9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €
"Die Ärzte haben es sich eine Weile überlegt, ehe sie dem heimgekehrten Clemens Forell behutsam erklären, daß er den Sinn für Farben verloren habe. Nach und nach haben sie ihn noch vielerlei Veränderungen mit Schonung begreiflich machen müssen, weil nun einmal ein Mensch, der jahrelang im Blei gehaust hat und drei Jahre das Leben eines Tieres und bei den Tieren führen mußte, nicht mehr als jener zurückkehren kann, der er vordem gewesen ist ..."
Der großartigste Abenteuerroman, den die neuere deutsche Literatur besitzt: der ergreifende Bericht einer Wanderschaft, einer Flucht vom Ostkap Sibiriens nach Westen.
Ein Welterfolg seit über 40 Jahren - in 15 Sprachen übersetzt, mit einer Weltauflage von mehreren Millionen Büchern, mehrfach erfolgreich verfilmt und immer wieder gesendet.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 719
Josef Martin Bauer wurde am 11.3.1901 in Taufkirchen an der Vilz geboren. Er hat zahlreiche Romane und Erzählungen veröffentlicht. 1950 erhielt er den »Jugendpreis deutscher Erzähler«, weltberühmt wurde er 1955 mit SO WEIT DIE FÜSSE TRAGEN. Josef Martin Bauer starb im März 1970 in Dorfen/Oberbayern, kurz nach Vollendung seines Kardinalsromans KRANICH MIT DEM STEIN.
JOSEF MARTIN BAUER
SO WEIT DIE
FÜSSE
TRAGEN
Ein Lebeneine Liebeein Weg
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Copyright © 1955 und 2001/2015/2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titelabbildung: © 2001 by Angel Falls Filmverleih GmbH, München
Covergestaltung: Tanja Østlyngen unter Verwendung von Motiven von © Ivan Kurmyshov/shutterstock; © photomaster/shutterstock; © ilolab/shutterstock
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-8387-4643-2
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Daß die Hölle so schön sein kann!
Das Schreien am Zug entlang ist nicht weniger laut als sonst, und die Türen der Waggons werden nicht freundlicher aufgestoßen. Nach sechsundzwanzig Tagen hat das Ohr unterscheiden gelernt, was für Kernstücke der Schwall rauher russischer Worte hat, und nach dem bloßen Klang verstehen die Männer, deren Leiber beim Aufreißen der Tür durch die Öffnung quellen, daß sie fürs erste die Toten herauszulegen haben, damit man sie abbucht, daß sie Schnee in den Kochtopf fassen dürfen und daß es erlaubt ist, von dem Holzstoß da drüben zu nehmen, zwar nur ein paar Arme voll für jeden Waggon, aber eben doch Holz, nachdem seit neun Tagen der Kanonenofen nicht mehr angeheizt werden konnte.
Vor dem Rechteck der offenen Tür liegt ein sichtig kalter Tag, der mild zum Abendwerden eingerötet ist.
In der Gleiswirrnis eines Verschiebebahnhofs hat der Zug angehalten.
Der Weg in die Ewigkeit hat seine festen Stationen, die schon mit in die Ewigkeit eingeplant sind und keine verlorene, aber auch keine gewonnene Zeit mehr kennen, ob der Zug drei Stunden oder vier Tage hier verhält. Diese Station nun heißt Omsk.
Der Tag der Fahrt ist der sechsundzwanzigste. Aus den Waggons, die der Tod seit dem letzten Anhalten besucht hat, werden die Leichen in den kalten Tag hinausgehoben und an die Böschung eines etwas höher liegenden Nachbargeleises gelegt. Holz wird hereingenommen. Die Handreichungen sind gewohnt und eingelernt. Aber die Stadt jenseits der Toten und der Geleise ist schön: eine von romantisierenden Adventzeichnern auf rosaroten Abendhimmel gemalte und mit Schneebehang überzuckerte Silhouette von Türmen und Hochhäusern.
Ein himmellanger Mann, den Arm voll Holz, wie es eben zugeteilt wurde, macht sich den linken Arm frei, um auf die Stadt zu deuten.
»Herrgott! Ist das schön!« »Soweit hier überhaupt etwas schön sein kann.« »Die Türme. Die Kirchen.«
Leibrecht nimmt dem Himmellangen das Holz ab und wirft es in den Waggon. »Die Kirchen scheinen es dir besonders angetan zu haben, Forell. Einmal fromm gewesen? Oder wieder auf dem Weg, fromm zu werden? Der Holzstapel, wenn man es richtig betrachtet, ist schöner. Wollen wir es nicht noch einmal versuchen?« »Ich bin zu groß«, lacht Forell. »Mich kennen sie.« Aber im Trubel der Holzausgabe versucht er es noch einmal, stellt sich an und will von neuem in den Stapel greifen, als er an der Reihe ist. Da schreit der Pelzvermummte aber auch schon auf, und selbst wenn Forell nicht ein Wort Russisch verstünde, müßte er aus der reichen Wahl farbiger Schimpfworte das Ergebnis ziehen, daß der Mann ihm das Holz aus der Hand schlagen wird, wenn er es wagen sollte, für den Waggon Nummer acht ein zweites Mal Holz zu nehmen.
»Der Bursche im Pelz ist auf seine Art auch fromm«, lächelt Leibrecht, als Forell, enttäuscht und sichtlich kleiner geworden, leer an den Waggon zurückkommt. »Er hat schöne Worte und Namen aus alten frommen Zeiten gefunden, als er dich abfertigte. Trotzdem – du hast recht. Was hier an Türmen geboten wird, ist herrlich.« »Ich bin meine Kindheit lange im Schatten von Kirchtürmen gelaufen. Papa war aus Liebhaberei ein eifriger Botaniker, der Sonntag um Sonntag durch die Berge zog und uns Kindern, die wir unentwegt mit ihm gehen mußten, zäh und illustrativ beizubringen wußte, wo die gleichen Blumen aus anderem Gestein völlig andere Farben ziehen und wo die Berge ihre herrlichsten Kirchen haben. Kennst du Ettal?« »Ein paarmal durchgefahren.« »Die Kirche solltest du kennen. Ich weiß heute nicht mehr, ob sie so schön und großartig ist, wie sie mir als Kind erschienen ist. Darum möchte ich einmal wieder in dem Rundbau unter der Kuppel stehen.« »Und danken für glückliche Heimkehr?«
Forell macht die Augen eng, als Leibrecht so leichthin und wie im Spott von der Heimkehr spricht, die es für keinen mehr gibt. »Ich möchte einmal noch unter dieser Kuppel stehen und mich umsehen oder umhören. Das hat Papa mir beigebracht in der Ettaler Klosterkirche. Der Raum hat keine Akustik. Man ist allein, wo man auch steht, und es kommt anstatt eines vollen Tones immer nur ein Wispern, ein Bruch von Wort und Musik an den Menschen. Mit Papa möchte ich dort sein.« »Jetzt gib dich mit Omsk zufrieden! An den Verhältnissen gemessen ist es auch schön. Und was deinen Vater betrifft, so ist er, wenn ich mich aus deinen Erzählungen recht erinnere, schon gestorben.« »Vierzig, im Frühjahr. Er wird mir fehlen mit seinen Erklärungen. So bin ich eben dann allein.« »Komm, Forell! Komm! Nach sechsundzwanzig Tagen im geschlossenen Waggon erträgst du die kalte Luft nicht mehr.« »Steigen wir eben ein!« »Ich kenne das, mein Lieber. Genauso hat es mit Emmesberger angefangen. Der hat von Äpfeln auf dem Schlafzimmerschrank geträumt. Bei dir sind es Kirchen. Für deine Frömmigkeit gebe ich nicht allzu viel. Aber aus solchen Träumen kommen dann die großen Dummheiten, wenn die Zeit dazu bleibt und das Gewissen Frostschäden abbekommen hat. Emmesberger hat mit den Äpfeln auf dem Schrank angefangen. Dann ist er tagelang mit Danhorn zusammengesteckt und hat sich erklären lassen, wie weit die mandschurische Grenze an der knappsten Stelle von der Bahn entfernt ist. Er ist die Sorgen um die Flucht los und darf nun ewig Äpfel vom Schlafzimmerschrank essen, friert nicht mehr, hungert nicht mehr, braucht sich nicht mehr die Berge um den Baikalsee erklären zu lassen, und wenn es ihn nicht inzwischen völlig zugeschneit hat, lehnt er noch so im Schnee, wie wir ihn am Tobol aus dem Wagen gelegt haben: den starr gefrorenen rechten Arm hinter dem Kopf, wie wenn er schlafe oder halbwach von den Äpfeln träume.«
»Laß den guten Emmesberger in Frieden! Er war eine treue Seele. Aber so einer kommt im Ernstfall keine fünfzig Kilometer weit.« »Du, meinst du, kämest weiter?«
Forell hat ein kaltes, eckiges Gesicht bekommen. Der rosarote Abend ist graugelb geworden und leuchtet Forells Gesicht aus, daß es nur noch Wachs ist. »Daß es keinen Sinn hat, weiß ich so gut wie du. Aber es hat keinen Sinn, mich mit Emmesberger abschrecken zu wollen. Emmesberger ist tot. Er war ausgelaugt und leer. Die Kälte hatte es leicht mit ihm. Die plötzlich aufgeflackerte Hoffnung hatte ja schon etwas an sich von der Euphorie, die zuweilen einem Sterbenden noch neues Leben vorgaukelt. Mit Toten kannst du mich nicht erschrecken. Ich habe ihn selber hinausgetragen und in den Schnee gelegt. Gut, daß du mich daran erinnert hast.« Forell nimmt den um einen Kopf kleineren Leibrecht heftig am Arm. »Man müßte an einem Tag, der nicht zu kalt ist, den Mut zum Sterben haben. Es ist ein gefährliches Spiel. Ich weiß. Ganz wenig Chance. Die Toten aber haben ihre Chance in ihrer Bedeutungslosigkeit. Sie werden aus der Liste abgeschrieben, und wenn sie einmal ausgebucht sind, kommt niemand mehr auf den Gedanken, sie zu suchen. Es bleibt nur die Frage: wie lang hält einer es aus, so als Toter im Schnee zu liegen, wenn der Zug zwei, drei, vier Stunden stehenbleibt? Zwei Stunden getraue ich es mir auszuhalten. Länger nicht. Länger geht es unmöglich. Ganz erstarren darf ich ja nicht. Komm, Leibrecht! Wir steigen ein!«
Leibrecht und Forell helfen sich gegenseitig hinauf.
