Solang du lieben magst - Hanne Benden - E-Book
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Solang du lieben magst E-Book

Hanne Benden

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Beschreibung

Er hatte sich mir gegenüber nie zuvor so schwach gezeigt, hatte nie um Hilfe gebeten. Durfte ich dieses Vertrauen enttäuschen? Malene ist erschüttert, nachdem sie Julius von einer ganz anderen Seite kennengelernt hat. Sie will nicht glauben, dass sie sich schon wieder in einem Menschen getäuscht hat. Julius zeigt ihr, wie leid ihm alles tut, gibt ihr Zeit und langsam nähern sich die beiden wieder einander an. Doch Julius' Vergangenheit holt ihn immer wieder ein und stellt die Beziehung der beiden auf eine harte Probe, besonders als Malenes Dänemark-Pläne konkreter werden. Malene ist hin- und hergerissen; sie will Julius nicht verlieren, aber vielleicht ist es besser, loszulassen?

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CONTENTNOTES

In diesem Roman werden potenziell

triggernde Themen aufgegriffen.

Diese findest du auf Seite 225 am

Ende des Buchs und auf der Website

der Autorin www.hannebenden.de

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Danksagung

Über die Autorin

1.

Kapitel

Die Welt um mich herum kam mir wie animiert vor. Alles war so weit weg und seltsam zweidimensional. Wie in einem Videospiel sah ich meine Hände am Fahrradlenker, spürte aber nicht, dass ich auf meinem Rad saß. Figuren und Häuser zogen an mir vorbei – oder war ich es, die vorbeizog? Ich roch nichts, hörte nichts. Ein Auto kreuzte meinen Weg. Jemand gestikulierte wild aus dem Fenster. Ich lotste mein Fahrrad drumherum. Fast erwartete ich ein PLING oder Ähnliches, das mir den Eintritt ins nächste Level verkündete, doch es blieb aus. War das hier echt? Warum wirkte es dann so unwirklich?

Als ich an der WG ankam, zitterte ich am ganzen Leib. Mir war so kalt wie schon lang nicht mehr. Über der Welt lag ein grauer Schleier. Wie ferngesteuert stieg ich die Treppe hoch, schloss die Tür auf, zog die Schuhe von den Füßen und ging in mein Zimmer. Dort setzte ich mich auf die Bettkante und starrte auf die Wand, ohne zu sehen, was dort war.

Eine Bewegung, jemand näherte sich mir, sagte wohl etwas. Ich sah, wie sich die Lippen bewegten. Die Person verschwand, tauchte kurz darauf mit einer weiteren Person auf. Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Ein Mund, der sich schnell öffnete und wieder schloss. Viel zu schnell, ich konnte nicht folgen.

Plötzlich ein scharfer Schmerz, der von meiner Hand ausstrahlte und in meinen Kopf raste.

„Lene?“

Orientierungslos sah ich mich um. Woher kam die Stimme?

Wieder dieser scharfe Schmerz. Ich keuchte auf.

„Lene!“

Wilma kniete vor mir und umklammerte meine Finger. In meinem Handrücken zeichneten sich tiefe Spuren von Fingernägeln ab.

„Deine Hände sind eiskalt.“ Wilma raffte die Tagesdecke auf meinem Bett zusammen, legte sie mir um die Schultern und wickelte meine Hände darin ein.

„Gleich wird’s besser“, flüsterte sie. Sie stand aus der Hocke auf, setzte sich neben mich auf die Bettkante und hielt mich im Arm. Leonie betrat das Zimmer und legte mir eine Wärmflasche in den Schoß. Augenblicklich breitete sich die Wärme auf meinen Beinen aus. Ich legte meine Hände auf das Gummi und langsam ließ das Zittern nach. Irgendwann stand Leonie auf, ging aus dem Zimmer und kam kurz darauf mit einer Tafel Schokolade zurück. Ich spürte dem süßen Geschmack nach, der sich auf meiner Zunge ausbreitete.

„Magst du uns erzählen, was passiert ist?“, fragte Wilma sanft.

Der letzte Rest Schokolade schmolz und ich schloss die Augen. Was war passiert? Bilder tauchten in meinem Kopf auf. Basti und ich vor dem Wohnheim. Basti mit dem Schlüssel vor Julius‘ Tür. Ein abgedunkeltes Zimmer. Leere Flaschen. Basti vor dem Bett. Der Student in dem Bett. Das Bild flackerte vor meinem inneren Auge, dann rastete es ein und blieb wie ein Banner hängen. Jetzt erkannte ich ihn. Den Studenten im Bett. Nur mit T-Shirt und Boxershorts bekleidet. Zerwühltes Haar. Unrasiert. Trübe, rot verquollene Augen. Julius. Basti hatte sich nicht im Zimmer geirrt. Ich begann wieder zu zittern. Bitte lass es nur einen Traum sein! Erst als Wilma mir ein Taschentuch reichte, merkte ich, dass mir Tränen übers Gesicht liefen. Ich umklammerte das Taschentuch über der Wärmflasche und ließ die Tränen laufen, während ich versuchte, die Erinnerung abzuschütteln. Das passte doch überhaupt nicht! So war er nicht! Für den Bruchteil einer Sekunde stieg mir der Geruch, der mir entgegengeschlagen war, wieder in die Nase. Er vervollständigte das Bild, das ich so gern als niederträchtige Illusion weggeschoben hätte. Ich wollte die Erkenntnis nicht wahrhaben. Der betrunkene Student war wirklich Julius gewesen.

