Söhne und Liebhaber - D. H. Lawrence - E-Book

Söhne und Liebhaber E-Book

D H Lawrence

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Beschreibung

"Söhne und Liebhaber" (Originaltitel: Sons and Lovers) ist ein Roman des britischen Schriftstellers D. H. Lawrence, der erstmals 1913 veröffentlicht wurde. Es war Lawrence' dritter Roman und wird heute gemeinhin als sein frühes Meisterwerk bezeichnet, obwohl es nach seiner ersten Veröffentlichung nur gleichgültige Kritiken erhielt und von vielen als obszön angesehen wurde. Als die Modern Library 1999 eine Liste der hundert besten englischen Romane des 20. Jahrhunderts zusammenstellte, platzierten sie "Söhne und Liebhaber" auf Platz neun. Der Roman ist ein Bildungs- und Künstlerroman, der den Werdegang des "Helden" Paul Morels schildert und sein Verhalten zu Frauen, insbesondere zu seiner Mutter, der langjährigen Freundin Miriam und der verheirateten, aber in Trennung lebenden Clara Dawes. Null Papier Verlag

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D. H. Lawrence

Söhne und Liebhaber

Vollständige und überarbeitete deutsche Ausgabe

D. H. Lawrence

Söhne und Liebhaber

Vollständige und überarbeitete deutsche Ausgabe

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Übersetzung: F. Franzius 1. Auflage, ISBN 978-3-962813-41-3

null-papier.de/575

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

ERSTER TEIL

Ers­tes Ka­pi­tel – Ehe­früh­ling der Mo­rels

Zwei­tes Ka­pi­tel – Pauls Ge­burt und neue Kämp­fe

Drit­tes Ka­pi­tel – Mo­rel ab­ge­schüt­telt – Wil­liam ins Herz ge­schlos­sen

Vier­tes Ka­pi­tel – Pauls Ju­gend

Fünf­tes Ka­pi­tel – Pauls Ein­tritt ins Le­ben

Sechs­tes Ka­pi­tel – Der Tod im Krei­se der Haus­ge­nos­sen

ZWEITER TEIL

Sieb­tes Ka­pi­tel – Jun­gens- und Mäd­chen­lie­be

Ach­tes Ka­pi­tel – Lie­bes­zwist

Neun­tes Ka­pi­tel – Mi­riams Nie­der­la­ge

Zehn­tes Ka­pi­tel – Cla­ra

Elf­tes Ka­pi­tel – Mi­riams Er­pro­bung

Zwölf­tes Ka­pi­tel – Lei­den­schaft

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel – Bax­ter Dawes

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel – Die Er­lö­sung

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel – Ver­las­sen

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ERSTER TEIL

Erstes Kapitel – Ehefrühling der Morels

Nach dem ›Höl­len­gang‹ kam der ›Grun­d‹. Der Höl­len­gang war eine Rei­he stroh­ge­deck­ter, ganz ge­räu­mi­ger Häu­schen, die auf Green­hill-Lane am Bach ent­lang stan­den. Berg­leu­te leb­ten dar­in, die in den klei­nen, zwei Fel­der brei­ten ent­fern­ten Gru­ben ar­bei­te­ten. Der Bach lief un­ter Er­len­bü­schen da­hin, nur we­nig durch die­se klei­nen Gru­ben ver­schmutzt, de­ren Koh­le Esel zu­ta­ge för­der­ten, die müde im Krei­se um ein Spill her­um­lie­fen. Und eben­sol­che Gru­ben la­gen über die gan­ze Land­schaft ver­streut; ein paar von ih­nen wa­ren be­reits zu Zei­ten Karls des Zwei­ten in Be­trieb ge­we­sen, die mit ih­ren we­ni­gen, sich amei­sen­gleich in die Erde hin­ein­wüh­len­den Berg­leu­ten und Eseln son­der­ba­re Hü­gel und klei­ne schwar­ze Fle­cken zwi­schen den Korn­fel­dern und Wie­sen bil­de­ten. Und die Häu­schen die­ser Berg­leu­te, in Grup­pen von zwei­en und mehr, ge­le­gent­lich mit ei­nem Hof oder ei­ner Be­hau­sung der über das Kirch­spiel1 ver­streu­ten Strumpf­wir­ker2 zu­sam­men­ge­schlos­sen, bil­de­ten das Dorf Best­wood.

Dann aber mach­te sich vor etwa sech­zig Jah­ren eine große Ver­än­de­rung be­merk­bar. Die klei­nen Gru­ben wur­den von den großen Berg­wer­ken der Geld­leu­te bei­sei­te ge­scho­ben. Das Koh­len- und Ei­sen­feld von Not­ting­hams­hi­re und Der­by­s­hi­re wur­de ent­deckt. Car­ston, Wai­te & Co. er­schie­nen. Un­ter ge­wal­ti­ger Auf­re­gung er­öff­ne­te Lord Pal­mer­ston fei­er­lich den ers­ten Schacht der Ge­sell­schaft zu Spin­ney Park, am Saum des Sher­wood-Fors­tes.

Um die­se Zeit brann­te der wohl­be­kann­te ›Höl­len­gang‹, der sich mit zu­neh­men­dem Al­ter einen üb­len Ruf er­wor­ben hat­te, nie­der, und da­mit wur­de viel Schmutz bei­sei­te ge­räumt.

Car­ston, Wai­te & Co. fan­den, dass sie einen gu­ten Griff ge­tan hat­ten, und so wur­den das gan­ze Tal ent­lang von Sel­by und Nut­tall neue Schäch­te nie­der­ge­trie­ben, bis bald sechs Gru­ben in Be­trieb stan­den. Von Nut­tall her, hoch oben zwi­schen den Wäl­dern auf dem Sand­stein, führ­te eine Ei­sen­bahn hin­ter den Trüm­mern der Kar­täu­ser­ab­tei und an Ro­bin Hoods Brun­nen vor­über nach Spin­ney Park hin­ab und von dort wei­ter nach Min­ton, al­les ein großes Berg­werk zwi­schen lau­ter Korn­fel­dern; von Min­ton lief sie zwi­schen den Guts­hö­fen an der Tal­sei­te ent­lang nach Bun­kers­hill, bog von dort nach Nor­den ab auf Beg­gar­lee und Sel­by zu, von wo man nach Crich und den Hü­geln von Der­by­s­hi­re hin­über­sieht; sechs Berg­wer­ke, gleich schwar­zen Kup­pen in der Land­schaft, ver­band die Ei­sen­bahn durch einen fei­nen Ket­ten­strang.

Um die Scha­ren der Berg­leu­te un­ter­zu­brin­gen, bau­ten Car­ston, Wai­te & Co. die ›Ge­vier­te‹, große Vier­e­cke von Häu­sern am Han­ge von Best­wood, und dar­auf in der Bachnie­de­rung an Stel­le des frü­he­ren ›Höl­len­gan­ge­s‹ den ›Grun­d‹.

Der ›Grun­d‹ be­stand aus sechs Blö­cken von Berg­manns­häu­sern, zwei Rei­hen zu je drei, wie die Punk­te auf dem Sechs-Null-Do­mi­no­stein, mit je zwölf Häu­sern in ei­nem Block. Die­se dop­pel­te Häu­ser­rei­he lag am Fuße des ziem­lich stei­len Ab­han­ges von Best­wood und über­sah, we­nigs­tens von den Bo­den­fens­tern aus, den sanf­ten An­stieg des Ta­les auf Sel­by zu.

Die Häu­ser selbst wa­ren dau­er­haft und an­stän­dig. Man konn­te rund um sie her­um­ge­hen und fand da­bei klei­ne Vor­gär­ten mit Au­ri­keln und Stein­brech in den Schat­ten­la­gen des tiefs­ten Blockes, und mit Bart- und an­de­ren Nel­ken in dem son­ni­gen vor­de­ren; net­te Vor­der­fens­ter, klei­ne Vor­bau­ten, klei­ne Li­gus­ter­he­cken, und Dach­fens­ter für die Bo­den­räu­me. Das war aber nur die Au­ßen­sei­te, das war nur ein Blick auf die un­be­nutz­ten gu­ten Stu­ben der Berg­manns­frau­en. Der ei­gent­li­che Wohn­raum, die Kü­che, lag auf der Rück­sei­te des Hau­ses, mit dem Aus­blick auf den In­nen­raum des Blockes, auf einen ver­kom­me­nen Hin­ter­gar­ten und wei­ter­hin die Aschen­gru­be. Und zwi­schen den Häu­ser­rei­hen, zwi­schen den lan­gen Rei­hen der Aschen­gru­ben lief der Gang ent­lang, wo die Kin­der spiel­ten, die Frau­en klatsch­ten und die Män­ner rauch­ten. So wa­ren die tat­säch­li­chen Le­bens­be­din­gun­gen im ›Grun­d‹, der so gut an­ge­legt war und so nett aus­sah, ganz übel, weil die Leu­te in der Kü­che le­ben muss­ten und die Kü­chen auf die­sen ek­li­gen Gang zwi­schen den Aschen­gru­ben hin­aus­gin­gen.

Wenn Frau Mo­rel von Best­wood aus hin­un­ter­kam, war sie gar nicht dar­auf ver­ses­sen, in den ›Grun­d‹ über­zu­sie­deln, der nun be­reits zwölf Jah­re alt und auf dem Ab­stieg war. Aber es war doch wohl das Bes­te, was sie tun konn­te. Zu­dem hat­te sie ein Eck­haus in ei­nem der obe­ren Blö­cke, und so­mit nur einen Nach­barn; und au­ßer­dem noch einen be­son­de­ren Strei­fen Gar­ten. Und durch den Be­sitz die­ses Eck­hau­ses er­freu­te sie sich ei­ner Art Er­ha­ben­heit über die üb­ri­gen Frau­en in den ›Zwi­schen‹-Häu­sern, weil ihre Mie­te fünf und eine hal­be Mark be­trug an­statt nur fünf Mark die Wo­che. Aber die­se Er­ha­ben­heit ih­rer Le­bens­la­ge war Frau Mo­rel doch nur ein schwa­cher Trost.

Sie war ein­und­drei­ßig Jah­re alt und acht Jah­re ver­hei­ra­tet. Eine ziem­lich klei­ne Frau von zar­tem Äu­ßern, aber ent­schlos­se­ner Hal­tung, schreck­te sie zu­erst ein we­nig vor der Berüh­rung mit den ›Grun­d‹-Frau­en zu­rück. Im Juli zog sie hin­un­ter und er­war­te­te im Sep­tem­ber ihr drit­tes Kind. Ihr Mann war Berg­mann. Sie wa­ren erst drei Wo­chen in ih­rem neu­en Hau­se, als die Kirch­weih oder der Jahr­markt be­gann. Sie wuss­te, dann wür­de Mo­rel blau­ma­chen. Am Mon­tag­mor­gen, dem Tag des Jahr­markts, ging er früh fort. Die bei­den Kin­der wa­ren mäch­tig auf­ge­regt. Wil­liam, ein Jun­ge von sie­ben, saus­te gleich nach dem Früh­stück von dan­nen, um auf dem Markt­platz her­um­zu­strol­chen, und ließ An­nie, die erst fünf war, zu Hau­se; die quäk­te nun den gan­zen Mor­gen, sie woll­te auch hin. Frau Mo­rel hat­te zu tun. Sie kann­te je­doch ihre Nach­barn kaum erst und wuss­te nicht, wem sie das klei­ne Mäd­chen hät­te an­ver­trau­en kön­nen. Da­her ver­sprach sie ihr, sie nach­mit­tags mit auf den Markt zu neh­men.

Wil­liam er­schi­en um halb eins. Er war ein sehr be­weg­li­cher Jun­ge mit hel­lem Haar und Som­mer­spros­sen und ei­nem Stich ins Dä­ni­sche oder Nor­we­gi­sche.

»Kann ich mein Es­sen krie­gen, Mut­ter?« rief er, mit der Müt­ze auf dem Kopf ins Zim­mer sau­send. »Weils doch um halb zwei los­geht, der Mann hats selbst ge­sagt.«

»Du kannst dein Es­sen krie­gen, wenn’s fer­tig ist«, er­wi­der­te die Mut­ter.