Es riecht nach Weiterfahrt.
Die Begleitsoldaten sind wieder mürrisch und benützen die quer in die Faust genommene Maschinenpistole wie der Croupier einer Spielbank seinen Rechen. Der Gewinner bekommt zugeschoben, was ihm zusteht. Geldeswert oder wrackige Menschen ohne Wert. Die Gefangenen, grau quellende Masse, müssen förmlich zusammengepreßt werden, damit die Tür zu schließen ist.
Als aber die Masse wieder wie Teig in einer Kastenform zurechtgedrückt ist, schließt niemand die Tür. Man wird also erst später weiterfahren. Erst in einer Stunde. Oder erst morgen früh. Vielleicht gar erst nach Tagen. Warum auch beeilen? Keiner, wie sie hier eingepfercht sind, hat weniger als fünfundzwanzig Jahre vor sich, und jede Stunde, jeder Tag, jede Woche Fahrt und Halten und Herumgestoßenwerden geht von den fünfundzwanzig Jahren ab, freilich nicht anders als ein Löffel Salz vom Meer. Man hat nicht zugehört, was Forell und Leibrecht gesprochen haben. Es war nur soviel zu hören, daß sie Omsk im Abendlicht schön gefunden und von der Innigkeit heimatlicher Kirchen geplaudert haben. Forell und Kirchen!
In den langen Tagen der Fahrt hat man die Zeichen deuten gelernt, die darauf hinweisen, daß es wieder einmal Essen geben wird. Sonst wären die Türen längst geschlossen worden. Von dort herüber, wo der Himmel sich nun aus dem Graugelb algengrün verfärbt hat, so daß die Türme und Hochhäuser wie vor einem Spiegel aus Wasser stehen, kommt eben noch genug Licht, um die Gesichter in Waggon acht matt zu erhellen, seltsam angespannte Gesichter, wie wenn sie auf einen Prediger hören würden, der aus der Nacht auf sie einspricht. Selbst dann bleiben die Gesichter so gleichförmig angespannt und starr, als die Füße, um sich zu erwärmen, zu stampfen beginnen. Einer fängt an. Nach ein paar Minuten stampfen sechsundachtzig Männer, die Kälte aus den erschlaffenden Beinen zu stoßen. Sie wissen gar nicht in Waggon acht, daß dieses Stampfen vorn begonnen und sich von Wagen zu Wagen fortgepflanzt hat, als wäre Befehl dazu gegeben worden. Irgendwo vorne wird dann etwas Lautes geschrien, vielleicht weil den Transportoffizier der Lärm vergrämt hat, und wie vorhin das Stampfen von vorn nach rückwärts durch den Zug gegangen ist, so kommt nun mit einem schleifenden Kriechen vom Platz der Lokomotive her das Schweigen. Dann stehen die Gesichter wieder starr, wie wenn alle horchen müßten, aber was wie Andacht und Versunkenheit erscheint, ist das gebannte Warten auf ein hörbares Zeichen, daß es heute endlich wieder Kartoschki geben wird.
Um neun am Abend geschieht es wirklich.
Ein Eimer voll Kartoffeln, nicht ganz gargekocht wie immer, schon beinahe kalt wie immer, wird mit viel Lärm zur Waggontür hereingeschüttet, durch die Tür auf den Boden. Was an der Tür steht, weicht zurück, nicht aus Ehrfurcht vor dem Essen, das sonst zertreten werden könnte, sondern aus Mißtrauen. Es könnte ja einer, wenn man sich nicht auf diese Methode geeinigt hätte, im Dunkel schnell zugreifen und eine Kartoffel beiseiteschaffen für sich allein. Auf Leibrecht liegt die Verantwortung, daß richtig und gerecht verteilt wird. Weil er ein Mann ist, der zu gar nichts zwingen kann, hat man ihn gezwungen, das zu übernehmen, denn er hat eine Art, zu befehlen, daß es wie eine Bitte klingt, die auch den Rücksichtslosesten zur Rücksicht veranlaßt.
Leibrecht ist Bankbeamter und könnte seinem Aussehen nach vielleicht ein Nachtportier eines mäßig großen Hotels sein. Als Leutnant ist er aus dem ersten Weltkrieg heimgekehrt. Aus diesem zweiten Krieg kehrt er nicht mehr heim, denn er wurde, für andere Aufgaben nicht recht brauchbar, zu den Landesschützen eingezogen, hat sich brav und bieder, als das Landesschützendasein noch in der Etappe vor sich ging, auf gemächlich rollender Kugel zum Hauptmann emporgedient und ist beim großen Beschuldigen in der Lubljanka zu fünfundzwanzig Jahren verurteilt worden, weil man ihn dafür verantwortlich machte, daß sein Bataillon unter anderem auch gefangene Russen bewacht hatte. Einundfünfzig ist er, und sein blühweißes Haar sieht auch jetzt noch gepflegt aus. Daß er sechsundsiebzigjährig diese jetzt schon so mühevolle Reise in umgekehrter Richtung noch einmal machen soll, will ihm ungereimt erscheinen. Seine Gewalt über den Waggon bezieht er aus jener Güte, wie sie zuweilen den Einfältigen eigen ist. An Intelligenz und gereifter Klugheit fehlt es ihm keineswegs, doch verbirgt sich dies alles hinter der alles und nichts wissenden Flächigkeit seines Nachtportiergesichts. Niemand glaubt ihm seine Magenbeschwerden, die ihm das Ansehen eines opferbereiten Heiligen eingetragen haben. Sein Magen kann diese halbgaren und halbkalten Kartoffeln nicht vertragen, doch sehen die anderen in dem häufigen Verzicht auf die Hälfte seiner Ration eine Geste schönen Edelmuts. Vor allem aber weiß jeder, daß Leibrecht nie eine Kartoffel unberechtigt in die eigene Tasche stecken wird. Seine Einfalt ist nichts anderes als ein ans Pedantische grenzender Hang zur Rechtlichkeit, wo sie in Zahlen ausgedrückt werden kann. Bevor Emmesberger am Tobol aus dem Waggon gelegt wurde, hat er mit ihm seine Kartoffeln geteilt. Jetzt ist Puchta der Teilhaber, und Puchta wird wohl nicht bis ans Ostkap kommen, denn er ißt nur noch, ohne das Futter verwerten zu können.
Leibrecht macht einen Vorschlag. Man hat endlich wieder Holz und könnte, wenn der Kanonenofen angeheizt ist, die ganze Mahlzeit Kartoffeln in einem Stück Rupfen über das kochende Schneewasser hängen, damit alle endlich einmal etwas Warmes in den Leib bekämen.
»Wenn wir aber drei Tage stehenbleiben?« meint einer aus der Ecke. »Solange wir stehen, können wir es uns nicht leisten, Feuer zu machen, denn wir brauchen das wenige Holz auf der Fahrt, wenn wir uns unmöglich mehr anders warm halten können.«
Es wird eine Stunde dauern, bis der Schnee zu Wasser geschmolzen ist. Dann wird das Durchwärmen der Kartoffeln noch einmal mindestens eine Stunde dauern. Solche Einwände sind nicht zu entkräften. Jeder will sogleich essen, um anstatt eines Traumes von warmen Kartoffeln, dessen Erfüllung einer vielleicht nicht mehr erleben könnte, die zwar freudlose, aber greifbare Tatsache kalter Kartoffeln an sich und in sich zu erleben. Leibrecht versucht, so unzulänglich auch alles Maß ist, gerecht zu sein beim Ausgeben der Mahlzeit, von der niemand weiß, ob sie bis zum anderen Morgen oder bis zum Beginn der nächsten Woche vorhalten muß. Noch niemand hat zu ergründen vermocht, nach welchen Regeln, Zeitmaßen und Gebräuchen auf dem Transport Essen verabreicht wird. Doch jeder weiß, daß es jedesmal nur Kartoffeln sind, jedesmal kalte Kartoffeln in unzureichender Menge.
Weil ein paar Männer Omsk schön zu finden gewagt haben, scheint diese Stadt eine Verbeugung des Dankes für die Anerkennung machen zu wollen. Am andern Tag um Mittag geschieht das Seltsame, daß vorne am Zug, der immer noch auf dem Verschiebebahnhof steht, das rauhkehlige Schreien anhebt, das der animalische Instinkt allmählich dahin deuten gelernt hat, daß es bald vom Aufreißen der Waggontüren begleitet sein wird und dann vom tonlosen Hereinpoltern halbweicher Kartoffeln. Damit das Wunder voll werde, sind die Kartoffeln noch handwarm.
Als die Gefangenen satt sind, heben sie die Augen, um zu sehen, daß Omsk nicht mehr schön ist, seit mit dem Morgen eine Dunstschicht aufgekommen ist und sich wie Kleister so zäh zwischen die Türme und Hochhäuser gehängt hat. Die Augen der Satten sehen Dunst, wo die Hungrigen Kuppelglanz gesehen haben.