„Es ist in Ordnung, lass es raus!“

Wilma streichelte mir über den Rücken und wiegte mich wie eine Mutter ihr Baby. Stockend erzählte ich Wilma und Leonie, was ich erlebt hatte. Julius‘ verwahrloster Zustand ging mir die ganze Zeit nicht aus dem Sinn. Mit jedem Satz, den ich aussprach, schien es wahrer zu werden. Und trotzdem konnte ich es nicht glauben. Wollte es nicht glauben. Der stockbesoffene Student, um den Basti sich gekümmert hatte, war nicht der Julius, den ich kennengelernt hatte. Hatte ich ihn überhaupt gekannt? Hätte mir etwas auffallen müssen?

„Er hat drei Tage lang in seinem Zimmer gesoffen?“, fragte Leonie fassungslos.

„So wie es roch und aussah, ja.“

Die Erkenntnis schnitt mir scharf in die Brust. Ob sich Julius‘ Alkoholkonsum nur auf den Inhalt der Flaschen in der Küche und auf dem Nachttisch beschränkt hatte? So genau hatte ich das Zimmer nicht einsehen können. Vielleicht hatte neben seinem Bett noch mehr gestanden … Aber machte das noch einen Unterschied? Ein weiterer Weinkrampf schüttelte mich. Warum tat Julius so etwas?

„Das hätte ich nie von ihm gedacht.“ Wilma schüttelte immer wieder den Kopf. „Jetzt kann ich verstehen, warum du so fertig bist. Hat er irgendetwas zu dir gesagt?“

„Ich bin nicht einmal sicher, ob er mich richtig gesehen hat.“

„Oh Mann, das ist echt hart. Und Basti hatte sofort einen Verdacht?“

Ich nickte. Ob Julius weitergetrunken hätte, wenn wir nicht gekommen wären? Was wäre dann passiert? Wie viel Promille hatte er schon intus gehabt? Was, wenn er …? Ich verbannte das Horrorszenario aus meinem Kopf. Daran wollte ich lieber gar nicht erst denken.

„Aber wenn Basti diesen Verdacht hatte, heißt das dann, dass Julius vorher schon einmal getrunken hat?“

Eine eiserne Faust schloss sich um mein Herz. Leonies Überlegung war absolut logisch. Ihre Tragweite sickerte jedoch nur langsam zu mir durch. War Julius Alkoholiker? Aber hätte ich das nicht merken müssen? Und wie passte das mit dem jungen, engagierten Medizinstudenten zusammen, der immer zuverlässig und zielstrebig war? Was bedeutete das für uns? Für mich? Mir fiel der Tag nach unserem geplatzten Kinoabend ein. Der bittere Geruch, der an ihm gehaftet hatte. Natürlich! Wieso war ich damals nicht darauf gekommen? Er musste auch damals getrunken haben. Wenn auch nicht so viel wie jetzt. Sein Anblick vorhin war abstoßend gewesen, und obwohl ich durch die Arbeit den Geruch von Alkohol durchaus gewohnt war, drehte sich mir bei der Erinnerung an die Luft in Julius‘ Zimmer der Magen um.

Ich konnte Leonie keine Antwort geben. Am liebsten wollte ich alles vergessen. Schlafen. Und wenn ich wieder erwachte, feststellen, dass alles nur ein besonders schlimmer Alptraum gewesen war. Die Angst, die ich gehabt hatte, die Verzweiflung über das, was ich gesehen hatte, und die Enttäuschung, die in mir aufstieg, breiteten sich in mir aus und machten mich müde.

„Ruh dich aus“, sagte Wilma. „Ich mach dir noch Lavendelwickel. Das beruhigt.“

Ich nickte mechanisch und kroch unter die Bettdecke. Als Wilma mit dampfenden Lavendelwickeln kam und sie mir um die Handgelenke schlang, war ich schon halb weggetreten. Die Hitze brannte nur im ersten Augenblick auf der Haut, dann hüllte mich der Duft ein und ließ meine Atmung langsam ruhiger werden.

Als ich wieder aufwachte, war es um mich herum dunkel. Der Rollladen vor meinem Fenster war heruntergelassen. War es Nacht oder schon wieder Tag? Ich tastete nach meiner Nachttischlampe. Das Licht stach mir in die Augen und ich blinzelte. Einer der Lavendelwickel hatte sich gelöst und lag neben meinem Kopfkissen, der andere fiel herunter, als ich mich nach meiner Jacke bückte, die vor meinem Bett lag, und nach meinem Handy griff.

23:27 Uhr.

Drei Anrufe in Abwesenheit. Mein Herz machte einen Sprung und begann zu rasen. Ob Julius sich gemeldet hatte? Wie ging es ihm? Ich öffnete die Anrufliste und erstarrte. Drei entgangene Calls. Arbeit. Jessy. Arbeit.

Verdammt! Ich hätte heute Abend Dienst gehabt. Streng genommen hatte ich sogar noch eine gute Stunde Dienst. Das hatte ich komplett vergessen. Pis! Friedhelm war bestimmt auf 180. Ich hatte noch nie einen Dienst verpasst. Und wenn ich mich einmal verspätet hatte, hatte ich immer Bescheid gesagt. Ob ich jetzt noch anrufen und mich entschuldigen sollte? Aber jetzt war es auch zu spät. Außerdem hatten Friedhelm und wer auch immer spontan für mich eingesprungen war zu dieser Zeit genug zu tun. Direkt morgen Vormittag würde ich Friedhelm anrufen und mich entschuldigen. Meine Ohren wurden heiß bei der Vorstellung, welches Donnerwetter mich erwarten würde. Hoffentlich kündigte er mich nicht sofort. Mit zitternden Fingern schloss ich die Anrufliste. Erst jetzt entdeckte ich, dass ich eine neue Nachricht erhalten hatte. Eine unbekannte Nummer. Wer konnte das sein?

