Snø – Ohne jeden Zeugen - Unni Lindell - E-Book

Snø – Ohne jeden Zeugen E-Book

Unni Lindell

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Beschreibung

Ein heißer Sommer in Norwegen. Beim Blumengießen bemerkt Studentin Sonja einen Schatten im Haus der verreisten Nachbarn. Sie schöpft Verdacht und ruft die Polizei. Als die junge Polizistin Snø dem Hinweis nachgeht, scheint in dem idyllischen Viertel alles mit rechten Dingen zuzugehen. Aber ein ungutes Gefühl bleibt. Snø will noch einmal mit Sonja sprechen, doch die ist spurlos verschwunden. Wurde sie Zeugin eines Verbrechens und nun zum Schweigen gebracht? Oder weisen die zahlreichen Vermisstenfälle der letzten Monate auf einen Serientäter hin? Snø treibt die Ermittlungen voran und stellt schon bald fest, wie brisant der Fall wirklich ist. Denn eine der Spuren führt sie bis in die obersten Kreise der norwegischen Ölindustrie – und plötzlich muss Snø um ihr Leben fürchten. Der erste Fall für die norwegische Polizistin Snø; als Printausgabe und Hörbuch bei SAGA Egmont erhältlich sowie als eBook bei dotbooks.

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Seitenzahl: 464

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

Ein heißer Sommer in Norwegen. Beim Blumengießen bemerkt Studentin Sonja einen Schatten im Haus der verreisten Nachbarn. Sie schöpft Verdacht und ruft die Polizei.

Als die junge Polizistin Snø dem Hinweis nachgeht, scheint in dem idyllischen Viertel alles mit rechten Dingen zuzugehen. Aber ein ungutes Gefühl bleibt. Snø will noch einmal mit Sonja sprechen, doch die ist spurlos verschwunden. Wurde sie Zeugin eines Verbrechens und nun zum Schweigen gebracht? Oder weisen die zahlreichen Vermisstenfälle der letzten Monate auf einen Serientäter hin?

Snø treibt die Ermittlungen voran und stellt schon bald fest, wie brisant der Fall wirklich ist. Denn eine der Spuren führt sie bis in die obersten Kreise der norwegischen Ölindustrie – und plötzlich muss Snø um ihr Leben fürchten.

»Snø – Ohne jeden Zeugen« erscheint außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei Saga Egmont, www.sagaegmont.com/germany.

Über die Autorin:

Unni Lindell, geboren in Oslo, gehört zu den erfolgreichsten Autorinnen Norwegens. Ihre spannenden und abgründigen Kriminalromane sind mehrfach preisgekrönt und begeistern weltweit die LeserInnen.

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre Cato-Isaksen-Reihe, die bei SAGA Egmont auch als Hörbuch erhältlich ist, sowie ihre Reihe um die norwegische Polizistin Snø, die bei SAGA-Egmont als Hörbuch- und Printausgabe erscheint.

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eBook-Ausgabe März 2025

Die norwegische Originalausgabe erschien erstmals 2020 unter dem Originaltitel »Nabovarsel« bei Capitana Forlag.

Copyright © der norwegischen Originalausgabe 2020 by Bonnier Norsk Forlag AS

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2025 by Saga Egmont

Copyright © der eBook-Ausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fe)

ISBN 978-3-98952-408-8

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Dieser Roman wurde gefördert durch

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Unni Lindell

Snø – Ohne jeden Zeugen

Thriller

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

dotbooks.

Prolog

Die Gegenwart war wie eine Geschichte, die Teddy stets begleitete. Eine Geschichte, die nicht der Wirklichkeit entsprach, genau wie das Perlenbild in dem Kaleidoskop, das er mit neun Jahren bekommen hatte. Er erinnerte sich an das Gefühl von Magie, wenn er die runde Scheibe unten drehte und das Perlmuster sich änderte. Eines Tages sagte seine Großmutter, das Bild unten sei gar nicht echt, es sei eine Illusion. Er wusste nicht, was eine Illusion war, und machte sich daran, das Kaleidoskop mit einer scharfen Schere zu öffnen, sobald die Großmutter die Wohnung verlassen hatte. Am Ende hatte er es geschafft, die harte Pappe unten abzureißen. Er hatte aber nur einige wenige Perlen gefunden und war enttäuscht gewesen, hatte gelernt, dass durch die Perspektive die wirkliche Menge nicht dem entsprechen muss, was man sieht. Das Kaleidoskop hatte nur fünf Perlen enthalten. Aber sie hatten die Wirkung von ganz vielen und schufen ein ganzes Himmelsbild von Sternen in wunderschönen Farben.

IM FENSTER STEHT DIE SCHWESTER

ERSTER TEIL

Kapitel 1

Esme Madsen ließ die schweren Arme nach unten fallen, beugte sich vor und schaute aus dem Fenster. Dabei stand sie jedoch einen Meter von der Fensterbank entfernt, um nicht gesehen zu werden, falls jemand in den Garten kam. Das abendgrüne Gras zeigte schon schwache Schatten zwischen Hecke und Straße. Bis dahin waren es nur zehn Meter, aber die Hecke war so hoch, dass niemand hereinschauen konnte. Esme Madsen befand sich verbotenerweise in einem Haus, das den Sommer über leer stand, bei fremden Menschen. Eine Fliege brummte am Fensterrahmen, dessen Farbe abblätterte. Im Spülbecken standen Kaktustöpfe. Sie würden lange wegbleiben, die, die jetzt hier wohnten. Wenn jemand Kakteen in ein Wasserbett stellte, sagte das genug. Sie hatte die Schlüssel zu diesem Haus nachmachen lassen und aufbewahrt. Es war Jahre her, dass sie hier draußen geputzt hatte. Die Alarmanlage an der Haustür war nur eine Attrappe, das war sie damals schon gewesen.

Das Summen der Fliege ging ihr auf die Nerven. Die Fliege war riesig. Esme Madsen war allein hier draußen, wollte keine fette Fliege zur Gesellschaft. Die Haustür war abgeschlossen.

Unten im Keller wurde ein Mann gefangen gehalten. Er sah aus wie eine Figur in einem Spiel, lag da in seinem eigenen fließenden Blut, auf einer Plastikplane auf dem Steinboden.

Sie zog die Einmalhandschuhe richtig an, rückte die Haube gerade und starrte hinaus auf den Rasen. Hansi hatte ihr ein Messer gegeben, ehe er zum Schlafen in das große Haus zurückgefahren war. Manchmal schlief er tagsüber und arbeitete bis in den späten Abend. Und nachts fuhr er sie dann zu ihrer Wohnung, damit sie die Katze füttern könnte. »Nachts« war gegen zwei, es war mitten zwischen früh und spät, wenn die Menschen aus der Stadt nach Hause gekommen waren, aber ehe der Zeitungsbote losging.

Esme war erschöpft, kein Wunder. Sie hatte auf einem Sofa hier im Wohnzimmer geschlafen, drüben beim Bücherregal. So war sie durch den Vorhangspalt im Wohnzimmer nicht zu sehen gewesen, aber sie hatte nicht lange am Stück geschlafen, und sie schlief leicht, denn sie hielt Wache.

Ein Strahl der Abendsonne stahl sich durch den einen Apfelbaum. Es war ein unnatürlich schönes Licht, das dann wieder verschwand. Esme hatte dasselbe Gefühl wie in einer Kirche, fehl am Platze. Denn oftmals suchte sie den heiligen Raum auf, wenn sie ohnehin schon auf irgendeinem Friedhof einen Erkundungsgang machte und die Kirchentür offen stand, ein stiller Augenblick in der ersten Bank war nicht zu verachten. Danach wanderte sie langsam über die Gehwege, zwischen den Grabsteinen, mit ihrem schweren Leib, dort hatte sie ihre Mission, dort hatte sie einen Auftrag auszuführen. Alles wurde in einem kleinen orangen Notizbuch notiert. Sie hatte zugenommen, beim Gehen knisterte der Kleiderstoff über ihren Hüften. Die Leute musterten sie voller Abscheu, deshalb trug sie die alten Spazierschuhe, um ihren Gang leichter zu machen. Es kam wohl vom Alter, aber auch von den Genen. Und vom Essen. Hansi war auch nicht gerade schlank, aber Männer trugen die Kilos auf andere Weise, eher wie Muskeln. Hansi rasierte sich den Schädel, um keine DNA-Spuren zu hinterlassen. Sie wusste, wie vorsichtig man sein musste. Immer war sie es, die danach desinfizierte, das konnte sie. Zweimal hatte Hansi zu lange gewartet, und der süßliche Geruch war in einen sirupartigen Gestank übergegangen. Aber tief in Esmes Seele ruhte etwas anderes; das Kind, das sie gewesen war, und das andere Kind und das dritte Kind, ehe die Zeit ihr genommen wurde und sie die Kinder durch Puppen ersetzt hatte.