Weil nichts mehr beachtenswert erscheint, werden die Waggontüren zugeschoben. Gegen Abend erst setzt sich der Zug in Bewegung. Eine Strecke lang geht es noch über Weichen, doch schon jetzt beginnen die Gefangenen zu ahnen, was sie noch gar nicht spüren können: die Kälte der freien Fahrstrecke, die vom Boden, von den Seiten, von der Decke und durch die beiden schmalen Sichtöffnungen hereinkommt. Die Sichtöffnungen, die offenbar noch kein Wachmann entdeckt hat, müssen früher einmal, als der Waggon zu ähnlichen Zwecken gebraucht wurde, mit einem ganz stumpfen Gegenstand gebohrt worden sein, mit einem Löffelstiel etwa oder vielleicht in grauenvoller Geduld mit den Fingernägeln.
»Wer kann Licht machen?« Es ist Leibrecht, der fragt. Aus der Richtung seiner Stimme ist zu hören, daß er noch steht.
»Die Puschka liegt auf dem Ofen.«
Eine solche Antwort ist keine Antwort. Licht muß nicht sein, und heizen darf man jetzt doch nicht, wo niemand weiß, wie lang es dauern wird, bis es noch einmal Holz gibt. Wahrscheinlich gar nicht mehr. Geschlafen muß jetzt werden.
»Ich möchte das Holz vor die Tür schlichten, damit man sich näher heranlegen kann, ohne zu erfrieren.«
Am Ofen herum klappert etwas, Metall an Metall. Einer hat die Puschka in die Hände bekommen. Das weißliche Bündel Funken sprüht zweimal auf. »Einen Fetzen Papier!« Es riecht nach angebranntem Docht. Dann sehen die am Boden ausgestreckten Männer das Licht an einem Span entlangglimmen.
»Zünd uns das schöne Haus nicht an!« Ein paar Hände, aus dem Liegen heraus, greifen mit zu, Leibrecht zu helfen, wenn er mit dem Scheitholz die Tür verbauen will. Es dauert nicht lang, dann kann sich Leibrecht daneben niederlegen. Ein guter Platz ist es längst nicht. Aber so ist Leibrecht nun einmal: er ist mit einem noch kälteren und noch schlechteren Platz zufrieden, wenn er nur nicht eng zwischen anderen eingekeilt sein muß, wenn er Individuum bleiben darf und sich das kleine Abgesetztsein erkaufen kann durch mehr Frieren. Um die anderen das nicht fühlen zu lassen, wird er morgen wieder um so kameradschaftlicher sein. Bevor er mit feuchtem Finger den Span löscht, hebt er ihn über sich. Das Bild unten ist das gewohnte: Sechsundachtzig Männer in einem Vierzigmannwaggon, reihenweise auf der gleichen Körperseite liegend, weil nur nach diesem Kaffeelöffelsystem der Raum erträglich genutzt werden kann. Nach ein paar Stunden ist es soweit, daß Unruhe in die eng liegenden Leiber kommt. Es hat lang gedauert, bis sie gelernt haben, um etwa die gleiche Zeit unruhig zu werden und dann unter Stöhnen und Fluchen sich alle gleichzeitig auf die andere Seite zu drehen. Leibrecht schämt sich, daß er immer einen Vorwand sucht, um nicht Löffel zwischen Löffeln sein zu müssen, einer aus einem Dutzend, aber er hat noch nie im Leben anders als die ganze Nacht auf der rechten Seite liegend schlafen können. Bei Abgang des Transportes waren es noch einundneunzig Mann. Jetzt sind es sechsundachtzig. Der Span, bevor er ausgelöscht wird, beleuchtet ringsum, wo Holzwand ist, eine fingerdicke Schicht von Rauhreif, die über Schrauben und Nieten noch höher und wulstiger in den Raum hineinwächst. In vier Wochen wird reichlich Platz sein.
Am anderen Morgen, als der gewohnte Lärm ausbricht mit den im Frost blechern klirrenden Stimmen der Begleitsoldaten und dem Aufreißen der Türen, wird Puchta zur Abbuchung auf das Nachbargeleise gelegt. Er hat um vier Uhr das Kaffeelöffelwenden wortlos verweigert, und seinetwegen hat die ganze Reihe so liegen bleiben müssen, so wie er: die Arme verschränkt und die Knie angezogen. Seine paar Kartoschki verteilen sich künftig auf fünfundachtzig andere. Und das ist für den einzelnen nicht viel.
Übrigens hat er eine beinahe säuglingshafte Art, zu schlafen und im Schlaf zu lächeln, wie er so im Schnee des Bahndamms liegt. Was aber hat einer mitten in Sibirien zu lächeln!
Forell nimmt sich den schmächtigen Danhorn beiseite.
»Wann sind wir der mandschurischen Grenze am nächsten?« »In vier Wochen«, sagt Danhorn mürrisch. »Red vernünftig, Kerl!« »Ich rechne nur nach dem Tempo, in dem wir bis jetzt gefahren sind. Diese Stadt wenigstens müßte dir ein Begriff sein.« »Nowo-Sibirsk.« »SIB-Chicago. Die Patenstadt würde sich schämen. Aber du hast dich noch nicht daran gewöhnen können, endlich etwas häßlich zu finden.« Forell weiß man muß Danhorn mürrisch sein lassen, weil er sich darin glücklich fühlt. So häßlich ist die Stadt, wie sie sich darbietet, nun auch wieder nicht. Danhorn schaut durch seine dicken Brillengläser zur spaltweit geöffneten Waggontür hinaus. Gott mag wissen, wie es ihm gelungen ist, die Brille bis hieher zu retten. Kein Haar ist diesem Danhorn seit der Gefangennahme gekrümmt worden. Die Vernehmer haben sich mit ihm wenig Mühen gemacht. Auf Befragen hat er bereitwillig erzählt, wie die russischen Beutekarten in der Kartenstelle der Armee, bei der Danhorn den ganzen Krieg lang arbeitete, so schnell in ungezählten Kopien mit deutscher Beschriftung an die Truppe hinausgegeben werden konnten, die vordem mit Dreihunderttausenderkarten hatte arbeiten müssen.
Mürrisch im Lager, mürrisch unterwegs, mürrisch in der Lubljanka, mürrisch in der Aussicht auf fünfundzwanzig Jahre Zwangsarbeit – das ist Danhorn.
»Wieviel Schule hast du denn besucht, Forell? Kann einer denn mit soviel Unwissenheit Oberleutnant werden? Wer hat bei euch denn Geographieunterricht gegeben? Wie oft hast du das Klassenziel nicht erreicht? Und wenn nicht – aus welchen Gründen?« »Studienrat Eibl hat dieses Gebiet vernachlässigt. Ich weiß. Wir sind mit Rußland nur bis zum Ural gekommen.« »Dann ist höchste Zeit, das Versäumte nachzuholen.« »Gelegenheit wird uns sicher noch reichlich geboten werden.« »Gar nichts wird uns geboten. Ein geschlossener Waggon, der nur alle paar Tage einmal geöffnet wird. Und später, wenn man uns an die frische Luft setzt, wird es sehr frische Luft sein. Aber – was willst du schon sehen?« »Wenn möglich, die Grenze zur Mongolei von der anderen Seite.« »Abhauen?« »Ja. Du weißt, wie Sibirien aussieht.« »Ich weiß so wenig wie du.« Danhorn bleibt mürrisch. Doch er fühlt sich geschmeichelt und schaut durch dicke Brillengläser auf den Kameraden, der über mehr an Körper, Größe, Haltung und Zähigkeit verfügt als er. Ohne sein Wissen aber, ohne Danhorns Kartenkenntnisse ist er hilflos und arm. Danhorn weiß, wie Sibirien auf der Karte aussieht. Elf Jahre hat er in Leipzig in einem kartographischen Institut gearbeitet, und in seine Gehirnrinde haben sich langsam die Gitternetze eingegraben, die er nur auszufüllen braucht.
»Wo ist Kap Deschnew?« »Für dich unwichtig. Wenn du erst dort einmal bist, hat dir Gott längst die Dummheit verziehen, daß du einmal an Flucht gedacht hast.«
Mit dünnem Finger scharrt Danhorn in den Rauhreif an der Waggonwand eine Ungewisse, etwa von Norden nach Süden verlaufende Linie.
»Der Ural. Westlich davon die Kleinigkeit Europa, die uns nicht mehr interessiert.« Der Finger zeichnet weiter, und als Forell an dem tödlichen Weißwerden erkennt, daß dieser Finger die Karte nicht zu Ende zeichnen wird, bricht er aus einem Buchenscheit einen Span heraus, einen etwas rüden Griffel für einen Kartographen, doch wird das wohl auch eine rüde und nur ungefähre Karte werden.