Hi Lene, wie geht es dir? Ich hoffe, du bist okay und vor allem nicht allein. Ich bin noch immer bei Julius. Er ist in Ordnung. Wird wohl noch eine ganze Weile seinen Rausch ausschlafen. Ich bleibe bei ihm und passe auf. Es muss ein Schock für dich gewesen sein, ihn so zu sehen. Es tut mir so leid, dass du das erleben musstest. Und Julius sicherlich auch. Bitte verurteile ihn deswegen nicht! Melde dich gern, wenn ich etwas für dich tun kann. Ich sag Bescheid, wenn es etwas Neues gibt. Lieben Gruß, Basti.

Ich atmete auf. Julius war in Ordnung. Mein Schock über das Erlebte hatte die Sorge um ihn zunächst verdrängt. Bastis Entwarnung war eine Erleichterung. Wie gut, dass er noch bei ihm war und aufpasste. Wie auch immer er das meinte. Aufpassen, dass Julius nicht doch wieder trank oder aufpassen, ob er sich vielleicht übergeben musste? Vielleicht auch beides. Ob Julius mitbekam, dass Basti an seiner Seite war? Der zweite Teil der Nachricht zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Bitte verurteile ihn deswegen nicht! Wie meinte er das? Widerstand regte sich in mir. Mein Magen zog sich zusammen und meine freie Hand ballte sich zur Faust.

Nicht verurteilen? Heißt das, ich soll das entschuldigen?

Ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, hatte mein Daumen schon auf Senden gedrückt. Mist, das war kein netter Einstieg. Ich tippte also rasch eine weitere Nachricht.

Entschuldige. Das ist mir so rausgerutscht. Danke für deine Nachricht! Mir geht es so na ja. Ich bin erleichtert, dass Julius okay ist – und dass du bei ihm bist. Vielen Dank dafür! Das hätte ich zuerst schreiben sollen.

Ich hatte kaum auf Senden gedrückt, als ich schon die nächste Nachricht von Basti erhielt.

Nein, du sollst es nicht entschuldigen. Das, was er getan hat, ist nicht zu entschuldigen. Höchstens erklärbar. Ich hoffe bloß, dass du bereit bist, ihm zuzuhören, wenn du ihn noch sehen willst.

Auch meine zweite Nachricht ließ er nicht unkommentiert. Allerdings beschränkte sich seine Antwort auf ein kurzes Schon okay. Danke.

Sein letzter Satz blieb jedoch mehr haften. Wenn du ihn noch sehen willst. Wollte ich das? Wie würde es sein, wenn wir uns wieder gegenüberstünden? Könnte ich in ihm je wieder den Julius sehen, den ich zu kennen geglaubt hatte?

2.

Kapitel

Die Tage zogen an mir vorbei. Ich stand auf, ging zur Uni, las meine Texte, ging schlafen. Die Mensa vermied ich. Außer mit Wilma und Leonie wollte ich mit niemandem reden und auch bei den beiden beschränkte ich mich aufs Notwendigste. Basti hatte mir geschrieben, dass Julius wieder nüchtern war, hatte angeboten, da zu sein, wenn ich ihn brauchte. Ich hatte nur einsilbig geantwortet und dankend abgelehnt. Er meinte es gut, aber mit Basti über das zu reden, was passiert war, bedeutete, es zu akzeptieren, und so weit war ich noch nicht. Immer wieder tippte ich Alkoholismus in die Suchmaschine, startete die Suche jedoch nie. Ich packte es einfach nicht. Ich brauchte noch die Hoffnung, Julius könnte mit den anderen Stipendiaten oder Leuten aus dem Wohnheim zu viel gefeiert haben und abgestürzt sein. Irgendwo war mir klar, wie lächerlich es war, mir diese Illusion zu schaffen. Nur wusste ich nicht, wie ich mit der Realität umgehen sollte. Was konnte ich tun? Musste ich etwas tun?

Es machte mich wütend, dass Julius sich nicht meldete. Wie konnte er mir das antun? Mich mit diesem Scheiß allein lassen? Im nächsten Moment plagte mich die Sorge um ihn. Wie ging es ihm? Warum hatte er sich so betrunken? Wie konnte ich ihn mit diesem Scheiß allein lassen?

Am Dienstag saß ich hinter der Uni auf einer Parkbank und versuchte, meine Gedanken vor dem nächsten Seminar zu ordnen. Zu dieser Tageszeit waren hier hauptsächlich Studis unterwegs. Auf dem Weg von einer Vorlesung zur nächsten, von der Uni zur Bib oder umgekehrt, vielleicht auch schon auf dem Weg nach Hause. Ich sah nur ihre Füße und Beine an mir vorbeiziehen. Zum tausendsten Mal in den letzten Tagen fragte ich mich, wie es weitergehen sollte. Morgen würde es eine Woche her sein … Basti hatte sich heute Morgen bei mir erkundigt, wie es mir gehe, er schien sich ernsthaft um mich zu sorgen. Im Gegensatz zu Julius, der sich noch immer in Schweigen hüllt, dachte ich wütend. Es tut ihm leid, hatte Basti geschrieben, ohne zu verraten, ob Julius ihm das gesagt hatte oder ob er es nur vermutete. Und wenn es wirklich so war, warum meldete er sich nicht bei mir?