Kapitel 2

Sonja Jansen drehte den Kopf nach hinten und warf einen Blick zum Küchenfenster hoch, denn während sie dort hockte und den Rasensprenger im Nachbargarten richtig einstellte, hatte sie plötzlich ein gedämpftes Geräusch gehört, wie Schläge gegen Glas. Ihre Augen fingen eine Bewegung ein, wie eine dunkle Vogelschwinge, hinter einem Fenster versteckt: eine ältere Frau, breite Stirn, Augen mit einem Schimmer Türkis, eine Kopfbedeckung. Also waren Fremde in dem über die Sommerferien leer stehenden Haus. Sonja hob den Kopf, sprang auf, strich sich die braunen Haare zurück und hielt sich die Hand vor die Stirn, um besser sehen zu können.

*

Das Spiegelbild der beiden Apfelbäume bildete über dem Glas ein Schattenfeld, aber es wehte gerade kein Wind, deshalb hingen die Zweige still da, die Blätter ebenfalls. Jemand stand in der Küche und beobachtete sie. Sonja hatte keinen Schlüssel, sie sollte sich ja nur um den Garten kümmern. Waren die Nachbarn früher aus ihrem Urlaub in Australien zurückgekehrt? Oder waren jetzt andere im Haus, Verwandte vielleicht?

Das braune Haus war nicht ganz braun. Die Farbe war an den Ecken hier und da abgeblättert. Sonja wohnte in einem ähnlichen Haus auf der anderen Seite der Hagebuttenhecke, aber ihr Haus hatte der Vater grau gestrichen. In der ganzen Straße stand ein solches Haus neben dem anderen, wie Dominosteine, im schiefen Winkel zur Straße hin errichtet. Ein bisschen Bauhausstil, aber aus den sechziger Jahren.

Sie stieg die Treppe unter dem Vordach hoch und klingelte. Legte die Hände auf das Geländer und schaute durch das Küchenfenster, aber jetzt konnte sie niemanden sehen. Früher, als die alten Nachbarn hier gewohnt hatten, war sie mit der Tochter befreundet gewesen. Sie blieb stehen und horchte. Hörte sie da drinnen Schritte, oder war das nur ihr eigener Herzschlag? Niemand machte auf. Sie legte die Hand auf die Klinke, rüttelte an der Tür.

*

Esme Madsen stand im Windfang. Sie war, so schnell sie konnte, zurückgewichen, aber dieses Mädchen in Shorts und Sommertop hatte sie gesehen. Die dünne Person hatte sich in dem Moment umgeschaut, als Esme die Fliege erschlug. Der braune Pferdeschwanz hatte hin und her gepeitscht. Und dann hatte sie an der Tür geklingelt, und jetzt rüttelte sie an der Klinke. Zur Kellertreppe konnte Esme nicht gehen, vielleicht war die Kleine ja schon hinter dem Haus, und es gab einen Spalt zwischen den Wohnzimmervorhängen. Dann würde das Mädchen sie sehen können. Esme blieb stehen und betrachtete sich in dem alten Konsolenspiegel an der Wand. Die Spiegelfläche war von Altersflecken übersät, es war garantiert ein Erbstück. Esme lauschte. Alles war still. Mädchen, die in den Garten kamen, solche Störungen waren gefährlich. Wenn die Kleine nur wüsste, was mit ihr passieren könnte.

Kapitel 3

Sonja warf den Rasenmäher an. Hinter dem Haus gab es Schatten, eine kühle Decke über die nackte Haut. Von der Hagebuttenhecke her wehte süßer Blütenduft. Sie bekam bald kalte Füße, hätte Schuhe anziehen müssen. Das Gras war jetzt abendlich kühl. Sie konnte sich geirrt haben. Vielleicht hatte doch niemand hinter dem Küchenfenster gestanden. Sie war in zwei Fächern durchgefallen, die Zeit vor dem Abi war heftig gewesen, viel zu viel Alkohol, ja, sogar Drogen. Vielleicht war ihr Gehirn noch immer träge. Dennoch waren ihre Eltern bereit gewesen, sie allein zu Hause bleiben zu lassen. Sie büffelte, würde im August zu den Nachprüfungen antreten.

*

Esme stand noch immer im Windfang. Jetzt hörte sie hinter dem Haus den Motor des Rasenmähers. Es war eine Unverschämtheit, nach neun Uhr abends Rasen zu mähen! Die heutige Jugend hatte keine Manieren! Esme strich sich mit der Hand über die breite Stirn und schob ein paar Haare unter die Haube. Der Schweiß in ihren Achselhöhlen roch streng. Ein verbissener Ausdruck lag auf ihrem flachen Gesicht. Die Augenbrauen waren grau und wuchsen jetzt zusammen. Die Haut war an den Wangen rotgefleckt, das passierte, wenn Esme wütend wurde oder sich fürchtete. Ihr Bild zerfloss, wie Wasser, aber wenn sie sich ein bisschen drehte, gab es einen Punkt, an dem sie den Schmerz spürte. Denn in der Nacht hatte im Keller das Blut gespritzt, zum Glück hatte Hansi den Boden mit einer Plastikplane bedeckt. Noch immer floss das Blut da unten in dünnen Bächen, bildete Muster, sah aus wie Schmetterlingsflügel. Er war noch nicht tot. Das Putzen danach wurde immer ihr überlassen, und die Plastikplane machte die Arbeit leichter, sie brauchte den Steinboden nicht zu scheuern, konnte sich auf die Wände konzentrieren. Warum konnte er die Leute nicht sofort umbringen? Aber Teddy wollte wohl zuerst Informationen aus ihnen herausholen.

Esme ging vorsichtig ins Wohnzimmer. Sie zuckte jedes Mal zusammen, wenn sie die Möbel sah, denn die standen jetzt anders, ja, es waren ja auch nicht dieselben Möbel. Auch der Geruch war fremd, leichter, obwohl es hier stickig war. Durch den Vorhangspalt sah sie die blaue Gartenbank und den gelben Tisch. Und daneben hing etwas im Baum. Etwas bewegte sich jedenfalls. Und das waren keine Blätter.

*

Nun sah Sonja es. Das Kellerfenster in der Grundmauer war von innen mit Packpapier abgedichtet. Gestern war das noch nicht so gewesen. Sie ließ den Rasenmäher im Leerlauf, trat ein paar Schritte zurück, blieb stehen und musterte die Fassade. Der Spalt zwischen den Vorhängen im Wohnzimmer war unverändert. Sie ging zum Fenster, hielt sich die Hände an die Stirn und schaute hinein, dann erlosch der Motor, und sie drehte sich um. Und nun hörte sie es, das Geräusch. Ein Wimmern. Sie wich vom Fenster zurück und blickte auf die Luke weiter unten in der Kellermauer.

Kapitel 4

Esme kämpfte sich die steile Kellertreppe hinunter. Mit dem Messer in der Hand. Jetzt sollte der Kerl da unten verdammt noch mal die Fresse halten! Sie versetzte ihm einen Tritt in die Seite. »Jetzt hältst du die Fresse«, fauchte sie leise. Die Türklingel musste wie ein melodischer Klang bis hier unten zu hören gewesen sein. Da hatte er wohl seine Chance gesehen, der Mann, der verkrümmt auf dem Bauch lag, das Gesicht zum Boden. Esme hätte sich überhaupt nicht gewundert, wenn diese unverschämte Göre sein Gejammer durch die weiter oben unter der Decke in die Mauer eingelassene Luke mit dem Maschendraht gehört hätte.

*

Es wurde wieder still. Sonja lauschte. Nur ein leises Summen aus den Himbeersträuchern war zu hören. Die roten Beeren schienen zu rufen: »Jetzt können wir gegessen werden!« Es konnte ja eine Katze gewesen sein, die vorhin gewimmert hatte. Vielleicht war das Geräusch aus einem anderen Garten gekommen, die Gärten lagen hier doch dicht an dicht. Die Katzen streunten umher. Manche ließen ihre Katzen im Sommer allein, das war Tierquälerei. Sie warf den Rasenmäher wieder an, wich aber einem Blatt aus, das von einem Baum gefallen war, denn in der Falte mitten im Blatt lag ein Marienkäfer, glänzend wie ein Blutstropfen. Sonja schaute sich in ihrem eigenen Garten um. Ihr Schlafzimmerfenster im ersten Stock stand weit offen. Und an der Wand hing die Leiter.