»Versuch es damit!« »Der Irtysch. Haben wir hinter uns. Omsk, wenn du dich erinnern magst. Der Irtysch fließt zusammen mit dem Ob. Hier stehen wir im Augenblick. Die Augenblicke in Sibirien sind lang. Hier der Jenissei. Merk dir, Großer: alles fließt und geht und deutet nach Norden. Auch die Lena. Ein repräsentatives Wasser. Ich habe keine Ahnung, welche Reiseroute Intourist vorgesehen hat für unsere Fahrt ins Weiße, aber ich könnte mir vorstellen, daß die ostwärtigen Nebenflüsse« – der Buchenspan zeichnet schabend immer neue Flußläufe in die Eiskruste der Waggonwand – »interessanter werden als die Zuflüsse von Westen. Das zum Beispiel, wenn wir ihn je sehen sollten, wäre der Witim. Dann eine Kleinigkeit weiter nordostwärts die Olekma. Kleinigkeit ist hier alles, was unter tausend Kilometern liegt. Nicht ganz ohne Reiz scheint mir der Aldan zu sein.«
»Unser Kartenblatt reicht nicht, Danhorn.« »Den Rest zeichnen wir eben an die Waggondecke. Für dich nicht mehr von Bedeutung, denn du wirst hier südlich des Baikalsees – der See hat etwa diese Form und Größe – oder im Jablonoij-Gebirge Reißaus nehmen, die kürzeste Strecke zur Grenze wählen, übrigens keine sehr lange Strecke, wenn dies etwa die Grenze darstellt, und wirst beim Grenzposten deine Papiere vorweisen. Du hast doch?« »Sind solche Grenzen denn bewacht?« »Anzunehmen. Oder hast du in Rußland schon einen Stadtausgang, eine Kolchose, einen Ferkelstall oder ein Krautfeld gesehen, das nicht bewacht wäre?« »Saustall!« »Jaja. Ich sagte ja eben: Ferkelstall. Wachturm. Panzer. Hunde. Scheinwerfer und sehr lebhaft arbeitende Kleinwaffen.«
Danhorn bleibt immer gleich mürrisch. Er beliebt zu scherzen, und seine Scherze kommen wie mit Essig getränkt. Dabei aber schauen seine gelben Augen starr und böse durch die verzerrenden Gläser. Die Zähne scharren seufzend auf der bärtigen Unterlippe. »Das Überschreiten der Grenze ist eine Frage der Intelligenz. Ein klein wenig davon hast du ja abbekommen, wenn du auch von Geographie keine entfernte Ahnung hast.« »Nur von der entfernteren Geographie.« »Lernt in der Jugend, damit ihr im Alter wißt, wo ihr Blei schürft!« »Ich möchte nicht gern nach Blei graben.« »Das tut keiner gern. Ich auch nicht. Für eine solche Flucht aber bin ich zu schwächlich. Was willst du schon von einem Kartenzeichner verlangen! Die Intelligenz, um das zu tun, was du tun willst, habe ich auch. Aber ich bin so ungeschickt, daß ich jeden Menschenfänger auf mich locken würde. Dabei hätte ich eher noch als du die landesübliche Körpergröße. Du bist ausgesprochen zu groß. Na gut! Du jedenfalls wirst abhauen und über die Grenze gehen. Es wundert mich nur, daß ich noch nie von einem Mann erzählen gehört habe, der dieses Intelligenzstück vollbracht hätte. Sollte, was anzunehmen ist, die Intelligenz in diesem Fall nichts nützen, dann ist es, glaube ich, in derlei Gegenden weder üblich noch notwendig, ein Grab zu schaufeln. Das soll bis fast in den Mai hinein auf Schwierigkeiten und hartgefrorene Erde stoßen.« »Danke!« »Bitte! Es muß ja nicht gerade das Simpelste passieren. Der kompliziertere und schlimmere Fall ist der andere, daß du tatsächlich über die Grenze kommst, zwei kalte Kartoffeln in der Tasche, die du im Transportzug von der Verpflegung abgezweigt hast. Dann mußt du gut einteilen. Die Wüste Gobi nämlich ist etwa von dieser Größe, daß wir beim Zeichnen unserer Landkarte auf den Fußboden des Waggons überwechseln müssen. Im übrigen bist du nie jenseits der Grenze, auch wenn du sie überschritten hast.«
Forell wird allmählich verärgert und fragt nicht mehr nach. Doch vermag Danhorn nicht mehr aufzuhören, als er sich einmal freigeredet hat. »Die Sowjetunion ist auf allen Landkarten der Erde grün. Daran erinnerst du dich vielleicht. Dieses Gebiet hier kommt auf den Karten blaßgrün. Das wird seine Gründe haben. Eine unbeliebte Farbe.«
Im spitzen Hin und Her ihrer Unterhaltung haben beide nicht beobachtet, daß die Kameraden ringsum, durch das Fluchtgespräch wach geworden, herangetreten sind und böse auf die Karte blicken, deren Einzeichnungen sich schon wieder mit neuem Rauhreif zu schließen beginnen. Leibrecht streicht mit einer Geste, die zu billig ist, um ganz vornehm zu sein, das weiße Haar über den Schläfen glatt und sagt halblaut, man werde Forell die Hälfte der Kartoffelration entziehen, wenn er sich noch kräftig genug fühle zu einem Fluchtversuch, der über die restlichen Kameraden nur noch größeres Unglück bringen werde. Andere hinter ihm sagen es deutlicher.
»Laß du deine Hände von solchen Sachen! Oder bist du vielleicht einer von denen, die es immer wieder probieren?«
Forell, im Erschrecken und Entsetzen sogleich wachsgelb über das ganze Gesicht, geht einen Schritt weiter zurück, denn dies sieht nach echtem Streit aus, weil die Kameraden aus Furcht vor Vergeltung in eine müde Willfährigkeit abgesunken sind, die für ihre Auflehnung den Punkt des geringsten Widerstandes sucht, den eigenen Kameraden. Im Zurückgehen stolpert er, schlägt der Länge nach hin, und ehe er versuchen kann, wieder auf die Beine zu kommen, ist das krause Männerspiel im Gang, von dem die Kraft, die Verzweiflung, der Mut, der Spieltrieb, die Angst und die Heldenhaftigkeit Gebrauch machen, wenn andere Torheiten unzureichend werden.
Lange dauert es nicht. Dazu reicht die Kraft so wenig aus wie die Duldsamkeit der Begleitsoldaten. Die Tür wird aufgerissen, und ein grobschlächtiger Friede tritt in den Waggon, rauh von Stimme und Manieren. Derlei Auseinandersetzungen aber haben sich offenbar auch in anderen Waggons schon begeben. Vor der robusten Gewalt wird den Gefangenen fast beschämend die eigene Schwäche bewußt. Und die keuchenden Männer lachen verlegen, als der rohe Eingriff den Streit geschlichtet hat.
Erst zwei Tage später, als dies längst vergessen und alle Erregung eingefroren ist, wird jemand wieder auf die ins Eis geritzte Karte aufmerksam. Forell bleibt unbeteiligt in seiner Ecke liegen, als Danhorn seine Karte noch einmal erklären muß und befragt wird, wo denn nun jenes Sibirien liege, das in der Lubljanka beim Massenurteil genannt worden sei.
»Das Ostkap?«
Danhorn steht mürrisch und hilflos vor den Narben, die als letzte Spur der mit dem Span gezeichneten Karte noch verblieben sind, und mit unbehilflichen Händen erklärt er, daß die Langwand des Waggons wirklich nicht ausreiche, um auch das noch darzustellen.
»Das läßt sich nicht zeichnen, Leute. Man muß ja auch berücksichtigen, daß die Erde die Form einer Kugel hat. Der Platz reicht nicht. Aber vielleicht läßt sich das an der Decke des Waggons darstellen.« »Noch weiter Osten?« »Auch das. Noch weiter Norden.« »Das gibt es nicht.« »Glaubt ihr denn wirklich, daß es in diesem Land etwas gibt, was es nicht gibt?« »Als ob du schon dort gewesen wärest!« »Es wäre besser für mich, wenn ich nicht soviel wüßte. Mein Arm ist zu kurz, um das nun zu zeigen. Du bist der größte, Forell. Komm her! Nimm den Span!« Forell hat noch den Zorn im Leib über die wüste Affäre, die man ihm bereitet hat, weil er von Flucht zu reden gewagt hat. »Habt nur Geduld, auch wenn euch die Erwartung schwerfällt! Ihr kommt alle hin. Solange Vorrat reicht.«
In der Ecke, Forell gegenüber, liegen zwei Mann, die heute erfroren sind. Die starre Angst schaut hinauf zur Decke. Bis man dort, wo der Platz und die Armlänge nicht mehr reichen, um die Karte fortzusetzen, endlich sein wird, ist aller Vorrat erschöpft, lebt keiner mehr, braucht keiner mehr Flucht zu planen oder über Hunger zu klagen. Die Karte wird, solang auch die Fahrt dauert, nicht mehr vollendet. Und nun hassen die Eingeschlossenen den hageren, immer mürrischen Danhorn, weil er zu wissen behauptet, daß nach allem Ende erst noch die große Endlosigkeit beginnen werde, an deren Überhang ins Raumlose und Ewige das Ostkap sein soll.
Als der Zug schon sieben Stunden in Krasnojarsk steht und die Türen der Waggons noch immer nicht aufgerissen werden, beginnen die Schuhe in einem bösen, eigensinnigen Takt gegen die Bretterwänder zu schlagen. Zwei Tage schon keine Kartoffeln mehr, Brot oder eine andere Nahrung von Wert sowieso nicht. Aber auch keine Kartoffeln mehr. Und halb neben der Tür, damit sie den beißenden Windzug abfangen und so der Kameradschaft noch einen allerletzten Dienst tun, sind sechs Tote aufeinandergelegt. Auch sie bedeuten nicht genug Schutz.
Die Kälte beginnt mit handdickem Frostniederschlag den Raum kleiner zu machen. Die Männer scheuen die Wände. Genügend Stroh haben sie nicht, um sich nach der Seite hin gegen das Hereinquellen des Frierens zu schützen. Nun sieht es aus, als habe man sie vergessen.
Aus dem Poltern an den Türen wird ein böses Schreien, als weitere Stunden vergehen, ohne daß die Russen sich um ihre Gefangenen kümmern. Wie viele aber können noch schreien? Das macht einer kaum noch eine halbe Stunde, dann liegt er im Stroh und wimmert nur noch, verbraucht, erschöpft, keiner Absicht mehr fähig nach dem nutzlosen Kraftaufwand. Danhorn, von seiner Geographie geplagt, haucht einen Kreis in die Eiskruste, wo Krasnojarsk etwa die Hälfte der Strecke durch Sibirien bezeichnet, und stammelt mit grauen Lippen: »Die wollen uns ja gar nicht mehr ans Ende bringen.«
Leibrecht, dessen schmaler Eleganz niemand Ausdauer zutrauen möchte, hämmert noch mit den Stiefeln gegen die Tür und hält es noch durch, als außer Forell und einem Mainfranken namens Burger niemand mehr standhaft genug ist, um idiotisch das Bein mit dem Stiefel gegen die hölzerne Wand zu schwingen.