Das Quietschen von Fahrradbremsen drang in meine Gedanken. Jemand hielt mit seinem Rad genau vor mir.

„Hallo Malene.“

Der angebissene Apfel, den ich die letzten Minuten nur zwischen zwei Fingern gehalten hatte, glitt mir aus der Hand und fiel in den Schotter zu meinen Füßen. Langsam ließ ich den Blick wandern, von dem Apfel zu den Schuhen, zur dunklen Hose, die Beine hinauf, zum Pullover unter der Jacke, bis zu seinem Kopf.

Da stand er. Julius. Und sah aus wie immer. Nichts deutete darauf hin, in welchem Zustand er noch vor ein paar Tagen gewesen war. Er hielt sein Rad umklammert, als ob er sich daran festhalten müsse, und hatte den Blick gesenkt. Nur für einen Moment konnte ich seine Augen sehen. Doch, er hatte sich seit letzter Woche verändert! Angst, Verzweiflung und Scham hatten sich tief in das Braun gegraben. Ich saß davor wie vor einer Schranke. So oft hatte ich in den letzten Tagen überlegt, was ich ihm sagen wollte, wenn wir uns wiedersahen. Jetzt war mein Hirn wie leergefegt.

„Darf ich?“

Ich brachte ein mechanisches Nicken zustande. Julius stellte sein Rad ab und setzte sich neben mich. Der Geruch seines Aftershaves wehte zu mir herüber und drang in jede Zelle meines Körpers. Wie sehr hatte ich das vermisst! Ich wollte meinen Kopf an seine Brust drücken, meine Hände in seinem Haar vergraben, seine Hände spüren, wie sie langsam meinen Rücken entlangwanderten.

Ich hielt die Luft an und zwang mich dann, langsam und kontrolliert auszuatmen. Julius starrte stumm vor sich hin.

„Wie geht es dir?“

Der Satz löste die mentale Sperre in mir und all die Gefühle der vergangenen Tage bahnten sich unaufhaltsam ihren Weg an die Oberfläche. All die Wut, Verzweiflung, Angst und Sorge stürzten auf mich ein, bis die Wut schließlich die Oberhand gewann.

„Du hast Nerven! Tagelang kein einziges Wort von dir und jetzt tauchst du hier auf und fragst Wie geht’s?“

Und dann sah er mich dabei noch nicht einmal an!

„Entschuldige“, flüsterte er und wandte sich mir zu. Meinen empörten Gedanken hatte ich wohl laut ausgesprochen.

„Was hast du dir nur dabei gedacht? Weißt du eigentlich, was ich mir für Sorgen gemacht habe?“

Meine Stimme kippte bei den letzten Worten und Tränen schossen mir in die Augen. Verdammt, ich hatte nicht weinen wollen. Ich wollte doch stark sein und mich nicht so verletzlich zeigen. Sein Gesicht war wie versteinert. Durch die Tränen konnte ich nicht erkennen, ob seine Augen irgendeine Form der Regung zeigten. Doch seine Stimme ließ die Sicherheit vermissen, die ich sonst in jedem seiner Worte gehört hatte.

„Malene, es tut mir so unendlich leid. Ich habe Scheiße gebaut.“

„Das kann man wohl sagen.“ Ich wischte mir mit dem Ärmel über das Gesicht.

„Du weißt davon?“

Ich begegnete seinem erschrockenen Gesicht mit irritierter Miene. Hatte Basti ihm nichts erzählt? Hatte er mich vergangene Woche wirklich nicht erkannt? Wie sonst sollte ich seine Frage verstehen?

„Ich hab dich gesehen. Ich war mit Basti bei dir.“

Julius vergrub das Gesicht in den Händen. „Scheiße.“

Für einen Augenblick verharrte er in dieser Position, dann richtete er sich auf und sah mich an.

„Das tut mir so leid, Malene. Du hättest das nicht sehen sollen. Ich hätte das nicht tun dürfen.“

Aber er hatte es getan! Er hatte sich fast bis zur Bewusstlosigkeit besoffen und sich von allem und jedem abgekapselt.

„Ich versteh’s einfach nicht. Ich hab mich tagelang gefragt, ob ich irgendetwas falsch gemacht oder dich verletzt habe …“

Er griff nach meinen Händen. Die Berührung jagte mir einen Stromstoß nach dem nächsten über den Körper. Sein Blick war fest auf mich gerichtet.

„Nein, Malene, bitte glaub das nicht. Du hast nichts falsch gemacht. Ich habe Mist gebaut. Nur ich!“

Wieder kamen mir die Tränen. Doch es waren keine Tränen vollständiger Erleichterung. Zu wissen, dass ich nichts falsch gemacht hatte, beruhigte mich nicht völlig. Basti hatte geahnt, was mit Julius los war. Es musste schon früher vorgekommen sein, wie Leonie vermutet hatte – wie ich es erlebt hatte, wenn ich nur besser darauf geachtet hätte …

„Warum hast du mir nicht gesagt, dass du ein Problem mit Alkohol hast?“

Seine Augen weiteten sich, spiegelten Unverständnis. „Weil ich kein Problem habe. Ich habe das im Griff.“

Mir entfuhr ein bitteres Lachen. „Sorry, Julius, aber du hast drei Tage besoffen in deinem Zimmer gelegen und dich bei niemandem gemeldet. Als Basti und ich kamen, hattest du gar nichts mehr im Griff.“

Julius ließ den Kopf hängen. „Es tut mir leid“, flüsterte er erneut. „Das wird nicht wieder passieren.“

Ob er dieses Versprechen schon öfter gegeben hatte? Basti, sich selbst, einem anderen Mädchen? Ich wollte ihm so gern glauben. Wünschte mir so sehr, er möge recht behalten. Die Verzweiflung in seiner Stimme überzeugte mich jedoch eher vom Gegenteil. Er wusste selbst nicht, ob er sein Versprechen würde halten können.