»Ists denn noch nicht fer­tig?« rief er, sie mit sei­nen blau­en Au­gen är­ger­lich an­star­rend. »Denn geh ich ohne los.«

»Das tust du nicht. In fünf Mi­nu­ten ists fer­tig. Es ist erst halb eins.«

»Sie fan­gen aber an«, rief der Jun­ge halb brül­lend.

»Und wenn auch, da­von stirbst du nicht«, sag­te die Mut­ter, »au­ßer­dem ists erst halb eins, so­dass du noch eine vol­le Stun­de hast.«

Has­tig be­gann der Jun­ge den Tisch zu de­cken, und dann setz­ten die drei sich so­fort hin. Sie aßen Mehl­pud­ding mit Frucht­mus, als der Jun­ge plötz­lich vom Stuh­le auf­sprang und völ­lig re­gungs­los ste­hen­blieb. Sie konn­ten in ei­ni­ger Ent­fer­nung das ers­te Ge­quä­ke ei­nes Ka­rus­sells hö­ren und das Tu­ten ei­nes Horns. Sein Ge­sicht be­gann zu zu­cken, wäh­rend er sei­ne Mut­ter an­sah.

»Ich sag­t’s dir ja!« rief er und lief an die An­rich­te nach sei­ner Müt­ze.

»Nimm dei­nen Pud­ding mit – und es ist erst fünf Mi­nu­ten nach eins, du musst dich also ge­irrt ha­ben – du hast ja dei­ne zwei Pence noch nicht«, rief die Mut­ter al­les in ei­nem Atem.

Bit­ter­lich ent­täuscht kam der Jun­ge zu­rück, um sich sei­ne zwei Pence zu ho­len; dann zog er ohne ein Wort los.

»Ich will auch hin, ich will auch hin«, sag­te An­nie und fing an zu wei­nen.

»Na ja, schön, du sollst auch hin, du jäm­mer­li­che klei­ne Heul­trie­ne!« sag­te die Mut­ter, und spä­ter am Nach­mit­tag trot­te­te sie dann mit dem Kin­de an der ho­hen He­cke ent­lang den Hü­gel hin­an. Von den Fel­dern wur­de das Heu ein­ge­fah­ren, und das Vieh wur­de auf das Grum­met3 hin­aus­ge­las­sen. Es war so warm und fried­lich.

Frau Mo­rel konn­te den Jahr­markt nicht lei­den. Zwei Ar­ten Ka­rus­sells wa­ren da, eins mit Dampf, und eins, das von ei­nem Pony ge­dreht wur­de; drei Drehor­geln er­tön­ten, und hin und wie­der konn­te man einen Pis­to­len­schuss hö­ren so­wie das gräu­li­che Ge­kräch­ze der Knar­re des Ko­kos­nuss­man­nes, lau­te Rufe aus der Ball­werf­bu­de und das Ge­schrei der Guck­kas­ten­da­me. Die Mut­ter sah ih­ren Jun­gen ganz ver­zückt vor der Bude des Lö­wen Wal­lace ste­hen und die Bil­der die­ses be­rühm­ten Lö­wen an­star­ren, der einen Ne­ger um­ge­bracht und zwei Wei­ße auf Le­bens­zeit zu Krüp­peln ge­macht hat­te. Sie ließ ihn ste­hen und zog wei­ter, um An­nie eine Lutsch­stan­ge zu er­ste­hen. Mit ei­nem Male stand der Jun­ge ganz wild vor Auf­re­gung vor ihr.

»Du hast ja gar nicht ge­sagt, dass du auch kämest – is da nicht ’ne Men­ge los? – der Löwe da hat drei Men­schen um­ge­bracht – mei­ne bei­den Pence habe ich schon aus­ge­ge­ben – und guck mal.«

Er hol­te zwei Eier­be­cher aus der Ta­sche, mit rosa Moos­ro­sen drauf.

»Die hab ich in der Bude ge­kriegt, wo man die Mar­meln in so ’ne Lö­cher tru­deln muss. Un die bei­den hab ich mit zwei Ma­len ge­kriegt, je­des Mal einen Hal­ben – mit Moos­ro­sen drauf, sieh. Die woll­te ich gra­de gern ha­ben.«

Sie wuss­te, er woll­te sie für sie ha­ben.

»Hm!« sag­te sie, vol­ler Freu­de. »Die sind aber auch hübsch!«

»Willst du se wohl tra­gen? Ich bin so ban­ge, ich mach se ka­putt.«

Er lief fast über vor Auf­re­gung, nun sie auch da­bei war, führ­te sie auf dem gan­zen Plat­ze her­um und zeig­te ihr al­les. Vor der Guck­kas­ten­bu­de er­klär­te sie dann die Bil­der in ei­ner Art Ge­schich­te, auf die er wie ver­zau­bert lausch­te. Er konn­te sie nicht mehr las­sen. Die gan­ze Zeit über klam­mer­te er sich an sie, strah­lend in sei­nem Jun­gens­stolz. Denn kei­ne der an­de­ren Frau­en sah so wie eine Dame aus wie sie in ih­rem klei­nen schwar­zen Hut und ih­rem Um­hang. Sie lä­chel­te, wenn sie an­de­re Frau­en traf, die sie kann­te. Als sie müde war, sag­te sie zu ih­rem Jun­gen:

»Na, kommst du jetzt schon mit, oder erst spä­ter?«

»Willst du denn schon weg?« rief er mit vor­wurfs­vol­lem Blick.

»Schon? Es ist doch nach vier, so­viel ich weiß.«

»Wa­rum willst du denn schon weg?« jam­mer­te er.

»Du brauchst ja noch nicht mit, wenn du noch nicht willst«, sag­te sie.

Und lang­sam ging sie mit dem klei­nen Mäd­chen fort, wäh­rend der Jun­ge ihr mit den Bli­cken folg­te, das Herz zer­ris­sen, dass er sie ge­hen las­sen müss­te, und doch un­fä­hig, den Markt schon zu ver­las­sen. Als sie den frei­en Platz vor dem ›Mond und Ster­ne‹ über­schritt, hör­te sie Män­ner schrei­en und roch das Bier, und sie be­gann ihre Schrit­te ein we­nig zu be­schleu­ni­gen in dem Ge­dan­ken, ihr Mann wer­de wohl auch in der Knei­pe sein.

Etwa um halb sie­ben kam ihr Jun­ge heim, recht müde nun, und blass und et­was be­küm­mert. Er fühl­te sich so jäm­mer­lich, ob­wohl ihm das nicht zum Be­wusst­sein kam, weil er sie hat­te al­lein ge­hen las­sen. Seit sie fort war, hat­te er kei­nen Spaß mehr an dem Markt­le­ben ge­fun­den.

»War Va­ter schon hier?« frag­te er.

»Nein«, sag­te die Mut­ter.

»Er hilft aus­schen­ken im ›Mond und Ster­ne‹. Ich sah ihn durch die schwar­zen Blech­din­ger mit den Lö­chern drin am Fens­ter mit auf­ge­krem­pel­ten Är­meln.«

»Ha!« rief die Mut­ter nur kurz. »Er hat kein Geld. Und wenn er nur Frei­bier kriegt, ist er auch schon zu­frie­den, ob sie ihm nun et­was mehr ge­ben oder nicht.«

Als es stär­ker däm­mer­te und Frau Mo­rel nicht mehr beim Nä­hen se­hen konn­te, stand sie auf und ging zur Tür. Über­all er­scholl auf­re­gen­der Lärm, die Ru­he­lo­sig­keit des Fest­ta­ges, und sie wur­de zu­letzt auch da­von an­ge­steckt. Sie trat in den Sei­ten­gar­ten hin­aus. Frau­en ka­men vom Markt heim, ihre Kin­der drück­ten ein wei­ßes Lamm mit grü­nen Bei­nen ans Herz oder ein höl­zer­nes Pferd. Ge­le­gent­lich strich ein Mann vor­bei, fast so voll, wie er nur eben la­den konn­te. Zu­wei­len kam auch mal ein gu­ter Haus­va­ter mit den Sei­nen vor­über, ganz fried­lich. Aber ge­wöhn­lich wa­ren Frau­en und Kin­der al­lein. Die zu Hau­se Ge­blie­be­nen stan­den plau­dernd an den Ecken der Gän­ge, die Arme un­ter der wei­ßen Schür­ze ge­fal­tet, wäh­rend das Zwie­licht im­mer tiefer her­nie­der­sank.

Frau Mo­rel war al­lein, aber dar­an war sie ge­wöhnt. Ihr Jun­ge und das klei­ne Mäd­chen schlie­fen oben; so kam es ihr vor, als lie­ge ihr Heim ru­hig und si­cher hin­ter ihr. Aber sie fühl­te sich elend des kom­men­den Kin­des we­gen. Die Welt kam ihr nur noch trau­rig vor, und für sie konn­te es nichts mehr in ihr ge­ben – we­nigs­tens nicht, bis Wil­liam er­wach­sen sein wür­de. Für sie selbst aber nichts als dies trau­ri­ge Hin­hal­ten – bis die Kin­der her­an­ge­wach­sen sein wür­den. Und die Kin­der! Sie konn­te sich dies drit­te nicht leis­ten. Sie woll­te es gar nicht. Der Va­ter schenk­te Bier aus in ei­ner Knei­pe und spül­te sich selbst bei der Ge­le­gen­heit voll. Sie ver­ach­te­te ihn und fühl­te sich doch an ihn ge­fes­selt. Dies Kind, das da kam, war zu viel für sie. Wäre es nicht um Wil­liams und An­nies Wil­len ge­we­sen, sie hät­te es über­ge­habt, dies Rin­gen mit Ar­mut und Häss­lich­keit und Ge­mein­heit.

Sie ging in den Vor­gar­ten, da sie sich zu schwer fühl­te, um aus­zu­ge­hen, und doch un­fä­hig, im Hau­se zu blei­ben. Die Hit­ze er­stick­te sie. Und wenn sie vor­aus­sah, brach­te der Aus­blick auf ihr zu­künf­ti­ges Le­ben ihr ein Ge­fühl von Le­ben­dig­be­gra­ben­sein bei.

Der Vor­gar­ten war ein klei­nes Vier­eck mit ei­ner Li­gus­ter­he­cke. Da blieb sie ste­hen und ver­such­te sich an dem Blu­men­duft und dem schwin­den­den schö­nen Abend zu be­ru­hi­gen. Ih­rer klei­nen Pfor­te ge­gen­über war der Über­gang, der den Hü­gel hin­an führ­te, un­ter der ho­hen He­cke ent­lang, in der bren­nen­den Glut der ge­schnit­te­nen Wei­den. Der Him­mel ihr zu Häup­ten beb­te und puls­te vor Licht. Die Glut schwand rasch von den Fel­dern; Erd­bo­den und He­cken ver­san­ken im Dunst der Däm­me­rung. So­bald es dun­kel wur­de, brach oben auf dem Hü­gel ein röt­li­cher Schim­mer her­vor, und aus die­sem Schim­mer die et­was ver­rin­ger­te Be­we­gung des Jahr­mark­tes.

Zu­wei­len tor­kel­ten durch die dunkle Rin­ne, die der Pfad un­ter den He­cken bil­de­te, Män­ner ver­stoh­len nach Hau­se. Ein jün­ge­rer Mann kam auf dem ab­schüs­si­gen un­te­ren Ende des Pfa­des ins Ren­nen und fuhr mit ei­nem Krach ge­gen den Über­gang.

Frau Mo­rel schau­er­te zu­sam­men. Er raff­te sich un­ter wi­der­li­chen, fast lei­den­schaft­li­chen Flü­chen wie­der auf, als däch­te er, das Gat­ter hät­te ihm ab­sicht­lich weh­ge­tan.

Sie trat ins Haus und frag­te sich, ob die Din­ge denn nie an­ders wer­den wür­den. All­mäh­lich be­gann sie sich dar­über klar zu wer­den, sie wür­den es nie. Ihre Mäd­chen­zeit kam ihr so fern vor, sie wun­der­te sich, dass dies ein und das­sel­be We­sen sein soll­te, das hier so schwer­fäl­lig den Hin­ter­gar­ten im ›Grun­d‹ hin­an­stieg, und das vor zehn Jah­ren noch so leicht über den Wel­len­bre­cher in Sheer­ness4 da­hin­ge­flo­gen war.