Den Russen, als sie nach Stunden aufmachen, fallen zwei von den sechs Leichen entgegen. Sie scheinen sonst nichts erwartet zu haben als Tote und sind völlig gleichgültig. Der gewohnte Befehl: die Toten herauslegen, Schnee ins Geschirr fassen und den Eimer mit Kartoffeln hineinnehmen!
Forell muß wohl tobsüchtig sein.
Der Begleitsoldat hatte den Eimer noch kaum losgelassen, da hat Forell ihn schon umgekippt und die Kartoffeln zum Wagen hinausgeschüttet. Es dampft ein klein wenig im Schnee, wo die Kartoffeln grau wie Schlammbrocken herumliegen. Ausgerechnet heute wäre das Essen noch warm gewesen.
»Behaltet eure Kartoschki!«
Die Erschöpften hinten im Waggon stehen auf und versuchen, wo längst das Hirn schon versagt, den Vorgang zu begreifen. Diesen Forell in seinem Eigensinn begreift man nie ganz.
Aber ganz verrückt muß doch wohl Leibrecht sein.
Es ist ein müder Sprung, aber es ist ein Sprung, mit dem der Fünfzigjährige sich, die Hand nur leicht aufgesetzt, aus dem Waggon hinausflankt. »Behalten Sie Ihre Kartoffeln und sagen Sie, wir möchten den Transportoffizier sprechen!« Der weißhaarige Leibrecht ist auch hier noch höflich. Und die saubere Einfalt glaubt daran, daß man hier in Krasnojarsk sich beim Rapport beschweren kann. Das Haar ist schon bis zum Aufringeln über die Ohren hereingewachsen, doch es ist weiß, sauber und gescheitelt. Wie er das wohl zuwege bringt?
Er hat bei aller Höflichkeit des »Sie« an Stimme verausgabt, was er besitzt, und möglicherweise hat er den Kredit an seine Kraft und seinen Mut sogar überzogen. Soviel freilich hat er erreicht, daß aus Waggon neun auch der Eimer mit den Kartoffeln herausfliegt und ein gellendes Schreien anhebt. Drei Minuten sind das höchstens, bis die Rebellion den ganzen Zug erfaßt hat und die Soldaten bedenklich mit den Maschinenpistolen herumzufuchteln beginnen. Derartiges geht so leicht los, wenn die Finger klamm sind. Und von so krasser Kälte werden auch die zweifach geschützten Hände eines ringsum gepolsterten Russen nicht verschont. Kalt kommt die Ernüchterung auf. Keiner will so sterben. Keiner mag sich die Chance nehmen lassen, redlich und langsam zu erfrieren, denn keiner glaubt daran, daß er vielleicht der nächste sein wird, den man als wunderlich erstarrtes Zerrbild einer menschlichen Kreatur hinauswirft.
Alles geht in die Waggons zurück, die so und so nicht verlassen werden dürfen. Selbst Forell weicht dieser Gewißheit, so billig und doch aufregend zu sterben, aus, indem er zurückgeht in den Waggon, schon darauf gefaßt, die Anwürfe der anderen hören zu müssen, die er um die Mahlzeit und damit um das Leben gebracht hat. Die anderen sehen ihn nur stumpf an. Sie sehen genauso stumpf, nur gieriger, die draußen langsam zu Brei zertretenen Kartoffeln an, aus denen es noch dünn heraufdampft. Es geht nicht mehr. Die paar Kartoffeln, süß und fad, sind kein Essen mehr, nur noch klebrige Verzögerung des Verhungerns. Forell hat recht. Möglicherweise hätte er in den Augen der Kameraden nicht recht, wenn da draußen nicht Leibrecht wäre und schreien würde, immer noch.
»So geht das nicht mehr, wie ihr es treibt. Wir verhungern.«
Das Letzte hat der Soldat verstanden. Er spuckt einen herrlichen Bogen in den Frosttag und nickt. »Gutt!« Nach seiner Ansicht ist das sogar ganz gut, weshalb er noch einmal seinen grandios gekonnten Bogen spuckt. Es bleibt verwunderlich, daß er nicht auf den Abzug drückt, um die Rebellion zu beenden. Leibrechts Gehirn arbeitet mit feiner Präzision. Er begreift: ein eventuelles Schießen bringt Scherereien und macht einen Bericht erforderlich. Wenn er sich bewegen und ein paar Schritte weit laufen würde, möchte der Kerl sicher liebend gern abdrücken. Nur auf den ruhig stehenden Gefangenen, der nur mit den Händen gestikuliert, will er nicht schießen. Und so kommt dem Weißhaarigen der Mut, noch einmal zu verlangen, daß man ihn zum Transportoffizier führe.
Weil dies offenbar noch nicht verlangt worden ist, bleibt der Soldat unschlüssig. Der Transportoffizier, ein Leutnant, erlöst ihn aus der unklaren Situation. Ein paar Sätze flitzen hin und her. Kein Wort ist zu verstehen. Ein kaltes, glattes Gesicht mustert den aufsässigen Leibrecht. Plötzlich spricht der Leutnant ein fast makelloses Deutsch.
»Was willst du?« »Für den ganzen Transport ein menschenwürdiges Essen.« »Du revoltierst?« »Nein. Ich spreche für die Leute, die verhungern.« »Also ist eine Konspiration im Gang, die zu unterdrücken meine Pflicht ist. Wie heißt du?« »Hauptmann Leibrecht.« »Towarisch Leibrecht! In zehn Sekunden ist der Wagen abgeschlossen. Ohne dich. Dann gehörst du zu denen.« Er deutet auf die Leichen.
»Das ist ihr Recht, Leutnant. Ihre Pflicht aber wäre es gewesen, von dem in Samara bis an die Decke vollgeladenen Waggon Verpflegung täglich Essen auszugeben an den Transport, und nicht auf den Stationen billige, halb verfaulte Kartoffeln zu geben, bis die Leute massenweise an Hunger und Schwäche sterben.« »Was sagst du?« »Der Waggon zwischen dem Waggon für das Begleitpersonal und der Lok war es. Er ist jetzt leer.«
»Einsteigen!« lächelt dünn und gefährlich der Leutnant.
Es ist, zumal vom Boden bis zur unteren Türhöhe eine halbe Mannshöhe zu überwinden bleibt, kein angenehmes Einsteigen, wenn fast bis auf Haarberührung das Ende eines eilfertigen Stückes Waffe nahe ist. Doch hat Leibrecht das Gefühl, so etwas einmal gesagt haben zu müssen. Mehr freilich bangt ihm vor den eigenen Kameraden, deren Schicksal sich nun wohl in aller Stille hinter gänzlich geschlossener Tür innerhalb weniger Tage vollenden wird.
Finsternis glotzt ringsum auf ihn, als die Tür zugeknallt ist.
Kein Wort fällt. Nicht einmal von der Angst wird gesprochen, von der elenden, erbärmlichen Angst um dieses wertlose Leben, das Leibrecht für sie alle verspielt hat. Es ist ja kein wertloses Leben. Noch wird es hoch angesetzt, sonst hätte es nicht die Rebellion gegeben.
Bei tiefer Nacht, im Licht heller Scheinwerfer, die vordem niemand gesehen hat, beginnt das Rumoren und Schreien am Zug entlang wieder, jenes gleiche mit soviel Stimmaufwand betriebene Ritual des Türenaufreißens, wie es sonst die Ausgabe von Essen zu begleiten pflegt. Das Scheinwerferlicht dringt wie ein hell stechender Stab durch die Blicklöcher herein. Scheinwerfer bedeuten dem, der Rußland kennengelernt hat, immer die Ahnung von Entsetzlichem. Leibrecht findet als erster den Mut, so feig zu sein, daß er hörbar aufstöhnt. Er hat gesprochen für die anderen. Er muß die Konsequenzen auf sich nehmen. Nur dies bekümmert ihn und hat ihm das Stöhnen abgepreßt: daß die Soldaten nacheinander jeden Waggon aufreißen. Es war eben überall Rebellion, es ist nacheinander überall der Kübel mit den Kartoffeln hinausgeworfen worden, und die Vergeltung greift zum Abschrecken darum in jeden Waggon.
Weißes, hartes Licht springt herein, als die Tür von Waggon acht aufgerissen wird. Leibrecht versucht, nicht zu wanken.
Da werden aus einer flachen Wanne, wie sie daheim die Metzger benützen zum Einpökeln von kleinen Mengen Brat, handlange Fische hereingeschüttet, eine ganze Menge Fische, so daß auf jeden Mann, wie sie hier liegen, zwei wenn nicht drei Fische treffen. Anstatt Brot gibt der Soldat alles dazu, was er vom Mutterleib an bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr an unflätigen Flüchen gelernt hat. Bei einem guten Russen sind das viele Flüche, die wunderlicherweise fast alle irgendeinen Bezug auf die Mutter und den Mutterleib haben, und der Vorrat reicht von Waggon acht, wo die Rebellion ihren Ausgangspunkt hatte, noch mindestens drei Waggons weit.