*

Esme Madsen setzte sich auf den Stuhl vor der Waschküche. Hier unten war das Geräusch des Rasenmähers noch besser zu hören, das lag an der Luke. Aus dem rostigen Hahn an der Wand tropfte die ganze Zeit Wasser, die Tropfen verschwanden in einem Abfluss im Boden.

»Kannst … du aufschneiden … Schnur um meine Handgelenke?«

Sie beugte sich zu dem Mann hinunter. »Nein«, zischte sie leise.

Die Knochenstruktur in seiner Stirn, auf der rechten Seite, war zerschmettert. Mühsam drehte er sein Gesicht auf die andere Seite. Seine eine Hand war ebenfalls schwer verletzt. In jeder Hand gibt es siebenundzwanzig Knochen, mit Anatomie kannte Hansi sich aus. Das hatte er gelernt, als sie auf dem Hof gewohnt hatten, wo Vieh geschlachtet wurde. Ehe er in der vergangenen Nacht losgefahren war, hatte sie gefragt, wie lange sie den Mann bewachen müsste, ob sie nicht lieber bald auf einen Friedhof fahren könnte. Dieser Teil der Aufgabe gefiel ihr am besten, dann kam sie ein bisschen an die Sonne. Bald, hatte Hansi geantwortet. Putzen und Desinfizieren war auch kein Problem, mit dem Zerlegen hatte sie nichts zu tun. Was ihr missfiel, war das Warten.

Der Rasenmäher wurde ausgeschaltet. Esme erhob sich und stieg langsam die Treppe wieder hoch. Ihre Hände waren in den Einmalhandschuhen feucht und klebrig.

*

Sie sah den Rücken des Mädchens durch das Tor verschwinden, aber der Rasensprenger stand vor dem Küchenfenster und warf weiche, durchsichtige Säulen hin und her. Das bedeutete, dass sie später am Abend zurückkommen würde, um ihn auszuschalten. Sie rief Hansi an, um ihn vor diesem gefährlichen Mädchen zu warnen.

*

Das junge Paar im Nachbarhaus, um dessen Garten sie sich kümmerte, hatte von Scheidung gesprochen, dann waren sie nach Australien gefahren, obwohl dort gerade Winter war. Sonja konnte sie nicht anrufen und sie mit Bagatellen stören. Aber sie würde auf jeden Fall bei der Polizei Bescheid sagen. Fragen, ob dort irgendwas über Einbrüche hier in der Nachbarschaft bekannt sei.

Kapitel 5

Lydia Winther, dreiundzwanzig und frisch ausgebildet, saß in dem Büro, das sie mit Hauptkommissarin Marit Nilsen teilte. Sie saßen Rücken an Rücken, die Bürosessel ließen ein singendes Geräusch hören, wenn sie sie vom Tisch wegschoben. Inzwischen war es Mittwoch, der 1. Juli geworden. Die Sonne hatte eine staubige, drückende Hitze nach Oslo gebracht, und die spiegeldunkle Fassade des Polizeigebäudes wirkte wie ein Heizkörper. Das Büro, oder der Verschlag, wie Snø ihn nannte, war bisher als Archiv und Lagerraum benutzt worden. Es lag im Anbau, der auf Zementsäulen stand und mit direktem Blick auf die Konzerthalle Sentrum Scene über den Bürgersteig ragte.

Obwohl sie schon seit drei Wochen hier arbeitete, fühlte sie sich noch immer verloren; so ging es sicher allen in einer neuen Stellung, aber es war wunderbar, den Titel »Polizeibeamtin« tragen zu dürfen. Und sie war stolz auf die Uniform, die sie erhalten hatte: hellblaues Hemd mit einem goldenen Stern und über der Brust in Großbuchstaben das Wort POLIZEI, schwarze Hose und schwarze Jacke. Die Uniform hing im Schrank in der Garderobe. Lydia trug im Moment Jeans und T-Shirt. Sie schaute hoch zu einem Zipfel Himmel, durch das Fenster, das so schmutzig war, dass man kaum hindurchsehen konnte, Staub und Auspuffgase hatten sich in einer dicken Schicht über das Glas gelegt, aber die blaue Farbe war trotzdem so intensiv, dass es wehtat.

Ihr Bruder Lars hatte Lydia den Spitznamen Snø verpasst, als sie vierzehn war. Etwas war passiert, und deshalb hatte sie sich geweigert, sich weiterhin Lydia zu nennen, es war ein idiotischer Name für alte Damen, aber sie hieß nun einmal so, damit verteidigte die Mutter sich immer, nach deiner Großmutter … du weißt, ich hatte da nicht viel zu sagen! Der Nachname war Winther, deshalb Snø, Schnee.

Als sie Marit Nilsen zum ersten Mal die Hand geschüttelt hatte, fiel Snø sofort ein besonderer Spruch ein … es gibt in der Hölle einen besonderen Ort für Frauen, die anderen Frauen nicht helfen. Snø war vor der Männerkultur bei der Truppe gewarnt worden, aber nicht vor dieser Kollegin. Dennoch war leicht zu erkennen, dass die zweiundvierzigjährige Nordnorwegerin verletzlich war. Das zeigte sich an der rotgefleckten Haut, den kleinen Augen und der plumpen Figur. Die Waden waren etwas zu dick für die enge Jeans, und sie konnte unmöglich mehr als Schuhgröße 36 haben. So kleine Füße gehörten sich nicht für eine Polizistin.

Snø hörte immer wieder, dass sie hübsch sei; die halblangen Haare waren üppig und hell, als ob die Sonne eines wärmeren Landes sie gebleicht hätte, die Locken waren echt, fest und elastisch, und die Augen blaugrau. Sie war schlank und geschmeidig und eins fünfundsiebzig groß. Das einzig Abweichende war der Nasenrücken, der hatte in der Mitte eine Art Buckel. Eine Freundin hatte gesagt, sie sehe nicht aus wie eine Polizistin, sie hätte besser in einen Goldschmiedeladen gepasst, oder in einen Frisiersalon, es hatte ein Kompliment sein sollen. Sie war zur Polizei gegangen, weil ihr großer Bruder auch Polizist hatte werden wollen. Und jetzt war sie hier, bei der Ermittlung, wo sie alle Arten von Fällen hatten, bis auf Mord und Vergewaltigung. Snø hätte am liebsten mit Mord und Vergewaltigung gearbeitet, nicht mit ID-Diebstahl, Skimming oder Taschendiebstählen. Ihr Chef hieß Frank Armann. Er war ein hochgewachsener Mann mit hellem Bart, er erinnerte ein bisschen an den Weihnachtsmann.

*

Nun stand er in der Tür. Frank Armann schob sich die Stahlbrille höher auf die Nase. Ihm lief Schweiß von der Stirn. »Ich weiß, ihr seid nicht beim Ordnungsabschnitt, aber weil Urlaubszeit ist …« Er sah Marit Nilsen an. »Ein junges Mädchen oben aus Bekkelaget hat angerufen, ja, sogar dreimal, innerhalb von zwei Tagen, und sie sagt, dass sich Fremde im leeren Nachbarhaus aufhalten. Sie ist bei den Abiprüfungen durchgefallen und ist jetzt allein zu Hause, um zu büffeln. Ganz früh heute Morgen, so gegen halb vier, hat sie gesehen, wie ein glatzköpfiger Mann einige seltsame Plastikkannen in den Garten der Nachbarn getragen hat.« Er lächelte Marit an. »Fahr mal mit Lydia hin und rede mit ihr.«

Sie standen gleichzeitig auf. »Nenn mich nicht Lydia«, sagte Snø, schnappte sich die Dienstmarke vom Schreibtisch und hängte sie sich um den Hals. Sie hatte kaum gefrühstückt, und deshalb war sie müde, und ihr war schwindlig. Sie sah aus wie eine dümmliche, naive Blondine, wollte jedoch das genaue Gegenteil sein – stark, wagemutig und furchtlos.

»Engvei 38«, sagte Frank Armann.

*

Snø war noch nie zusammen mit Marit ausgerückt. Sie ging davon aus, dass Marit fahren würde. Sie nahmen den Fahrstuhl nach unten in die Garage. Im Stockwerk unter ihnen war die Drogenfahndung untergebracht. Dort wurde bis spät in die Nacht hinein gearbeitet, denn der Sommer war Hochsaison für Drogen. Im Erdgeschoss war die für die Öffentlichkeit zugängliche Rezeption. Snø verzehrte eilig ein Brötchen. Durch das ovale Fenster im Fahrstuhl sah sie im Vorübersausen für einen Moment Menschen. Und dann sagte ihre Kollegin: »Nur, damit das mal gesagt ist, du kannst dir nicht einfach mehrmals am Tag Brötchen aus der Kantine holen, du musst dir Brote schmieren wie wir anderen auch.«

Sie verließen den Fahrstuhl. Marit liebte den Ausdruck, »nur, damit das mal gesagt ist«. Sie fuhr fort: »Ich weiß noch, wie meine Schwester zum ersten Mal mit ihrem Verlobten zu Hause bei unseren Eltern war. Der nahm sich zweimal vom Sonntagsbraten. Meine Mutter hat ihm das nie verziehen. So etwas sagt etwas über den Charakter.« Snø biss in ihr Brötchen und sagte nichts. Die Frau in der Kantine war in Urlaub, es war Personalmangel, ja, und das war eigentlich gut, denn so kam sie doch ab und zu zu einem Einsatz. Ansonsten bestand ihre Arbeit aus langweiliger Schreibtischarbeit und dem Reinschreiben von Berichten.