»Was habe ich denn da­mit zu schaf­fen?« sag­te sie bei sich. – »Was habe ich mit al­le­dem zu schaf­fen? Selbst mit dem Kin­de, das ich nun krie­ge! Ich wer­de schein­bar gar nicht mit­ge­zählt.«

Zu­wei­len packt das Le­ben einen, reißt den Leib mit fort, bringt eine gan­ze Ge­schich­te zu­stan­de und wird doch nie­mals wirk­lich, son­dern lässt uns stets in dem Ge­fühl, als wäre al­les nur ganz ver­schwom­men.

»Ich war­te«, sag­te Frau Mo­rel bei sich, »ich war­te, und was ich er­war­te, kann nie ein­tre­ten.«

Dann brach­te sie die Kü­che in Ord­nung, zün­de­te die Lam­pe an, stöker­te das Feu­er auf, such­te sich die Wä­sche für den nächs­ten Tag zu­sam­men und weich­te sie ein. Hier­auf setz­te sie sich mit ih­rer Näh­ar­beit nie­der. Lan­ge Stun­den hin­durch blitz­te ihre Na­del re­gel­mä­ßig durch den Stoff. Ge­le­gent­lich seufz­te sie ein­mal auf und be­weg­te sich, um sich zu er­leich­tern. Und die gan­ze Zeit über dach­te sie dar­über nach, wie sie ihr Hab und Gut um der Kin­der wil­len am bes­ten aus­nut­zen könn­te.

Um halb zwölf kam ihr Mann. Sei­ne Ba­cken wa­ren sehr rot und glänz­ten stark über dem schwar­zen Schnurr­bart. Der Kopf wa­ckel­te ihm et­was. Er war durch­aus mit sich zu­frie­den.

»O, o, wartst de auf mir, Mä­chen? Ick habe An­to­nen je­hol­fen, und wat meens­te woll, hat er mich je­je­ben? Nischt als lau­si­ge zwei­ein­halb Schil­ling, je­der Pen­ny je­zählt …«

»Er denkt wohl, den Rest hät­test du in Bier ver­dient«, sag­te sie kurz.

»Un det hab ick nich – det hab ick nich. Kannst mir jloo­ben, ick hat­te sehr we­nig heu­te, wenn ick über­haupt wat je­habt habe.« Sei­ne Stim­me wur­de zärt­lich. »Hier, da hab ick dir ooch en bis­ken Schnaps­bont­jen mit­je­bracht, un ’ne Ko­kos­nuss for die Kin­der.« Er leg­te das Zucker­zeug und die Nuss, ein haa­ri­ges Ding, auf den Tisch. »Na, hast woll noch nie in dei­nen Le­ben für ir­gend­was ›dan­ke‹ je­sagt, wat?«

Um ihm aus­zu­wei­chen, nahm sie die Nuss auf und schüt­tel­te sie, um zu se­hen, ob Milch drin sei.

»’t is ’ne jute, da kanns­te dein Le­ben druff wet­ten. Ick hab se von Bill Hodg­kin­son. ›Bill‹, sage ick, ›du brauchst doch die drei Nis­se nich, wat? Wills­te mich nich eine von ab­je­ben for mein’n klein’n Jun­gen und Mä­chen?‹ ›Je­wiss doch, Wal­ter, mein Jun­ge‹, sagt er, ›nimm man, wel­che de willst.‹ Un da nahm ick denn eene und dankt ihm. Ick mocht se doch nu nich vor sei­ne Oo­gen schüt­teln, aber da sagt er: ›Sieh man zu, dett se ooch jut is, Walt.‹ Un da­von weeß ick, det se jut is, siehs­te. Det ’s ’n net­ter Kerl, der Bill Hodg­kin­son, ’n net­ter Kerl is er!«

»Je­der Mann gibt al­les her, so­lan­ge er be­trun­ken ist, und du bist eben­so be­trun­ken wie er«, sag­te Frau Mo­rel.

»I, du je­mee­ne klee­ne Hexe, wer is be­trun­ken, mecht ick woll wis­sen?« sag­te Mo­rel. Er war ganz un­ge­wöhn­lich mit sich zu­frie­den we­gen sei­ner heu­ti­gen Hilfs­diens­te im ›Mond und Ster­ne‹. Er schwatz­te im­mer wei­ter.

Frau Mo­rel, sehr müde und ganz übel von sei­nem Ge­bab­bel, ging so rasch wie mög­lich zu Bett, wäh­rend er noch das Feu­er zu­deck­te.

Frau Mo­rel kam von gu­ten al­ten Bür­gers­leu­ten, be­rühm­ten Un­ab­hän­gi­gen, her, die noch mit Oberst Hutchin­son ge­foch­ten hat­ten und stram­me Cal­vi­nis­ten ge­blie­ben wa­ren. Ihr Groß­va­ter war mit sei­nem Spit­zen­ge­schäft zu­sam­men­ge­bro­chen, zu ei­ner Zeit, als vie­le Spit­zen­ma­cher in Not­ting­ham zu­grun­de gin­gen. Ihr Va­ter, Ge­or­ge Coppard, war Ma­schi­nist ge­we­sen – ein großer, hüb­scher, hoch­mü­ti­ger Mensch, stolz auf sei­ne blau­en Au­gen und sei­ne hel­le Haut, aber mehr noch auf sei­ne Unan­tast­bar­keit. Ger­tru­de äh­nel­te ih­rer Mut­ter in ih­rer klei­nen Bau­art. Aber ihr stol­zes, un­nach­gie­bi­ges We­sen hat­te sie von den Coppards.

Ge­or­ge Coppard litt bit­ter­lich un­ter sei­ner Ar­mut. Er wur­de Ober­ma­schi­nist am Ha­fen in Sheer­ness. Frau Mo­rel – Ger­tru­de – war sei­ne zwei­te Toch­ter. Sie be­vor­zug­te ihre Mut­ter, lieb­te ihre Mut­ter mehr als alle Üb­ri­gen; aber sie be­saß die kla­ren, trot­zi­gen Blau­au­gen der Coppards und ihre brei­te Stirn. Sie konn­te sich noch er­in­nern, wie sie ih­res Va­ters hoch­fah­ren­des Be­neh­men ge­gen ihre sanf­te, fröh­li­che, gut­mü­ti­ge Mut­ter ge­hasst hat­te. Sie dach­te noch dar­an, wie sie über den Wel­len­bre­cher zu Sheer­ness ge­rannt war, wenn sie ihr Boot such­te. Sie dach­te dar­an, wie sie von al­len Män­nern ge­lieb­kost und ver­hät­schelt wur­de, wenn sie zum Ha­fen kam, denn sie war ein zar­tes, recht emp­find­li­ches Kind ge­we­sen. Sie dach­te an ihre put­zi­ge alte Leh­re­rin, de­ren Hel­fe­rin sie ge­wor­den war, und der sie so gern in ih­rer Schu­le bei­ge­stan­den hat­te. Und sie hat­te im­mer noch die Bi­bel, die John Field ihr ge­ge­ben hat­te. Sie pfleg­te mit John Field von der Kir­che nach Hau­se zu ge­hen, als sie neun­zehn war. Er war der Sohn ei­nes wohl­ha­ben­den Krä­mers, hat­te in Lon­don die Schu­le be­sucht und soll­te sich selbst dem Ge­schäft wid­men.

Sie konn­te sich noch jede Ein­zel­heit ei­nes Sonn­tagnach­mit­tags im Sep­tem­ber zu­rück­ru­fen, als sie hin­ter ih­res Va­ters Haus un­ter den Weinre­ben ge­ses­sen hat­ten. Die Son­ne brach durch die Zwi­schen­räu­me zwi­schen den Wein­blät­tern und mach­te wun­der­hüb­sche Mus­ter, wie ein Spit­zen­tuch, in­dem sie auf ihn und sie fiel. Ein­zel­ne der Blät­ter wa­ren rein gelb, wie fla­che gel­be Blu­men.

»Nun sit­zen Sie mal still«, hat­te er ge­ru­fen, »Ihr Haar jetzt, wahr­haf­tig, ich weiß nicht, was das ei­gent­lich für ’ne Far­be hat! Es glänzt wie Kup­fer und Gold, rot, wie ge­schmie­de­tes Kup­fer, und wo die Son­ne drauf scheint, hat es Gold­fä­den. Und nun den­ken Sie bloß, sie sa­gen, es wäre braun. Ihre Mut­ter nennt es mau­se­far­ben.«

Sie hat­te einen glän­zen­den Blick von ihm auf­ge­fan­gen, aber ihr kla­res Ant­litz ver­riet kaum die ge­ho­be­ne Stim­mung, die in ihr em­por­stieg.

»Aber Sie sa­gen doch, Sie mach­ten sich nichts aus dem Ge­schäft«, fuhr sie fort.

»Tue ich auch nicht! Ich has­se es!« rief er hit­zig.

»Und möch­ten Sie nicht in den Kir­chen­dienst ge­hen«, mein­te sie halb fle­hend.

»Ge­wiss. Gern täte ichs, wenn ich däch­te, ich wür­de einen Pre­di­ger ers­ter Ord­nung ab­ge­ben.«

»Aber warum tun Sie es denn nicht – warum tun Sie es denn nicht?« Ihre Stim­me ließ et­was Trot­zi­ges durch­tö­nen. »Wenn ich ein Mann wäre, mich soll­te nichts ab­hal­ten.«

Sie hielt den Kopf hoch in die Höhe. Er fürch­te­te sich fast vor ihr.

»Aber mein Va­ter ist so steif­nackig. Er will mich ins Ge­schäft ste­cken, und ich weiß, er tuts.«

»Aber Sie sind doch ein Mann?« hat­te sie ge­ru­fen.

»Dass man ein Mann ist, ist noch nicht al­les«, ant­wor­te­te er und run­zel­te die Stirn, hilf- und rat­los.

Jetzt, wo sie im ›Grun­d‹ bei ih­rer Ar­beit sich re­gen muss­te, mit so man­cher Er­fah­rung, was ein Mann sein hei­ße, ver­stand sie, dass es nicht al­les be­deu­te­te.

Mit zwan­zig hat­te sie Sheer­ness ih­rer Ge­sund­heit we­gen ver­las­sen. Ihr Va­ter war wie­der nach Not­ting­ham ge­zo­gen. John Fields Va­ter war zu­grun­de ge­rich­tet; der Sohn war als Leh­rer nach Nor­wood ge­gan­gen. Sie hör­te nichts von ihm, bis sie nach zwei Jah­ren sich ei­gens nach ihm er­kun­dig­te. Er hat­te sei­ne Wir­tin ge­hei­ra­tet, eine Frau in den Vier­zi­gern, Wit­we mit Ver­mö­gen.

Und doch hob Frau Mo­rel John Fields Bi­bel noch auf. Sie hielt ihn jetzt nicht län­ger für … Na ja, sie be­griff jetzt ziem­lich gut, was er hät­te wer­den kön­nen und was nicht. So hob sie sei­ne Bi­bel auf und ver­wahr­te sein An­den­ken ih­rer selbst we­gen in ih­rem Her­zen. Bis an ih­ren Ster­be­tag, fünf­und­drei­ßig Jah­re spä­ter, sprach sie nie wie­der von ihm.

Als sie drei­und­zwan­zig Jah­re alt war, hat­te sie bei ei­ner Weih­nachts­fei­er einen jun­gen Mann aus dem Ere­wash-Tale ge­trof­fen. Es war Mo­rel. Er war da­mals sie­ben­und­zwan­zig Jah­re alt. Er war gut ge­wach­sen, schlank und ein großer Pfif­fi­kus. Er hat­te wel­li­ges, glän­zend schwar­zes Haar und einen kräf­ti­gen schwar­zen Bart, der noch nie ge­scho­ren war. Sei­ne Ba­cken wa­ren röt­lich, und sein feuch­ter ro­ter Mund dar­um so auf­fal­lend, weil er so oft und herz­lich lach­te. Er be­saß die­se Sel­ten­heit, ein rei­ches, klin­gen­des La­chen. Ger­tru­de Coppard hat­te ihn wie ver­zau­bert be­ob­ach­tet. Er war so vol­ler Far­be und Leb­haf­tig­keit, sei­ne Stim­me lief so ins Spaß­haft-Wun­der­li­che über, er war so schlag­fer­tig und scherz­haft ge­gen je­der­mann. Ihr Va­ter be­saß eben­falls einen rei­chen Schatz an Witz, aber der war spöt­tisch. Die­ses Men­schen Witz war ganz an­ders: weich, nicht aus dem Ver­stan­de ge­bo­ren, warm, eine Art Hans­wurs­te­rei.