Zum erstenmal, seit man die Lubljanka verlassen hat, geht dem einfältig vornehmen Leibrecht alle Haltung verloren. Er wird, als Reaktion auf die ausgestandene Angst, geschwätzig und überzogen munter, ohne freilich in diesem Zwiespalt zwischen Lachen und Weinen, Entspannung und Renommiererei allein zu sein, da alle auf die Anspannung der letzten Stunden gleich reagieren, nicht nur in Waggon acht, sondern davor und dahinter, so daß die Nacht laut bleibt und in dem gespenstisch klingenden Lachen die gleiche Hysterie abstrahlt wie die von Angst erfundenen Scheinwerfer der Russen.
Beim Wegrollen des Zuges freilich schon, ein paar Stunden später, fragt eine Stimme aus dem Dunkel, ob denn auch das Geschirr ausreichend mit Schnee gefüllt sei.
Die Nacht ist noch nicht um, als die schwer gesalzenen Fische ihre Wirkung zu tun beginnen, ohne daß dem einzelnen mehr erlaubt werden könnte, als zuweilen einmal wieder den Finger in das Schmelzwasser zu tauchen, das über dem zag geheizten Kanonenofen gewonnen worden ist aus dem in Krasnojarsk hereingeholten Schnee. Später, denn auch sehr viel Schnee gibt nur sehr wenig Wasser, lehnen die Durstigen an der Waggonwand. Der Durst, eine viel größere Qual, als sie der Hunger je sein kann, gaukelt ihnen wider alle Überzeugung den Glauben vor, daß der Reif an den Wänden so rein wie weiß ist, wenn man sich nur nicht scheut, mit den Fingern abzukratzen, was in sechs Wochen wie wuchernder Pilz an Niederschlag angewachsen ist.
Die Fische von Krasnojarsk bleiben auf dem ganzen langen Bahnweg bis Irkutsk die einzige Beigabe zum Essen, das weiter wieder nur aus Kartoffeln besteht. Es wird, wie es scheinen will, um der Fische willen nunmehr weniger gestorben. Der kleine Vorrat an Kraft hält bei so ausgehungerten Menschen wunderlich lang vor, auch wenn alles gleich innerhalb einer einzigen Stunde hinuntergewürgt worden ist und von einigen schlecht vertragen wird. Warum der Leutnant kapituliert hat, wagt niemand zu ergründen. Mag sein, daß dergestalt ein wenig vor der Zeit damit begonnen wurde, die Verurteilten nun als Sibirier gelten zu lassen, als künftige Arbeitskräfte, die zu verschleudern ein Verbrechen ist, wenn schon das wortlose Abschaffen menschlichen Lebens hier so gilt, daß jeder glaubt, mit dem Tod eines dieser Menschen eine gute Tat vollbracht zu haben.
Irkutsk prägt sich der Erinnerung für alle Zeit unvergeßlich ein.
In der Lubljanka, wenn endlich das Geständnis unterschrieben war, hat es Papyrossi gegeben, die ersten aus der Hand des nun unendlich liebenswürdigen Vernehmungsoffiziers, die letzten für alle Zeit. Mit gönnerhafter Wurstigkeit geben die Begleitsoldaten beim Aufenthalt in Irkutsk in jeden Waggon für jeden Gefangenen, der noch lebt, ein Päckchen Machorka herein. Es sind die schmalen, braunen Päckchen, wie sie zur Ration des Soldaten gehören. Wer nicht weiß, wie herrlich von Aroma der vielverachtete Machorka schmeckt, der war noch nie hinter russischem Stacheldraht und hat noch nicht zwei geschlagene Monate lang einen Transport mitgemacht durch halb Sibirien bis zum Baikalsee, jedenfalls noch nicht in den Monaten der grausamsten Kälte.
In einem Waggon, der nichts enthält als das Lagerstroh und die schwachen Bündel Menschen, kommt aus unbekannten Ecken in feuchten und zerdrückten Fetzen Zeitungspapier, das jeder längst zu Tüten zu drehen gelernt hat. Darin hält sich der Machorka, mag er auch körnig sein wie Hühnerfutter, einigermaßen zusammen, sofern man diese Tüte richtig nach oben dreht, bis die Glut den Tabak zusammenbäckt und das Rauchen weiterhin so vor sich gehen kann wie anderswo etwa das Rauchen einer handgeformten Zigarette.
Ein sonderbarer Tag ist das. Die Waggontüren bleiben offen. Kein Begleitsoldat versucht allen Ernstes zu verhindern, daß die Gefangenen aus den verschiedenen Waggons miteinander sprechen. Die Kälte ist heute nicht, was sie eben noch war: grauer Feind allen Lebens, sondern eine Komponente im Bild einer Landschaft, die durch den Machorkarauch hindurch gesehen liebenswert erscheint, männlich, von einer prächtigen Kraft. Wenn das nun Sibirien ist, dann mag es ertragen werden.
»Es sind heute zwei Monate.« »Was?«
Die Männer wenden sich langsam um, als der Student Willi Bauknecht aus Waggon vier, ein Bursche mit noch unfertigem Flaum unter den Schläfen, an der Waggontür seine Striche vorweist.
»Am 24. Oktober sind wir weggefahren.« »Stimmt.« »Wir dürfen die Rechnung mit dem Kalender nicht völlig einbüßen. Darum habe ich jeden Tag angemerkt. Acht Tage also fallen noch in den Oktober. Dreißig macht der November. Den Rest könnt ihr mitzählen.«
Soviel Auflauf erscheint den Wachmannschaften gefährlich, weshalb sie die Anstauung auseinandertreiben, nicht ohne daß die Tage, mit einem Nagel in graugrün gestrichenes Bandeisen geritzt, zweimal nachgezählt worden wären.
»Darum also!« »Gar nichts: darum! Die Russen wissen es gar nicht. Zufall, daß es heute Machorka gegeben hat. Das ist auf der Fahrt so fällig, ob man am zehnten Juli durch Irkutsk kommt oder am vierundzwanzigsten Dezember. Nicht Heiliger Christ, sondern Sankt Irkutsk. Wir werden seiner gedenken, nachdem zufällig der Weihnachtsabend unseres Jahres fünfundvierzig mit diesem freundlichen Heiligentag zusammenfällt.«
Der Student sollte lieber in den Waggon zurückgehen und dort nach Herzenslust heulen, weil man ihm das Schicksal auferlegt hat, den Christtag hier zu verbringen, doch um nicht heulen zu müssen, gibt er sich schnodderig und tut, als wäre ihm schon viel Bart auf die Wangen und schon viel Erlebnis auf die empfindsame Haut der Seele gewachsen.
Zu mehr als einer andächtigen Schweigsamkeit reicht es nicht, denn für später haben die Russen noch eine Überraschung bereit. Der Aufwand an Stimme ist groß und der Hang zur Geheimnistuerei nur mäßig, als der Transportzug einen neuen Waggon bekommt und der neue Waggon eine Belegung, die etwas außerhalb des üblichen Stils liegt. Ohne daß Tatsächliches erzählt wird, nur auf dem ausgetretenen und unbeirrbaren Weg des Gerüchts sickert innerhalb weniger Stunden der Sachverhalt durch den ganzen Zug: was da zugeladen wurde, sind nicht Kriegsgefangene, sondern Strafgefangene Russen, die das gleiche Ziel haben wie der Transport verurteilter Deutscher. Der Spruch des Gerichts hat auch bei ihnen auf jene Zeitdauer gelautet, die nach menschlichem oder unmenschlichem Ermessen als lebenslänglich gilt, ob es nun zwanzig, fünfundzwanzig oder mehr Jahre sind. Was sie verbrochen haben, weiß niemand. In einem Land, das alles zu kategorisieren versteht, heißen Verurteilte dieser Qualität Cilnys. Was zur Klasse, zum Stamm, zum Volk der Cilnys gehört, hat keine Aussicht mehr, die Sonne je wieder westlich des Urals aufgehen zu sehen, auch wenn die Wiege in Weißrußland oder im Kaukasus stand.
Im Herbst fünfundvierzig ist der Transport von Tomsk bis hierher gelaufen. Auf der letzten Wegstrecke vor Irkutsk ist der Typhus unter den Cilnys ausgebrochen. Man hat die Leute aus dem Zug genommen, hundertzwanzig Mann, um sie in Lazarettbaracken wieder gesund zu bekommen. Die Weiterfahrt am Heiligen Abend fünfundvierzig treten noch vierzig Mann an.
Es gibt kein Gefängnis, so wird behauptet, das ähnlich sicher wäre wie die Osmita in der für den Menschenumschlag seit Jahrhunderten bedeutungsvollen Stadt Tschita.
Was für wunderliche Ziele sich der Ehrgeiz setzen kann! Die längste Hängebrücke der Welt. Die schönste Stadt der Welt. Das grandioseste Wasserbauwerk der Welt. Das ausbruchsicherste Gefängnis der Welt. Der Ehrgeiz sucht die unüberwindbare Spitze in dem zu erreichen, was eben je nach Land und Brauch am nötigsten ist.
Außerhalb der Stadt auf einer mäßigen Anhöhe gelegen, versucht die Osmita – es wird behauptet, das hieße »Die Unüberwindliche« – Eindruck zu erwecken durch eine zyklopenhafte Ummauerung, an deren Bau sich die Geduld Asiens geübt zu haben scheint. Was hinter dieser Umfassungsmauer an Sicherheitsbedürfnis demonstriert wird, macht Eindruck auf den Menschen, der als Werkzeug, um diesen ewigen Quaderstein zu zersprengen, nichts hat als seine blanken Fingernägel. Das Bauwerk stammt aus Zeiten, da Sibirien selbst in diesem Teil noch nicht unbestritten russischer Besitz war, und hat seine erfolgreichsten Dienste zu jenen Zeiten getan, in denen die Kolonisierung hier ein Hauptlager aufschlagen mußte für den Zuzug aus den Gefängnissen des europäischen Rußland.