Sie gingen auf den zivilen Ford Focus zu.

»Du fährst«, sagte Marit und gab ihr den Schlüssel.

Snø gab die Adresse ins GPS ein, zupfte an dem Dienstausweis, den sie um den Hals trug, und spürte Marits Blick.

Auf der E6 waren jetzt nur wenige Autos unterwegs, der Asphalt war so heiß, dass vor ihnen falsche Wasserflecken flimmerten. Snø wünschte sich auf die Dauer eine Versetzung zur Mordkommission beim Polizeidistrikt Oslo, wie es nach der Umstrukturierung hieß. Sie wollte in die Polizeizentrale, die gar nicht weit weg lag. Aber bis auf Weiteres hatte sie diesen Scheißjob bei den Sondereinsätzen. Einheit Zentrum. Da hätte sie auch gleich Verkäuferin werden können. Sie hätte ein Junge sein müssen, ein Mann und maskulin, aber auch das hätte nicht geholfen, denn nur Lars war Lars. Während der gesamten Studienzeit hatte sie geglaubt, der Traum ihres Bruders sei auch ihrer, aber nun fühlte sie sich nur leer.

Kapitel 6

Sonja Jansen stand vor dem Tor auf dem Gehweg. Das schmächtige, farblose Mädchen trat von einem Fuß auf den anderen und hatte die Arme übereinandergeschlagen. Sie war barfuß, trug Jeansshorts und ein weißes Trägerhemd. Sie hatte fast keine Brüste. Snø hielt an. Die zwei Kommissarinnen öffneten die Sicherheitsgurte und stiegen aus. Auf beiden Seiten der Straße standen identisch aussehende Häuser. Die Asphaltkante am Straßenrand zerbröckelte. Aus den Rissen wuchs Löwenzahn.

Sie machten sich miteinander bekannt. Marit hatte ihren Notizblock in der Hand. Ein Mückenschwarm surrte über den Grashalmen und den Blumen am Straßenrand. Snø ging auf Sonja Jansen zu.

Die sah aus wie sechzehn. Ihr Gesicht war schmal und blass, und sie hatte ängstliche Augen. Alles an ihr war klein, die Hände waren schmal und hatten kurzgeschnittene Nägel.

»Ich gieße hier die Blumen«, sagte Sonja Jansen.

»Auch im Haus?«

»Nein, nur draußen. Ich hab keinen Schlüssel. Hier ist bestimmt eingebrochen worden.«

Sie wollten gerade durch das Gartentor des Nachbarhauses gehen, als eine ältere, große und blasse Frau auf dem Gehweg auf sie zugewatschelt kam. Sie war sicher über siebzig.

»Warten Sie«, sagte Sonja. »Das ist sie doch«, flüsterte sie. »Die, die ich im Haus gesehen habe.«

Sonja trat wieder hinaus auf die Straße und zog zerstreut das quietschende Tor hinter sich zu.

Snø hielt sich die Hand vor die Stirn und zog sich ein paar lose hängende Locken aus dem Gesicht. Die ältere Frau mit dem breiten Gesicht hatte sie jetzt gesehen und machte Anstalten, die Straße zu überqueren. Die buschigen Brauen waren grau, und die Haare, die wenigen verbliebenen, waren auch grau, aber an den Spitzen gelb. Bestimmt hatte sie die Haare gefärbt. Und sie trug einen Mantel, obwohl Juli war.

Marit ging auf die Frau zu, die ein Einkaufsnetz in der einen Hand trug.

Die Frau blieb stehen und hob das Netz an die Brust.

»Entschuldigung, wissen Sie, wer da in dem Haus wohnt?« Marit nickte zu dem Haus hinüber.

»Absolut nicht.«

Die grobe Stimme war bis zu Snø und Sonja zu hören. Snø sah, dass die düstere Miene der älteren Frau noch düsterer wurde. Ihre Fußknöchel in den dicken braunen Schuhen waren geschwollen. Ihre Stimme hatte einen Beiklang, etwas Brüchiges, das darauf hinweisen konnte, dass sie nicht die Wahrheit sagte, aber vielleicht fürchtete sie sich einfach nur.

Die Frau wollte sich schon umdrehen und in die Richtung zurückgehen, aus der sie gekommen war. Ihre Kopfhaut leuchtete in dem unbarmherzigen Sonnenlicht.

»Warten Sie«, sagte Marit und hob die Dienstmarke hoch, die sie um den Hals trug. »Polizei. Wie heißen Sie?«

Kapitel 7

Sie hatte das Gefühl, dass eine eiserne Faust das Herz in ihrer Brust festhielt. Esme nannte ihren Namen, die meisten Leute schnappten nach Luft, wenn sie ihren Namen hörten, aber nicht diese Polizistin da, nein. Hansi war die Krisenpläne mit ihr durchgegangen, ganz ruhig sein, Fragen beantworten. Sie warf einen unfreiwilligen Blick zum Garten hinüber. Hier draußen auf der Straße war es nicht gefährlich, die gefährliche Zone befand sich drinnen im Haus. »War nur mal aufm Friedhof«, erklärte sie. »Is’ das verboten?«

»Ausweis«, sagte die Polizistin.

»Großer Gott, wie heiß das is’.« Esme wühlte im Einkaufsnetz nach ihrer Handtasche. Sie zog die Bankkarte aus der abgegriffenen Brieftasche und zeigte sie der Polizistin. Sie war froh darüber, dass Hansi jetzt nicht da war. Der Sommerhimmel war schon heller geworden, als sie in der vergangenen Nacht wieder hergekommen war, Hansi hatte sie ein Stück weiter unten in der Straße abgesetzt und dann kehrtgemacht. Jetzt schaute sie zu dem Nachbarmädchen hinüber. Und zu der Frau mit den Locken, die neben der Kleinen stand. Auch sie trug eine Polizeimarke um den Hals. Und sie hatte ganz neue weiße Joggingschuhe.

Wenn Hansi erführe, dass sie sich aus dem Haus geschlichen hatte, um in den Supermarkt zu gehen und sich eine Illustrierte und Schmalzringe zu kaufen, würde er sie wieder bestrafen. Beim letzten Mal hatte er ihr Nancy weggenommen. Wenn er die Polizei hier sehen könnte, würde er sie umbringen.

»Kennen Sie hier jemanden?«

»Ich war aufm Friedhof, hab ich doch gesagt. Ich komm oft hier vorbei«, log sie. »Bitte sehr, suchense in meiner Tasche doch nachm Schlüssel. Ich hab keinen Schlüssel.«

Die Polizistin kritzelte ihren Namen auf einen Zettel. »Ist es von hier aus nicht ein bisschen weit zum Friedhof?«

»Hab den Bus genommen. Is’ das verboten?«

Das Nachbarmädchen und die Blonde gingen zusammen durch das Gartentor. Esmes Puls beschleunigte sich. Sie spürte das harte Metall des Schlüssels im Schuh.

Kapitel 8

Snø und Sonja Jansen betraten den Garten. »Das war die, die ich im Fenster gesehen habe«, sagte Sonja. Die Thujahecke war so hoch, dass niemand von der Straße her in den Garten blicken konnte. Mitten auf dem Rasen stand ein Sprenger. Der gelbe Schlauch war an einem Hahn unter dem Küchenfenster befestigt. Snø stieg die kleine Treppe hoch und klingelte an der Tür. Niemand machte auf. Die Sonne wärmte ihr den Rücken. Sie gingen um das Haus herum, auf der Rückseite lagen dicht aneinander die Gärten, nur unterteilt von Hecken und Zäunen. An einem Baum hingen einige Streifen hellgrünes Seidenpapier, hier war sicher vor langer Zeit gefeiert worden. Süßer Duft kam von den blassrosa Blüten an den Hagebuttenbüschen vor dem Zaun. Aus den Blüten würden harte Hagebutten werden.

