Slow Medicine – Medizin mit Seele - Victoria Sweet - E-Book

Slow Medicine – Medizin mit Seele E-Book

Victoria Sweet

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Beschreibung

Die Ärztin Victoria Sweet erzählt ihre persönliche Reise zu einer neuen Medizin. Sie berichtet von unvergesslichen Erfahrungen mit Patienten, Ärzten und Krankenpflegern, dank derer sie das Konzept der Slow Medicine entdeckte. Sie zeigt auf, dass die Medizin Handwerk, Kunst und Wissenschaft in einem ist. Slow Medicine führt "schnelle" und "langsame" Medizin zu einem wahrhaft effektiven, effizienten, nachhaltigen und menschlichen Weg der Heilung zusammen. Victoria Sweet arbeitet bereits viele Jahre als Ärztin an Krankenhäusern als ihr klar wird, dass sie mit der vorherrschenden Auffassung von Medizin immer größere Probleme hat. Bereits seit dem Studium hat sie eine eigene Version von Medizin, die sich maßgeblich von der gängigen Praxis unterscheidet. Damals lernte sie die moderne Medizin kennen, die auf der Vorstellung basiert, der Körper sei eine Maschine bzw. eine Ansammlung von Maschinen. Demnach sind Erkrankungen Schäden an der Maschine, Ärzte sind Mechaniker, die herausfinden müssen, was kaputt ist, um den Schaden zu beheben. Dieser Annahme folgend besteht das Heilungskonzept darin, die Maschine auseinanderzunehmen und in sie hineinzuschauen. Victoria Sweet liegen jedoch die Ideen der Medizin der Vormoderne viel näher. Dort wird der Körper als Pflanze verstanden und Krankheiten sind Ausdruck einer mangelnden Übereinstimmung zwischen innerem Körper und äußerer Welt. Der Arzt ist der Gärtner, der den Patienten im Kontext seiner Umgebung betrachtet. Er verändert, was er ändern kann und räumt beiseite, was den Patienten daran hindert, von allein gesund zu werden. Doch egal ob man den Körper als Pflanze, Maschine oder sogar Computer versteht, keines dieser Bilder kann den menschlichen Körper wirklich beschreiben. In der Arbeit mit Patienten stellt Victoria Sweet fest: "Der Weg der Heilung ist eher induktiv als deduktiv, ineinandergreifend. Bei dieser Art von Heilung findet ein Geben und Nehmen zwischen Körper und Pflegendem, zwischen Patient und Arzt statt – eine Wechselwirkung zwischen jedem Organ, jeder Zelle." Sie findet lange keinen Namen für diese Art der Medizin bis die Slow Food-Bewegung entsteht und sie versteht, dass diese dieselben Prinzipien beinhaltet wie ihre Version der Medizin: Slow Medicine also. In ihrem zweiten Buch nach "God´s Hotel" hält Victoria Sweet ein überzeugendes Plädoyer für eine patientenorientierte Medizin. Die leidenschaftliche Ärztin hat ein mitreißendes Memoire voll von Geschichten, Seele und Fakten verfasst. Giovanni Maio, Professor für Medizinethik an der Universität Freiburg und Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin, schreibt in seinem Vorwort: " Mit "Slow Medicine" berührt Victoria Sweet ein eminent wichtiges Thema der gegenwärtigen Medizin, die vor allem deswegen sich in eine für Patienten und Heilberufe unheilvolle Richtung entwickelt, weil die Bedeutsamkeit der Zeit viel zu wenig reflektiert wird. Die moderne Medizin ist durch nichts anderes mehr geprägt als durch den strukturell über sie verhängten Zeitdruck."

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Victoria Sweet

Slow Medicine – Medizin mit Seele

Die verlorene Kunstdes Heilens

Aus dem Englischen von Cathrine Hornung

Mit einem Vorwort von

© 2017 by Victoria Sweet

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Slow Medicine bei Riverhead.

 

Für die deutsche Ausgabe:

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

 

Umschlaggestaltung: Judith Queins

Umschlagmotiv: © knysh ksenya/shutterstock

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

 

 

ISBN E-Book 978-3-451-81489-1

ISBN Print 978-3-451-60059-3

Meinen Lehrern,

 

den namentlich genannten und ungenannten,

den bekannten und unbekannten

Inhalt

Slow Medicine und die Bedeutung der Geduld für die MedizinGiovanni Maio

PrologMedizin ohne Seele

Kapitel 1An der Schwelle zum Zeitalter des Wassermanns

Kapitel 2Dr. Gurushantih und mein neuer weißer Kittel

Kapitel 3Der Mann mit dem Loch im Kopf

Kapitel 4Dr. Gregs 30-Prozent-Lösung

Kapitel 5Ein Bittgesuch an den Schutzpatron der aussichtslosen Fälle

Kapitel 6Der Mantel des Hippokrates

Kapitel 7Drei Propheten, kein Wal

Kapitel 8Besuch im Hühnerstall

Kapitel 9Eine Slow Medicine-Praxis, die ihrer Zeit voraus war

Kapitel 10Kein Zurück mehr

Zwischenbilanz:Wo sich Fast Medicine und Slow Medicine treffen

Kapitel 11Kehrtwende

Kapitel 12Ein Handwerk, eine Wissenschaft und eine Kunst

Kapitel 13Oben und unten

Kurze Denkpause oder Der Sprung im kosmischen Ei

Kapitel 14»Die Kraft, die durch die grüne Kapsel Blumen treibt«

Kapitel 15Nichts ist besser als das Leben

Kapitel 16Ein Slow-Medicine-Manifest

Danksagungen

Über die Autorin

Slow Medicine und die Bedeutung der Geduld für die MedizinGiovanni Maio

»Man muss den Dingen die eigene, stille, ungestörte Entwicklung lassen, die tief von innen kommt, und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann.«

Rainer Maria Rilke

Mit »Slow Medicine« berührt Victoria Sweet ein eminent wichtiges Thema der gegenwärtigen Medizin, die vor allem deswegen sich in eine für Patienten und Heilberufe unheilvolle Richtung entwickelt, weil die Bedeutsamkeit der Zeit viel zu wenig reflektiert wird. Die moderne Medizin ist durch nichts anderes mehr geprägt als durch den strukturell über sie verhängten Zeitdruck. Die politischen Vorgaben und die mit ihr etablierten Anreizsysteme sind derart, dass die Medizin immer mehr einem Wirtschaftsunternehmen gleich auf eine schnelle und standardisierte Durchschleusung von Patienten ausgerichtet wird. Die immer kürzere Taktung der Arbeitsschritte verändert nicht nur das Verhalten der Heilberufe, sie verändert vor allen Dingen ihr Selbstverständnis. Immer mehr wird Schnelligkeit, Stromlinienförmigkeit und Reibungslosigkeit zum eigentlichen Leitwert der modernen Medizin erklärt und alle anderen Werte diesem untergeordnet. In einem auf Effizienz und Reibungslosigkeit getrimmten System werden die Heilberufe dazu angehalten, die schnelle Entscheidung als die vorzugswürdige anzusehen. Auf der Strecke bleibt dabei das in Ruhe Durchgehen, das mit den anderen in Ruhe Besprechen, das ausführliche reflexive Abwägen und vor allem das kritische Hinterfragen.

Gerade vor diesem Hintergrund kann eine Rückbesinnung auf »slow medicine« zum Rettungsanker der eigentlichen Identität der Heilberufe werden, weil mit dem Schlagwort von »slow medicine« die Tugend der Geduld auf den Plan gerufen wird, und die Geduld ist es, aus der die Einsicht entspringen kann, dass es zu einer guten Medizin unabdingbar gehört, nicht nur Dinge zu machen, sondern in gleicher Weise auch Dinge gedeihen zu lassen. Die für die Heilberufe unverzichtbare Geduld kann sich eben gerade darin ausdrücken, den Wert der Unterlassung neu aufscheinen zu sehen und das Gedeihenlassen als eine ausgezeichnete Form der Sorge um den anderen neu zu entdecken. Dieses geduldige Handeln, jenseits jeglicher Hast, stellt eine heilsame Form des Handelns dar, mit dem die in der modernen Medizin latent vorhandene Tendenz zum Aktionismus unterbunden werden könnte. Durch die Verinnerlichung der Geduld könnte somit einer Denkweise Raum gegeben werden, die die Medizin wieder in die Nähe einer zuwendungsorientierten sozialen Praxis rückt, und nichts braucht die moderne Medizin mehr als eine solche Rückbesinnung. Denn die moderne Medizin wird von den Leitungsstrukturen und von den Anreizen her geradezu mit dem Virus der Ungeduld infiziert. Dies äußert sich unter anderem darin, dass die Ärzte von einem dringlichen Termin zum nächsten dringlichen Termin huschen müssen; alles ist getaktet und alles mit Fristen versehen, die zu überschreiten Sanktionen hervorruft. Und so eilen die Ärzte von einer ablaufenden Frist zur nächsten, ohne im Angesichts dieser Überfülle an Fristen überhaupt selbst überlegen zu können, was eigentlich wichtig ist. Indem in einem Geschäftsbetrieb Krankenhaus alles dringlich gemacht wird, verlieren die Ärzte zunehmend das Gespür für das Wesentliche; die Orientierung am Vordringlichen ersetzt die Orientierung am Wichtigen, weil das Vordringliche als das einzig Wichtige anerkannt wird. Aber nicht alles dringlich Gemachte ist zugleich auch wichtig. Das heißt nichts anderes als dass die Ärzte zwar immer schneller arbeiten, aber immer weniger wissen, woraufhin sie eigentlich arbeiten. Wenn die permanente Dringlichkeit zur beherrschenden Atmosphäre und die Sofortigkeit zum eigentlichen Arbeitsmodus wird, verwandelt sich die Normalität der Dringlichkeit in eine Normalität der Flüchtigkeit, ohne dass man es merkt, dass man immer nur an der Oberfläche arbeitet und nie »dicke Bretter« bohrt.