Sie selbst war ganz an­ders ge­ar­tet. Sie hat­te eine neu­gie­ri­ge, emp­fäng­li­che Sin­nes­art, die viel Ver­gnü­gen und Un­ter­hal­tung dar­in fand, wenn sie an­de­ren Leu­ten zu­hö­ren konn­te. Sie be­saß eine be­son­de­re Art, die Leu­te zum Re­den zu brin­gen. Sie lieb­te Ge­dan­ken­aus­tausch und galt für sehr klug. Was sie am meis­ten lieb­te, war eine Er­ör­te­rung über Re­li­gi­on, Phi­lo­so­phie oder Po­li­tik mit ir­gend­ei­nem gut un­ter­rich­te­ten Man­ne. Dies Ver­gnü­gen ge­noss sie nicht häu­fig. So brach­te sie die Leu­te im­mer dazu, ihr über sich selbst zu er­zäh­len, und fand auf die Wei­se ihr Ver­gnü­gen.

Ihre Ge­stalt war ziem­lich klein und zart, ihre Stirn breit, mit her­ab­hän­gen­den, brau­nen, sei­den­wei­chen Lo­cken. Ihre blau­en Au­gen sa­hen sehr ge­ra­de­aus, ehr­lich und for­schend. Sie be­saß auch die schö­nen Hän­de der Coppards. Ihre Klei­dung war nie­mals auf­fal­lend. Sie trug dun­kelblaue Sei­de, mit ei­ner ei­gen­ar­ti­gen Ket­te aus sil­ber­nen Mu­scheln. Die­se und eine schwe­re Vor­steck­na­del aus ge­floch­te­nem Gol­de wa­ren ihr ein­zi­ger Schmuck. Sie war noch gänz­lich un­be­rührt, von tiefer Fröm­mig­keit und voll ei­ner schö­nen Auf­rich­tig­keit.

Wal­ter Mo­rel schmolz an­schei­nend vor ihr hin­weg. Sie war für den Berg­mann je­nes ge­heim­nis­vol­le, be­zau­bern­de We­sen: eine Dame. Wenn sie zu ihm sprach, ge­sch­ah es mit süd­li­cher Be­to­nung und in so rei­nem Eng­lisch, dass ihn beim Zu­hö­ren je­des Mal ein Schau­der durch­fuhr. Sie be­ob­ach­te­te ihn. Er tanz­te gut, als wäre ihm Tan­zen ein an­ge­bo­re­nes Ver­gnü­gen. Sein Groß­va­ter war ein fran­zö­si­scher Flücht­ling ge­we­sen, der ein eng­li­sches Schenk­mäd­chen ge­hei­ra­tet hat­te – wenn es eine Hei­rat ge­we­sen war. Ger­tru­de Coppard be­ob­ach­te­te den jun­gen Berg­mann wäh­rend des Tan­zens, die­ses fei­ne, wie ein Zau­ber wir­ken­de Frohlo­cken in sei­nen Be­we­gun­gen und sein Ge­sicht, das röt­lich strah­len­de, die Blü­te sei­nes Kör­pers, mit dem lo­cki­gen Schwarz­haar, stets lä­chelnd, ganz gleich, über wel­che Tän­ze­rin er sich neig­te! Sie fand ihn pracht­voll, da sie noch nie sei­nes­glei­chen ge­trof­fen hat­te. Ihr Va­ter galt ihr als Vor­bild al­ler Män­ner. Und Ge­or­ge Coppard mit sei­ner stol­zen Hal­tung, hübsch und doch streng, der als Le­se­stoff stets et­was Geist­li­ches be­vor­zug­te und sei­ne Zu­nei­gung nur ei­nem Men­schen wid­me­te, dem Apos­tel Pau­lus; des­sen Herr­schaft im Hau­se so rau, des­sen Ver­trau­lich­keit selbst noch spöt­tisch war, der kei­ner­lei sinn­li­ches Ver­gnü­gen kann­te – der war so ganz an­ders als der Berg­mann. Ger­tru­de selbst ver­ach­te­te das Tan­zen ge­ra­de­zu; sie be­saß nicht die ge­rings­te Nei­gung zu die­ser Kunst und hat­te es selbst nicht ein­mal bis zu ei­nem Ro­ger de Co­ver­ley ge­bracht. Wie ihr Va­ter, ge­hör­te auch sie zu den Pu­ri­ta­nern, war auch sie hoch­ge­sinnt und durch­aus ernst. Da­her er­schi­en ihr die däm­me­ri­ge, gol­de­ne Weich­heit der sinn­li­chen Le­bens­flam­me die­ses Man­nes, die von sei­nem Flei­sche aus­ström­te wie die Flam­me von ei­ner Ker­ze, nicht durch Sin­nen und Trach­ten zu Weiß­glut an­ge­facht und auf­ge­sta­chelt wie ihr ei­ge­nes Le­ben, son­dern et­was Wun­der­vol­les, ihr ganz Fern­ste­hen­des.

Er kam und ver­beug­te sich vor ihr. Eine Wär­me durch­strahl­te sie, als habe sie Wein ge­trun­ken.

»Nu kom­men Se doch un ma­chen Se den da mal mit mich mit«, sag­te er zärt­lich. »Is janz leicht, wis­sen Se. Ick möch­te Ih­nen zu jer­ne mal tan­zen se­hen.«

Sie hat­te ihm vor­her er­zählt, sie kön­ne nicht tan­zen. Sie be­merk­te sei­ne De­mut und lä­chel­te. Ihr Lä­cheln war sehr schön. Es be­rühr­te den Mann der­art, dass er al­les ver­gaß.

»Nein, ich tan­ze nicht«, sag­te sie weich. Ihre Wor­te ka­men klar und deut­lich.

Ohne zu wis­sen, was er tat – manch­mal tat er gra­de das Rich­ti­ge rein ge­fühls­mä­ßig –, setz­te er sich ne­ben sie und neig­te sich vol­ler Ver­eh­rung zu ihr.

»Aber Sie dür­fen Ihren Tanz nicht schie­ßen las­sen«, ta­del­te sie ihn.

»Ne, den will ick jar nich – aus den ma­che ick mich nischt.«

»Aber Sie for­der­ten mich doch dazu auf.«

Dar­über muss­te er herz­lich la­chen.

»Da ha ’ck noch jar nich dran je­dacht. Du brauchst aber ooch nich lan­ge, um mich die Tol­le aus­zu­käm­men.«

Nun war es an ihr, fröh­lich auf­zu­la­chen.

»Sie se­hen gar nicht so aus, als ob das viel nüt­zen wür­de«, sag­te sie.

»Ick bin wie so’n Schwei­ne­schwänz­ken, det krullt sich, weils sich nich hel­fen kann«, lach­te er ziem­lich ge­räusch­voll.

»Und Sie sind ein Berg­mann!« rief sie vol­ler Über­ra­schung.

»Ja­woll. Fuhr zu­erst ein, als ick zeh­ne war.«

Sie sah ihn an in Ver­wun­de­rung und Be­stür­zung.

»Als Sie zehn Jah­re wa­ren! Und kam Ih­nen das nicht sehr hart an?« frag­te sie.

»Da je­wöhnt man sich bal­de dran. Man lebt wie de Mäu­se, un nachts krab­beln se denn mal wie­der raus, um zu se­hen, wat los is.«

»Da wür­de ich ganz blind«, run­zel­te sie die Stirn.

»Wie’n Mull!« lach­te er. »Ja­woll, un wat die wel­chen sind, die loofen ooch rum wie’n Mull.« Er stieß den Kopf vor, in der blin­den, schnüf­feln­den Wei­se ei­nes Maul­wurfs, und schi­en nach der rich­ti­gen Ge­gend zu schnüf­feln und zu blin­zeln. »Janz jenau so ma­chen se’s!« be­teu­er­te er ganz auf­rich­tig. »So wat has­te noch nie nich je­se­hen, wie die det ma­chen. Aber ick muss dir mal mit run­ter­neh­men, un denn kanns­te’t ja al­lei­ne se­hen.«

Er­schreckt sah sie ihn an. Dies war eine ganz neue Le­bens­bahn, die sich da vor ihr er­öff­ne­te. Nun ver­stand sie das Le­ben der Berg­leu­te, die zu Hun­der­ten sich un­ter der Erde ab­mü­hen und abends erst wie­der nach oben kom­men. Er kam ihr er­ha­ben vor. Täg­lich wag­te er sein Le­ben, und mit Freu­den. Mit et­was wie ei­ner fle­hent­li­chen Bit­te sah sie ihn an, in ih­rer rei­nen De­mut.

»Möchtst de nich mal mit?« frag­te er sanft. »Vi­el­leicht doch woll nich, wür­dest dir ja auch bloß schmut­zig ma­chen.«

Noch nie war sie auf die­se Wei­se ge­duzt wor­den.

Nächs­ten Weih­nach­ten wur­den sie ge­traut, und für drei Mo­na­te war sie voll­kom­men glück­lich: sechs Mo­na­te lang war sie sehr glück­lich.

Er hat­te sein Ge­lüb­de ab­ge­legt und trug das blaue Kreuz der Schnaps­geg­ner: er brüs­te­te sich mäch­tig. Sie leb­ten, wie sie glaub­te, in sei­nem ei­ge­nen Hau­se. Es war klein, aber ganz be­hag­lich und nett ein­ge­rich­tet, mit tüch­ti­gen, or­dent­li­chen Sa­chen, wie sie ih­rer ehr­li­chen Sin­nes­art sehr zu­sag­ten. Die Frau­en, ihre Nach­ba­rin­nen, wa­ren ihr ziem­lich fremd, Mo­rels Mut­ter und Schwes­tern sehr ge­neigt, über ihr da­men­haf­tes Be­neh­men die Nase zu rümp­fen. Aber sie konn­te sehr gut für sich al­lein fer­tig wer­den, so­lan­ge sie ih­ren Mann für sich hat­te.

Zu­wei­len, wenn sie des Ko­sens müde war, ver­such­te sie, ihm ein­mal ihr Herz ernst­lich zu er­öff­nen. Sie merk­te dann, wie er ihr vol­ler Ehr­er­bie­tung zu­hör­te, aber ohne Ver­ständ­nis. Das er­tö­te­te ihre Be­stre­bun­gen nach ei­ner schö­ne­ren Ver­trau­lich­keit, und manch­mal blitz­te Furcht in ihr auf. Zu­wei­len wur­de er ge­gen Abend un­ru­hig: das blo­ße Zu­sam­men­sein mit ihr ge­nüg­te ihm nicht, wur­de ihr klar. Sie war sehr froh, als er an­fing, sich mit al­ler­lei Klei­nig­kei­ten zu be­schäf­ti­gen.

Er war ein un­ge­wöhn­lich ge­schick­ter Mensch, konn­te al­les selbst ma­chen oder aus­bes­sern. So sag­te sie wohl ein­mal:

»Den Feu­er­ha­ken da bei dei­ner Mut­ter fin­de ich doch zu nett – so klein und zier­lich.«

»Findst de, mein Kind? Schön, den hab ick sel­ber je­macht, so ee­nen kann ick dich auch ma­chen.«

»Was? der ist doch aber aus Stahl!«

»Un wenn schon! So ’nen solls­te auch ha­ben, wenn nich jenau so ’nen.«

Sie ließ sich die Schmie­re­rei nicht an­fech­ten, auch das Ge­häm­mer und den Lärm nicht. Er war be­schäf­tigt und glück­lich.

Aber als sie im sie­ben­ten Mo­nat mal sei­nen Sonn­tags­rock aus­bürs­te­te, fühl­te sie Pa­pie­re in sei­ner Brust­ta­sche, und von plötz­li­cher Neu­gier­de er­grif­fen, zog sie sie her­vor und las sie. Er trug den Geh­rock, in dem er ge­traut war, nur sehr sel­ten: und frü­her wäre es ihr nie ein­ge­fal­len, Neu­gier­de we­gen die­ser Pa­pie­re zu emp­fin­den. Es wa­ren die Rech­nun­gen über ih­ren noch nicht be­zahl­ten Haus­rat.