Neunzehnhundertfünfzig Mann, die vierzig Cilnys mit eingerechnet, steigen in Tschita aus dem Zug. Der auf ewige Dauer angesetzte und dann doch nach Stunden geglückte Zählappell beim Verlassen des Zuges weist nicht auf, wie viele Männer auf der Strecke geblieben sind. Die Ausgangszahl hat niemand in Erinnerung. Rechnet man aber nach der Sterblichkeit in einem einzigen Waggon zurück auf die ursprüngliche Stärke des Transports, so mögen es anfänglich weit über dreitausend Mann gewesen sein. Waggon acht hat von einundneunzig Mann unterwegs bis Tschita sechsunddreißig an den Tod verloren. Der Ausfall in den anderen Waggons, wie jeder ihn hätte überzählen können, wenn er in seiner eigenen Schlaffheit daran interessiert gewesen wäre, lag keinesfalls niedriger. Nie unterwegs haben die Transportbegleiter sich die Mühe gemacht, die Übriggebliebenen zu zählen. Es war ihnen genug, von ihren Listen abzusetzen, was tot und erstarrt aus den Waggons gelegt worden war.
Jetzt aber zählen sie. Jetzt halten sie auf dem Wegstück vom Bahnhof bis zur Osmita die Gefangenen wie Hunde ihre Schafherde zusammen und fühlen sich erleichtert erst in dem Augenblick, da die riesenhohen Mauern jeden Gedanken an Flucht lächerlich erscheinen lassen. Zweifache Fenstergitter, von denen die Russen rühmend erzählen, daß sie aus Stahl und nicht bloß aus gewöhnlichem Eisen seien, sind an den Fenstern auf Lücke gesetzt. Die Bewachung aber scheint nicht einmal in soviel Sicherung genügend Zutrauen zu setzen, denn um die wassertropfenden Wände der Kasematten ist ein unaufhörliches Pirschen und Schleichen und Lauschen, allzuviel Ehre für neunzehnhundertfünfzig Gefangene, denen auch der letzte Rest an Körperkraft abgesogen wurde. Nicht einmal ein Mann wie Forell denkt mehr an Flucht.
So wichtig ist der gefangene Mensch mit einem Mal. War für den Transport augenscheinlich die Parole gegeben, sterben zu lassen, was untauglich sei für Sibirien, so wird hier das Bestreben fühlbar, jeden Mann zu erhalten, keinem das Ausreißen oder das Sterben zu ermöglichen und den Menschen als Kostbarkeit so zu pflegen, daß nicht durch Unfähigkeit der Verantwortlichen noch dezimiert wird, was sich aus einer heterogenen Masse als Auslese bewahrt hat.
Lang wird des Bleibens in der Osmita nicht sein. Sie ist für den Menschenbedarf Sibiriens eine Karawanserei, dazu bestimmt, daß die Herde hier marschfähig gemacht wird und sich an die neuen Hirten gewöhnt. Es ist zu spüren, wie mit neuen Leuten ein neuer, zugiger Wind in die Osmita kommt. Die physische Kälte, hier durch starke Mauern abgehalten, könnte auszuhalten sein, wenn nicht ein anderes Frieren jedem über den Rücken käme, sobald er ein erstes Mal die Nagajka sieht in den Händen eines kleinen, gedrungenen Burschen, der wie ein wandelnder Waffenständer durch die Flure kommt. Das sind nicht mehr die gleichgültigen, an allem uninteressierten Begleitsoldaten der Bahnfahrt, sondern eingeschulte Menschentreiber, die Fracht zu transportieren haben und sich am besten gleich in der Zwingburg noch mit der Fracht zusammengewöhnen, um hernach leichteres Spiel zu haben. Ihre Mission scheint zu sein, daß sie Schrecken um sich verbreiten, Furcht heranzüchten, Disziplin hochpeitschen und überhaupt einmal peitschen, um zu sehen, wie ein Mensch der neuen Ladung anspricht, wenn ihm das fürchterliche Lederstück über Hals und Schulter gezogen wird.
Diese Konvoisoldaten sind Menschentreiber von Beruf. Sie bringen an Ort und Stelle, was zu begleiten ist, und sie haben die Erfahrung wie das Recht, in jedem Fall zu tun, was verhindert, daß ein Mann unterwegs liegenbleibt. Damit sie sich mit Art und Unarten ihrer Pfleglinge vertraut machen, sind sie vor dem Abmarsch bereits ständig um die Gefangenen. Ihr Zunftzeichen aus zähem langem Leder genießt in aller Welt schauriges Ansehen, seit es Sibirien als die größte Strafvollzugsanstalt der Erde gibt.
Ihrer Imposanz tut die geringe Körpergröße keinen Abbruch. Pelz ist immer bildhaft. Pelzstiefel beginnen das haarige Bildnis von unten her. Pelz sind die Hosen. Pelz die Jacken. Pelz ist die Foffaika, hier nicht bloß halblange Steppweste, sondern beinahe ausgewachsener Mantel, der bis zu den Waden reicht, gerade so weit, daß dadurch das Gehen in Schnee nicht behindert wird. Mit einer Kordel um den Hals gehängt, baumelt zur Seite eine Nagan herab, eine Armeepistole, während die Maschinenpistole wie üblich um die Schulter getragen wird.
Die mannhafte Pracht in Pelz und Waffen ist nicht erst für die deutschen Kriegsgefangenen ersonnen worden, aber auch die Rechte der Transport-Konvois gehen zurück auf altes Spezialistentum. Begleitsoldaten des normalen Typs dürfen nur auf Geheiß eines Offiziers schlagen. Der Transport-Konvoi hat das Recht, nach seinem Dafürhalten die Nagajka anzuwenden, wo es nötig erscheint. Und es erscheint an manchen Tagen unaufhörlich nötig. Damit das Kinderschulbuchbild aus Sibirien vollendet werde, sitzt auf dem meist mit schrägen Augen armierten Kopf eine Pelzmütze, genau die schulbuchhafte Kosakenmütze. Das grüne Kreuz auf dem roten Mützentuch ist das Kennzeichen der sibirischen Transport-Konvois. Der Deckel der Lammfellmütze wird so zur Kokarde.
Was hier nun geschieht, ist selbst für die Bevölkerung von Tschita ungewohnt. Was unter den Händen der Konvois an Regiearbeit in der Stadt vor sich geht, ehe man die Gefangenen wegbringen kann, erfährt zwar niemand hinter den dichthaltenden Mauern, doch macht der Augenschein es offenbar, daß für den ungewohnten Zweck, wenn zufällig einmal ausreichend Schnee liegt, alles an Schlitten requiriert werden muß, was die Stadt überhaupt verfügbar hat. Es geht um fast zweitausend Mann, die abtransportiert werden sollen. Selbst wenn man den Schlitten mit zwanzig Gefangenen beladen will, was längst nicht in jedem Fall möglich ist, werden hundert Schlitten gebraucht.
Das Eindrucksvollste jedoch, als der Tag zur Abreise gekommen ist und der ganze Schub der Gefangenen weggebracht wird, ist die Parade der Pferde. Nur noch in Sibirien, wo das Pferd dem Menschen unentbehrlich geblieben ist, kann der Wille der Macht von heute auf morgen fünfhundert Pferde bestellen, so daß sie zur Stunde dastehen. Jeder Schlitten wird mit vier Pferden bespannt.
Der Morgen dampft und stampft. Die Konvois ordnen die Abfahrt eines regimentsstarken Transports mit dem reichen Schatz der Sprache und der Überzeugungskraft der Peitsche. In der klirrenden Kälte rauchen die Nüstern und die Mäuler. Wieder einmal stimmen die Listen nicht mit der Köpfezahl überein. Sie stimmen nie, wenn es so kalt ist und wenn die Leiber hinter vierfachem Pelz ohne Beschwernis ertragen, was für die schlecht gekleideten Gefangenen eine Marter ist. Nach Stunden dann, deren jede dreifach zählt, hat das Chaos seine Ordnung gefunden, sind die Verpflegungsschlitten mit eingereiht, sind die bejahrten Muschiks aufgesessen und haben die Menschentreiber Platz genommen, einer auf jedem Schlitten, einer für fünfzehn oder achtzehn oder auch einmal zwanzig Mann.
Der spärliche Schnee stäubt auf unter zweitausend Hufen, und als die Karawane sich dehnt, in der Landschaft markiert durch eine kilometerlange Wolke von Atemdampf und flirrendem Staubschnee, ist es nicht allein die Erlösung von der dumpfen Osmita und der Hauch vom Zauber eines unbekannten Abenteuers, was hier und dort auf eines der kellerbleichen Gesichter Farbe legt und ein Lächeln bringt.
Das ist Sibirien, das gefürchtete Sibirien in seiner gewalttätigen Pracht. Entsetzen zwar strahlt der winterliche Himmel, unter dem eben der verbindende Faden mit den letzten Menschen, wo sie zu einer Stadt vereinigt sind, abreißt und die Fahrtrichtung unbekannt und scheinbar richtungslos ins Weiße geht, aber ein Bild wie dieses hat kein Landstück der Erde so grandios zu zeigen. Starr sitzen die Muschiks, nur den Abstand zum vorausfahrenden Schlitten im Auge. Was Pferde und Schlitten an Staub und Schnee hochwirbeln, fegt stechend um ihre Gesichter, um bärtige, menschliche, bäuerliche Gesichter von jener Güte, die über Rußland liegt, auch wo es am grausamsten ist. Wo die Fahrenden vorausschauen, windet sich die Kolonne um Hügelhänge und verliert sich mit dem Anfang irgendwo. Wo einer rückwärts schaut, kriecht ihm wie aus dem Boden kommend das Schattenspiel von Pferdeleibern und hochbepackten Schlitten entgegen, so daß der Mensch in seiner ganzen Erbärmlichkeit sich dennoch eingebettet fühlt, wie wenn er nun nicht mehr verlorengehen und verloren sein könnte.