Eingezwängt in einem solchen System, in dem alles am besten gleichzeitig und zwar sofort zu geschehen hat, geht der Kompass für das Wesentliche verloren. Man wird immer schneller, immer fahriger, immer diskontinuierlicher und man merkt nicht, dass man gar nicht mehr weiß, in welche Richtung man eigentlich läuft. Und das soll vom System her so sein, denn die Ärzte sollen nicht selbst festlegen, was wichtig ist, sondern sie sollen der betrieblichen Logik folgen, sie sollen schlichtweg funktionieren und nicht mehr. Und so arbeiten sie in einem Umfeld, in dem sie auf keinen Fall geduldig sein dürfen, wenn sie nicht als ineffizient abgetan werden wollen. Allen Heilberufen wird sozusagen systematisch die Geduld ausgetrieben, weil man denkt, dass man nur durch die Tyrannei der Ungeduld genügend sparen kann. Aber es ist kein Einsparen, dass man eine solche Umpolung der Medizin erreicht. Sondern man zerstört die Grundlage, auf der Medizin überhaupt aufbauen kann, man zerstört den Geist der Medizin. Insofern ist die Etablierung der Ungeduld als neue Normalität des Alltags der Medizin eine tiefe Bedrohung der Identität von Medizin als Praxis der Sorge.

Gleichwohl bedeutet Geduld zu haben nicht einfach, alles langsamer zu machen. Die Gefahr der Ungeduld liegt nicht in der Schnelligkeit, sondern in der fehlenden Rücksicht vor der Zeit. Mit der Losung einer undifferenzierten Entschleunigung kommt man nicht weiter, weil damit auch die Prozesse verlangsamt werden, die berechtigterweise schnell sein dürfen, ja schnell sein müssen, weil es die Sache erfordert. Das Problem der Beschleunigung liegt also weniger in der Beschleunigung selbst, als vielmehr darin, dass undifferenziert beschleunigt wird, also nicht nur das zu Beschleunigende beschleunigt wird, sondern auch das beschleunigt wird, was eigentlich Zeit bräuchte. Deswegen kann auch die diametrale Losung der Entschleunigung nicht die Lösung sein, weil diese wiederum genauso undifferenziert ist wie der Beschleunigungsimperativ. Es geht bei der Geduld somit nicht um eine grundsätzliche Langsamkeit, denn das wäre ja eher Gemächlichkeit und nicht etwa Geduld. Und tatsächlich gibt es ja auch ein »overwaiting« (s. Pianalto 2014, S. 91).1 Geduld entsteht und verwirklicht sich dort, wo sie der Sorgfalt den Vorzug vor der Schnelligkeit gibt und dort, wo die Sorgfalt nicht leidet die Schnelligkeit gleichwohl zulässt. Geduld haben mit den Dingen heißt somit nicht weniger als Festhalten am Primat der Sorgfalt. Geduld impliziert, dass man den Imperativ der Beschleunigung vom Podest der Leitkategorie stößt und das Schnellsein zu etwas Konditionalem macht. Man darf schnell sein, aber nur wenn andere Bedingungen zuerst erfüllt sind. Oder anders gesagt: der Geduldige befürwortet auch das Schnellsein, aber er bleibt radikal in der Ablehnung des Schnellseins um jeden Preis.

Wir leben in einer Zeit, in der der Zeitgewinn zum Selbstzweck geworden ist und damit das Schnellsein um jeden Preis zunehmend zur Normalität wird. Und doch ist es gerade die Geduld, die den kranken Menschen eine Zusicherung gibt, nämlich die Zusicherung, sich nicht desinteressiert von ihm abzuwenden. Es ist die Geduld, die dem Patienten Nähe vermitteln kann, es ist die Geduld, die dem Patienten vermitteln kann, dass man sich für ihn als unverwechselbares Wesen persönlich interessiert. Wenn aber die Anreize so sind, dass den Heilberufen ein schlechtes Gewissen eingeimpft wird, wenn sie sich Zeit nehmen, wenn sie sich in Geduld beim Zuhören üben, dann verändert sich die gesamte Medizin dahin, dass die Geduld immer mehr zum Störfaktor der Betriebsamkeit mutiert und ihr heilsames Potenzial vollkommen übersehen wird. Übersehen wird vor allem, dass man in Ungeduld schlichtweg nicht wirklich helfen kann. – Und das, was man bislang unbemerkt übersieht, das macht Victoria Sweet in ihrem Buch wieder sichtbar. Das mit diesem Buch berührte Thema gehört insofern zu den relevantesten Themen der modernen Medizin, und es ist dem Buch eine breite Leserschaft zu wünschen.

Freiburg, Januar 2019

Prof. Dr. med. Giovanni Maio, M. A. phil.

1 Pianalto, Matthew: In defense of patience. In: David B. Suits u. Dane R. Gordon. Epictetus. His continuing influence and contemporary relevance. Rochester, NY: RIT Cary Graphic Arts Press 2013, S. 89–104

Prolog Medizin ohne Seele

Ich wusste nicht, wie schlimm es war, bis mein Vater ins Krankenhaus kam.

Es begann an einem Freitagnachmittag in der Woche vor Thanksgiving – nicht gerade der beste Zeitpunkt, um krank zu werden. Auch Kliniken und Ärzte haben einen gewissen Wochenrhythmus, und freitagnachmittags wollen wir rasch noch alles erledigen, was nicht bis Montag warten kann. Mein Vater hatte gemeinsam mit meiner Mutter in einem Restaurant zu Mittag gegessen und sich anschließend hingelegt. Dann sah sie, wie er einen Anfall bekam.

Das war nichts Neues. In den vergangenen Jahren hatte er mehrere Grand-mal-Anfälle gehabt und musste entsprechende Medikamente einnehmen, was er manchmal vergaß. Und obwohl meine Mutter bereits mehrere Anfälle bei ihm erlebt hatte, war sie erschrocken. Krampfanfälle wirken beängstigend, hinterlassen aber meist keine Schäden.1

Sie wählte den Notruf, und die Sanitäter brachten meinen Vater in das hübsche, nur fünf Blocks entfernte Gemeindekrankenhaus, wo er untersucht und stationär aufgenommen wurde.

Das überraschte mich. In dem öffentlichen Krankenhaus in San Francisco, wo ich als Ärztin arbeite, wäre er wegen eines einfachen, wiederholten Grand-mal-Anfalls nicht stationär behandelt worden. Wir hätten seine Laborwerte kontrolliert und ein CT gemacht, ihn über Nacht zur Beobachtung in der Notaufnahme behalten, seine Medikamentendosis angepasst und ihn am nächsten Morgen nach Hause geschickt. Doch in dem kleinen Gemeindekrankenhaus ließen die Ärzte sich Zeit. Sie würden seine Medikation richtig einstellen und meine betagte Mutter schlafen lassen. Wie human.

Ich beruhigte meine Familie. Am nächsten Nachmittag, wenn er sich von den Folgen des Anfalls erholt haben würde und nach Hause gehen könnte, wollte ich vorbeischauen. Wahrscheinlich würde es ihm dann besser gehen als vorher. So schrecklich sie auch mit anzusehen sind – Grand-mal-Anfälle machen einen klaren Kopf. Mit der Elektrokrampftherapie, bei der Stromstöße durch das Gehirn gejagt werden, wird dieselbe Wirkung erzielt. Bei einem Grand-mal-Anfall werden alle Programme schlagartig heruntergefahren, und dann, ähnlich wie beim Neustart eines Computers, kommen die Funktionen eine nach der anderen zurück. Zuerst öffnet der Patient die Augen, dann bewegt sich sein Körper, dann lächelt er. Er findet die Sprache wieder, und dann das Gedächtnis. In gewisser Weise sind Grand-mal-Anfälle gut, denn alles wird neu geordnet und gespeichert. Hinterher ist alles klarer, rascher. Die Verbindungen stehen wieder.

Doch als ich das Einzelzimmer meines Vaters mit dem Blick auf die Berge und dem schönen natürlichen Licht betrat, war ich schockiert. Man hatte ihn an Hand- und Fußgelenken ans Bett fixiert, er war nicht ansprechbar, und am Bett hing ein Beutel mit blutigem Urin. Meine Mutter saß neben ihm, verängstigt und bleich.

Sie waren seit 68 Jahren zusammen, eine Art Romeo-und-Julia-Beziehung, wenn Sie sich vorstellen können, wie reizbar Romeo nach den ersten zwanzig Ehejahren geworden wäre, und wie herrisch, wie gestresst Julia auf alles im Leben reagiert hätte, was Romeo auf die Palme brachte, einschließlich sie selbst. Meine Mutter war immer noch schön, und auch mein Vater nach wie vor ein gutaussehender Mann. Weißes Haar, blaugraue Augen, die mal aufmerksam und skeptisch, mal schelmisch dreinschauten. Er achtete penibel auf sein Äußeres – Hemd, Krawatte und Jackett – und auf seine Umgangsformen: Noch immer hielt er Frauen die Tür auf, und wenn man mit ihm spazieren ging, lief er stets auf der Straßenseite des Gehwegs. Er war immer taff gewesen, hatte sich nie beklagt. Bis zu diesem Nachmittag hatte ich ihn niemals hilflos, ängstlich oder eingeschüchtert erlebt.

Ich verließ das Zimmer, um seinen Arzt beziehungsweise den diensthabenden Arzt zu suchen, der während dieser Schicht für ihn zuständig war. Dr. Jay saß allein im Stationszimmer und tippte etwas am Computer. Ich stellte mich ihm als Ärztin vor. Er hatte es eilig, weil noch weitere Patienten auf ihn warteten – eine Situation, die ich nur allzu gut kenne. Während er mit mir sprach, wandte er den Blick nicht vom Bildschirm ab.