„Was war denn nur los letzte Woche?“

Er atmete ein, öffnete die Lippen, hielt die Luft an, schloss den Mund wieder, öffnete ihn – und ließ die angestaute Luft entweichen.

Mein Puls beschleunigte sich, ich atmete unwillkürlich flacher. Wollte ich die Antwort auf meine Frage wirklich wissen?

„Kann ich dir das woanders erklären? Vielleicht heute Abend?“

Seine Angst übermannte mich. Warum wich er mir jetzt aus? Fürchtete er sich vor meiner Reaktion? Musste ich mich vor dem fürchten, was er mir erzählen wollte? Ich starrte ihn an. Seine gefalteten Hände, die über dem Weg schwebten, seine gebeugte Haltung. Dieser Student neben mir sah aus wie der Julius, den ich kannte. Aber er benahm sich nicht so.

„Malene?“

„Ich kann nicht, ich muss arbeiten.“

„Heute?“

„Bin eingesprungen. Ich hab von Friedhelm eine Abmahnung kassiert, weil ich letzten Mittwoch so durch den Wind war, dass ich meinen Dienst verpennt habe.“

Warum musste ich das sagen? Julius war auch so schon völlig fertig. Meine Stichelei änderte nichts an der Abmahnung und half weder Julius noch mir. Er sah mich traurig an.

„Es tut mir leid, dass du meinetwegen Ärger hast. Ist es in Ordnung für dich, wenn ich dich heute Abend abhole?“

Ich zögerte. In mir stritten Verzweiflung, Angst und Trauer um Aufmerksamkeit und das Recht, sich meiner zu bemächtigen. Es gab tausend gute Gründe, Julius‘ Angebot abzulehnen. Ich war oft genug verletzt worden, hatte mir zig Entschuldigungen und Ausreden angehört, war über dem Verhalten anderer verzweifelt. Würde ich das noch einmal aushalten?

Julius sah mich an, nicht drängend oder bettelnd, viel eher abwartend. Zwischen den heftigen Gefühlen in meinem Innern regte sich ein weiteres. Ich war noch zu aufgewühlt und brauchte einen Moment, bis ich begriff, was es war. Dankbarkeit. Julius war hier, er wollte reden. Er machte einen Schritt auf mich zu.

Ich nickte langsam. „Okay.“

Tausend Steine schienen ihm vom Herzen zu fallen, sein Blick flackerte und er kniff die Lippen zusammen.

„Danke“, sagte er schließlich.

Mir fehlten Worte und Stimme, um etwas zu erwidern, er erwartete offenbar auch keine Antwort. Nach einer Weile stand er auf, warf mir etwas zu, was wohl der Versuch eines Lächelns sein sollte, und nahm sein Rad. Ich wollte am liebsten schreien, als er ging, doch alles, was aus meiner Kehle drang, war ein ersticktes Schluchzen, dem bald heiße Tränen folgten.

Schweiß sammelte sich auf meiner Stirn und meinen Schläfen, während ich hastig Luft einsog. Meine Schicht neigte sich dem Ende zu und ich hatte nur noch Augen für die Kneipentür. Würde Julius Wort halten und mich abholen? Mein Herz schlug schneller als vor unserem ersten Date und es konnte nur einem Wunder zu verdanken sein, dass ich noch nicht hyperventiliert hatte.

Als die letzten Gäste das Ring verließen, trat er ein. Angespannt, mit scheuem Blick, aber nüchtern, soweit ich das im Kneipenlicht beurteilen konnte. Erleichtert atmete ich auf. Bis eben hatte ich noch befürchtet, Julius könnte sich vor unserem Gespräch Mut antrinken. Er wartete stumm, während ich die letzten Aufräumarbeiten erledigte und mich rasch umzog. Ohne ein Wort folgte er mir nach draußen auf den Hof zu meinem Rad. Schweigend gingen wir nebeneinander durch die dunklen Straßen. Wir brachten so ein gutes Stück des Weges hinter uns und ich fragte mich, ob Julius es sich vielleicht anders überlegt haben könnte. Ich wollte ihn jedoch auch nicht drängen.

„Schön, dass du mich abgeholt hast“, sagte ich daher. Unverfänglich.

„Das war das Mindeste.“ Er sah mich kurz an und vergrub seine Hände in den Jackentaschen. Wir verfielen wieder in Schweigen. Ein paarmal holte er Luft, als ob er zu sprechen ansetzen wollte, aber jedes Mal schüttelte er den Kopf und seufzte nur.

Eine Erinnerung stieg in mir auf. Mein Vater am Küchentisch, den Kopf in die Hände gestützt. Mama und er hatten gestritten und ich hatte aus meiner Spielecke alles mit angehört. Sie hatten mich gar nicht mehr wahrgenommen, so sehr waren sie mit sich beschäftigt gewesen. Ich war auf meinen Vater zugegangen und hatte mich an ihn gelehnt. Sei nicht traurig, Papa, wir können in den Zoo gehen, wenn du wieder da bist. Papa hatte seinen Arm um mich gelegt und traurig gelächelt. Das machen wir.