Snø drückte die Stirn gegen das große Wohnzimmerfenster, legte sich die Hände neben das Gesicht, um die Spiegelreflexe zu dämpfen. Lugte durch den Spalt zwischen den Vorhängen. Auf dem Wohnzimmerboden waren Vierecke aus Sonnenlicht zu sehen. Das Licht stammte von einem schmalen Fenster, es bildete Flecken auf dem Sofa, aber das Zimmer war leer. An der Wand über dem Sofa hingen schöne Kunstdrucke in Rahmen aus Kiefernholz. Snø klopfte an die Fensterscheibe und trat einen Schritt zurück. Im Spiegelbild in der Fensterscheibe schien einer der Zweige des Baumes hinter ihr aus ihrem Wangenknochen herauszuwachsen. Einmal hatte ihr Bruder gesagt, er finde ihre Schlüsselbeine zu scharf, sie war vielleicht dreizehn gewesen, zu dünn, zu kalt, zu ängstlich. Aber das war sie nicht mehr. Sonja Jansen, die hinter ihr stand, strahlte etwas aus, das Snø wiedererkannte. Sie drehte sich zu dem Mädchen um.

»Es sieht nicht so aus, als ob da jemand drinnen ist. Es gibt auch keine Spuren von Einbruch. Hast du mit den Hausbewohnern gesprochen?«

Sonja schüttelte den Kopf. »Die sind in Australien. Sie können ja doch nichts machen. Aber das Packpapier hinter dem Kellerfenster ist ganz neu«, sagte sie.

Snø sah, dass das Fenster von innen abgedichtet war. »Bist du sicher?«

»Nicht ganz«, räumte Sonja Jansen ein und verschränkte die Arme. »Aber ich habe auch eine Art Wimmern gehört. Das Geräusch kam von dort.« Sonja beugte sich vor und zog eine grobe Distel aus dem Rasen, während sie auf die Lüftungsluke in der Grundmauer zeigte.

Snø ging in die Hocke und rief durch die Luke »Hallo«. Sie lauschte. Nichts war zu hören. Aber sie nahm einen Dunst wahr, winzige Partikel, die sie nicht definieren konnte. Vielleicht roch es nach Reinigungsmittel. Sie richtete sich auf. »Und du meinst, du hast einen Mann mit Plastikkannen gesehen?«

»Ich habe ihn auf dem Bürgersteig gesehen, vom Küchenfenster aus. Ich war nur kurz unten, um Wasser zu trinken. Er hatte einen Seemannsgang, und er war glatzköpfig und hatte helle Augenbrauen. Er war nicht besonders groß, sah aber stark aus. Und obwohl doch Sommer ist, trug er eine Lederjacke. Aber es ist ja nicht sicher, dass er in diesen Garten da gegangen ist.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und ihre kaum hörbare Stimme kam von einer Stelle irgendwo weit hinten im Hals.

»Ich glaube dir«, sagte Snø.

»Ich lerne für die Matheprüfung.«

»Mathe ist schrecklich. Hast du irgendeinen Ausweis zur Hand?«

»Meine Bankkarte.« Sie zog die Karte aus der Shortstasche, und Snø machte ein Foto mit ihrem Mobiltelefon und gab sie zurück.

Sie waren ja fast gleich alt, ging ihr jetzt auf. Sonja Jansen war neunzehn und sie selbst dreiundzwanzig.

»Meine Eltern und meine Brüder sind auf der Hütte. Ich bin zwei Wochen lang allein hier. Ich schlafe da oben.« Sie zeigte auf ein Fenster im ersten Stock. »Aber ich hab jetzt ein bisschen Angst, wir haben doch eine Leiter an der Wand. Man kann einfach so reinklettern. Also schlafe ich nicht besonders gut.«

Snø schaute zum Fenster hoch. Danach sah sie sich die Leiter an. Die war aus Aluminium und mit zwei Schrauben befestigt. Ihr Bruder hatte ihr Angst gemacht, als sie klein war. Einmal war ihr vorgeworfen worden, aus der Brieftasche der Mutter Geld gestohlen zu haben. Aber sie war es nicht gewesen. Sie erinnerte sich an die Stimme des Bruders, dunkel und ein bisschen metallisch, voller Speerspitzen, die sich in Snø hineinbohrten. »Brüder können ganz schön anstrengend sein«, sagte sie und legte die Hand auf Sonja Jansens Arm. Sah den goldenen Flaum auf der hellen Haut, solche Härchen, die man bekam, wenn man zu dünn war. An den Handgelenken war ein feines Netz aus Blutadern zu sehen. »Kauf dir ein Vorhängeschloss und schließ die Leiter an«, sagte sie.

Kapitel 9

Marit bog um die Hausecke. Sonja Jansen zog automatisch die Schultern hoch. Marit hielt sich die Hand vor die Stirn. »Die alte Dame hatte nur den Schlüssel zu ihrer eigenen Wohnung«, sagte sie. »Ich habe den in der Tür hier probiert. Das klappt nicht. Und unter der Fußmatte liegt auch kein Schlüssel. Von einem glatzköpfigen Mann wusste sie nichts. Und hier?«

»Wir haben nichts gefunden«, antwortete Snø. »Aber das bedeutet ja nicht, dass Sonja sich geirrt hat.«

Marit Nilsen warf einen gereizten Blick auf das Mädchen. »Die alte Dame hat gesagt, dass sie hier oft vorbeikommt. Du kannst sie doch schon früher gesehen haben.«

Sonja Jansen hob das Kinn und schüttelte energisch den Kopf. Ihr standen Tränen in den Augen. »Hab sie hier noch nie gesehen. Nur hinter dem Fenster.«

Snø gab Sonja Jansen ihre Visitenkarte. »Ich glaube dir«, sagte sie leise noch einmal. »Ruf mich an, wenn irgendwas ist. Ruf einfach an!«

»Danke«, erwiderte Sonja Jansen, wischte sich die Augen mit dem Handrücken und nahm dann die Karte mit ihrer schmalen weißen Hand.

*

Auf dem Rückweg fuhr Marit. Sie bremste vor der Kreuzung am Ende des Engvei. Im Seitenspiegel sah Snø für einen Moment Sonja, die allein auf dem Bürgersteig stand. Sie erinnerte an einen zerzausten, ausgestopften Vogel, den Snø als Kind in einem Schaukasten im zoologischen Museum gesehen hatte. Das Gefieder war verblasst, und der Vogel stand ein bisschen schief. Er sah lebendig aus, war aber tot. Sie hatte auf dem Heimweg geweint. Weil sie das Gefühl hatte, betrogen worden zu sein. Die Dinge waren nicht so, wie sie aussahen.

»Umsonst, die Tour«, sagte Marit, »das ist eine ruhige Gegend, aber ich hab mir den Namen der alten Ziege notiert. Man muss professionell vorgehen, darf sich nicht einschmeicheln. Korrektheit ist das Wichtigste hier bei der Truppe.« Sie zog die Mundwinkel nach unten.

Snø fragte: »Bist du in so einer Gegend aufgewachsen?«

»Ich komme von einem windschiefen Hof mit zwei Schlafzimmern. Wir waren acht Kinder. Jeden Abend war mir schlecht von der Stallarbeit.« Das Gesicht spiegelte Erinnerungen wider, die jetzt auf sie einströmten. »Wir hatten keine richtigen Bettdecken, nur schwere Steppdecken. Und es gab oft Blutspeisen und Kartoffeln zu essen.«

Snø ließ den Blick vom farblosen Gesicht ihrer Kollegin zur Aussicht durch das Fenster wandern. Es war ganz still im Auto, bis sie Ekebergskrenten erreichten. Dann sagte Snø: »Ruhige Gegenden können die schlimmsten sein. Ist das nicht altmodisch?«

»Blutspeisen und Kartoffeln?« Marit warf ihr einen Seitenblick zu und hielt für einen Fußgänger.

»Namen auf einen Zettel zu notieren.« Snø drückte auf einen Knopf, und das Fenster öffnete sich weiter. Luft strömte ins Auto. »Warum hast du nicht einfach ein Foto von ihrer Bankkarte gemacht?«

»Komm mir hier nicht mit Belehrungen. Du hast keine Polizeierfahrung. Hast du übrigens von Sonja Jansen Elf bekommen?«

Snø lächelte. »Elf bekommen« war Polizeijargon und bedeutete, die Personenkennziffer zu identifizieren.