»Ihr Vater wurde gestern Abend mit einem erstmaligen Krampf­anfall eingeliefert, und natürlich haben wir ihn stationär aufgenommen, um einen Schlaganfall auszuschließen. Sein CT war unauffällig, daher haben wir für morgen ein weiteres CT angesetzt. Wie Sie wissen, ist das erste CT nach einem Schlaganfall manchmal unauffällig.«

Ich war erstaunt. Es war nicht Vaters erster Anfall gewesen, sondern einer von vielen. Das war ein entscheidender Unterschied, denn bei einem Mann seines Alters rührt ein erstmaliger Anfall tatsächlich fast immer von einem Schlaganfall her, und in diesem Fall tritt automatisch das Stroke-Protokoll in Kraft. Dagegen bedeutet ein Krampfanfall bei jemandem mit einer Vorgeschichte von Anfällen in der Regel, dass er vergessen hat, seine Medikamente zu nehmen.

»Aber das ist nicht sein erster Anfall«, erklärte ich dem Arzt. »Er hat schon seit Jahren Anfälle.«

Dr. Jay hörte auf zu tippen. Jetzt sah er überrascht aus: »Ich bin mir sicher, ›erstmaliger Anfall‹ in seiner elektronischen Patientenakte gelesen zu haben … Warten Sie mal … Ah ja, hier steht es. Wusste ich’s doch. Der Aufnahmevermerk des Neurologen lautet: ›Erstmaliger Krampfanfall, Schlaganfall ausschließen‹.«

»Es ist aber nicht sein erster Anfall, sondern einer von vielen. Schauen Sie, auf seiner Allergie-Liste ist sogar eine Allergie gegen ein bestimmtes Antikonvulsivum vermerkt.« Ich deutete über seine Schulter hinweg auf den Bildschirm und zeigte ihm den Eintrag.

»Hmmm … ja, stimmt. In diesem Fall sollte ich die Diagnose ändern.«

Dr. Jay versuchte ziemlich lange, eine neue Diagnose einzugeben, schien aber mit dem Ergebnis nicht zufrieden zu sein. »Nun, wir werden ein weiteres CT machen. Manchmal sind Schlaganfälle beim ersten Scan nicht erkennbar.«

Ich ging zurück in Vaters Zimmer, um ihn mir nochmal anzuschauen. Vielleicht hatte ich etwas übersehen. Vielleicht hatte er ja zeitgleich mit dem Krampfanfall einen Schlaganfall gehabt.

Vater schlief. Er war allein. In seinem Arm steckte ein Infusionsschlauch, in seiner Blase ein Katheter, und ein Clip an seinem Finger übertrug die Blutdruckwerte und die Pulsfrequenz per Funk an einen Computer im Gang. Ich setzte mich ans Bett, und er öffnete die Augen. Er hatte nicht geschlafen, sondern nur so getan. Dann untersuchte ich ihn auf Anzeichen für einen Schlaganfall. Seine Pupillen waren gleich groß, Arme und Beine gleich kräftig, keine Veränderung im Gesicht. Natürlich war er schläfrig, schließlich erholte er sich noch von dem Anfall. Außerdem stand er unter dem Einfluss des Beruhigungsmittels, das man ihm verabreichte, und er hatte in der Nacht wenig geschlafen. Aber das war alles.

»Wann komme ich hier raus?«, fragte er mich.

»Bald. Sie wollen erst noch einen weiteren Gehirn-Scan machen.«

Ich wollte Dr. Jay nach dem Grund für den Katheter und die Vier-Punkt-Fixierung fragen, aber er war nicht mehr da. Weit und breit keine Pflegekraft, nicht einmal ein Pförtner war zur Stelle.

Vater hatte wieder eine schlechte Nacht. Er war unruhig, der Katheter tat ihm weh, und er versuchte ständig, ihn sich herauszuziehen. Daraufhin bekam er noch mehr Beruhigungsmittel verabreicht und man fixierte ihn wieder ans Bett. Das zweite CT war ebenfalls unauffällig, aber das Stroke-Protokoll wurde trotzdem fortgesetzt. Dr. Jays Versuche, die Schlaganfall-Diagnose zu ändern, waren offenbar erfolglos gewesen. Als ich meinen Vater am nächsten Nachmittag besuchte, war er immer noch fixiert, und der Katheter war immer noch drin. Er hatte jetzt einen Stoppelbart, war ungewaschen, erschöpft, durcheinander und allein. Und schwach. Wegen dem Schlaganfallverdacht hatte man ihm nichts zu essen gegeben, und er hatte seit zwei Tagen keine einzige Kalorie zu sich genommen.

»Wie komme ich hier raus?«, fragte er mich. »Kannst du mich losmachen? Sie geben mir nichts zu essen, sie haben mich festgebunden, ich kann mir nicht mal die Nase kratzen.«

»Du kommst hier raus, aber es wird eine Weile dauern. Wichtig ist jetzt: Wenn sie kommen und dich nach dem Datum und dem Ort fragen und von dir hören wollen, wer gerade Präsident der Vereinigten Staaten ist, hör auf, ihnen zu erzählen, es sei Millard Fillmore.2 Sie wissen nicht, wer das ist, und sie merken nicht, dass du sie auf den Arm nimmst. Sie denken, du seist verrückt.«

Er sah mich mit seinen blauen Augen an, die immer noch funkeln konnten. »Okay.«

Später sah ich in seiner elektronischen Patientenakte, dass niemand gekommen war, um ihn nach dem Datum, dem Ort oder dem Präsidenten zu fragen. Ärzte, Pfleger, Therapeuten – alle warfen nur einen kurzen Blick durch die Tür, sahen einen unrasierten alten Mann, der ans Bett gegurtet war, und kreuzten auf ihrer Checkliste »verwirrt« an.

Jeden Tag war ein anderer Arzt zuständig, der dem Stroke-Protokoll folgte, obwohl Vater keinen Schlaganfall gehabt hatte. Die Logopädin kam immer morgens, wenn er noch benommen war von den Beruhigungsmitteln der Nacht, und fand, dass eine orale Nahrungsaufnahme zu gefährlich sei. Der Physiotherapeut kam vorbei und hielt es für zu riskant, ihn aufstehen zu lassen. Aspirin, Blutverdünner und Blutdruckmittel, das volle Programm. Die Qualitätssicherung wäre zufrieden gewesen – hätte er einen Schlaganfall gehabt.

Am Donnerstag, als man im Krankenhaus begann, sich auf die Entlassungen am Freitag vorzubereiten – dass es ein Feiertag war, spielte keine Rolle –, traf ich zum ersten Mal jemanden in Vaters Zimmer an. Es war auch die erste Person, die einen weißen Kittel trug. Sie hielt ein Klemmbrett in den Händen und wirkte wichtig.

Vater sei sehr krank, erklärte sie mir (»Schlaganfall«), und er dürfe oral keine Nahrung zu sich nehmen, die Familie solle sich also über eine Magensonde Gedanken machen. Er könne nicht nach Hause entlassen werden. Stattdessen empfahl sie, ihn am nächsten Tag in eine Reha-Einrichtung zu entlassen.

Wer sie sei, wollte ich wissen.

Die Qualitätssicherungsmanagerin, antwortete sie und streckte mir die Hand entgegen. Freut mich, Sie kennenzulernen. Ihr Vater. Schlaganfall. So traurig. Sie schüttelte mitfühlend den Kopf und verschwand.

Am nächsten Tag wurde Vater in die Reha-Einrichtung gebracht, ohne Fixierung, weswegen man das Beruhigungsmittel absetzen konnte. Er fing an aufzuwachen, lief mit einem Rollator herum und aß das pürierte Essen, das man ihm jetzt gab. Den Katheter hatte er immer noch, weil niemand anordnete, ihn zu entfernen. Er tat ihm weh und er wollte ihn loswerden, und am Montag zog er ihn selbst heraus und brach dann zusammen.

Als ich ihn ein paar Stunden später in der Notaufnahme sah, gab ich ihm eine fünfzigprozentige Überlebenschance.

Sein Blutdruck war niedrig, er war fahl, kaum ansprechbar und hatte offensichtlich eine Sepsis, da Bakterien in sein Blut gelangt waren. Dann wurde er auf die Step-Down-Unit der Intensivstation verlegt, wo die intensivmedizinische Überwachung heruntergefahren wurde, mit drei verschiedenen Antibiotika, dem Katheter wieder an Ort und Stelle, und als Schlaganfall-Patient, der nichts essen durfte. Obwohl er keinen Schlaganfall gehabt hatte. Offenbar war niemand in der Lage gewesen, die ursprüngliche Diagnose in der elektronischen Patientenakte zu ändern: »Erstmaliger Anfall, Schlaganfall ausschließen«. Also keine orale Nahrung, Salzlösung in die Venen, ans Bett fixiert und sediert.

Ich habe drei Schwestern, zwei von ihnen wachten abwechselnd an Vaters Bett. Schließlich reist auch die dritte Schwester, die Anwältin, an. Sie warf einen einzigen Blick auf ihn und zog zu ihm ins Krankenzimmer. Auf diese Weise erfuhren wir, was alles nicht gemacht wurde: Niemand half ihm beim Essen, niemand kümmerte sich um ihn, ganz zu schweigen davon, dass sich niemand darum bemühte, die richtige Diagnose und Behandlung zu finden. Was sollten wir tun?

Wir hielten eine Familienkonferenz ab.

Die Situation verschlechterte sich zusehends, darin waren wir uns einig. Wir mussten Vater so schnell wie möglich aus dem Krankenhaus holen und ihn schleunigst von dem Katheter, den Gurten und den Beruhigungsmitteln befreien. Aber wie?

Es gab nur eine einzige Möglichkeit, um unseren Vater zu retten: das Hospiz. Wir mussten den Arzt, der gerade Dienst hatte, davon überzeugen, dass die Familie zu dem Schluss gekommen war, Vater sterben zu lassen. Andernfalls würde die nächste Station des Todes-Express eine Clostridium difficile-Infektion sein, infolge der Antibiotika, die ihm wegen der Blutvergiftung durch den Katheter, den er nicht benötigte, verabreicht wurden, gefolgt von einem Druckgeschwür, einem Pflegeheim und einem langen, kostspieligen Dahinsiechen.

Am nächsten Morgen machte ich den diensthabenden Arzt ausfindig. Zufällig war es Dr. Jay, sein erster Arzt. Offenbar hatte der Zwölf-Stunden-Rhythmus, in dem sich die Ärzte abwechselten, gewollt, dass er wieder an der Reihe war.