Wieso fiel mir das jetzt wieder ein?

„Du musst nicht drüber reden, wenn du noch nicht kannst“, hörte ich mich sagen.

„Es wird nicht leichter“, entgegnete er verbittert. Er wich weiterhin meinem Blick aus, die Stirn in Falten gelegt. Das war keine Scham mehr, die sich da spiegelte. Es grenzte mehr an Selbsthass. Sein Anblick stach mir in die Seele. Was war nur passiert? Was hatte den Julius, den ich kennengelernt hatte, innerhalb weniger Tage in diesen Schatten seiner selbst verwandelt?

„Malene, ich weiß, ich wiederhole mich, wenn ich sage, wie leid mir alles tut“, sagte er schließlich. „Ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst. Du sollst wissen, es war nie meine Absicht, dir wehzutun oder dir Sorgen zu bereiten, und es macht mich fertig, dass ich es doch getan habe. Alles, was ich dir erzähle, kann es nur schlimmer machen.“

Ich biss die Zähne zusammen und klammerte mich an den Lenker, um die Angst, die in mir aufstieg, nicht in unkontrolliertes Zittern ausarten zu lassen.

„Der Workshop am Samstag war gut und hat Spaß gemacht, obwohl ich nicht in bester Verfassung war. Das ist keine Entschuldigung, nur … Wir sind nach dem Abendessen noch losgezogen und haben in einer Bar Cocktails getrunken. Ich bin mit Amrei ins Gespräch gekommen, der Tochter von Bekannten meiner Eltern.“

Mir entfuhr ein Seufzen. Ich ahnte, was nun kommen würde. Wollte ich das Bekenntnis wirklich hören? Spielte es eine Rolle, ob Julius es noch aussprach?

„Wir hatten definitiv zu viel getrunken. Alle. Ich habe sie trotzdem noch bis zu ihrem Apartment begleitet. Sie hat mich geküsst und …“

Ich hatte es geahnt! Trotzdem zog es mir den Boden unter den Füßen weg. Es brauchte nicht viel Fantasie, um mir vorzustellen, was aus dem Kuss geworden war. Die Erkenntnis bohrte sich wie ein Schwert in mein Herz. Ich war mal wieder betrogen worden.

„War’s wenigstens schön?“ Mir fehlte die Kraft für einen neutralen Tonfall, und die Bitterkeit in meiner Stimme materialisierte sich fast in der Luft zwischen uns. Julius wandte sich mir ruckartig zu.

„Ich habe nicht mit ihr geschlafen“, sagte er entschieden. „Aber der Kuss war schon zu viel, ich hätte mich wehren müssen, stattdessen habe ich es geschehen lassen und bin in ihren Armen eingepennt.“

Erwartete er Bedauern von mir? Verständnis? Sein Bericht klang nicht so, als hätte ihn jemand zum Trinken überredet. Dass er die Kontrolle verloren hatte, war allein seine Schuld.

„Ich habe mich so geschämt am nächsten Morgen, ich bereue es immer noch. Das hätte niemals passieren dürfen. Als ich wieder hier war, wollte ich einfach nur vergessen und nichts mehr spüren. Ich war naiv genug zu glauben, der Alkohol würde den Schmerz betäuben.“

Ich atmete geräuschvoll aus und kickte eine Kastanie auf die Straße. „Du wolltest vergessen, deine Gefühle nicht mehr spüren, deinen Schmerz betäuben. Hast du auch nur eine einzige Sekunde an mich gedacht? Oder an Basti? Ist dir in deinem Selbstmitleid vielleicht einmal der Gedanke gekommen, was es heißt, vier Tage auf ein Lebenszeichen von jemandem zu warten, den man liebt?“

Bei den letzten Worten brach meine Stimme. Von meinen Emotionen überwältigt, sank ich über dem Fahrradlenker zusammen und wäre vermutlich mitsamt dem Rad auf die Straße geknallt, wenn Julius mich nicht aufgefangen hätte. Ich hielt die Luft an und sobald ich mein Gleichgewicht zurückerlangt hatte, schüttelte ich ihn ab. Julius ließ mich augenblicklich los.

„Ich erwarte weder Verständnis noch Vergebung …“

„Was dann?“

Er schloss die Augen. „Ich wollte ehrlich zu dir sein. Du verdienst Aufrichtigkeit – und etwas Besseres als mich.“

Mit diesen Worten drehte er sich auf dem Absatz um und hastete die Straße zurück, mich mit einem Gefühl der Schwere und Enge zurücklassend, von dem ich nicht wusste, wie ich es auflösen sollte.

Entgegen meiner Gewohnheit an den letzten Tagen saß ich am nächsten Morgen gemeinsam mit Wilma und Leonie am Frühstückstisch. Wilma war in eins ihrer Fachbücher vertieft, das aufgeklappt fast ein Drittel des Tischs einnahm, und Leonie wühlte in ihrer Unitasche herum. Ich hing meinen Gedanken nach. Die ganze Nacht hatte mich Julius‘ letzter Satz nicht losgelassen. Du hast etwas Besseres verdient als mich. In meiner Wut, die noch nicht völlig verraucht war, wollte ich ihm recht geben. Doch seit unserer Begegnung im Park gestern, bahnte sich die Sehnsucht nach ihm ihren Weg. Ja, Julius hatte mich enttäuscht, verletzt. Aber seine Einfühlsamkeit, seine Musik, die sanften Berührungen, das alles hatte mir so gutgetan. Seine Nähe …

Gedankenverloren streichelte ich mit meinen Fingerspitzen über die Tischkante.

