüfung unterziehen und gegen die Tür stoßen, den Regenschirm in der einen, den Schlüssel in der anderen Hand, die Schulter hochgezogen, damit ihre Tasche nicht hinunterrutschte. Und dabei hoffen, dass sie das Gleichgewicht behielt, wenn die Tür freundlicherweise nachgab. Ertrinkende hatten es leichter. Felsen besaßen keine Türen. Obwohl es bei Sturm auf dem Meer auch regnete.

Endlich gab die Tür mit ihrem üblichen Ächzen nach. Catherine Standish blieb stehen und schüttelte das Wasser von ihrem Schirm. Sie blickte hinauf zum Himmel. Immer noch grau, immer noch wolkenverhangen. Ein letztes Schütteln, dann klemmte sie den Schirm unter den Arm. Im Flur gab es eine Garderobe, aber den Schirm dort abzustellen hieß, dass man ihn nie mehr wiedersehen würde. Im ersten Stock erhaschte sie durch eine halboffene Tür einen Blick auf Ho an seinem Schreibtisch. Er blickte nicht auf, obwohl sie wusste, dass er sie gesehen hatte. Sie wiederum tat so, als hätte sie ihn nicht gesehen, so musste es jedenfalls gewirkt haben. In Wirklichkeit stellte sie sich vor, er sei ein Möbelstück, was ihr leichter fiel.

Im nächsten Stock waren beide Bürotüren geschlossen, aber unter der von River und Sid fiel Licht hindurch. Ein widerlicher Geruch hing in der Luft: verdorbener Fisch und faulendes Grünzeug.

In ihrem Büro im obersten Stockwerk hängte sie ihren Regenmantel auf einen Bügel, öffnete den Schirm, damit er richtig trocknen konnte, und fragte Jackson Lambs geschlossene Tür, ob sie Tee wolle. Keine Antwort. Sie spülte den Kessel, füllte ihn mit frischem Wasser und setzte ihn auf. Zurück in ihrem Büro, fuhr sie den Computer hoch, zog ihre Lippen nach und bürstete sich das Haar.

Die Catherine in ihrem Puderdosenspiegel war immer zehn Jahre älter als die, die sie zu erblicken erwartete. Aber daran war nur sie allein schuld und niemand sonst.

Ihr Haar war immer noch blond, aber nur aus der Nähe, und niemand kam ihr nahe genug. Aus der Distanz war es grau, wenn auch immer noch voll und gewellt. Ihre Augen hatten dieselbe Farbe und vermittelten dadurch den Eindruck, dass sie allmählich monochrom wurde. Sie bewegte sich unauf‌fällig und kleidete sich, als sei sie einem Kinderbuch aus der Vorkriegszeit entsprungen: Sie trug normalerweise immer einen Hut und niemals Jeans oder Hosen, ja, nicht einmal Röcke, sondern immer nur Kleider, mit Spitzenbesatz an den Ärmelmanschetten. Als sie die Puderdose näher vor das Gesicht hielt, erkannte sie die Schäden unter der Haut und sah die Fältchen, durch die ihre Jugend versickert war. Ein Prozess, der von unklugen Entscheidungen noch beschleunigt worden war, obwohl es erstaunlich war, wie oft im Rückblick solche Entscheidungen gar keine gewesen zu sein schienen, sondern nur eine Aneinanderreihung von Schritten, die sie einen nach dem anderen gesetzt hatte. Übernächstes Jahr würde sie fünfzig werden. Bis dahin waren es ziemlich viele Schritte gewesen, einer nach dem anderen.

Das Wasser kochte, und sie goss eine Tasse Tee auf. Zurück an ihrem Schreibtisch – in einem Raum, den sie Gott sei Dank mit niemandem teilte, nicht seitdem Kay White auf Lambs Befehl nach unten verbannt worden war –, fuhr sie an der Stelle fort, an der sie gestern aufgehört hatte. Sie erstellte einen Bericht über Immobilienkäufe der letzten drei Jahre in der Leeds/Bradford-Region und setzte diese in Beziehung zu Immigrationsunterlagen aus derselben Zeit. Namen, die in beiden Rubriken auf‌tauchten, wurden mit der Regent’s-Park-Observationsliste verglichen. Catherine hatte bisher noch keinen Namen gefunden, der Alarm ausgelöst hätte, recherchierte aber dennoch in alle Richtungen. Die Ergebnisse listete sie nach Ursprungsland auf, wobei Pakistan an der Spitze lag. Je nachdem, aus welcher Perspektive man die Ergebnisse betrachtete, waren sie entweder ein Beweis für willkürliche Bevölkerungsbewegungen und Immobilieninvestitionen oder eine Graphik, aus der sich irgendwann ein Muster ergeben würde, welches nur von denen interpretiert werden konnte, die weiter oben auf der Informationssammelleiter standen als Catherine. Im nächsten Monat würde sie einen ähnlichen Bericht für den Großraum Manchester erarbeiten. Danach würden Birmingham oder Nottingham folgen. Ihre Berichte würden per Kurier hinüber in den Regent’s Park gebracht werden, wo sie hoffte, dass die Königinnen der Datenbanken ihnen mehr Aufmerksamkeit als ihren Reparaturanträgen widmen würden.