»Wir haben gestern Abend eine Familienkonferenz abgehalten«, setzte ich an. Klinikärzte haben eine Schwäche für Familienkonferenzen, das wusste ich. »Wir haben Vaters Situation besprochen und sind uns einig: Er ist dreiundneunzig, er hatte ein gutes Leben; es ist Zeit. Daher haben wir beschlossen, ihn nach Hause zu holen. Er wird rund um die Uhr versorgt, und meine Schwester, die Anwältin, spricht gerade mit dem Hospizdienst.«

Dr. Jay hob den Blick vom Computer und sah mich an. Er runzelte die Stirn. Doch dann begann er, die Entlassungsanweisungen auszufüllen. »Wissen Sie, ich würde das nicht erlauben, wenn Sie den Hospizdienst nicht hinzuziehen würden.«

»Ja, natürlich.«

»Er braucht noch zwei Tage Antibiotika, intravenös.«

»Okay.«

Er seufzte. Er glaubte mir nicht.

Ich lauschte dem Klicken der Tastatur, während er schrieb. Katheter absetzen. Fixierung absetzen. Beruhigungsmittel, Infusionen, Sauerstoff und pürierte Kost absetzen. Patienten entlassen. Endlich!

Fünf Stunden später brachte ein Krankenwagen Vater nach Hause. Man rollte ihn auf einer Transportliege ins Haus, und er bat um ein Steak und ein Glas Bier. Er habe Hunger, sagte er, denn in diesem Krankenhaus hätten sie ihm nichts zu essen gegeben, nicht ein einziges Mal! Er aß das Steak und trank das Bier, ohne Probleme.

Dann kamen die Leute vom Hospiz. Sie taten alles, was das Krankenhaus nicht getan hatte. Sie sahen Vater an und berührten ihn. Sie setzten sich an sein Bett. Sie sprachen mit Mutter. Sie machten sich ein Bild von uns und kamen zu dem Schluss, dass Vater in nächster Zeit nicht sterben würde. Dann taten sie etwas sehr Humanes und Kluges. Sie gestanden ihm zwei Monate Hospizdienst zu, bis er sich von seinem beinahe tödlichen Klinikaufenthalt erholt hatte und wieder der war, der er vorher gewesen war. Sie waren der lebende Beweis dafür, dass die Gesundheitsversorgung nicht an den Akteuren krankte, sondern an etwas anderem.

Mir war schon geraume Zeit aufgefallen, dass das Gesundheitswesen immer bürokratischer wurde. Dass Ärzte und Pfleger immer weniger Zeit für ihre Patienten hatten. Dass sie immer mehr Zeit am Computer verbrachten, um ihn mit Daten zu füttern. Das wusste ich aus eigener Erfahrung. Aber bis zu dem Erlebnis mit meinem Vater hatte ich keine Ahnung, wie schlimm es tatsächlich stand. Wenn ich als Ärztin keine angemessene Versorgung eines Familienmitglieds in einem netten kleinen Gemeindekrankenhaus mit gut ausgebildetem Personal hinbekam, würde das auch sonst niemandem gelingen!

Was war mit der Medizin und der Pflege geschehen, fragte ich mich.

Um das herauszufinden, forderte ich Vaters Patientenakte an und machte mich daran, sein Nahtoderlebnis unter die Lupe zu nehmen.

Die Akte war achthundertzwölf Seiten lang, und ich brauchte mehr als vier Stunden, um sie zu lesen. Sie begann nicht etwa mit den Aufzeichnungen der Ärzte, sondern mit Hunderten von Seiten Arzneimitteldokumentation und Bestellungen in der Krankenhausapotheke, gefolgt von der Pflegedokumentation, die ebenfalls mehrere hundert Seiten umfasste und lediglich aus angekreuzten Kästchen bestand. Nur die Einträge der Ärzte waren ausformuliert. Kein Wunder also, dass niemand dahintergekommen war, was Vater fehlte. Ich fand ein paar Fehler, aber fairerweise musste ich zugeben: Vater war ja entlassen worden, und selbst wenn er zwei weitere Tage im Krankenhaus geblieben wäre, wie ursprünglich vorgesehen, hätte er das wahrscheinlich überlebt. Möglicherweise hätte er sich ein Druckgeschwür zugezogen oder wäre gestürzt. Doch seiner elektronischen Patientenakte nach zu urteilen, war sein Krankenhausaufenthalt zu hundert Prozent qualitätsgesichert gewesen.

Trotzdem: irgendetwas fehlte. Was genau, war schwer auszumachen.

Auf dem Computerbildschirm sah alles so gut aus. Und doch – was mein Vater bekommen hatte, war keine Medizin, sondern Gesundheitsversorgung. Medizin ohne Seele.

Was meine ich mit Seele?

Ich meine das, was Vater nicht bekommen hatte.

Präsenz, Aufmerksamkeit, Urteilsvermögen.

Freundlichkeit.

Und vor allem: Verantwortung. Niemand übernahm die Verantwortung für die Geschichte. Das Kernstück der Medizin ist die Geschichte. Es geht darum, die richtige Geschichte zu finden, die wahre Geschichte zu verstehen – unzufrieden zu sein mit einer Geschichte, die keinen Sinn ergibt. Die Gesundheitsversorgung dagegen zerlegt die Geschichte in Tausende winzige Einzelteile, Hunderte von Seiten mit angekreuzten Kästchen und Häkchen, für die niemand verantwortlich ist.

Ebenso gut hätte sich ein Roboter-Arzt um Vater kümmern können.

Was meinem Vater passiert ist, ist nur ein Beispiel dafür, wie Medizin heutzutage praktiziert wird beziehungsweise wie Gesundheitsversorgung abläuft. Nicht allen Zivilisationen lag die Gesundheit ihrer Bürger am Herzen. Unserer schon. Wir geben in den USA 17,5 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts für unsere Gesundheit aus, in Deutschland, Österreich und der Schweiz sind es etwa 11 Prozent – 17,5 beziehungsweise 11 Prozent unserer Energie und Ressourcen. Und doch haben wir letztendlich ein Gesundheitssystem, das einem nur dann eine gute medizinische Betreuung angedeihen lässt, wenn man zum Sterben nach Hause geht.

Auf den ersten Blick machte das Krankenhaus, in dem mein Vater behandelt wurde, einen hervorragenden Eindruck: Auf der netten Webseite hieß es, man lege Wert darauf, »den Patienten ganzheitlich« zu behandeln. Viele der Mitarbeiter hatten sogar mein Buch God’s Hotel gelesen.3 Darin schildere ich meine Erfahrungen als Ärztin in einem ungewöhnlichen Krankenhaus in San Francisco. Den Titel God’s Hotel habe ich gewählt, weil Krankenhäuser im Mittelalter so genannt wurden: Hôtel-Dieu, »Herberge Gottes«. Der Wandel der Medizin hin zur Gesundheitsversorgung vollzog sich, während ich dort war, und das Buch sollte eine Warnung sein: Lasst nicht zu, dass eurem Krankenhaus, eurem Arzt, dasselbe wiederfährt. Einige Mitarbeiter der Station, auf der mein Vater lag, hatten mich auf das Buch angesprochen, und der Chef­arzt hatte mich sogar um ein signiertes Exemplar gebeten. Nichtsdestotrotz erhielt mein Vater nicht die Pflege, von der die Ärzte, die Pflegekräfte, ja sogar die Marketingleute inzwischen wissen, dass die Menschen sie brauchen.

Die Erfahrung war ein Schock für mich. Sie machte mir deutlich, wie sehr sich meine eigene Version von Medizin von der inzwischen gängigen Praxis unterscheidet. Unter »Version« verstehe ich das Körpermodell, das wir Ärzte und Pfleger uns machen. Aus ihm ergeben sich die komplexen Vorstellungen über unseren Körper – und damit auch bestimmte Ideen über Heilung.

Meine eigene Version von Medizin nahm bereits während des Studiums Formen an. Damals lehrte man uns die moderne Medizin: Diese basierte auf der Vorstellung, der Körper sei eine Maschine beziehungsweise eine Ansammlung von Maschinen. Das Gehirn ist ein Computer, das Herz eine Pumpe, die Lungen sind Balge, die Nieren eine Filtervorrichtung. Folglich sind Erkrankungen Maschinenschäden und Ärzte sind Mechaniker, deren Aufgabe es ist, herauszufinden, was kaputt ist, um den Schaden zu beheben. Entsprechend fokussiert ist das Heilungskonzept, das sich aus diesem Modell ableitet: Es geht darum, die Maschine auseinanderzunehmen und in sie hineinzuschauen – reduktionistisch, linear und Schritt für Schritt. Es ist ein äußerst wirkmächtiges Verständnis des Körpers, das die unglaublichen Fortschritte der modernen Medizin im Grunde erst möglich gemacht hat. Und ich nutze es nach wie vor.

Doch als ich begann, Patienten zu behandeln, wurde mir klar, dass diese Vorstellung vom Körper Grenzen hat. Sie erklärte einiges, aber nicht, warum Patienten mitunter von allein genesen. Oder warum es so wichtig ist, eine Beziehung zum Patienten aufzubauen. Oder warum Zeit oft eine heilende Wirkung hat.

Ich fing an, mich nach einem anderen Modell umzusehen, um meine Patienten besser zu verstehen, und ich wurde in der Medizin der Vormoderne fündig. Damals begriff man den Körper noch als Gewächs, als Pflanze. In dieser Vorstellung sind Krankheiten Ausdruck einer mangelnden Übereinstimmung zwischen innerem Körper und äußerer Welt. Der Arzt lässt sich dort am ehesten mit einem umtriebigen Gärtner vergleichen, der dieses und jenes ausprobiert. Dieses Heilungskonzept ist diffus und global. Es betrachtet den Patienten im Kontext seiner Umgebung. Es verändert, was verändert werden kann, es räumt beiseite, was den Patienten daran hindert, von allein gesund zu werden. Im Laufe der Zeit habe ich meine Version von Medizin um dieses Modell erweitert.