»Sieh mal«, sag­te sie abends, als er sich ge­wa­schen und Abend­brot ge­ges­sen hat­te. »Die habe ich in der Ta­sche dei­nes Hoch­zeits­rockes ge­fun­den. Hast du die Rech­nun­gen noch nicht in Ord­nung ge­bracht?«

»Ne, da bin ick noch nich zu je­kom­men.«

»Aber du er­zähl­test mir doch, es wäre al­les be­zahlt. Dann fah­re ich doch bes­ser Sonn­abend nach Not­ting­ham hin­ein und ma­che das mal ab. Ich mag nicht auf an­de­rer Leu­te Stüh­len sit­zen und von ei­nem un­be­zahl­ten Ti­sche es­sen.«

Er ant­wor­te­te nicht.

»Ich kann ja wohl dein Bank­buch krie­gen, nicht wahr?«

»Det kanns­te, wenn de meenst, det nützt dir wat.«

»Ich glaub­te …«, be­gann sie. Er hat­te ihr er­zählt, er habe ein hüb­sches Stück Geld zu­rück­ge­legt. Aber sie merk­te, Fra­gen hät­ten kei­nen Zweck. Sie saß starr vor Bit­ter­keit und Är­ger. Am nächs­ten Tage ging sie zu sei­ner Mut­ter hin­un­ter.

»Hat­ten Sie nicht die Ein­rich­tung für Wal­ter ge­kauft?« frag­te sie.

»Ja­woll, das habe ich«, sag­te die alte Frau mür­risch.

»Und wie viel hat er Ih­nen da­für ge­ge­ben?«

Die äl­te­re Frau fühl­te sich von lei­sem Är­ger ge­pri­ckelt.

»Acht­zig Pfund, wenn Sie so scharf da­hin­ter­her sind«, er­wi­der­te sie.

»Acht­zig Pfund! Aber zwei­und­zwan­zi­gein­halb schul­det er doch noch drauf!«

»Kann ich doch nicht hel­fen.«

»Aber wo ist es denn bloß al­les ge­blie­ben?«

»Sie wer­den wohl alle Pa­pie­re fin­den, glau­be ich, wenn Sie mal nach­se­hen – au­ßer zehn Pfund, die er mir noch schul­dig ist, und sechs Pfund, die die Hoch­zeit hier un­ten ge­kos­tet hat.«

»Sechs Pfund!« wie­der­hol­te Ger­tru­de Mo­rel. Es kam ihr un­ge­heu­er­lich vor, dass, nach­dem ihr Va­ter schon so viel für die Hoch­zeit be­zahlt hat­te, hier in Wal­ters El­tern­hau­se auf sei­ne Kos­ten noch sechs Pfund mehr für Es­sen und Trin­ken ver­ju­belt sein soll­ten.

»Und wie viel hat er in sei­nen Häu­sern an­ge­legt?« frag­te sie.

»Sei­nen Häu­sern – was für Häu­ser?«

Ger­tru­de Mo­rel wur­de weiß um die Lip­pen. Er hat­te ihr er­zählt, das Haus, in dem sie leb­ten und das nächs­te wä­ren sei­ne.

»Ich dach­te, das Haus, in dem wir le­ben …«, be­gann sie wie­der.

»Mir ge­hö­ren die bei­den Häu­ser«, sag­te die Schwie­ger­mut­ter. »Und noch nicht mal ganz. Ich kann gra­de die Grund­schuld­zin­sen be­zah­len.«

Ger­tru­de saß weiß und stumm. Nun war sie ganz ihr Va­ter.

»Dann müss­ten wir Ih­nen doch Mie­te zah­len«, sag­te sie kalt.

»Wal­ter zahlt mir auch Mie­te«, er­wi­der­te sei­ne Mut­ter.

»Und wie viel?« frag­te Ger­tru­de.

»Sechs­ein­halb Schil­ling die Wo­che«, gab die Mut­ter zu­rück.

Das war mehr, als das Haus wert war. Ger­tru­de hielt den Kopf hoch und sah stur vor sich hin.

»Sie kön­nen von Glück sa­gen«, sag­te die äl­te­re Frau bei­ßend, »dass Sie einen Mann ge­kriegt ha­ben, der Ih­nen all die Geld­sor­gen ab­nimmt und Ih­nen freie Hand lässt.«

Die jun­ge Frau blieb stumm.

Zu ih­rem Man­ne sag­te sie nur sehr we­nig, aber ihr Be­neh­men ge­gen ihn war ein an­de­res ge­wor­den. In ih­rer stol­zen, eh­ren­haf­ten See­le hat­te sich et­was aus­ge­schie­den, hart wie Fels.

Als der Ok­to­ber her­an­kam, dach­te sie nur noch an Weih­nach­ten. Vor zwei Jah­ren hat­te sie ihn zu Weih­nach­ten ge­trof­fen. Letz­ten Weih­nach­ten hat­te sie ihn ge­hei­ra­tet. Die­sen Weih­nach­ten wür­de sie ihm ein Kind be­sche­ren.

»Sie tan­zen woll nich, Nach­barn?« frag­te ihre nächs­te Nach­ba­rin sie im Ok­to­ber, als es ein mäch­ti­ges Ge­re­de gab über die Er­öff­nung ei­ner Tanz­stun­de oben im Zie­gel- und Back­stein-Wirts­hau­se in Best­wood.

»Nein – ich habe nie die ge­rings­te Nei­gung zum Tan­zen be­ses­sen«, er­wi­der­te Frau Mo­rel.

»Den­ken Se bloß! Un wie put­zig, dass Sie gra­de Ihren Meis­ter ge­hei­ra­tet ha­ben. Sie wis­sen doch, er is doch ge­ra­de­zu be­rühmt we­gen sei­nes Tan­zens.«

»Ich wuss­te nicht, dass er des­we­gen be­rühmt wäre«, lach­te Frau Mo­rel.

»Ja­woll! Is er aber! Wie­so, der lei­tet doch schon über fünf Jah­re die Tanz­stun­de im ›Berg­manns-Wap­pen‹.«

»Wirk­lich?«

»Ge­wiss doch.« Die an­de­re wur­de her­aus­for­dernd. »Alle Don­ners­tag war es ganz voll, un diens­tags, un sonn­abends – un da gings hoch her, heißt es.«

So et­was war bit­te­re Gal­le für Frau Mo­rel, und ein ge­hö­ri­ges Teil da­von wur­de ihr zu­ge­mes­sen. Die Frau­en er­spar­ten ihr zu­erst gar nichts; denn sie war et­was Bes­se­res als sie, wenn sie auch nichts da­für konn­te.

Er fing an, recht spät nach Hau­se zu kom­men.

»Sie ar­bei­ten jetzt sehr lan­ge, nicht wahr?« sag­te sie zu ih­rer Wä­sche­rin.

»Nich län­ger als im­mer, jlo­be ick. Aber se hal­ten denn eben noch mal an, um bei El­lens einen zu neh­men, un denn fan­gen se an zu re­den, un da ha­ben Se’s Es­sen eis­kalt – ge­schieht se janz recht.«

»Aber Herr Mo­rel trinkt nichts.«

Die Frau ließ ihre Wä­sche fal­len, sah Frau Mo­rel an und fuhr dann ohne ein Wort zu sa­gen mit ih­rer Ar­beit fort.

Ger­tru­de Mo­rel war sehr elend, als der Jun­ge ge­bo­ren wur­de. Mo­rel war sehr gut ge­gen sie, von gol­de­ner Güte ge­ra­de­zu. Aber sie fühl­te sich sehr ein­sam, mei­len­weit von den Ihren ent­fernt. Sie fühl­te sich auch mit ihm ein­sam, und sei­ne Ge­gen­wart mach­te dies Ge­fühl nur schlim­mer.

Der Jun­ge war zu­erst klein und ge­brech­lich, aber er mach­te sich bald her­aus. Er war ein hüb­sches Kind, mit dun­kel­gol­de­nen Rin­geln und dun­kelblau­en Au­gen, die bald in ein hel­les Grau über­gin­gen. Sei­ne Mut­ter lieb­te ihn lei­den­schaft­lich. Er kam gra­de zu der Zeit an, als die Bit­ter­nis ih­rer Ent­täu­schung ihr am här­tes­ten zu tra­gen vor­kam; als ihr Glau­be ans Le­ben er­schüt­tert war und ihre See­le sich trau­rig und ein­sam fühl­te. Sie hielt große Stücke auf das Kind, und der Va­ter wur­de ei­fer­süch­tig.

Schließ­lich ver­ach­te­te Frau Mo­rel ih­ren Mann. Sie wand­te sich dem Kin­de zu; von dem Va­ter wand­te sie sich ab. Er hat­te an­ge­fan­gen sie zu ver­nach­läs­si­gen; die Neu­ig­keit des ei­ge­nen Heims war für ihn vor­über. Er be­sä­ße kei­ne Ent­schluss­fä­hig­keit, sag­te sie vol­ler Bit­ter­keit zu sich selbst. Was er gra­de im Au­gen­blick emp­fand, das war ihm al­les. Er konn­te nie bei der Sa­che blei­ben. Es saß nichts hin­ter all sei­nem Ge­tue.

Nun be­gann ein Kampf zwi­schen Mann und Frau – ein furcht­ba­rer, blu­ti­ger Kampf, der erst mit dem Tode des einen en­de­te. Sie kämpf­te, um ihn sei­ne ei­ge­ne Verant­wort­lich­keit er­ken­nen zu leh­ren, ihn sei­ne Ver­pflich­tun­gen er­fül­len zu ma­chen. Er war aber zu ver­schie­den von ihr. Sei­ne Ver­an­la­gung war eine rein sinn­li­che, und sie ver­such­te, ihn sitt­lich zu ma­chen, got­tes­fürch­tig. Sie ver­such­te, ihn zu zwin­gen, den Din­gen ins Auge zu schau­en. Das konn­te er nicht aus­hal­ten – es brach­te ihn um den Ver­stand.

Noch wäh­rend das Kind ganz klein war, wur­de die Stim­mung des Va­ters so reiz­bar, dass kein Ver­lass mehr dar­auf war. Das Kind brauch­te nur ein we­nig un­ru­hig zu wer­den, so fing der Mann an, es zu quä­len. Ein we­nig mehr, und die har­ten Berg­manns­fäus­te schlu­gen das Kind. Dann ekel­te es Frau Mo­rel vor ih­rem Man­ne, ekel­te es sie vor ihm ta­ge­lang: und dann ging er aus und trank; und sie mach­te sich we­nig dar­aus, was er trieb. Sie ver­letz­te ihn auch bei sei­ner Rück­kehr durch ih­ren Spott.

Die Ent­frem­dung zwi­schen ih­nen bei­den ver­an­lass­te ihn, sie wis­sent­lich oder un­wis­sent­lich auch da gröb­lich zu be­lei­di­gen, wo er es sonst nicht ge­tan hät­te.

Wil­liam war erst ein Jahr alt, und sei­ne Mut­ter war auf den hüb­schen Jun­gen sehr stolz. Ihre Ver­hält­nis­se wa­ren jetzt nicht be­son­ders, aber ihre Schwes­tern ver­sorg­ten den Jun­gen mit An­zü­gen. Mit sei­nem klei­nen wei­ßen Hut mit ei­ner ge­kräu­sel­ten Strau­ßen­fe­der und sei­nem wei­ßen Rock war es ihr eine Freu­de ihn an­zu­se­hen, mit sei­nem Lo­cken­haar, das ihm den Kopf um­rahm­te. Ei­nes Sonn­tag­mor­gens lag Frau Mo­rel und lausch­te auf das Ge­plau­der von Va­ter und Sohn un­ten. Dann schlum­mer­te sie wie­der ein. Als sie nach un­ten kam, glüh­te ein mäch­ti­ges Feu­er auf dem Her­de, das Zim­mer war heiß, der Früh­stücks­tisch un­or­dent­lich ge­deckt, und in sei­nem Arm­stuhl dem Ka­min ge­gen­über saß Mo­rel, et­was ver­schüch­tert; und zwi­schen sei­nen Kni­en stand das Kind – kahl ge­scho­ren wie ein Schaf, mit ei­ner wun­der­li­chen run­den Tol­le – und sah sie ver­wun­dert an; und auf ei­ner Zei­tung auf der Herd­mat­te la­gen ver­streut in dem röt­li­chen Feu­er­schein un­zäh­li­ge halb­mond­för­mi­ge Lo­cken, wie die Blü­ten­blät­ter ei­ner Rin­gel­blu­me.