Nach einer halben Stunde legte sie eine Pause ein und bürstete erneut ihr Haar.

Fünf Minuten später kam River Cartwright herauf und betrat, ohne anzuklopfen, Lambs Büro.

 

Die junge Frau war aufgesprungen und benutzte die Zeitung als eine Art Damm, um den Cappuccino von ihrem Laptop wegzuleiten, und für eine Sekunde empfand Hobden den Stich des Verlusts, denn schließlich gehörte ihm die Zeitung, die sie damit unlesbar machte. Aber das Gefühl ging vorbei, und außerdem brauchte er ein Tuch.

»Max!«

Hobden hasste solche Szenen. Warum waren die Leute nur so ungeschickt?

Er stand auf und winkte zur Theke hinüber, doch da kam auch schon Max mit einem Tuch in der Hand. Er hatte nur ein Lächeln für die Rothaarige übrig, die immer noch ohne große Wirkung den Guardian ruinierte. »Kein Problem, kein Problem«, beruhigte er sie.

Doch, es war durchaus ein Problem, dachte Robert Hobden. Sein Problem, dass dieser ganze Aufstand gemacht wurde und dass überall Kaffee war, wo er doch bloß in Frieden die Morgenpresse durchgehen wollte.

»Es tut mir wirklich leid«, sagte die junge Frau.

»Ist schon gut«, log er.

Max sagte: »Na bitte, alles wieder in Ordnung.«

»Vielen Dank«, sagte die junge Frau.

»Ich bringe Ihnen eine neue Tasse.«

»Aber ich bezahle natürlich …«

Aber auch das war kein Problem. Die Rothaarige setzte sich wieder an den Tisch, deutete entschuldigend auf die von Kaffee durchtränkte Zeitung und fragte: »Soll ich Ihnen eine neue –«

»Nein.«

»Aber ich –«

»Nein. Ist nicht nötig.«

Hobden wusste, dass er mit solchen Ereignissen weder taktvoll noch charmant umging. Vielleicht hätte er Unterricht bei Max nehmen sollen, der schon wieder zurück war und ihnen beiden frischen Kaffee servierte. Hobden knurrte einen Dank. Die Rothaarige trällerte süß, aber das war nur gespielt. Sie war ganz verlegen vor Scham und hätte am liebsten ihren Laptop eingepackt und wäre gegangen.

Hobden trank seine erste Tasse aus und stellte sie beiseite. Nippte an der zweiten.

Beugte sich über die Times.

 

River fragte: »Sie haben gestampft?«

Er sah Lamb an, wie er sich in seinen Schreibtischstuhl fläzte. Schwer vorstellbar, dass er so arbeiten konnte, ja, dass er irgendwann auch mal aufstand oder ein Fenster öffnete.

»Reizende Gummihandschuhe«, bemerkte Lamb.

In die Dachschrägen seines Büros war ein Gaubenfenster eingelassen, das stets von einem Rollo verdunkelt wurde. Da Lamb überdies keine Deckenbeleuchtung mochte, herrschte eine schummrige Atmosphäre; die einzige Lichtquelle bildete eine Bürolampe auf einem Telefonbuchstapel. Der Raum glich mehr einer Höhle als einem Büro. Ein massiver Wecker tickte penetrant auf einer Ecke des Schreibtischs, und eine Korktafel an der Wand war mit Zetteln gespickt, die sich bei näherem Hinsehen als Rabattcoupons erwiesen; einige vergilbt und an den Ecken eingerollt, so dass sie unmöglich noch gültig sein konnten.

River überlegte, die Gummihandschuhe abzustreifen, aber sie klebten derart, dass er mühevoll jeden Finger einzeln hätte abzupfen müssen, weshalb er sich dagegen entschied. »Drecksarbeit«, bemerkte er stattdessen.

Lamb schnaubte verächtlich.

Der Schreibtisch verbarg seine Wampe, jedoch nur unzureichend. Nicht mal hinter einer geschlossenen Tür hätte er sie verstecken können. Sie offenbarte sich in seiner Stimme und vor allem im Gesicht und in den Augen. In der Art, wie er schnaubte. Jemand hatte einmal bemerkt, er sähe aus wie ein heruntergekommener Timothy Spall, der Schauspieler, der den Wurmschwanz in den Harry-Potter-Filmen verkörperte, was die Frage aufwarf, wie ein nicht-heruntergekommener Timothy Spall aussehen mochte; trotzdem passte der Vergleich. Abgesehen davon machten ihn diese Plautze, die unrasierten Hängebacken und das Haar – schmutzigblond, glatt aus der hohen Stirn zurückgekämmt, über dem Kragen zu einer Schmalztolle gewellt – zu einem heißen Kandidaten für den Falstaf‌f, dachte River. Eine Rolle, die Timothy Spall mal ins Auge fassen sollte.