„Arrgh, pass doch auf!“

Ich fuhr zusammen. Die Haferflockentüte lag auf der Seite, der Großteil des Inhalts verteilte sich auf Wilmas Buch. War ich das gewesen?

„Sorry“, murmelte ich.

Wilma winkte ab, fegte mit den Händen die Haferflocken zusammen und kippte sie zurück in die Tüte. „Du bist immer noch ganz schön durch den Wind.“

„Eher wieder. Julius hat mir gestern alles erzählt.“

Die Haferflockentüte landete mit einem dumpfen Laut erneut auf der Tischplatte.

„Was? Und?“

Ich fasste Julius´ Bericht kurz zusammen. „Er meinte, ich verdiene Aufrichtigkeit und etwas Besseres als ihn.“

Wilma lachte auf. „Da hat er recht. Nach allem, was du mit Uli durchgemacht hast, musst du dir das echt nicht nochmal geben.“

„Na ja, im Gegensatz zu Uli ist Julius wenigstens ehrlich“, wandte Leonie ein.

„Ach so, du meinst, andere knutschen ist okay, solange er vorher oder hinterher ehrlich zugibt, was abgeht?“

„Nein, natürlich nicht, aber …“ Leonie stopfte ein Marmeladenglas neben den Ordner in ihrer Tasche, zog es wieder heraus und steckte es an anderer Stelle wieder hinein.

„Sag mal, was wird das, wenn’s fertig ist?“, fragte Wilma.

„Nichts“, sagte Leo und stellte das Glas zurück auf den Tisch. „Also, was ich sagen wollte, Lene. Du sollst dich natürlich nicht betrügen lassen. Wichtig ist, ob du ihm glaubst, und wenn ja, welche Konsequenzen das für dich hat.“

Ich seufzte. „Ich weiß es nicht. Also, ich glaube ihm schon, ich weiß, dass es ihm leidtut. Trotzdem ist es passiert und es kann wieder passieren.“

„Eben. Und ab wie viel Mal ist es zu viel?“, fragte Wilma.

„Keine Ahnung.“ Ich trank den mittlerweile kalten Tee aus. „Ich mache mir Sorgen um Julius. Da war so etwas an ihm … Was passiert, wenn ich ihn jetzt fallen lasse?“

Wilma sah mich eindringlich an und wedelte mit dem Zeigefinger vor meiner Nase herum.

„Ah, ah! Nicht. Deine. Verantwortung. Er hat Mist gebaut. Du bist nicht dafür zuständig, seinen Dreck wegzukehren und seine Probleme zu lösen. Das hat dich schon bei Uli fast Kopf und Kragen gekostet.“

„Ich weiß. Aber das mit Julius ist anders.“

Meine beste Freundin ließ stöhnend ihren Kopf auf die Tischplatte sinken. Ihre Locken landeten in den Haferflocken.

„Ich versteh dich, Lene. Liebe lässt sich nicht einfach abschalten“, sagte Leonie und griff schon wieder nach dem Marmeladenglas. Jetzt irritierte es mich auch.

„Was hast du eigentlich die ganze Zeit mit der Marmelade?“

Leonie nahm das Glas von einer Hand in die andere und sah so aus, als sei sie selbst überrascht, wie es dorthin gekommen war.

„Ich weiß nicht, ob ich Tamara ein Glas mitbringen soll oder nicht“, gab sie schließlich zu.

„Was spricht dagegen? Du hast vor den Ferien doch auch Eis mitgebracht.“

„Ja, schon, und sie hat sich auch voll gefreut und so …“

„Aber?“

„Einmal kann man so was schon machen. Aber wenn ich jetzt zum zweiten Mal etwas mitbringe, noch dazu selbstgemacht, wird es schon auffällig.“

Leonie gestikulierte so heftig mit dem Glas, dass ich es schon zu Boden fallen sah. Ich nahm es ihr ab und stellte es zurück auf den Tisch.

„Oh Mann, sind denn hier alle nur noch gefühlsduselig?“, fragte Wilma. „Das ist ja nicht zum Aushalten.“

Ich wusste, dass meine beste Freundin Leonies und meine Probleme durchaus ernst nahm. Ihr Spruch verschaffte mir für einen Augenblick Erleichterung. Leonie jedoch schien nicht zu Scherzen aufgelegt zu sein.

„So wie dein Gejammere vorm Physikum? Da warst du das reinste Nervenbündel.“

Wilma setzte schon zu einer Erwiderung an, doch ich ging dazwischen. „Bitte streitet nicht.“

„Ich wollte eigentlich etwas fragen, was euch vielleicht weiterbringt: Was wünscht ihr euch, was passiert?“

Während mich die Frage für den Moment überforderte, tauchte ein zaghaftes Lächeln in Leonies Gesicht auf, nur um genau so plötzlich wieder zu verschwinden.