Die Medizin, die ich bei meinem Vater erlebt habe, war dem diametral entgegengesetzt.

Sie sieht den gesamten Körper als Computer beziehungsweise eine Ansammlung von Computern, sprich: unserer Zellen. Erkrankungen sind Fehler im Betriebssystem dieser Zellen – unseres DNA-Codes –, und Heilung heißt, diesen fehlerhaften Code zu finden und umzuschreiben. Der Arzt muss also Daten sammeln und Programme schreiben, und der Patient liefert die Daten. Der Körper ist lediglich eine Schnittstelle, ein Bildschirm, die äußere Repräsentation eines inneren Codes. Heilung erfolgt aus der Distanz, ganz ohne Berührung. Sie erfolgt nach Schema F, analytisch und seelenlos.

Ich weiß nicht, inwieweit sich diese Version der Medizin als erfolgreich erweisen wird. Fest steht: So nützlich es sein kann, sich den Körper mal als Maschine, mal als Pflanze, mal als Computer vorzustellen – der Körper des Patienten ist nichts von alledem. Er ist nicht einfach nur ein bisschen komplizierter als eine Maschine, eine Pflanze oder ein Computer: Er ist anders als alles, was wir uns vorstellen können. Das einzige Modell, das ihn so darstellen könnte, wie er wirklich ist, wäre er selbst.

Die Art und Weise, wie dieser reale Körper heilt, ist rätselhaft. Der Weg der Heilung ist eher induktiv als deduktiv, ineinandergreifend. Bei dieser Art von Heilung findet ein Geben und Nehmen zwischen Körper und Pflegendem, zwischen Patient und Arzt statt – eine Wechselwirkung zwischen jedem Organ, jeder Zelle und jedem Prozess. Nur langsam entwickelte ich ein Gespür dafür. Es hat viele Jahre gebraucht, in denen ich mit Patienten umging, zusah, beobachtete und praktizierte. Ich kannte das Prinzip, ich wandte es an, aber lange Zeit dachte ich nicht darüber nach. In Worte konnte ich es ebenfalls nicht fassen.

Und dann kam die Slow-Food-Bewegung auf.

»Slow Food« – diese Gegenkultur, die sich so grundlegend von unserer schnellen, zielorientierten Kultur des Wegwerfkonsums unterscheidet. Genau wie der Körper, den ich kennengelernt hatte, war »Slow Food« subtil und relational. Es ging nicht um das Ziel, sondern um den Weg, der zum Ziel führt: die Erkenntnis, dass die Qualität der Zutaten und die Herangehensweise das Ziel bestimmen, und dass der Weg zu etwas die Art und Weise sein muss, wie man ihn beschreitet.

Erst jetzt konnte ich der mir vertrauten Version von Medizin einen Namen geben.

Es war »Slow Medicine«.

Ich war nicht die Erste und auch nicht die Einzige, der dieses Konzept in den Sinn kam. Überall auf der Welt haben Menschen unabhängig voneinander die Slow Medicine entdeckt. Sie liegt in der Luft und ist ein wichtiges Zukunftsmodell, mit dem wir uns alle befassen sollten.

In diesem Buch habe ich Momente gesammelt, in denen sich mir ein Element, eine Facette dieses Wegs der Heilung eröffnete. Ein Arzt, der seine Hände – seine heilenden Hände – mit einem Lächeln emporhält. Eine Krankenschwester, die im Begriff ist, sich ins Auto zu setzen und ein Leben zu retten. Ein Patient, bei dem ich ein Aneurysma entdecke, das jederzeit hätte tödlich sein können, und das er nach der OP in einem Einmachglas aufbewahrte, um es mir zum Geschenk zu machen – all das ist beispielhaft für Slow Medicine. Nicht einfach nur Seele, sondern auch Übung, Wissen, harte Arbeit, Logik und Methode.

Ich möchte meine Erfahrungen mit Ihnen teilen und ich glaube, dass Sie zu dem gleichen Schluss gelangen werden. Wir müssen unser Gesundheitssystem nicht neu erfinden oder vollständig umkrempeln. Wir müssen überhaupt nicht viel tun. Eigentlich ist es ganz einfach. Wir müssen nur eine Sichtweise hinzufügen und das Tempo verändern.

Es hat viele Jahre und ebenso viele Abenteuer gebraucht, und ich bin darauf gestoßen, noch bevor meine Suche begann. Weil niemand, am allerwenigsten ich selbst, je damit gerechnet hätte, dass ich einmal diesen Weg einschlagen würde. Es begann lange bevor ich Ärztin wurde, als alles anfing zu brodeln und die ersten Blasen auf einem ganz besonderen Gebräu erschienen.

Das Konzept war noch nicht erfunden, als ich meine erste Kostprobe von Slow bekam.

1Krampfanfälle wirken beängstigend, hinterlassen aber meist keine Schäden. Zwei Publikationen befassen sich mit diesem Thema: J. Engel Jr. (2002). So what can we conclude – do seizures damage the brain? Progress in Brain Research 135, S. 509–512; und Johanna Palmio (2009). Seizure-Related Neuronal Injury: A Study of Neuron-Specific Enolase, S-100b Protein and Tau Protein. Dissertation, Universität Tampere (Finnland). Beide kommen zu dem Schluss, dass es keine Belege für Hirnschädigungen durch einzelne Anfälle gibt.

2 Anm. d. Übers.: Millard Fillmore war der 13. Präsident der Vereinigten Staaten (1850–1853) und Mitglied der Whig-Partei.

3 Anm. d. Übers.: Victoria Sweet (2012). God’s Hotel: A Doctor, a Hospital and a Pilgrimage to the Heart of Medicine. New York: Riverhead Books.

Kapitel 1 An der Schwelle zum Zeitalter des Wassermanns

Es begann zu einer außergewöhnlichen Zeit.

Natürlich ist jede Zeit außergewöhnlich, einzigartig, weil sie sich nie wiederholt, aber in diesem Fall waren Zeitpunkt und Ort ganz besonders kurios. Eine Revolution braute sich zusammen, und ich war mitten drin, ohne es zu wissen. Gleich um die Ecke meiner Universität war Xerox Parc, wo Steve Jobs von einer Maus bezaubert war und von Heimcomputern träumte. Dreißig Meilen weiter nördlich befand sich die Haight Ashbury mit ihren Hippies und ihrer Gegenkultur, einer Revolution der Farben und Gerüche, des Sex und des Stils. Vierzig Meilen östlich war Berkeley, wo Studenten Parks besetzten und radikale Forderungen stellten, und vierzig Meilen südlich lag Santa Cruz, wo gerade die Naturkostbewegung aufkam.

Ich ging aufs College und lebte in einem ziemlich merkwürdigen Haus, das meine Art und Weise, die Dinge zu sehen, für den Rest meines Lebens beeinflussen sollte.

Davor hatte ich in einem Studentenwohnheim gewohnt, bis die Universität – ein erstes Anzeichen der Umbrüche – die Vorschrift abschaffte, dass Studentinnen auf dem Campus wohnen und vor Mitternacht zu Hause sein mussten und männliche Besucher nur unten in der Halle treffen durften. Daraufhin schaute ich mich nach einer anderen Bleibe um, und fand sie am schwarzen Brett des Studentenwerks.

»Amerikanische Familie, vor Kurzem aus der Schweiz zurückgekehrt, sucht Studentin zur Untermiete.«

Ich rief an und vereinbarte einen Termin, um mir das Zimmer anzusehen und die Familie kennenzulernen.

Das Haus lag in den Hügeln, nur fünf Meilen vom Campus entfernt, dort, wo die Reichen in einem ländlichen Simulacrum lebten, bodenständig und teuer. Drei Pferde grasten auf der Weide neben dem Privatweg, der zum Haus führte, und in der Einfahrt scharrten ein paar Hühner. Jane, die Ehefrau, öffnete mir die Tür, und dann führte sie mich herum und zeigte mir das Haus.

Ein Schüler von Frank Lloyd Wright hatte es gebaut, erzählte sie mir, und es war ausladend, ganz aus Lehmziegeln und Holz errichtet, mit freiliegenden Balken, Fußbodenheizung im roten Zementboden und einem enormen Kamin mit eingemauerten Sitzmöglichkeiten. Der Architekt hatte eine alte Eiche stehen lassen und das Haus um sie herum gebaut, so dass der Baum mitten im Wohnzimmer stand und durch das Dach in den Himmel ragte. Jane führte mich in den Garten, wo Zucchini und Tomaten zwischen Rosen wuchsen, und dann zur Rückseite des Hauses, wo sich das Zimmer befand, das sie vermieten wollten. Es gab ein schwedisches Bett mit Lattenrost, eine Dusche, in der man sitzen konnte, und eine Veranda aus Teakdielen mit Blick auf das Küstengebirge. Es war exotisch und ruhig, und ich nahm es.

 

In diesem Haus wurde ich zu einer Art Hippie.

»Eine Art«, weil es ein wohlhabendes Haus in der Nähe der feinen Universität war, die ich besuchte, weil meine Eltern mich finanziell unterstützten und ich keine Drogen nahm. »Hippie«, weil wir experimentierten.

Die Neumanns waren gerade erst aus der Schweiz zurückgekommen, wo sie zwölf Jahre lang gelebt hatten, und die drei Töchter waren zwar Amerikanerinnen, sprachen aber Englisch mit einem schweizerdeutschen Akzent. Und sie hatten sich die schweizerische Lebensart angeeignet: Montags wurde gewaschen, dienstags gebügelt, mittwochs gebohnert. Außerdem hatten sie Essensvorräte für ein halbes Jahr aus der Schweiz mitgebracht, darunter große Behälter mit Weizen, Roggen und Bohnen, die in der Garage lagerten.