»Passende Bemerkung«, sagte River. »Durchaus treffend.«

»Wenn auch nicht ohne ein Quentchen Kritik«, erwiderte Jackson Lamb.

»Ist mir gar nicht aufgefallen.«

»So, so. Ihnen ist aber aufgefallen, dass Sie den Dreck bis auf Sids Bürohälfte ausgebreitet haben?«

River entgegnete: »Der Inhalt eines Müllsacks lässt sich nur schwer bändigen. Daher der Fachausdruck ›wilder Müll‹.«

»Sie mögen Sid nicht besonders, stimmt’s?«

River antwortete nicht.

»Na ja, beruht auf Gegenseitigkeit. Ihr Fanclub ist ohnehin recht überschaubar. Irgendwas Interessantes gefunden?«

»Definieren Sie ›interessant‹.«

»Tun wir mal einen Moment lang so, als wäre ich Ihr Chef.«

»Was ein Sack Haushaltsmüll eben so an Interessantem enthält. Sir.«

»Klären Sie mich auf.«

»Er leert den Inhalt seines Aschenbechers in Zeitungspapier und wickelt ihn ein wie ein Geschenk.«

»Verrückt, was?«

»Dadurch stinkt der Mülleimer nicht so.«

»Mülleimer müssen stinken, sonst wären es keine.«

»Was soll das eigentlich?«

»Ich dachte, Sie wollten mal raus aus dem Büro. Haben Sie das nicht selbst gesagt? So etwa dreimal täglich, seit Monaten?«

»Klar. Auf Befehl Ihrer Majestät etc., pp. Also wühle ich jetzt im Müll wie ein Penner. Wonach suche ich überhaupt?«

»Wer sagt, dass Sie nach irgendetwas suchen?«

River dachte kurz nach. »Wir sollen dem Kerl also nur zeigen, dass er beobachtet wird?«

»Was heißt wir, Bleichgesicht? Sie wollen gar nichts. Sie wollen nur das, was ich Ihnen sage, das Sie zu wollen haben. Keine alten Notizbücher? Zerrissene Briefe?«

»Ein Teil eines Notizblocks. Spiralgebunden. Aber keine Blätter. Nur die Papprückseite.«

»Spuren von Drogen?«

»Eine leere Schachtel Paracetamol.«

»Kondome?«

»Die wirft er wahrscheinlich in die Toilette«, antwortete River. »Falls er je dazu kommt, welche zu benutzen.«

»Kondome sind in kleine Folien verpackt.«

»Ich erinnere mich dunkel. Nein. Nichts.«

»Leere Alkolholflaschen?«

»Vermutlich in der Recyclingtonne.«

»Bierdosen?«

»Dito.«

»Mein Gott«, bemerkte Jackson Lamb. »Liegt das an mir, oder kann es sein, dass seit 1979 alles verboten ist, was Spaß macht?«

River hatte nicht vor, so zu tun, als interessiere ihn das. »Ich dachte, unsere Aufgabe sei es, die Demokratie zu schützen«, bemerkte er. »Was trägt die Belästigung eines Journalisten dazu bei?«

»Ist das Ihr Ernst? Das gehört zu unseren Key-Performance-Indikatoren.« Lamb betonte den Ausdruck, als läse er ihn von einem Formular ab, das er kürzlich weggeworfen hatte.

»Ich meinte dieses spezielle Exemplar.«

»Versuchen Sie ihn nicht als Journalisten zu betrachten, sondern als potentielle Gefahr für die Allgemeinheit.«

»Ist er das?«

»Keine Ahnung. Lässt irgendetwas aus seinem Müll darauf schließen?«

»Na ja, er raucht. Aber bislang gilt das noch nicht als Sicherheitsrisiko.«

»Bislang«, bemerkte Lamb, der bekanntlich im Büro qualmte. Er dachte einen Moment lang nach. Dann sagte er: »Okay. Ich hätte gern einen Bericht.«

»Einen Bericht«, wiederholte River, nicht ganz als Frage betont.

»Haben Sie ein Problem damit, Cartwright?«

»Nein, nur das Gefühl, für eine Klatschzeitschrift zu arbeiten.«

»Sie sollten sich glücklich schätzen. Wissen Sie, was diese Schwachmaten verdienen?«

»Wollen Sie, dass ich ihn observiere?«

Lamb lachte.

River wartete. Es dauerte eine Weile. Lambs Lachen war nicht etwa ein Zeichen für seine Belustigung, sondern eher für einen Anflug von Wahnsinn. So ein Lachen wollte man nicht von jemandem hören, der einen Baseballschläger dabeihatte.

Es hörte so abrupt auf, wie es anfangen hatte. »Und wenn ich das wollte, glauben Sie, ich würde Sie damit beauf‌tragen?«

»Ich könnte es.«

»Wirklich?«