»Natürlich«, sagte sie. Von Marit wollte sie sich nicht herunterputzen lassen. »Ich hab ja ein Foto von ihrer Bankkarte gemacht.«

»Nur, damit das mal gesagt ist«, fuhr Marit fort. »Die alte Dame war krank. Sie hatte in ihrem einen Ohr einen Perlohrring. Wer trägt denn so einen in nur einem Ohr? Und sie roch nach irgendwas, Alkohol vielleicht oder Reinigungsmittel. Hat das Mädel mehr über die Plastikkannen gesagt, die der Mann getragen hat?«

»Sie hat ihn nur vom Küchenfenster aus gesehen«, sagte Snø. »Sie meint, dass er in den Nachbargarten gegangen ist. Ich glaube nicht, dass Sonja Jansen lügt.«

»Sicher war da Schwarzgebrannter in den Kannen.« Marit grinste. »Das Mädel hatte etwas Hippiehaftes an sich, und sie wirkt unausgeglichen. Das hier ist kein Fall.«

»Ich hab ein anderes Gefühl.«

»Deine Vorgängerin hatte zu viele Gefühle. Sie hat im Personalsystem herumgeschnüffelt und ist gefeuert worden. Ließ ihren Lebensgefährten sehen, was die Leute getan hatten. So arbeiten wir nicht. Wenn hier jemand anfängt zu spielen, dann heißt es sofort raus!«

Marit lächelte nicht oft, aber wenn sie es tat, tauchte in der rechten Wange ein reizendes Lachgrübchen auf. Sie bogen auf den Verkehrskreisel ab und fuhren dann in den Tunnel. Snø sehnte sich nach einem Strand. Zum Glück war die Wache nachts geschlossen, früher war sie rund um die Uhr besetzt gewesen, aber diese Verantwortung war an die Polizeistation in Grønland übertragen worden.

Sowie sie die Wache erreicht hatten, suchte Snø sich bei der Auskunft Sonja Jansens Mobilnummer heraus. Und speicherte sie. Abends wollte sie das Mädchen anrufen und fragen, wie es ihr ging.

Kapitel 10

Sonja Jansen fuhr aus dem Schlaf hoch, geweckt vom plötzlichen Geschrei eines Elsternpaares. Draußen kämpften und jammerten oft Katzen, aber diesmal waren es also Vögel. Sie setzte sich auf. Ihr Herz schlug wie besessen. Niemand war in ihrem Zimmer. Das Fenster stand sperrangelweit offen. Der Vorhang pendelte in der gleichmäßig hereinströmenden Nachtluft hin und her. Es war fast halb drei, und es wurde jetzt hell. Bald würde die Sonne aufgehen. Ein großer Baum in einem etwas weiter entfernt liegenden Garten hatte Zweige, die an Arme erinnerten. Der Sommermond schien in diesen Armen festzuhängen und sah aus wie Papier.

Nun hörte sie das Geräusch des Rasensprengers, dieses leise Rauschen, wenn die Tropfen die Blätter des Apfelbaums trafen. Sie hatte vergessen, ihn auszuschalten.

Sie schlug die Bettdecke zur Seite und setzte die Füße auf den Boden. Auf der Fensterbank hatten sich Tautropfen abgelagert, das sah sie jetzt.

Sie schaute hinaus. Die Gärten lagen wie kleine Vierecke hintereinander, in Richtung der Straße auf der anderen Seite. Einer war überwuchert von Lupinen und Brennnesseln. Es machte natürlich nichts, wenn der Rasen nicht immer so kurzgeschoren war wie bei den Nachbarn. Die würden ja ohnehin lange wegbleiben. Aber Sonja hatte dreitausend Kronen bekommen und musste etwas tun für dieses Geld.

Sie hob ihr Telefon vom Boden auf. Irgendwer hatte angerufen, das sah sie jetzt, eine unbekannte Nummer. Sie nahm die Visitenkarte vom Nachttisch, die Karte, die die Polizistin mit den Locken ihr gegeben hatte. Es war ihre Nummer. Polizeibeamtin Lydia Winther. Sie nannte sich Snø. Was für ein ausgefallener Name. Aber sie war freundlich gewesen, und sie hatte ihr geglaubt. Die Kurzhaarige war mürrisch gewesen. Sonja hoffte, der niemals wiederzubegegnen, denn Sonja hatte die Frau hinter dem Fenster im Nachbarhaus wirklich gesehen! Genau dieses Gesicht, breit und unangenehm, dann war die andere zurückgewichen. Hatte sie der Polizei gegenüber die türkise Kopfbedeckung erwähnt? Sie vergaß so vieles! Hatten die Drogen von den Abifeiern sie so durcheinandergebracht? Sie setzte sich auf das Bett und schrieb eine SMS an Snø. Ich weiß, dass ich jemanden im Nachbarhaus gesehen habe, und die Person hatte etwas Türkises auf dem Kopf. Gruß Sonja Jansen. Sie drückte auf Senden, schob den Stecker des Ladekabels, das auf dem Nachttisch lag, ins Telefon und warf das Handy aufs Bett. Dann ging sie ins Schlafzimmer ihrer Eltern und schaute hinaus auf die Straße. Das Lachen ihrer Mutter fehlte ihr. Und der Lärm der Brüder. Unten in der Küche trank sie Wasser aus der Leitung und schaute hinüber zu dem Traumfänger, der im Anbau bei der Haustür unter der Decke hing. Sie musste doch den Sprenger ausschalten, aber es wäre vielleicht dumm, nur mit dem Nachthemd bekleidet aus dem Haus zu gehen?

Als sie kleiner war, hatte die Mutter ihr immer eingeschärft, sie müsse auf der Hut sein, vor allem nachts, und wenn sie in der Stadt war oder in Bus oder Bahn, aber jetzt war sie neunzehn und war bisher zurechtgekommen, abgesehen von der versiebten Abiprüfung.

Im Badezimmer zog sie das Nachthemd aus und streifte ihre Kleider über, die Jeans und das gelbe T-Shirt, dazu eine Jacke, denn es war ein bisschen kühl. Es war trotz allem gut, dass die Eltern und die Brüder auf die Hütte in Nordnorwegen gefahren waren, schön, dass die Mutter endlich begriffen hatte, dass Sonja ihre Ruhe brauchte. Und dass die Mutter Vertrauen zu ihr hatte, nach dem wilden Frühling, in dem fast alles schiefgegangen war. Sonja hatte versprochen, die sozialen Medien zu meiden und sich auf das Lernen zu konzentrieren. Sie war seit Tagen nicht mehr auf Facebook gewesen. Und die Mutter hatte versprochen, sie mit Anrufen und SMS zu verschonen. Sonja hatte versprochen zu essen. Und sie hatte ein bisschen gegessen, aber kein Brot.

Sie zog die Joggingschuhe an, zog hinter sich die Tür zu und ging hinaus auf die Straße. Und nun sah sie die beiden auf sich zukommen, die umfangreiche alte Dame und den glatzköpfigen Mann mit dem Seemannsgang. Sie waren nur wenige Meter von ihr entfernt. Sie trugen zwischen sich eine Zinkwanne. Und sie entdeckten Sonja im selben Augenblick.

Kapitel 11

Am Donnerstagmorgen landete eine Vermisstmeldung auf Marits Schreibtisch. Eine gewisse Nina Lysne teilte mit, ihr Mann sei verschwunden. Marit hatte ihr Telefon lautgestellt, weshalb Snø jedes Wort hören konnte. »Selbstmord ist ausgeschlossen«, sagte die Frau mit dünner Stimme. »Fangen Sie bloß nicht damit an! In drei Tagen hätte er einen Termin mit der Behörde gehabt. Und darauf freute er sich. Ich habe schon mit drei Kollegen von Ihnen gesprochen, niemand will zuhören. Dag hatte vorgestern Überstunden gemacht. Er hatte die ganze Woche mit einem Team auf einer Bohrinsel verbracht, und er wollte nur kurz im Büro vorbeischauen und dann nach Hause kommen. Aber als er gestern Morgen noch immer nicht da war, wurde ich unruhig. Ich hatte allerdings so viel zu tun, musste die Jungs in die Kita bringen und dann zur Arbeit, und da habe ich nicht weiter darüber nachgedacht. Ja, ich weiß, das hört sich seltsam an, aber er war lange weg gewesen, und manchmal schläft er im Keller, und ich hatte es nicht mehr geschafft, da nachzusehen. Der Alltag mit zwei Kindern ist immer so hektisch. Erst, als aus der Kita angerufen wurde, weil er die Kinder nicht wie abgemacht geholt hatte, wurde ich ängstlich. In letzter Zeit hatte er am Telefon gestresst gewirkt, ein bisschen abwesend, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Und seine Kollegen sagen, dass sein Handy draußen in Høvik liegt, im Büro.«

»Ich rufe heute Nachmittag zurück, und dann brauche ich konkretere Auskünfte. Ich muss jetzt zu einer Besprechung«, log Marit und beendete das Gespräch.