Was sie ebenfalls mitgebracht hatten, war eine bestimmte Perspektive auf die Welt – das, was man in Frankreich longue durée (»lange Dauer«) nennt –, und die war ganz anders als meine amerikanische Perspektive. Aus ihrer Sicht waren die Römer vor nicht allzu langer Zeit durch die Welt gezogen, und das Mittelalter war erst seit Kurzem vorüber. Renaissance, Reformation, Aufklärung – alles hatte sich erst erst neulich ereignet, und Amerika war nichts weiter als ein rätselhaftes kurzes Flackern auf dem Radar. In dieser Weltsicht testete man jedes neue Zeitalter, behielt die Dinge bei, die funktionierten, und verwarf den Rest. Was funktionierte, wurde kurzerhand zu den älteren Konzepten hinzugefügt. Mir wurde klar, dass viele dieser Konzepte auf bemerkenswerte Weise den neuen Ansätzen ähnelten, die Amerikaner gerade entdeckten: Naturkost, meditative Spiritualität, politische Aufsässigkeit. Die Kongruenz von richtigem, erfüllendem und glücklichem Leben.

Jane war die »Mom«. Sie stammte aus einer alten kalifornischen Familie und war durch und durch Amerikanerin. Eigentlich hatte sie Biologin werden wollen, doch dann heiratete sie Walter und wurde stattdessen Ehefrau. In der Schweiz war aus ihr eine perfekte Hausfrau geworden, die die Recycling-Vorschriften befolgte, die in der Schweiz schon damals galten. Nicht, weil es ein Gesetz gab, das den Schweizern das Recyceln vorschrieb, sondern weil das Recyceln der sparsamen Mentalität der Schweizer entsprach. Es war Verschwendung, etwas wegzuwerfen, das man noch verwerten konnte, erklärte sie mir. Jeder Schweizer Haushalt besaß sechs verschiedene Sammelbehälter: einen für weißes Glas, einen für grünes Glas, einen für Glas, das weder weiß noch grün war, einen für Papier, einen für Kompost und einen für Restmüll. Die Nachbarn wussten genau, wie viel Abfall sich in jedem dieser Behälter befand. Sie wussten auch, ob man montags Wäsche wusch, dienstags bügelte und mittwochs die Böden bohnerte.

Die Neumanns hatten in Küsnacht am Zürichsee gelebt. C. G. Jung wohnte ein paar Straßen weiter, und Marie-Louise von Franz, Jungs bekannteste Schülerin, hatte Jane persönlich analysiert. Jane war brillant, aber vage, schwer greifbar. Sie war wie der Vogel, der eines Tages ins Haus flog und bei dem Versuch, wieder herauszufinden, gegen jede Fensterscheibe prallte.

Was sie zu dem Haus gebracht hatte, war eine bestimmte Einstellung – vielleicht war sie schweizerisch, vielleicht von Jung inspiriert, vielleicht war es die ihrer Großeltern, vielleicht auch ihre ganz eigene. Auf jeden Fall war es das, was wir später als Slow bezeichnen würden. Dazu gehörten indische Gurus und meine erste Biokost. Wenn ich von der Uni nach Hause kam, saß der neueste Guru am Tisch unter der Eiche, umgeben von seinen Jüngern und dem Duft von Curry und Räucherstäbchen, von Bohnerwachs und frisch gewaschener Wäsche. Jane war die Königin, der Mond, ein extrovertierter Gefühlsmensch.

Logischerweise war Walter, ihr Mann, ein introvertierter Kopfmensch. Er war groß und dünn und seine Haare wurden grau. Sein dicker Schnauzbart war schon ganz weiß, und er fuhr mit dem Fahrrad zur Arbeit: Er war Bioingenieur bei einem der ersten High-Tech-Unternehmen im Silicon Valley, das elektromagnetische Geräte entwickelte. Eines Abends kam er nach Hause und erklärte uns, wie die neue Technologie, an der er arbeitete, die Landwirtschaft revolutionieren würde. Eine grüne Revolution würde die Ernährungsprobleme der Welt lösen, meinte er, weil das NMR-MRI-Gerät, das sie erfunden hatten, den Proteingehalt von Saatgut bestimmen konnte, ohne es zu schädigen. Jane, der Guru und die Jünger hörten freundlich zu und kehrten dann zu ihrem eigentlichen Thema zurück: ob die Seele unabhängig vom Körper existieren kann. Vielleicht war das der Grund, weshalb Steven im Nebenberuf Sandalen anfertigte. Er saß auf seiner Holzbank, schnitt das Leder zu und bearbeitete es mit einem Pfriem, bevor er die Teile zusammennähte. Wie er da auf der Bank saß, die langen dünnen Beine von sich gestreckt, sah er aus wie Geppetto, der Schöpfer von Pinocchio, und anstelle von luftigen Worten hatte man am Ende ein handfestes Paar Sandalen, die so lange hielten, bis man sie verlor.

Nan war die mittlere Tochter. Sie hatte ein fröhliches Gesicht und makellose, schneeweiße Haut, die nie mit der Sonne in Berührung gekommen zu sein schien, glatte schwarze Haare und hellwache, sehr blaue Augen. Sie war groß, gesund und jung, und dank ihr kam ich zum ersten Mal in den Genuss von Slow.

Sie schöpfte aus den Weizen-, Roggen- und Bohnenvorräten und dachte sich Rezepte für Brot aus. Sie mahlte den Weizen und den Roggen, und manchmal fügte sie Nüsse, Kreuzkümmel oder sogar roten Pfeffer hinzu. Dieses Mal hatte sie nicht einmal Hefe verwendet.

Ich saß am Tisch und sah ihr zu, wie sie das grobe Mehl mit ihren Händen knetete. Erst bearbeitete sie in aller Ruhe den Teig, dann formte sie ihn zu einem Laib und steckte ihn in den Ofen. Ohne Hefe ging er natürlich nicht auf, aber sein Duft erfüllte die Küche und lockte aus jedem Winkel des Hauses Leute an.

Schließlich nahm Nan das Brot aus dem Ofen. Es war klein, kompakt und primitiv, und ich hatte noch nie solches Brot gesehen. Das einzige Brot, das ich kannte, war das in Plastik abgepackte »Wonder Bread«. Ich sah zu, wie sie den Laib in sehr dünne Scheiben schnitt, und dann bestrichen wir die Scheiben mit der Butter, die Nan mit der Sahne hergestellt hatte, die Jane immer von einer entlegenen Biomolkerei mitbrachte. Nie zuvor hatte ich etwas Vergleichbares gekostet. Es war grobkörnig, salzig, pfeffrig. Es hatte viele Aromen, und ich brauchte lange, um es zu kauen. Da verstand ich plötzlich warum in der Bibel vom »täglichen Brot« die Rede ist, während mir alle Diäten, die ich kannte, weismachen wollten, Brot sei ungesund. Ich nehme an, die Bibel hatte nicht »Wonder Bread« im Sinn, sondern Nans Brot. Für Ernährungswissenschaftler mag der Unterschied zwischen den beiden Brotarten im Preis und im Nährstoffgehalt liegen, aber für meinen Gaumen waren die beiden schlichtweg nicht vergleichbar.

Das war meine erste Kostprobe von Slow.

 

Meg, die zweite Tochter, lernte ich kennen, als sie nach Hause zurückkehrte. Sie war mit ihrem Freund Peter, der als Militärarzt in Vietnam gewesen war, durchgebrannt, aber ein paar Monate, nachdem ich eingezogen war, teilte Jane mir mit, Meg sei schwanger und würde wieder in ihr altes Zimmer ziehen (nämlich mein Zimmer) und das Kind auf der Veranda zur Welt bringen oder, bei schlechtem Wetter, im Bett. Und so kam es dann auch, schneller als mir lieb war.

Ich hatte also kein Zimmer mehr, wollte aber nicht gehen. Der Ort war ein Master-Studiengang in Sachen Zukunft. Mit indischen Gurus, biologischem Essen und Walters neuen Technologien. Wir diskutierten beim Abendessen über Physik, Politik und die Zeit, über Wehrdienstverweigerung, zivilen Ungehorsam und Propaganda der Regierungen. Es gab die Marihuana-Brownies und Steve Jobs’ kleinen Kasten, mit dem man umsonst telefonieren konnte. Die Pferde, die Hühner und unsere eigenen Eier. Wir lebten vegetarisch. Walter war ein Weinexperte. Ich wollte nicht weg.

Ich überlegte, wo ich schlafen konnte, und probierte es schließlich auf dem Dach, das dank Frank Lloyd Wrights Architekten-­Schülers flach war. Von dort oben blickte man ebenfalls auf die Berge am Meer, und es gab noch eine Art Vordach, unter dem ich schlafen konnte, wenn es regnete. Ich lebte dort, bis ich das College abschloss. Wie sich herausstellte, war es ein wundervoller Schlafplatz, denn ich konnte die ganze Nacht beobachten, wie die Sterne über den Himmel wanderten, und das hatte ich nie zuvor gesehen.

Walter lehrte mich die Sternzeichen, die er kannte, und eines Nachts erklärte er mir die »Präzession der Äquinoktien«. Wegen der Krümmung der Erdachse verschiebt sich der Himmel jedes Jahr gen Osten, und zwar um ein Grad alle 70 Jahre, um 30 Grad alle 2000 Jahre und um 360 Grad (also einen vollen Umlauf) alle 26 000 Jahre, was die Menschen der Antike als »Platonisches Jahr« bezeichneten.1 Sie haben die Verschiebung des Frühlingspunktes im Verhältnis zu den jeweiligen Tierkreiszeichen gemessen. Es gibt zwölf solcher Tierkreiszeichen, und jedes nimmt einen Abschnitt von 30 Grad ein, mit dem Ergebnis, dass alle 2000 Jahre ein neues Tierkreiszeichen erscheint. Die vorherrschende Konstellation, so die Annahme, prägt die gesamten 2000 Jahre.

Bei uns waren es die Fische. Walter zeigte mir die beiden blassen Sterne, in denen die antiken Astronomen zwei Fische sahen, die in entgegengesetzte Richtungen schwammen. Aus diesem Grund, meinte er, seien Gegensätzlichkeit, Zerrissenheit und Krieg typisch für dieses Tierkreiszeichen, weswegen unser Zeitalter, das Zeitalter der Fische, durch Widersprüche gekennzeichnet sei. Allerdings würde nun langsam das Zeichen des Wassermanns am Horizont erscheinen und ein neues Zeitalter einläuten, mit anderen Stärken und Schwächen.