Frau Mo­rel stand re­gungs­los. Dies war ihr ers­tes Kind. Sie wur­de schnee­weiß und konn­te nicht spre­chen.

»Wat meens­te so von ihn?« lach­te Mo­rel un­si­cher.

Sie ball­te bei­de Fäus­te, hob sie und trat auf ihn zu. Mo­rel wich zu­rück.

»Um­brin­gen könn­te ich dich, ja, wahr­haf­tig!« sag­te sie. Sie er­stick­te vor Wut, mit hoch­er­ho­be­nen Fäus­ten.

»Du wolltst doch woll keen Mä­chen aus ihn ma­chen«, sag­te Mo­rel in furcht­sa­mem Ton­fall und ließ den Kopf hän­gen, um sei­ne Au­gen vor den ih­ren zu ber­gen. Der Ver­such zu la­chen war ihm ver­gan­gen.

Die Mut­ter blick­te auf das zot­te­li­ge, kahl­ge­scho­re­ne Haupt ih­res Kin­des. Sie leg­te die Hand auf sein Haar und strei­chel­te ihm lieb­ko­send den Kopf.

»O – mein Jun­ge!« stam­mel­te sie. Die Lip­pen zit­ter­ten ihr, ihr Ge­sicht brach zu­sam­men, und das Kind in die Höhe rei­ßend, barg sie ihr Ge­sicht an sei­ner Schul­ter und wein­te schmerz­er­füllt. Sie war eine je­ner Frau­en, die nicht wei­nen kön­nen; de­nen es ge­nau so weh tut wie ei­nem Man­ne. Ihr Schluch­zen war, als wür­de ihr et­was aus dem Lei­be ge­ris­sen.

Mo­rel saß da, die Ell­bo­gen auf den Kni­en, die Hän­de ver­schränkt, bis die Knö­chel weiß wur­den. Er stier­te ins Feu­er und kam sich fast wie be­täubt vor, als kön­ne er nicht län­ger at­men.

Aber da war es auch zu Ende mit ihr, sie be­ru­hig­te das Kind und räum­te den Früh­stücks­tisch auf. Das Zei­tungs­blatt mit dem Lo­cken­ge­wirr ließ sie auf der Herd­mat­te lie­gen. Schließ­lich nahm ihr Mann es auf und steck­te es ins Feu­er. Sie ging mit ge­schlos­se­nem Mun­de, sehr still, an ihre Ar­beit. Mo­rel war ge­bän­digt. Vol­ler Jam­mer kroch er um­her, und sei­ne Mahl­zei­ten wa­ren ihm an die­sem Tage ein wah­res Elend. Sie sprach höf­lich mit ihm und mach­te kei­ne An­spie­lung auf das, was er ge­tan hat­te. Aber er merk­te, dass et­was zum Schlus­se ge­kom­men sei.

Spä­ter sag­te sie, sie wäre al­bern ge­we­sen, dem Jun­gen hät­te das Haar über kurz oder lang doch ge­schnit­ten wer­den müs­sen. Schließ­lich brach­te sie es so­gar über sich, ih­rem Man­ne zu sa­gen, es wäre doch recht ge­we­sen, dass er da­mals den Haar­schnei­der ge­spielt habe. Aber sie wuss­te doch, und Mo­rel eben­so, jene Hand­lung hat­te in ih­rer See­le et­was Fol­gen­schwe­res her­vor­ge­ru­fen. Ihr gan­zes Le­ben lang er­in­ner­te sie sich an den Vor­gang als einen, un­ter dem sie be­son­ders schwer ge­lit­ten hat­te.

Die­ser Aus­bruch männ­li­cher Töl­pel­haf­tig­keit war der Speer durch die Sei­te ih­rer Lie­be für Mo­rel. Frü­her, selbst wäh­rend sie in bit­te­rem Kamp­fe mit ihm lag, hat­te sie sich um ihn ge­grämt, wenn er ein­mal auf Ab­we­ge ge­riet. Jetzt hör­te sie auf, sich nach sei­ner Lie­be zu seh­nen: er war ihr fremd ge­wor­den. Das mach­te das Le­ben viel er­träg­li­cher.

Trotz­dem gin­gen ihre Kämp­fe mit ihm wei­ter. Sie be­saß im­mer noch ihr ho­hes Sitt­lich­keits­ge­fühl, ein Erb­teil gan­zer Ge­schlech­ter­fol­gen von Pu­ri­ta­nern. Jetzt war es ihr Fröm­mig­keits­ge­fühl, und sie wur­de fast zum Glau­bens­schwär­mer an ihm, gra­de weil sie ihn lieb­te oder doch ge­liebt hat­te. Sün­dig­te er, so quäl­te sie ihn. Trank er und log, wur­de er manch­mal zum Prahl­hans, ge­le­gent­lich auch mal zum Lum­pen, so schwang sie un­barm­her­zig die Gei­ßel.

Das Trau­ri­ge war: sie war ihm zu un­ähn­lich. Sie konn­te sich mit dem We­ni­gen, was er dar­stel­len konn­te, nicht zu­frie­den­ge­ben; sie woll­te ihn so hoch­brin­gen, wie er ei­gent­lich hät­te ste­hen müs­sen. So ver­nich­te­te sie ihn in dem Ver­such, ihn zu et­was Ed­le­rem zu ma­chen, als er sein konn­te. Sie ver­letz­te und quäl­te und schund sich selbst auch, aber sie ver­lor nichts von ih­rem Wer­te. Sie hat­te ja auch die Kin­der.

Er trank recht schwer, wenn auch nicht mehr als an­de­re Berg­leu­te, und nur Bier, so­dass sei­ne Ge­sund­heit wohl litt, aber doch nicht un­ter­gra­ben wur­de. Am Wo­chen­schluss gings auf den Haupt­bum­mel. Je­den Frei­tag­abend, Sonn­abend- und Sonn­tag­abend saß er bis Fei­er­abend im ›Berg­manns-Wap­pen‹. Mon­tags und diens­tags muss­te er auf­ste­hen und, wenn auch wi­der­wil­lig, ge­gen zehn Uhr los­zie­hen. Mitt­woch- und Don­ners­tag­abend blieb er manch­mal zu Hau­se oder ging nur auf ein Stünd­chen aus. Tat­säch­lich brauch­te er nie des Trin­kens we­gen die Ar­beit zu ver­säu­men.

Aber ob­wohl er recht gleich­mä­ßig ar­bei­te­te, ging sein Lohn doch zu­rück. Er war ein Plap­per­maul, ein Schwät­zer. Auf­sicht war ihm et­was Gräss­li­ches, da­her konn­te er über die Be­triebs­lei­ter auch nichts als schimp­fen. So sag­te er wohl mal in Pal­mer­ston:

»Kommt der Olle heu­te mor­jen in un­sern Stol­len run­ter und sagt: ›Wees­te, Wal­ter, so jeht det nich wei­ter. Wat is denn det fier ’ne Zim­me­rung?‹ Un ick ant­wort ihm: ›Wie­so denn, wo re­d’st de denn von? Wat is denn los mit die Zim­me­rung?‹ ›Die jeht nie nich, die da‹, sag­te er. ›Dich kommt ei­nes schö­nen Ta­ges det Dach auf­’n Kopp‹, sagt er. Un ick sag: ›Denn schtell dir man lie­ber da auf­’n Klum­pen Dreck un halts mit­’n Kopp hoch.‹ Da wur­de er mäch­tig jif­tig un schimpft un flucht, un die an­de­ren muss­ten alle la­chen.« Mo­rel war ein gu­ter Schau­spie­ler. Er ahm­te die fet­te, quä­ki­ge Stim­me des Be­triebs­lei­ters nach und sei­nen Ver­such, an­stän­dig Eng­lisch zu spre­chen.

»›Ick werd mir woll hie­ten, Wal­ter. Wer verschteht denn woll mehr da­von, du oder ich?‹ sagt er. ›Det Hab ick noch nie nich raus­je­fun­den, wat du da­von verschtehst, Al­fred. Et langt vil­leicht jra­de, dir in die Klap­pe un wie­der raus­zu­brin­gen.‹«

So fuhr Mo­rel zum Ver­gnü­gen sei­ner Kneip­brü­der fort. Und man­ches dar­an war auch wahr. Der Be­triebs­lei­ter war kein Mann von Bil­dung. Er war noch zur sel­ben Zeit wie Mo­rel Schlep­per­jun­ge ge­we­sen, so­dass sie bei­de, wäh­rend sie sich nicht lei­den konn­ten, sich doch als ge­ge­be­ne Grö­ßen hin­nah­men. Aber Al­fred Charles­worth ver­gab dem Stei­ger dies Knei­pen­ge­schwätz nicht. Ob­wohl Mo­rel also ein tüch­ti­ger Berg­mann war und zur Zeit sei­ner Ver­hei­ra­tung manch­mal bis an fünf Pfund in der Wo­che ver­dien­te, ge­riet er in der Fol­ge ganz all­mäh­lich in im­mer schlech­te­re und schlech­te­re Stol­len, wo die Koh­le dünn und schwer zu er­rei­chen war und kei­nen Vor­teil brach­te.

Im Som­mer wa­ren die Gru­ben au­ßer­dem flau. An hel­len, son­ni­gen Mor­gen kann man die Leu­te manch­mal um zehn, elf oder zwölf hau­fen­wei­se nach Hau­se zie­hen se­hen. Dann ste­hen kei­ne lee­ren Hun­de am Schacht­ein­gang. Die Frau­en se­hen vom Hü­gel her­über, wäh­rend sie die Herd­mat­te am Zaun aus­klop­fen, und zäh­len die Wa­gen, die die Ma­schi­ne das Tal hin­un­ter­schleppt. Und wenn die Kin­der zur Es­sens­zeit aus der Schu­le kom­men, bli­cken sie über das Feld weg, und wenn sie die Rä­der auf den För­der­tür­men still­stehn se­hen, sa­gen sie:

»Min­ton hat ge­stoppt, Vat­ter wird zu Hau­se sein.«

Und über al­len liegt eine Art Schat­ten, über Män­nern und Frau­en und Kin­dern, weil das Geld am Wo­chen­schluss knapp sein wird.

Mo­rel soll­te sei­ner Frau ei­gent­lich drei­ßig Schil­ling wö­chent­lich ge­ben für al­les – Mie­te, Es­sen, Klei­dung, Ver­gnü­gen, Ver­si­che­rung, Arzt. Ging es ihm mal be­son­ders gut, so gab er ihr fünf­und­drei­ßig. Aber die­se Ge­le­gen­hei­ten hiel­ten kei­nes­wegs de­nen die Waa­ge, wo er ihr nur fünf­und­zwan­zig gab. Im Win­ter konn­te der Berg­mann, wenn er einen an­stän­di­gen Stol­len hat­te, fünf­zig bis fünf­und­fünf­zig Schil­ling die Wo­che ver­die­nen. Dann war er glück­lich. Frei­tag­abend, Sonn­abend, Sonn­tag war er frei­ge­big wie ein Kö­nig und wur­de auf die Wei­se sei­ne zwan­zig Schil­ling oder so los. Und von al­le­dem be­hielt er kaum so viel üb­rig, um den Kin­dern einen Pen­ny zu ge­ben oder ih­nen ein Pfund Äp­fel zu kau­fen. Al­les ging durch die Keh­le. In schlech­ten Zei­ten war es noch üb­ler, aber er war nicht so häu­fig be­trun­ken, so­dass Frau Mo­rel zu sa­gen pfleg­te:

»Ich weiß doch nicht, ob ich nicht lie­ber sehe, wenn es uns knapp geht; denn wenn er Geld hat, gibts kei­nen Au­gen­blick Ruhe und Frie­den.«

Wenn er vier­zig Schil­ling emp­fing, be­hielt er zehn; von fünf­und­drei­ßig be­hielt er fünf; von zwei­und­drei­ßig vier; von acht­und­zwan­zig drei; von vier­und­zwan­zig zwei; von zwan­zig an­dert­halb, von acht­zehn be­hielt er einen Schil­ling, von sech­zehn einen hal­b­en. Nie spar­te er einen Pen­ny und gab auch sei­ner Frau nie die Mög­lich­keit zu spa­ren; statt­des­sen hat­te sie ge­le­gent­lich sei­ne Schul­den zu be­zah­len; nicht Kneip­schul­den, denn die wur­den nie auf die Frau­en über­tra­gen, aber Schul­den, wenn er etwa einen Ka­na­ri­en­vo­gel ge­kauft hat­te oder einen auf­fal­len­den Spa­zier­stock.