Der Verkehrslärm drang durch das geschlossene Fenster. Snø fand Marit kalt. Aber sie war sicher korrekt. Das war wichtig. Selbst hatte sie am vorigen Abend versucht, Sonja Jansen anzurufen. Aber Sonja war nicht ans Telefon gegangen. Snø hatte Sonjas SMS am Morgen gesehen, aber die war mitten in der Nacht abgeschickt worden. Dort stand, dass Sonja ganz sicher war, jemanden im Nachbarhaus gesehen zu haben, eine Person mit einer türkisen Kopfbedeckung.

Snø gab wieder Sonjas Nummer ein und ließ es lange klingeln, aber auch jetzt meldete sich Sonja nicht. »Ich habe versucht, Sonja Jansen anzurufen, die aus dem Engvei«, sagte sie zu Marits Rücken. »Ich hatte ihr versprochen, mich noch mal bei ihr zu melden.«

Marit schwieg einige Sekunden, dann drehte sie sich mit ihrem Sessel um. »Nur, damit das mal gesagt ist. Sie sollte sich bei dir melden, wenn sie noch etwas gesehen hätte.«

»Das weiß ich«, sagte Snø eilig, »aber, ich finde, wir … diese Frau …«

»Jetzt musst du diese Nachbarschaftsmeldung aber vergessen.«

Frank Armann betrat das Zimmer, füllte es zur Gänze. »Komm mit mir, Lydia. Du sollst nicht immer nur Berichte schreiben müssen.«

Kapitel 12

Snø erhob sich. In Armanns Büro war auf dem Bildschirm eine lange Namensliste zu sehen. »Vermisstmeldungen landen ja zuerst bei uns, ehe sie ernst werden, um das mal so zu sagen. Die Kripo übernimmt dann, wenn sich die Leute nicht wieder einfinden. Sie haben eine Cold-Case-Gruppe mit kleinen Einheiten eingerichtet«, sagte er. »Hier sind alle Fälle. Wie läuft übrigens die Zusammenarbeit mit Marit?«

»Ganz in Ordnung«, sagte Snø, die auf der Polizeischule gelernt hatte, dass Jammern keine gute Idee war. Armann wusste ohnehin, dass Marit nicht als die allerangenehmste Kollegin galt.

»Gut«, entgegnete er.

Sie beugten sich über den Tisch. »Du kannst dir einen Fall mal ansehen, aber nur, wenn du zwischen den Berichteschreiben mal eine Lücke hast.« Er lächelte in seinen Bart.

»Okay«, sagte Snø und warf einen raschen Blick auf die Namen. Es waren vor allem Männer, aber etwa ein Dutzend Frauen war auch dabei.

»Sie konzentrieren sich im Moment auf vierunddreißig nicht aufgeklärte Fälle, und alle sind in einem dynamischen Prozess, aber jetzt mitten im Sommer geht es still zu in der Gruppe. Du kannst mal einen Blick auf den obersten werfen. Der ist zuerst bei uns gelandet. Vor sieben Jahren, sehe ich.«

»Gut«, sagte sie.

»Vor allem, damit du ein bisschen darüber lernst, wie hier gearbeitet wird, von dem Moment an, wo die Meldung einläuft, bis es ernst wird.«

»Alles klar.«

»Ich mail dir die Unterlagen.«

Snø nickte glücklich. »Danke«, sagte sie und ging zur Tür. Sie schaute auf die Uhr. Es war schon drei.

*

»Was wollte der?«, Marit drehte ihren Sessel herum und sah Snø neugierig an, als die in ihr Büro zurückkehrte.

»Ich soll mir einen Cold Case ansehen. Ich kann ja nicht nur über den Berichten sitzen.«

Marit drehte ihren Sessel zurück. »Von den Berichten wird man nie befreit.«

Snø dachte, Marit sei wohl eine, die keine Freunde hatte, nur Kollegen. Sie öffnete das gemailte Dokument. Cold Cases waren spannend, aber Armann hatte natürlich nicht die Hoffnung, dass sie etwas Neues finden würde. Es war eine Sache zur Übung.

Sie fing an zu lesen. Die Meldung war vor sieben Jahren eingetroffen, im April 2013. Die einundfünfzig Jahre alte Brita Angell war technische maritime Ingenieurin. Brita hatte bei Det Norske Veritas gearbeitet, in der Abteilung für technische Kontrolle von Systemen für Bohrinseln und Plattformen, und sie war zuletzt gesehen worden, als sie um ein Uhr nachts an der Überwachungskamera des Zentralbüros in Høvik vorbeigegangen war, nachdem sie Überstunden gemacht hatte. Es war mitten im Winter und eiskalt. In der Bürolandschaft gab es keine Überwachungskameras. Ein Teil ihres Computersystems war verschwunden, aber die Ermittler hatten das für schlichten Diebstahl gehalten, denn auch die Geräte mehrerer anderer waren gestohlen worden, und der Dieb hatte niemals dingfest gemacht werden können. Angell war Leiterin eines Teams gewesen, das die Untergestelle von Bohrinseln überprüfte. Erst im folgenden Jahr wurde ihr Verschwinden als unaufgeklärter Mordfall registriert. Ihr Lebensgefährte war in Verdacht gewesen, aber obwohl sie sich alle Mühe gaben, um ihn mit dem Fall in Verbindung zu bringen, konnten sie keine Beweise finden. In den letzten Jahren hatte die Polizei großen Erfolg bei der Aufklärung alter Mordfälle gehabt. Das lag unter anderem an neuen elektronischen Untersuchungsmethoden. Angells Mobiltelefon war noch einmal analysiert worden, aber dabei war nichts herausgekommen. Das Telefon und diverse andere persönliche Dinge lagen im Beweislager im Polizeigebäude. Brita Angell war niemals gefunden worden. Ihr Leichnam war verschwunden.

Kapitel 13

Esme Madsen betrat langsam den Friedhof von Nordstrand. Hansi hatte gesagt, es gebe hier fast sechstausend Gräber, also musste sie sich die Lage genau überlegen. Es war halb vier, und die Sonne stand noch immer hoch am Himmel. Sie hatte an dem Morgen lange geschlafen, in ihrem eigenen Bett, wollte nicht mehr an die Sache aus der Nacht denken. Sie hatte gehört, dass Hansi den Mann Dag Lysne genannt hatte, hatte gehört, wie er versucht hatte, herauszubekommen, wer sonst noch etwas wusste.

Sie hatten ihn bei seiner Arbeit draußen in Bærum aufgesucht, in einem großen viereckigen Steinhaus gleich am Wasser. Hansi war durch eine Hintertür hineingegangen. Er wollte sagen, er habe wichtige Unterlagen in Verbindung mit der Arbeit des Mannes. Esme hatte draußen gewartet. Hatte sich hinter einem Fahrradschuppen aus irgendeinem durchsichtigen, welligen Material versteckt. Die Hecktüren des Lieferwagens standen offen. Kein Mensch war auf dem Hinterhof zu sehen gewesen. Esme hatte Hansi und Dag entdeckt, als sie an den Müllcontainern vorbeigingen. Sie beugte sich in den weißen Lieferwagen, wie um die Unterlagen herauszunehmen. Der Mann begriff noch immer nicht. Als sie beim Auto angekommen waren, schlug Hansi ihm mit einem Schraubenschlüssel gegen den Hinterkopf, und gemeinsam schoben sie ihn auf die Ladefläche, wo ein wildes Chaos herrschte; Werkzeug, Sägen, Äxte, Eimer, Zinkwannen, Plastikkannen und Rollen aus schwarzen Müllsäcken. Hansi kletterte hinterher und drückte dem Mann einen Lappen mit Betäubungsmittel auf Nase und Mund, damit er nicht zu sich käme.

Dann fuhren sie vorbei am Henie-Onstad-Kunstzentrum, über einen Kreisverkehr und weiter auf die E18.

Als der Mann wieder aus dem Auto gezerrt wurde, war er nicht bei klarem Bewusstsein. Das Haus im Engvei stand jetzt in den Ferien leer. Alles war geplant.

Sie wollte nicht mehr an den Mann denken. Eine ihrer Aufgaben bestand darin, Friedhöfe zu überwachen. Sie setzte sich in den Schatten unter eine große Eiche, erinnerte sich an solche Eichen in ihrer Kindheit. Das Leben war gar nicht so schlecht gewesen, damals nicht, draußen auf dem Lande, auf dem Hof. Sie starrte ihre Hände an, starke, aber abgearbeitete Pranken, voller Altersflecken in unterschiedlicher Größe. Das hier war eigentlich der Teil des Jobs, der ihr am besten gefiel. Sie hatte ein kleines Notizbuch in der Handtasche, davon wusste Hansi natürlich nichts, in das sie alles Mögliche schrieb, um sich an Orte erinnern zu können, wo sie gewesen war, falls es plötzlich Dinge gab, nach denen er sie noch einmal fragen wollte, Daten und so etwas, denn dann wurde er nicht böse. Er hielt sie für eine Art wandelndes Lexikon. Er hatte Macht über sie; Disziplin, Struktur und Resultate. Das sagte er immer wieder.