Während dieser Nächte auf dem Dach wachte ich häufig auf und blickte in den Sternenhimmel. Und so konnte ich selbst beobachten, wie der Große Wagen gleich den Zeigern einer Uhr um den Polarstern kreiste, und wie sich die Planeten entlang der Ekliptik bewegten. Ich konnte mit eigenen Augen beobachten, dass Venus ein paar Jahre lang der Morgenstern am Winterhimmel und der Abendstern am Frühlingshimmel war, während es sich in anderen Jahren genau umgekehrt verhielt, und in diesen Jahren wusste ich immer, wo Mars, Saturn, Jupiter und Merkur gerade standen. Am Mond konnte ich ablesen, welchen Tag im Monat wir hatten, und an den Sternen, wie weit die Nacht fortgeschritten war.

Das mag überholt und altmodisch klingen, ist es aber nicht. Die Erkenntnis, dass der Himmel eine besondere Art von Zeit schafft – keine lineare, wissenschaftliche, progressive Zeit, sondern eine zirkuläre, eine, die am Wechsel der Jahreszeiten und am Fruchtwechsel ausgerichtet ist –, würde für mich später entscheidend sein, als ich Hildegard von Bingen und das mittelalterliche Verständnis des Kosmos entdeckte. Dieses Verständnis ist nicht linear, sondern zirkulär, wie die Jahreszeiten, und wir ticken noch immer nach dieser Zeit – eine revolutionäre Zeit im Sinne des lateinischen revolvere: zurückkehren, umkehren.

 

Meg brachte ihr Kind zur Welt, aber nicht auf der Veranda, sondern in meinem ehemaligen Zimmer.

Morgens stand sie auf und kündigte an, das Baby würde heute zur Welt kommen. Dann wusch sie mein Auto. Dann ging sie in mein Zimmer zurück und legte sich zusammen mit Peter aufs Bett. Wir warteten mit ihnen, und nach etwa zwei Stunden ließ Peter sie mit dem Pressen beginnen. Sie presste, und zu meiner großen Überraschung erschien sofort etwas Schwarzes zwischen ihren Beinen, und zwei Presswehen weiter ein komplettes Baby, ein winziges Mädchen, dem Peter keinen Klaps gab, damit es schrie, und das überhaupt nicht schrie und trotzdem sehr gut ­atmete.

Es war überwältigend. Als würde ein Kaninchen aus einem Zylinder gezaubert werden. Erst war nichts da, und dann war da etwas. Das winzige Ding war mit einer Art Schleimschicht bedeckt, und Jane nahm es, wusch es und legte es nackt neben Meg.

Dann kam die Nachgeburt. Meg hatte gehört, dass ein paar Leute in Berkeley, die eigentlich Vegetarier waren, sie anbraten und essen würden. Sie war reich an Proteinen und angeblich gut für das Immunsystem. Aber wir verwarfen die Idee. Peter begrub sie stattdessen hinterm Haus.

Dann stand Meg auf und wir aßen zu Abend.

 

Später, im Medizinstudium, würde ich einigen Kindern auf die Welt helfen, allerdings mit Infusionen, Nadel und Schere, Monitoring der fetalen Kopfhaut und Epiduralanästhesien. Trotz aller Technik stellte sich bei mir immer das Gefühl ein, einem Zaubertrick beizuwohnen – wie war das hierher gekommen? –, das Gefühl, ein Magier müsse die Finger im Spiel haben, wobei ich in diesen Momenten ja selbst der Magier war. Aber nie war da jenes Gefühl von Leichtigkeit, wie ich es bei Meg erlebt hatte. Ein Gefühl, als würde man eine Wiese hinunterlaufen, ein Gefühl von Reibungslosigkeit, von Selbstverständlichkeit, von Slowness.

 

Zu jener Zeit war ich mit dem College fertig und wusste nicht, was ich als Nächstes tun sollte. Die meisten von uns wussten es nicht, vor allem die Frauen. So weit hatten wir nicht gedacht. Alle Frauen, die wir kannten, waren Ehefrauen und Mütter, und wir hatten daher angenommen, dass im College irgendeine Verwandlung mit uns stattfinden würde. Aber das war nicht geschehen. Ich wollte keine Ehefrau werden. Ich wollte aber auch nicht promovieren (das war die einzige Alternative, die mir einfiel). Stattdessen ging ich auf Reisen. Damals war das noch nicht so teuer – für drei Dollar bekam man ein Bett und ein Frühstück. Ich kaufte ein Flugticket mit offenem Rückflug, flog nach Europa und reiste dort monatelang herum.

Und dann, in irgendeinem kleinen Buchladen, entdeckte ich, was ich als Nächstes tun würde.

Ich war schon lange in keinem Buchladen mehr gewesen, und dieser war herrlich. Er war staubig und roch nach Papier, und in einer Nische stand ein Drehständer mit englischen Büchern. Ich drehte daran und las dabei die Autoren und Titel auf den Buchrücken. Sinclair Lewis, Herman Wouk, Ernest Hemingway. C. G. Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken. Das zog ich heraus. Ich hatte von Jung gehört, vor allem von Jane, aber ich hatte ihn nie gelesen.

Damals kaufte ich keine Bücher, weil sie mir zu teuer waren. Ich stand also den ganzen Nachmittag vor dem Drehständer und las Jungs Lebenserinnerungen.

Was mich bei dieser ersten Lektüre besonders beeindruckte, war, wie sich die Dinge in seinem Leben gefügt hatten. Als Student war er hin- und hergerissen zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften. Eigentlich wäre er gern Archäologe geworden, aber damit hätte er seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten können, daher wurde er Arzt. Dann schloss er noch einen Kompromiss und nahm eine damals wenig prestigeträchtige, dafür aber sichere Stelle im »Burghölzli«, der psychiatrischen Klinik in Zürich an. Dieser Kompromiss veränderte sein Leben. Viele Jahre arbeitete er in der Klinik, sprach jeden Tag mit seinen Patienten, hörte ihnen aufmerksam zu und gelangte schließlich zu der Auffassung, dass ihre Psychosen gar nicht so unverständlich waren. In ihren Halluzinationen tauchten immer wieder bestimmte Akteure auf, die an Figuren aus Märchen, Mythen und Träumen erinnerten: der Knabe, die Verführerin, der Böse, der weise alte Mann. Auch die Themen ähnelten sich: Abenteuer, Heldentum, Kämpfe. Jung glaubte, dass sich die Halluzinationen der Patienten als Geschichten mit Anfang, Mitte und Ende begreifen ließen.

Dann richtete er sein Leben so ein, dass er seine Erkenntnisse vertiefen konnte. An den Vormittagen sah er seine Patienten und an den Nachmittagen beschäftigte er sich mit Alchemie, Astrologie und den östlichen und westlichen Traditionen. Schließlich baute er sich einen mittelalterlichen Rückzugsort, ein Steinhaus am Zürichsee, wo es kein elektrisches Licht gab und für das er allein die Schlüssel besaß.

Am Ende des Nachmittags habe ich das Buch dann doch gekauft, um es ein zweites Mal und sorgfältiger zu lesen.

Bei dieser zweiten Lektüre war mir, als würde Jung Dinge erklären, die mir schon immer bewusst gewesen waren, die ich aber nicht in Worte hatte fassen können. Er beschrieb die Bestandteile der inneren Welt, die unser Selbst ausmachen.

Da gab es zum Beispiel – für alle, die mit Jung nicht vertraut sind – den Schatten, unseren eigenen, persönlichen Schatten. Damit war alles gemeint, was wir an uns selbst ablehnen und an anderen so liebend gern hassen. Jung nannte es den Schatten, weil er vom Licht des Ich-Bewusstseins geworfen wird, weswegen wir ihn nicht loswerden. In Träumen tritt er als Tier oder als dunkle Gestalt in Erscheinung, die den Träumenden auf einem finsteren Weg verfolgt. Er setzt sich aus Anteilen unseres Ichs zusammen, die wir selbst sind, aber nicht mögen. Den eigenen Schatten abzulehnen oder auf andere zu projizieren, führt zu Konflikten und einem Gefühl von Unvollständigkeit, das uns dazu veranlasst, beim anderen stets auf das Böse zu lauern. Sich den eigenen Schatten bewusst zu machen, heißt, wieder »ganz« zu werden.

Außerdem gab es die Anima – die schöne Prinzessin, die im Schloss eingesperrt ist und die wir befreien wollen. Sie ist ebenfalls ein Teil von uns, und sie ist die Frau, die wir in anderen Frauen suchen. Auf der anderen Seite gab es den Animus, den gutaussehenden Helden, den wir heiraten oder der wir werden wollen. Oder beides.

Und es gab die spannende Erkenntnis, dass diesen besonderen Gegensätzen eine gewisse Rekursivität anhaftet. Da jeder Frau ein Animus – ein männliches Bild beziehungsweise ein männlicher Anteil ihres Selbst – innewohnt, muss dieses innere Bild wiederum seine eigene Anima haben. Und ebenso muss die Anima eines jeden Mannes ihren eigenen Animus haben. Eine Frau trägt also nicht nur ein ideales und heldenhaftes Bild des Mannes in sich, sondern auch ein sekundäres Bild von der Frau, die dieser innere Mann sich wünscht. Umgekehrt besitzt das innere weibliche Idealbild des Mannes, seine Anima, sein eigenes reflektiertes, sekundäres männliches Bild, den Animus der Anima – für welches von beiden entscheidet er sich?

Dem allen lag – wie eine Art Ozean oder der weiche Grund eines Sees – die wichtigste Figur zugrunde: das Unbewusste,2 der heimliche Beobachter hinter den Kulissen, der in Bildern denkt und seinen eigenen Plan verfolgt. In unseren Träumen, in Zufällen und glücklichen Fügungen, deutet er uns seine Absichten an, so Jung. Sein Ziel ist die »Individuation«, jener mächtige, undarwinistische Drang, zum »eigenen Selbst« zu werden und all diese auseinanderdriftenden Figuren, Gefühle und Sichtweisen zu einem Ganzen zu vereinen, aber einem Ganzen, dessen Ganzheit man nie sehen kann.