Wäh­rend des Jahr­markts ar­bei­te­te Mo­rel schlecht, und Frau Mo­rel ver­such­te, et­was für ihre Wo­chen zu spa­ren. So war ihr der Ge­dan­ke, dass er sei­nem Ver­gnü­gen nach­lie­fe, wäh­rend sie ab­ge­hetzt zu Hau­se blie­be, ein gal­len­bit­te­rer Trank. Der Rum­mel dau­er­te zwei Tage. Am Diens­tag­mor­gen stand Mo­rel früh auf. Er war gu­ter Stim­mung. Ganz früh, vor sechs, hör­te sie ihn un­ten lus­tig drauf­los pfei­fen. Er hat­te eine hüb­sche Art zu pfei­fen, leb­haft und wohl­klin­gend. Er pfiff fast stets Kir­chen­lie­der. Bei sei­ner schö­nen Stim­me war er Chor­kna­be ge­we­sen und hat­te im Dome zu Southwell so­gar al­lein sin­gen müs­sen. Das konn­te man noch sei­nem mor­gend­li­chen Pfei­fen an­hö­ren.

Sei­ne Frau lag und hör­te sei­nem Ar­bei­ten im Gar­ten zu, wo sein Pfei­fen in das Ge­sä­ge und Ge­häm­me­re hin­ein­tön­te. Ihn so in dem hel­len frü­hen Mor­gen, glück­lich bei sei­ner männ­li­chen Be­schäf­ti­gung zu hö­ren, wäh­rend sie noch im Bet­te lag und die Kin­der noch nicht wach wa­ren, gab ihr im­mer ein Ge­fühl von Wär­me und Frie­den.

Um neun Uhr, wäh­rend die Kin­der mit blo­ßen Fü­ßen und Bei­nen auf dem Sofa spiel­ten und die Mut­ter auf­wusch, kam er von sei­ner Zim­mer­manns­ar­beit wie­der her­ein, die Är­mel auf­ge­krem­pelt, die Wes­te of­fen hän­gend. Er war im­mer noch ein gut aus­se­hen­der Mann, mit schwar­zem lo­cki­gem Haar und ei­nem mäch­ti­gen schwar­zen Schnurr­bart. Sein Ge­sicht war et­was zu sehr ge­rötet, und er hat­te viel­leicht et­was zu Emp­find­li­ches an sich. Aber au­gen­blick­lich war er doch fröh­lich. Er ging stracks auf den Aus­guss zu, an dem sei­ne Frau auf­wusch.

»Wat, da bis­te schon!« sag­te er lär­mend. »Mach mal hopp un lass mich mir erst mal wa­schen.«

»Du kannst wohl war­ten bis ich fer­tig bin«, sag­te sei­ne Frau.

»Oh, kann ick; wenn ick aber nich will?«

Die­se gut­mü­ti­ge Dro­hung mach­te Frau Mo­rel Spaß.

»Denn kannst du ja hin­gehn und dich in der Re­gen­ton­ne wa­schen.«

»Ha, kann ick, du ver­flix­te klee­ne Hexe!«

Worauf er noch einen Au­gen­blick ste­hen­blieb und ihr zu­sah; dann aber ging er weg und war­te­te, bis sie fer­tig war. Wenn er nur woll­te, konn­te er im­mer noch rich­tig den Ver­lieb­ten spie­len.

Für ge­wöhn­lich ging er am liebs­ten mit ei­nem Tuch um den Hals aus. Nun aber zog er sich or­dent­lich an. Eine wah­re Wol­lust schi­en in der Art und Wei­se zu lie­gen, wie er beim Wa­schen prus­te­te und plantsch­te, eine wah­re Hei­ter­keit dar­in, wie er zu dem Kü­chen­spie­gel fuhr und, in­dem er sich nie­der­beug­te, weil er ihm zu tief hing, sein nas­ses schwar­zes Haar so ge­wis­sen­haft schei­tel­te, dass es Frau Mo­rel ge­ra­de­zu reiz­te. Er band einen Um­le­ge­kra­gen und eine schwar­ze Schlei­fe um und zog sei­nen Sonn­tags­rock an. Da­rin sah er ganz flott aus, und was sein An­zug nicht ver­moch­te, das be­sorg­te sein ei­ge­nes Ge­fühl für sein gu­tes Aus­se­hen.

Um halb zehn kam Jer­ry Purdy, um sei­nen Kum­pel ab­zu­ho­len. Jer­ry war Mo­rels Bu­sen­freund, und Frau Mo­rel moch­te ihn gar nicht. Er war ein lan­ger, dün­ner Mensch mit ei­nem rich­ti­gen Fuchs­ge­sicht, je­ner Art Ge­sich­tern, de­nen die Au­gen­brau­en zu feh­len schei­nen. Er ging mit stei­fer, sprö­der Wür­de ein­her, als stä­ke sein Kopf auf ei­ner höl­zer­nen Fe­der. Sei­ne Ver­an­la­gung war kalt und schlau. Groß­mü­tig, wo es in sei­ner Ab­sicht lag, schi­en er Mo­rel sehr gern zu ha­ben und ihn mehr oder we­ni­ger un­ter sei­ne Ob­hut zu neh­men.

Frau Mo­rel hass­te ihn. Sie hat­te sei­ne Frau ge­kannt, die an der Schwind­sucht ge­stor­ben war und die ge­gen ihr Ende hin eine so furcht­ba­re Ab­nei­gung ge­gen ih­ren Mann emp­fun­den hat­te, dass es ihr schon schwe­ren Blut­ver­lust ver­ur­sach­te, wenn er nur zu ihr ins Zim­mer kam. Woraus Jer­ry sich üb­ri­gens nichts zu ma­chen schi­en. Und nun hielt ihm sei­ne äl­tes­te Toch­ter, ein Mäd­chen von fünf­zehn, einen jäm­mer­li­chen Haus­halt und sorg­te für die bei­den jün­ge­ren Kin­der.

»Der dür­re Schuft mit sei­nem ver­küm­mer­ten Her­zen!« sag­te Frau Mo­rel von ihm.

»Ick hab in mein Le­ben noch nich je­se­hen, det Jer­ry ’n Schuft je­we­sen wäre«, hielt Mo­rel ihr ent­ge­gen, »’n bes­se­ren Kerl mit ne of­fe­ne­re Hand kanns­te woll nir­gends nich fin­den, so ville ick weeß.«

»Of­fe­ne Hand ge­gen dich«, wand­te Frau Mo­rel da­ge­gen ein. »Für sei­ne Kin­der ist sei­ne Faust dicht ge­nug – arme Din­ger!«

»Un wes­we­gen sin se denn arme Din­ger, möch­te ick woll wis­sen!«

Aber Frau Mo­rel woll­te sich über Jer­ry nicht be­ru­hi­gen las­sen.

Der Ge­gen­stand ih­rer Un­ter­hal­tung wur­de sicht­bar, in­dem er sei­nen dün­nen Hals über den Spül­kü­chen­vor­hang vor­beug­te. Er traf Frau Mo­rels Blick.

»Mor­jen, Frau! Is der Mees­ter da?«

»Ja, da ist er.«

Jer­ry trat un­ge­be­ten ein und blieb im Kü­chen­ein­gang ste­hen. Er wur­de nicht auf­ge­for­dert, sich zu set­zen, son­dern blieb dort ste­hen, in Ver­tei­di­gung der Men­schen- und Gat­ten­rech­te.

»’n fei­ner Mor­jen«, sag­te er zu Frau Mo­rel.

»Ja.«

»Jroß­ar­tig heu­te drau­ßen – jroß­ar­tig für’n Spa­zier­jang.«

»Mei­nen Sie, Sie woll­ten heu­te spa­zie­ren­ge­hen?« frag­te sie.

»Ja. Wir woll­ten mal nach Not­ting­ham«, ant­wor­te­te er.

»Hm!«

Die bei­den Män­ner be­grüß­ten sich, bei­de froh: Jer­ry in­des­sen ganz selbst­be­wusst, Mo­rel eher ver­knif­fen, vol­ler Angst, sich in Ge­gen­wart sei­ner Frau zu froh zu zei­gen. Aber rasch und vol­ler Lau­ne schnür­te er sich die Schu­he.

Sie woll­ten zehn Mei­len über Feld nach Not­ting­ham ge­hen. Vom ›Grun­de‹ aus den Hü­gel hin­an­stei­gend, zo­gen sie fröh­lich in den Mor­gen hin­aus. Im ›Mond und Ster­ne‹ nah­men sie zum ers­ten Mal einen, dann ging es wei­ter nach dem Al­ten Fle­cken. Dann fünf lan­ge Mei­len Durst­stre­cke, die sie nach Bull­well hin­ein­führ­te zu ei­nem groß­ar­ti­gen Hal­ben Hel­les. Aber dann hiel­ten sie sich wie­der auf dem Feld bei Heu­ma­chern auf, de­ren Bier­krug noch voll war, so­dass, als sie in Sicht der Stadt ka­men, Mo­rel müde war. Die Stadt stieg vor ih­nen an, im flim­mern­den Dunst der Mit­tags­glut, in ei­ner küh­nen Za­cken­kro­ne nach Sü­den zu mit ih­ren Tür­men und mäch­ti­gen Werk­stät­ten und Schorn­stei­nen. Auf dem letz­ten Fel­de leg­te Mo­rel sich un­ter einen Eich­baum und schlief fest über eine Stun­de lang. Als er auf­stand, um wei­ter zu zie­hen, fühl­te er sich recht un­be­hag­lich.

In der ›Wei­de‹ aßen sie zu Mit­tag bei Jer­rys Schwes­ter; dann zo­gen sie wei­ter in den ›Pun­schnapf‹, wo sie in die Auf­re­gung ei­nes Tau­ben­wett­flu­ges hin­ein­ge­rie­ten. Mo­rel spiel­te nie in sei­nem Le­ben Kar­ten, da er ih­nen ge­hei­me, bös­wil­li­ge Kräf­te bei­maß – »Teu­fels­bil­der« nann­te er sie. Aber im Ke­geln und Do­mi­no war er Meis­ter. Er nahm die Her­aus­for­de­rung ei­nes Man­nes aus Ne­wark zum Ke­geln an. Sämt­li­che Män­ner in der al­ten, lang sich hin­zie­hen­den Knei­pe schlu­gen sich auf die eine oder an­de­re Sei­te und wet­te­ten für oder ge­gen. Mo­rel zog sei­nen Rock aus. Jer­ry hielt den Hut mit dem Gel­de. Die Leu­te an den Ti­schen be­ob­ach­te­ten sie. Ei­ni­ge stan­den mit ih­ren Krü­gen in der Hand da. Mo­rel wog die di­cke, höl­zer­ne Ku­gel vor­sich­tig und ließ sie dann los­sau­sen. Er rich­te­te ein furcht­ba­res Ge­met­zel un­ter den Ke­geln an und ge­wann zwei­ein­halb Schil­ling, was sei­ne Zah­lungs­fä­hig­keit wie­der­her­stell­te.

Ge­gen sie­ben Uhr wa­ren bei­de in gu­ter Stim­mung. Sie er­reich­ten noch den Hal­bacht-Uhr-Zug nach Hau­se.