Hier passierte nicht viel, ihr gefiel diese Ruhe. Es war erst der 2. Juli, vom Sommer war noch viel übrig. Von Einsamkeit zu Einsamkeit, dachte sie. Unsichtbar bei den Mauern. Die Spatzen, die auf den Steinplatten herumpickten. Zwei alte Damen in geblümten Sommerkleidern gingen im Schatten der Bäume spazieren, sie selbst hatte eine so weiße, empfindliche Haut, dass sie das ganze Jahr einen Mantel trug. Eine der alten Damen ließ ihren Hund frei laufen, das war doch nicht gut! Sie hatte schon Hunde an Grabsteine pissen sehen! Sie mochte den Winter lieber als den Sommer, denn im Winter konnte sie ihren dicken Wintermantel tragen. Ohne den fühlte sie sich ein bisschen nackt. Wenn der Schnee kam, zogen die Menschen sich in ihre Häuser und Wohnungen zurück, und die Landschaft schien in eine graue, feuchte Wolldecke gewickelt zu werden. Wenn man Geräusche nicht so sehr mochte, war der Winter angenehm, aber die Schlussarbeit war im Winter schwieriger, viel schwieriger.

Unter der Bank, auf der sie hier saß, wuchsen Wiesenblumen. Sie hatte noch immer das Herbarium, das sie in der Schule angelegt hatte. Wusste noch, wie schrecklich es gewesen war, die Blumen unter dem Kontaktpapier zu ersticken, wie unter einem durchsichtigen Leichentuch. Die Blumen sahen danach echten, bunten Blumen zur Verwechslung ähnlich, wurden aufbewahrt, als ob sie lebten, waren aber tot. Plötzlich streiften ihre Gedanken das Blut auf dem Kellerboden. Ihr wurde ein bisschen schlecht, aber sie packte doch ihre Brote aus.

Als sie gegessen und Kaffee aus der Thermosflasche getrunken hatte, lief sie auf den schmalen Wegen hin und her. Immer nahm sie irgendeine Rose mit. Eine rote, die rot duftete. Jetzt wollte sie sich eine nehmen. Sie summte leise vor sich hin und konzentrierte sich auf die Steinplatten, durfte nicht auf die Ritzen dazwischen treten. Am Ende fand sie das Gesuchte, ganz am Ende, kurz vor dem Parkplatz. Und sie zog ihr Notizbuch hervor und schrieb den Namen auf dem Kreuz hinein. Margunn Øyen stand dort. Und vor dem Holzkreuz lagen viele Kränze und halbverwelkte Blumen auf dem frischen Hügel. Jetzt im Sommer wurden die Toten rasch und tief in der Erde begraben. Bald würden die Gärtner die Blumenabfälle entfernen, den Grabhügel einebnen und Gras säen.

Kapitel 14

Snø schaute an der rosa Fassade hoch, die ganze Fensterreihe im zweiten Stock gehörte ihr. Zwei Fenster waren im Wohnzimmer und zwei in der offenen Küchenlösung. Ihre erste Wohnung, schön gelegen in einer ruhigen Straße, nur fünfzehn rasche Gehminuten von der Arbeit entfernt und nicht zuletzt in der richtigen Richtung, in der Rosteds gate, an der Grenze zu St. Hanshaugen. Die Hinterlassenschaft der Großmutter hatte es ihr ermöglicht, diese Wohnung zu kaufen. Wer wäre nicht begeistert von diesen alten Wohnblocks mit reich verzierten Fenstern und Stuck unter der Decke? Der Knall, mit dem die Eingangstür ins Schloss fiel, hallte im Durchgang und im Hinterhof wider. Der Hunger ließ ihren Magen brennen. Es war 18.15 Uhr, und sie hatte den Heimweg vor einer halben Stunde angetreten, hatte nur kurz im Laden an der Ecke etwas zu essen gekauft.

Oben angekommen, ließ sie die Einkaufstüte auf den Boden fallen und streifte die Nike-Epic-Schuhe ab. Die Hitze war wie eine schwere Wand. Snø öffnete das Fenster und ließ die süßliche Abgasluft herein. Die Abendsonne traf die Wand des Wohnblocks gegenüber, ließ die Graffiti aufleuchten; lila, schwarz, rot und gelb. Obwohl die Grünen viele Parkplätze abgeschafft und Gratisparken für E-Autos eingeführt hatten, gab es noch immer Autos, die hier in der Stadt Abgase absonderten, unter anderem auch ihr eigenes. Ein alter Suzuki, den ihr Vater ihr geschenkt hatte und den sie im Hinterhof abstellte.

In der Küchenecke waren die Schranktüren taubengrau, die blauen Tassen der Großmutter standen oben, ansonsten war fast alles weiß. Das Wohnzimmer allein war schon größer als die winzige Wohnung, in der sie während des Studiums gehaust hatte, und es war wunderschön, ein eigenes Schlafzimmer zu haben. Sie müsste es schaffen, hier Ordnung zu halten, aber oft wucherte alles um sie herum zu; Kleidungsstücke über Stühlen, verdorrte Topfblumen. Gut, dass die Großmutter das nicht sah! Bei der hatte peinliche Ordnung geherrscht, und auf keiner Fläche war auch nur ein Staubkörnchen zu finden gewesen. Snø hätte den flauschigen Teppich nicht kaufen dürfen, der war wie ein Staubfänger. Und das Bücherregal hätte sie sich sparen können, kein Mensch las doch noch Papierbücher.

Hatte Marit die Tour nach Bekkelaget ins Protokoll eingetragen, oder erwartete sie, dass Snø solche Scheißjobs erledigte? Marit schien auch Nina Lysne sattzuhaben, sie hatte ziemlich deutlich die Meinung vertreten, dass deren Mann sicher nur mit einer Geliebten eine kleine Reise unternommen habe. Marit kann andere Menschen nicht leiden, dachte Snø.

Während sie sich ihre Fertigmahlzeit aufwärmte, leuchtete in ihrem Mobiltelefon, das sie auf den Küchentisch gelegt hatte, eine Nachricht auf. Auf dem Fernsehschirm liefen die Nachrichten. Die Öl- und Energieministerin Torfrid Kvammen stand in einer sommerlichen Stadt in einer Menschenmenge auf einem Platz. Sie zog sich ihre senfgelbe Bluse tiefer über die weiße Hose und sagte: »Dieses neue Ölfeld wird vielen Menschen Arbeitsplätze geben und dem Land hohe Einnahmen bringen.« Möwengeschrei war zu hören. Die Ministerin machte ihre Stimme tiefer, wie auch Snø das auf der Polizeihochschule gelernt hatte. Mädels, nicht mit Piepsstimme reden! »Die Emissionen werden sehr gering sein, verglichen mit älteren Feldern.« Aus der Menschenmenge waren leise Buhrufe zu hören. Das Buh war wie eine eigene Stimme aus der Tiefe, wie die Basstöne der Kollegen, dachte Snø. »Das ist keine schwarz-weiße Frage«, sagte Kvammen. »Wenn wir morgen alle Ölhähne zudrehten, würde das nicht bedeuten, dass damit alle CO2-Emissionen ein Ende hätten.«

Der Nachrichtensprecher redete ohne Punkt und Komma. Snø setzte sich an den Esstisch, klappte den Laptop auf und loggte sich bei Facebook ein. Ihre Freundinnen hatten schöne Badefotos von sich selbst gepostet, und hier saß sie in der brütend heißen Hauptstadt und musste tagaus, tagein Berichte schreiben.

Sie hatte eine Freundschaftsanfrage bekommen und betrachtete sie gleichgültig. Lars Winther möchte mit dir befreundet sein. Sie fuhr zurück und knallte gegen die Rückenlehne. Sie starrte zum Fenster hinüber und presste sich die Hand gegen den Hals. Dann lief sie zum Herd und drehte die Kochplatte aus. Sie ließ sich wieder auf die Stuhlkante sinken, müsste die Anfrage ablehnen, war jedoch zu neugierig. Sie wusste, dass das Netz perfekt für Kriminelle war, die digitale Manipulation versuchten, die Kontakt suchten und Vertrauen erwecken wollten, aber sie drückte trotzdem auf Freundschaftsanfrage annehmen und klickte das Profil an. Und da war er, mit seinen blonden, halblangen Haaren, vor blauem Himmel, mit brauner Haut. Sie hatten natürliche goldene Haut, alle beide.