Es gab sogar noch mehr. Das wurde mir klar, als ich das Buch ein drittes Mal las. Jung entwarf eine Philosophie der Ganzheit der Dinge. Alles impliziert sein Gegenteil und nichts ist wahr, so lange sein Gegenteil nicht ebenfalls wahr ist. Gut und Böse, Tag und Nacht, Licht und Dunkel, alles ist eins, und vollständig zu sein bedeutet, den Anderen nicht abzulehnen, sondern zu erfahren.

Jung glaubte nicht an Fortschritt, aber an Entwicklung. Die treibende Kraft hinter jeder Veränderung war die Enantiodromie,3 die Konfrontation der Gegensätze, das Ins-Leben-Rufen des Gegenteils mittels Konfrontation. Er glaubte an Zirkularität, an ein Kreisen und Rotieren, an jene zyklische Zeit, die ich auf dem Dach der Neumanns beobachtet hatte. Später fand ich heraus, dass es sich hierbei um eine sehr alte Theorie handelte, einen Kreislauf, der auf dem Fortschreiten der Äquinoktien beruhte, eine Wiederkehr und eine Vervollständigung des Platonischen Jahrs.

Es war Jung, der das anbrechende neue Zeitalter als Erster das »Zeitalter des Wassermanns« nannte. Wenn der dämmernde äquinoktiale Himmel von den Fischen zum Wassermann übergeht, schrieb er, werden wir die Dinge auf eine neue Weise betrachten – auf eine Weise, die wir einst kannten, die aber im Zeitalter der Fische in den dunklen Morast des Unbewussten versenkt wurde. Das Zeitalter des Wassermanns würde eine Revolution sein, und wir befanden uns an der Schwelle.

Nachdem ich das Buch zum dritten Mal gelesen hatte, wusste ich, dass es das war, was ich wollte: dieses Einströmen der Vergangenheit in die Gegenwart, insbesondere des vormodernen Bewusstseins, das in unserer westlichen Kultur durch die Moderne unterbunden wurde.

Aber wie?

Ich würde eine Jung’sche Analytikerin werden, das war es, was ich wollte.

Ich habe es immer für eine glückliche Fügung gehalten, die mich zu jenem Buchladen und dem Drehregal mit Erinnerungen, Träume, Gedanken geführt hat. Jung hätte es als »Synchronizität« bezeichnet, ein Konzept, mit dem er bedeutsame Ereignisse erklärte, die keine Newton’sche Ursache haben: die zufällige Begegnung, die ein Leben verändert, der prophetische Traum, die richtige Intuition. Er brachte die Synchronizität mit der antiken Vorstellung von der »Sympathie aller Dinge« in Verbindung, weswegen er jeden Morgen seine Töpfe und Pfannen mit »Guten Morgen Topf, guten Morgen Pfanne« begrüßte. Und weswegen Menschen es persönlich nehmen, wenn sie an Krebs erkranken.

 

Nachdem ich von meinen Reisen zurückgekehrt war, nahm ich Kontakt zum Jung-Institut auf, um zu erfahren, wie man ein Jungianer, ein Jung’scher Analytiker wurde. Als Erstes müsste ich einen Doktor machen, hieß es – entweder in Psychologie oder in Medizin.

Das war mir recht. Nach sechs Monaten in der großen weiten Welt war ich nun bereit, mich für lange Zeit aus ihr zurückzuziehen. Ich entschied mich für Medizin.

 

1Das Platonische Jahr. Die Präzession der Äquinoktien beziehungsweise die in den meisten vormodernen Kulturen vorherrschende Vorstellung, in einem geozentrischen Universum zu leben, trägt entscheidend zum Verständnis der antiken Weltsicht bei. Jener Kosmos, in dem die Erde im Zentrum steht, und sich alles andere um sie dreht, erklärt auch, warum sich die medizinischen Systeme Chinas, Indiens und des Westens so sehr ähneln, obwohl sie nicht identisch sind. Für mich war es besonders aufschlussreich, mit einem Astrolabium (auch Sternhöhenmesser genannt) eine mondlose Nacht draußen auf einem Hügel zu verbringen: Dieses Gerät, das seit der Antike unter anderem zur Bestimmung von Sternen verwendet wurde, beruhte auf der Vorstellung eines geozentrischen Kosmos. Ich beobachtete damit die Bewegungen der Sterne und konnte zusehen, wie sie auf- und untergingen und um den Fixpunkt des Polarsterns kreisten.

2Das Unbewusste. Jungs Definitionen dieser Archetypen finden sich in einem Glossar, das die Herausgeberin Aniela Jaffé zusammengestellt und mit zahlreichen Zitaten aus Jungs Arbeiten versehen hat. Siehe C. G. Jung (1985). Erinnerungen, Träume, Gedanken, 15. Aufl., aufgez. und hrsg. von Aniela Jaffé. Freiburg: Walter-Verlag, S. 408−419. Meinem Verständnis nach zerfällt das Unbewusste bei Jung in das Unbekannte – im Sinne von etwas, das einst bekannt war, aber nicht mehr bekannt ist, zum Beispiel, weil es vergessen, nicht erinnert, verdrängt oder blockiert wurde, das noch nicht Erkannte – und das Unwissbare. Es ist mir allerdings nicht gelungen, an anderer Stelle meine Schlussfolgerungen aus den Anima- bzw. Animus-Definitionen zu finden, denen zufolge das Modell rekursiv ist: Da wir, so meine Überlegung, eine Anima, eine innere Frau haben, muss diese innere Frau ihrerseits einen inneren Mann haben.

3Die treibende Kraft hinter jeder Veränderung war Enantiodromie. Jung schrieb, er habe das Konzept von Heraklit übernommen, aber wie es scheint, geht der Begriff auf Johannes Stobaios, einen späteren Kompilator von Heraklits Werk, zurück. Gemeint ist das »Entgegenlaufen von Gegenteilen«: Wann immer etwas zu sehr in das eine Extrem geht, löst es zum Ausgleich eine gegenteilige Reaktion aus. Jedes Extrem verkehrt sich in sein Gegenteil. Dieses Phänomen begegnet uns ständig: Jemand, der extrem homophob ist, wird schwul; der Atheist wird zum religiösen Eiferer, der Linke zum Konservativen, und umgekehrt. Meines Erachtens zeigt dieses natürliche Gleichgewicht oder Pendel, dass in jedem Extrem das eigene Gegenteil angelegt ist: In jedem Liberalen steckt ein Konservativer, in jedem Konservativen ein Liberaler. Eine gute Darstellung von Jungs Enantiodromie-Konzept findet sich unter: http://jungiancenter.org/jung-on-the-enantiodromia-part-1-definitions-and-examples/#_ftn2 [Stand: August 2017].

Kapitel 2 Dr. Gurushantih und mein neuer weißer Kittel

In den ersten beiden Jahren unterschied sich das Medizinstudium eigentlich nicht vom College. Es gab Klassenzimmer, Professoren und Hausaufgaben. Und doch war es anders: Es herrschte ein anderer Ton, die Studierenden hatten ein anderes Ziel vor Augen und bekamen eine andere Art von Wissen vermittelt.

Den Ton bestimmten die Professoren, die viel größeren Wert auf Fachwissen legten als ihre Kollegen am College. Ihren Doktor hatten sie nicht in Geisteswissenschaften gemacht, sondern in Anatomie, Physiologie oder Mikrobiologie, und sie experimentierten an Tieren, Gewebe und Zellen. Als Lehrkräfte an der Medizinischen Fakultät bestand ihre Aufgabe jedoch darin, sicherzustellen, dass wir als angehende Ärzte alles lernten, was wir über ihre jeweiligen Fachgebiete wissen mussten, und das waren in erster Linie Fakten.

Unzusammenhängende Fakten, wie sich herausstellte. Fakten, die sie in diversen Experimenten gewonnen hatten, manche an Fröschen, manche an Bakterien, andere an Zellen in einer Petrischale. Und anders als in der Mathematik oder Physik passten ihre Fakten nicht immer zusammen. Es gab keine Struktur, an der man sich hätte orientieren können. Wir mussten sie schlicht auswendig lernen. Chemische Prozesse in der Froschniere, hämodynamische Berechnungen bei Ratten, bakterielle Enzymkaskaden. Es war, als würde man uns, die wir im Dunkeln tappten, für den Bruchteil einer Sekunde einen Bildausschnitt von der Haut, dem Rüssel oder dem Huf eines Elefanten zeigen und uns anhand dieser kurzen Eindrücke herausfinden lassen, was dieses Ding – der menschliche Körper – eigentlich war.

Gleichzeitig – und auch darin unterschied sich das Medizinstudium vom College – war jeder einzelne dieser Fakten wichtig. Jeder konnte über Leben und Tod entscheiden, je nachdem, ob wir sie im Gedächtnis behielten oder nicht. Wenn wir vergaßen, dass Patienten mit schweren Lungenerkrankungen nicht genügend Kohlendioxid abatmen, und wir ihnen zu viel Sauerstoff gaben, konnte das zum Atemstillstand führen. Wenn wir die Wechselwirkung bestimmter Medikamente vergaßen und unserem Patienten das falsche Medikament verabreichten, konnte er daran sterben. Es gab Tausende solcher lebensrettender, aber unzusammenhängender Fakten, die man sich einprägen musste, und das Medizinstudium war daher viel stressiger als das College.

Hinzu kam, dass ich eine Medizinstudentin war.

Zwar waren 128 Jahre vergangen, seit Elizabeth Blackwell als erste Frau ein Medizinstudium absolviert hatte, und viele Jahrhunderte, seit in Europa erstmals Medizinische Fakultäten an den Universitäten eingerichtet worden waren.1 Aber von den 120 Professoren, die an unserer Fakultät lehrten, waren lediglich zwei Frauen.2