Heimat kann ein solches Land nie werden, auch wenn es fünfundzwanzig Jahre lang nun an zweitausend Menschen geübt werden soll, daß sie sich damit abfinden. Aber hassen, nach allem Geschehenen aus Überzeugung hassen kann man dieses Land erst recht nicht. Es hat die Männer hervorgebracht, die schrägen Auges jede Gemütsbewegung in den Gesichtern der Gefangenen unaufhörlich zu prüfen scheinen und ihre Fracht hüten, damit die Transportprämie sich nicht durch den leichtfertigen Tod eines Gefangenen vermindere. Es hat genauso aber die bärtigen alten Pferdeführer hervorgebracht und in Güte bis ins Alter ernährt, die beim Verhalten auf der Strecke nur schüchtern von ihrem Ranken Brot beißen und wie beiläufig ein Stück davon fallen lassen, um es dann übereifrig zu suchen und wie enttäuscht den Kopf zu schütteln, nachdem sie es mit dem Peitschenstiel endlich einem der Verbannten vor die Stiefel geschoben haben. Wehe, wenn der mit dem Kreuz auf dem Mützendeckel es sieht! Wehe, wenn Gott es sieht, daß der Mensch nicht barmherzig ist!
Mit der Barmherzigkeit, wenn sie amtlich ausgeübt wird, ist das so: es ist gut, daß keiner, der den Konvois anvertraut wurde, an Hunger und Entkräftung stirbt. Die Prämie wurde ja ausgesetzt, weil mit diesen Verdammten in der Verdammnis, wo sie ihren Ort hat, gerechnet wird wie mit einer Stange Metall. Wer zugrunde geht, der arbeitet nicht mehr. Der Sinn der Verdammnis jedoch ist Arbeit, Ertrag, Leistung aus der verbliebenen Kraft. Der Körper braucht auf diesem Transport unter freiem Himmel ausreichende Nahrung, denn alles wird schneller umgesetzt als im erschlafften Herumliegen unter dem Dach eines Eisenbahnwaggons. Aus einer so vernünftigen Rechnung wächst den Hungrigen Barmherzigkeit zu.
Nach dem langen Tag auf dem Schlitten sind die Männer steif und hohl, der flotten Fahrt überdrüssig und hungrig. Die Konvois kennen die Plätze, wo man Rast machen und zur Nacht bleiben kann, ohne daß befürchtet werden muß, daß auch nur ein Mann auf die Torheit verfällt, im Wald untertauchen zu wollen. Mit dem üblichen Lärm, der aller sibirischen Ordnung eigen ist, vollzieht sich das Ende einer Tagesreise an einem klug gewählten Platz. Die Verpflegungsschlitten laden ab, was für diesen Tag gebraucht wird. Immer sind es die Kochkessel. Die Rast bekommt ihr festes Ritual. Immer wird ein eiserner Dreifuß von den Verpflegungswagen gepackt und aufgebaut, der Kessel in Haken darunter gehängt. Für die Karawane sind es vier Kessel. Die Muschiks hat nicht der Zufall oder die Laune ausgewählt: sie müssen Pferde lenken und müssen kochen können, was gut, einigermaßen schmackhaft und nährkräftig ist.
Über den offenen Waldplatz zieht bald der Geruch einer kräftigen Suppe. Ruhig brennen die Feuer in den Himmel, Frieden ringsum und wunderbare Stille.
Kein Wind bewegt die Luft. Die Kälte Sibiriens steht wie beschworen. Fünfunddreißig oder vierzig Grad Kälte bei Wind wären für Mensch und Tier unerträglich. So aber regt sich die Luft nicht in einem Hauch.
Es gibt Brot. Das Brot ist anständig und gut zugemessen. Jedem Gefangenen wird, als das Kochen schon zu einer unerträglichen Zeremonie geworden ist, ein anständiger Schapf Kascha auf sein Blechgeschirr geschlagen, dick zum Brei gekochte Hirse, später auf der Reise abgelöst durch Mais, Grütze, Kartoffeln oder Sojabohnen, manchmal mit etwas Speck schmackhaft gemacht. Ohne das Brot völlig aufessen zu müssen, das ja für den anderen Tag reichen muß, fühlt der Magen sich endlich einmal nicht betrogen, sondern beinahe gesättigt. Noch mehr: die Mahlzeit wärmt den Körper aus und macht ihn fähig, bei unbewegtem Körper die Nacht in den dünnwandigen Zelten zu verbringen, vom gegenseitigen Austausch der Wärme der Furcht beraubt, als müsse man unter dem Nachthimmel Sibiriens unweigerlich erfrieren. Kalt ist es wohl, kalt bis tief in die Menschen hinein, die sich in den eilig aufgebauten Zelten eng aneinander drücken, doch legt sich auf die Insel von Menschen inmitten einer Waldblöße beinahe wärmend die reine Ruhe, das für menschlich Ausgehungerte leicht berauschende Gefühl, nun einmal niemand mehr als Gott allein ausgeliefert zu sein.
»Schlafen sollst du!« »Gern. Ich kann nur nicht.« »Bist noch unerlaubt jung, Kerl.« »In einem Monat achtzehn.« »Angst?« »Überhaupt nur Angst.« »Das gibt es.«
Dann sind sie wieder still. Der da drüben so laut schläft, muß Danhorn sein. Wer sonst von der ganzen Karawane könnte so mürrisch, aufreizend unfreundlich schnarchen, wenn nicht der Kartograph? Forell richtet sich ein ganz klein wenig auf, um zu erkennen, ob der Mürrische tatsächlich in der Nähe ist. Die konsequente Übellaune eines Kameraden, wenn man sich zweieinhalb Monate lang im gleichen Waggon daran gewöhnen lernen mußte, wirkt wie saubere, durch nichts beschmutzte Kälte. Man findet sich, weil sie sauber ist, mit ihr ab. Man freundet sich mit ihr an, weil es kein Ausweichen gibt. Man wird einfach dadurch getröstet, daß sie ohne Wanken und Wandlung da ist: etwas Bitteres, dem man Heilwirkung zutraut, weil etwas oder jemand doch nicht um seiner selbst willen kalt, bitter, mürrisch, hart und schroff sein kann.
Einer flucht, weil Forell die Zeltplane bewegt hat. Das kostet eine Menge Wärme. Stimmt. Es ist Danhorn. Gut, daß er da ist. Forell kann sich wieder ruhig legen. Und das Murren schläft wieder ein. Nur der Bub bringt es nicht fertig, für die Dauer von ein paar Stunden Schlaf aus dem sibirischen Schicksal auszusteigen. Dabei ist er so mutig, daß er seine Angst zugibt.
»Jetzt versuch’s! Der Schlaf ist unser Eigentum. Es wird nichts herausbezahlt für nichterlebte Träume. Und wenn auch morgen früh alles wie heute ist – niemand mehr kann es dir nehmen, wenn du denen heute nacht entlaufen bist und daheim warst. Nur zum Weckruf wieder da sein! Das Zurückkehren in die Kaserne war immer scheußlich. Das Zurückkehren nach Sibirien nicht anders.« »Na, gut.« »Nur achtgeben, fürchterlich aufpassen, daß du nicht klein und mürbe wirst! Haben sie dich geschlagen?«
Der Achtzehnjährige schüttelt den Kopf. Es ist zu hören, eher zu spüren. Der Sack, auf dem der Knabenkopf liegt, raschelt leicht. »Ein paar Kolbenstöße bekommt jeder einmal, wenn er nicht so schnell gehen kann wie die anderen. Sonst nichts. Vielleicht hätte ich es nicht tun sollen. Dann wäre alles anders gekommen.« »Was?« »Kartoffeln gestohlen.« »Als du schon in Gefangenschaft warst?« »Ja. Es waren deutsche, ostpreußische Kartoffeln.« »Du kannst getröstet sein, mein Lieber. Ich habe nichts gestohlen, war nie bei einem Verband, den sie summarisch zu Kriegsverbrechern stempeln, habe keine Gefangenen bewacht, meinen Aufsatz über die Eindrücke von der sozialistischen Sowjetrepublik so kriecherisch geschrieben, daß ich mich hinterher selber schäme, und nicht einmal zugegeben, daß ich 1942 bereits aus der Gefangenschaft entwichen bin – das alles hat nichts geholfen. Fünfundzwanzig Jahre Zwangsarbeit. Weißt du, was ich zugegeben habe? In einem beiläufigen Gespräch, bei dem man mir sogar Zigaretten angeboten hat, ist mir das Geständnis entwischt, das ich überhaupt für kein Geständnis gehalten habe: daß mir russische Gockel und Gänse nicht schlechter geschmeckt haben als deutsche. Ob ich dafür verurteilt worden bin, weiß ich nicht. Von diesem Geständnis an bin ich nicht mehr geholt worden bis zur Urteilsverkündung. Es trifft längst nicht auf jedes Jahr ein russischer Gockel, auch nicht, wenn man die Gans zu drei Gockeln rechnen wollte.« »Ich habe die Kartoffeln aus Hunger genommen.« »Hunger war es bei mir nicht. Die Truppenküche – du hast sie ja mit siebzehn Jahren schon kennengelernt – war eintönig, und ein Gockel war Kriegsrecht.« »Aus Hunger habe ich die Kartoffeln genommen«, beharrt eigensinnig der Achtzehnjährige. Es liegt etwas Ungeklärtes hinter diesem eingeschränkten Geständnis, was anders wiegt als der kleine Diebstahl. »Wie bist du mit diesem Alter in die Uniform geraten?« will Forell wissen.