Nach­mit­tags war der ›Grun­d‹ un­er­träg­lich. Je­der zu Haus ge­blie­be­ne Ein­woh­ner war vor der Tür. Die Frau­en, zu zwei­en und drei­en, bar­häup­tig und in wei­ßen Schür­zen, plau­der­ten in dem Gan­ge zwi­schen den Häu­ser­rei­hen. Män­ner, die sich mal ein biss­chen vom Knei­pen aus­ruh­ten, hock­ten da und schwatz­ten. Das gan­ze Nest roch ab­ge­stan­den; die Schie­fer­dä­cher glit­zer­ten in der tro­ckenen Hit­ze.

Frau Mo­rel brach­te ihr klei­nes Mäd­chen hin­un­ter an den Bach auf der nur etwa zwei­hun­dert Schritt ent­fern­ten Wie­se. Das Was­ser lief hur­tig über Stei­ne und zer­bro­che­nes Ge­schirr. Mut­ter und Kind lehn­ten ge­gen das Ge­län­der der al­ten Schaf­brücke und pass­ten auf. Ober­halb an der Schwem­me, am an­de­ren Ende der Wie­se, konn­te Frau Mo­rel die nack­ten Ge­stal­ten von Jun­gens um das tie­fe, gel­be Was­ser auf­blit­zen oder ge­le­gent­lich einen hel­len Kör­per schim­mernd über die stumpf­schwarz er­schei­nen­de Wie­se flit­zen se­hen. Sie wuss­te, Wil­liam war mit an der Schwem­me, und es war die Angst ih­res Le­bens, er kön­ne dort er­trin­ken. An­nie spiel­te un­ter der ho­hen, al­ten He­cke und las Er­len­e­ckern auf, die sie Jo­han­nis­bee­ren nann­te. Das Kind er­for­der­te viel Auf­merk­sam­keit, und die Flie­gen wa­ren eine rei­ne Pla­ge.

Um sie­ben wur­den die Kin­der zu Bett ge­bracht. Dann ar­bei­te­te sie noch ein Weil­chen.

Als Wal­ter Mo­rel und Jer­ry in Best­wood an­ka­men, fühl­ten sie eine Last von ih­ren Ge­mü­tern sin­ken; kei­ne Ei­sen­bahn­fahrt stand ih­nen mehr be­vor, und so konn­ten sie dem herr­li­chen Tage noch einen rich­ti­gen Ab­schluss ge­ben. Mit der Zufrie­den­heit heim­keh­ren­der Rei­sen­der tra­ten sie in den ›Nel­son‹ ein.

Der nächs­te Tag war ein Ar­beits­tag, und der Ge­dan­ke dar­an leg­te sich wie ein Dämp­fer über das Ge­müt der Män­ner. Die meis­ten von ih­nen hat­ten au­ßer­dem ihr Geld be­reits aus­ge­ge­ben. Ein­zel­ne trot­te­ten schon miss­mu­tig heim­wärts, um sich zur Vor­be­rei­tung für mor­gen aus­zu­schla­fen. Frau Mo­rel, die ih­rem trü­ben Ge­sang zu­ge­hört hat­te, ging ins Haus. Neun Uhr wur­de es, und zehn, und das »Paar« war im­mer noch nicht wie­der da. Ir­gend­wo auf ei­ner Schwel­le sang ein Mann laut und quä­kend: »Führ’ uns, o Licht.« Frau Mo­rel är­ger­te sich im­mer dar­über, dass alle Be­trun­ke­nen gra­de dies Kir­chen­lied an­stim­men muss­ten, wenn das graue Elend über sie kam.

»Als ob ›Ge­no­ve­fa‹ es nicht auch täte«, sag­te sie.

Die Kü­che war er­füllt vom Ge­ruch ge­koch­ter Kräu­ter und Hop­fen. Auf dem Fen­der stand ein wei­ter Kes­sel und dampf­te ge­mäch­lich. Frau Mo­rel nahm einen ir­de­nen Krug, einen großen Topf aus dickem ro­tem Ton, ließ einen Hau­fen wei­ßen Zuckers hin­ein­lau­fen und goss dann die Flüs­sig­keit, sich un­ter der Last hoch­stem­mend, dar­über.

In dem Au­gen­blick trat Mo­rel ein. Er war im ›Nel­son‹ sehr ver­gnügt ge­we­sen, aber auf dem Heim­weg hat­te sich sei­ne Stim­mung ver­schlech­tert. Er war noch nicht ganz über das Ge­fühl von Är­ger und Schmerz hin­weg, nach sei­nem Schlaf in der Hit­ze; und sein bö­ses Ge­wis­sen plag­te ihn, je nä­her er sei­nem Hau­se kam. Er wuss­te gar nicht, dass er är­ger­lich war. Aber als die Gar­ten­tür sei­nen Ver­su­chen, sie zu öff­nen, wi­der­stand, trat er mit dem Fuße da­ge­gen und zer­brach die Klin­ke. Er trat gra­de ein, als Frau Mo­rel den Kräu­ter­sud aus dem Kes­sel goss. Sanft tor­kelnd tau­mel­te er ge­gen den Tisch. Die ko­chen­de Flüs­sig­keit spritz­te über. Frau Mo­rel fuhr zu­rück.

»Gu­ter Gott«, rief sie aus, »kommt er wie­der be­trun­ken nach Haus!«

»Wie kommt er nach Hau­se?« knurr­te er, den Hut auf ein Auge ge­drückt.

Plötz­lich ge­riet ihr Blut in Wal­lung.

»Sag auch noch, du wä­rest nicht be­trun­ken!« blitz­te sie her­vor.

Sie hat­te den Kes­sel wie­der hin­ge­setzt und rühr­te den Zu­cker in das Bier. Er ließ bei­de Hän­de schwer auf den Tisch fal­len und stieß sein Ge­sicht ge­gen sie vor.

»›Sag ooch noch, du wä­rest nich be­trun­ken‹«, wie­der­hol­te er. »Si­cher, bloß so’n klee­nes ek­li­ges Dings wie du kann uff so’n Je­dan­ken kom­men.«

Er stieß sein Ge­sicht wie­der ge­gen sie vor.

»Zum Sau­fen ist im­mer Geld da, wenn auch für nichts an­de­res.«

»Kee­ne zwee Schil­ling hab ick heu­te aus­je­je­ben«, sag­te er.

»Für nichts be­trinkst du dich auch nicht wie ein Edel­mann«, er­wi­der­te sie. »Und«, rief sie in plötz­lich aus­bre­chen­der Wut, »wenn du wie­der mal dei­nen ge­lieb­ten Jer­ry aus­ge­pumpt hast, lass den doch lie­ber nach sei­nen Kin­dern se­hen, denn die ha­ben es nö­tig.«

»Det ’s ’ne Lüje, det ’s ’ne Lüje. Halt die Klap­pe, Weibs­bild.«

Nun war der Kampf wie­der auf dem Hö­he­punkt. Bei­de ver­ga­ßen al­les über dem ge­gen­sei­ti­gen Hass und ih­rem Kampf. Sie war eben­so er­hitzt und wü­tend wie er. So ging es wei­ter, bis er sie Lüg­ne­rin nann­te.

»Nein«, rief sie in die Höhe fah­rend, kaum im­stan­de zu at­men. »Das sag nicht – du, der ekel­haf­tes­te Lüg­ner, der je in Schuh­le­der lief.« Die letz­ten Wor­te brach­te sie mit Mühe aus ih­ren er­schöpf­ten Lun­gen her­vor.

»’ne Lüj­ner­sche bist de!« schrie er gel­lend, mit ei­nem hef­ti­gen Faust­schlag auf den Tisch, »’ne Lüj­ner­sche bist de, ’ne Lüj­ner­sche bist de!«

Mit ge­ball­ten Fäus­ten straff­te sie sich auf.

»Du be­schmutzt ja das Haus!« rief sie.

»Denn mach doch, det de raus­kommst – et je­hört ja mich zu. Mach, det de raus­kommst!« brüll­te er. »Ick brin­ge doch woll dat Jeld an, nich du. ’t is mein Haus, nich deins. Also raus mit dir – raus mit dir!«

»Und ich täts auch«, rief sie, plötz­lich zu Trä­nen der Ohn­macht be­wegt. »Ach wie gern, wie gern wäre ich schon lan­ge ge­gan­gen, wäre es nicht we­gen der Kin­der. Ach, hats mich nicht ge­reut, dass ich nicht schon vor Jah­ren ge­gan­gen bin, als ich erst das eine hat­te« – und dann plötz­lich in Wut ver­trock­nend: »Glaubst du etwa, ich blie­be dei­net­we­gen hier – glaubst du, ich blie­be dei­net­we­gen auch nur eine Mi­nu­te?«

»Denn jeh doch!« schrie er au­ßer sich. »Jeh doch!«

»Nein!« Sie wand­te sich ihm wie­der zu. »Nein!« rief sie laut, »es soll nicht im­mer al­les nach dei­ner Müt­ze ge­hen; du sollst nicht bloß tun, was du willst. Ich muss auf die Kin­der pas­sen. Wahr­haf­tig«, lach­te sie, »das wäre was Schö­nes, wenn ich dir die über­las­sen woll­te.«

»Raus!« schrie er un­deut­lich und hob die Faust. Er war ban­ge vor ihr. »Raus!«

»Ich wäre ja nur zu froh. Ich müss­te ja so la­chen, so la­chen, mein Herr und Ge­bie­ter, wenn ich nur von dir weg­könn­te«, ant­wor­te­te sie.

Er kam auf sie zu, sein ro­tes Ge­sicht mit den blut­un­ter­lau­fe­nen Au­gen vor­ge­scho­ben, und pack­te sie an den Ar­men. Sie schrie auf aus Furcht vor ihm und rang, um von ihm los­zu­kom­men. Mit ei­nem Äch­zen halb wie­der zu sich kom­mend, stieß er sie roh auf die Au­ßen­tür zu, durch die er sie her­aus­dräng­te und dann den Rie­gel mit schar­fem Schnapp wie­der zu­schob. Dann trat er wie­der in die Kü­che, ließ sich in sei­nen Arm­stuhl fal­len und den Kopf, zum Plat­zen mit Blut ge­füllt, zwi­schen die Knie sin­ken. So ver­sank er all­mäh­lich in Star­re vor Er­schöp­fung und Be­trun­ken­heit.

Der Mond stand hoch und präch­tig in der Au­gust­nacht. Von Lei­den­schaft ver­zehrt schau­er­te Frau Mo­rel zu­sam­men, als sie sich hier drau­ßen in dem näch­ti­gen wei­ßen Lich­te fand, das so kalt auf sie nie­der­fiel und ihre ent­flamm­te See­le er­schreck­te. Ein paar Au­gen­bli­cke stand sie und starr­te hilf­los auf die glit­zern­den großen Rha­bar­ber­blät­ter ne­ben der Tür. Dann be­kam sie wie­der Luft in die Brust. In al­len Glie­dern zit­ternd schritt sie den Gar­ten­pfad hin­un­ter, wäh­rend das Kind in ihr koch­te. Eine Zeit lang hat­te sie noch kei­ne Macht über ihr Be­wusst­sein; ganz ge­dan­ken­los ließ sie den letz­ten Vor­gang noch ein­mal an sich vor­über­zie­hen und dann noch ein­mal, und im­mer aufs Neue brann­ten sich ge­wis­se Re­dens­ar­ten, ge­wis­se Ein­zel­hei­ten wie ein­mal in ihre See­le; und je­des Mal, wenn sie sich die ver­flos­se­ne Stun­de so vor­führ­te, lo­der­te der Brand bei den­sel­ben Stel­len wie­der em­por, bis das Mal ein­ge­brannt und der Schmerz aus­ge­brannt war und sie schließ­lich wie­der zu sich kam. Sie muss­te eine hal­be Stun­de in die­ser wir­ren Ver­fas­sung zu­ge­bracht ha­ben. Dann kam die Ge­gen­wart der Nacht ihr wie­der zum Be­wusst­sein. Vol­ler Furcht schau­te sie sich um. Sie war in den Sei­ten­gar­ten ge­wan­dert, wo sie den Pfad ne­ben den Jo­han­nis­beer­bü­schen an der lan­gen Mau­er ent­lang auf und ab ging. Der Gar­ten war nur ein schma­ler Strei­fen, von dem die Blö­cke durch­schnei­den­den Weg durch eine di­cke Dorn­he­cke ge­trennt.