„Ach, ich hab mir das schon tausendmal vorgestellt, wie ich es ihr einfach sage, wie es wäre, wenn wir zusammen wären … Aber weißt du, ich bin nicht die Studentin, die sich in den Professor verliebt, sondern eben in die Junior-Professorin.“

Wilma zuckte die Schultern. „So what? Nach allem, was ihr von ihr erzählt habt, ist sie doch ne ganz coole Dozentin. Glaubst du, sie wird sich angegriffen fühlen oder ein Problem damit haben, wenn du ihr deine Gefühle offenbarst?“

Leonie schüttelte langsam den Kopf. „Nein, aber …“

Wilma schob das Marmeladenglas über den Tisch. „Dann nimmst du dieses Glas jetzt mit. Ich will diesen Eiertanz damit morgen nicht noch einmal sehen. Wenn eure Dozentin sich darüber freut und es gern annimmt, schaust du weiter. Das Gleiche gilt übrigens für dich.“

Ich sah sie verwundert an. „Soll ich Julius auch Marmelade schenken, oder was?“

„Oh Mann, nein. Was wünschst du dir, was passiert? Geh die verschiedenen Szenarien im Kopf durch. Das, was sich für dich am besten anfühlt, setzt du um.“

Sie klappte schwungvoll ihr Lehrbuch zu, sodass die Haferflocken aufstoben, stand auf und nickte uns zu. „Vielen Dank, die Sitzung ist beendet.“

Ziemlich perplex blieben Leo und ich in der Küche zurück.

Drei Stunden später hätte ich gern mit Leonie getauscht. Es erschien mir so unendlich viel leichter zu sein, ein Marmeladenglas zu verschenken, als mir zu überlegen, wie ich die Sache mit Julius lösen sollte. Mir kam es vor wie ein Déjà-vu, als mir der Mitarbeiter in der Bib meine bestellten Bücher über den Tresen schob und den entsprechenden Beleg mit der Leihfrist in das oberste Buch legte. Vor ein paar Monaten war ich nach so einem Moment mit Julius zusammengestoßen. Damals hatte ich noch nicht seinen richtigen Namen gewusst, aber er hatte mich aus seinen dunklen warmen Augen angesehen und sich besorgt nach meinem Befinden erkundigt. Wie ein paar Tage zuvor im Hinterhof vom Ring und Wochen später bei unserer ersten gemeinsamen Jogging-Tour, bei der ich Julius rhetorisch gefragt hatte, was er sagen würde, wenn sein Freund sich hinter seinem Rücken jemand anderen angeln würde.

Es brannte in meiner Kehle und in meinen Augen, während mir klar wurde, dass ich mal wieder vor der gleichen Situation stand. Eine Antwort hatte ich indes immer noch nicht.

Was wünschst du dir, was passiert? Ich schaffte es nicht, ernst zu bleiben, während ich verschiedene Szenarien durchspielte. Alles geriet in sarkastische oder kitschige Zerrbilder, in denen ich weder Julius für voll noch mich richtig ernst nahm. Ach, kein Problem, dass du diese Amrei geküsst hast. Das hätte ja jedem passieren können. Weißt du, ich kann es voll verstehen, dass du dich so abgeschossen hast. So etwas muss zwischendurch einfach mal sein. Mach dir keine Sorgen, ich verzeihe dir und ich werde immer an deiner Seite sein.

Genervt von mir selbst warf ich mir meine Tasche über die Schulter und machte mich auf den Weg zur nächsten Vorlesung. Wilma hatte gut reden!

3.

Kapitel

Mit raschen Bewegungen scrollte ich durch das Programm der Informationstage der Uni in Aarhus. Probevorlesungen, Sprechstunden, Vorstellungen der einzelnen Institute. Gedanklich setzte ich verschiedene Veranstaltungen bereits auf meine Liste. Prickelnde Vorfreude breitete sich in mir aus, als ich das PDF schloss und in einem neuen Fenster die Fahrkarte nach Dänemark buchte. Ein weiterer Schritt in der Planung meines Masters war getan. Ich klickte mich durch ein paar Videos der Uni und konnte nicht anders als vor mich hinzulächeln. In wenigen Wochen würde ich das dänische Unileben ausprobieren.

Plötzlich hatte ich mein Handy in der Hand, öffnete den Messenger und tippte eine Nachricht. Als mein Finger über dem Senden-Knopf schwebte, hielt ich inne. Was tat ich hier? Drei Tage war es her, dass Julius mir gebeichtet hatte, was in München passiert war. Drei Tage, in denen wir nicht mehr miteinander gesprochen hatten. Mit Wilmas Aufgabe war ich seitdem noch keinen Schritt weitergekommen. Es tat einfach zu weh, an Julius zu denken. Auch jetzt gruben sich wieder eiskalte Klauen in mein Herz, während ich auf seinen Namen über unserem Chat starrte. Ganz automatisch hatte ich die Nachricht an Julius verfasst, um ihm von den neuesten Entwicklungen zu berichten. So wie in den letzten Wochen auch. Ob es ihn jetzt noch interessierte? Buchstabe für Buchstabe löschte ich die Nachricht wieder. Was spielte es für eine Rolle für uns, ob ich nach Aarhus ging oder nicht? Gab es dieses Uns noch?

Das Smartphone rutschte mir aus der Hand und fiel auf den Boden, als mich die Einsicht wie ein Blitz durchfuhr. Ja, verdammt, ich wollte dieses Uns noch immer!

Die Antwort auf Wilmas Frage war plötzlich so klar. Ich wünschte mir, dass es mit Julius und mir weiterging. Ich wollte seine Neugier und seine Freude über meine Aarhus-Pläne, wollte seine sarkastischen Sprüche und noch hundert medizinische Vorträge. Ich wollte, dass wir gemeinsam Pläne schmiedeten, wie es nach unserem Studium hier in Erlangen weitergehen sollte, war jetzt schon neugierig, wohin es ihn verschlagen würde. Ich wollte ihn als Teil meines Lebens.

Der Fußboden unter mir vibrierte und riss mich aus meinen Gedanken. Mein Handy wanderte dröhnend über den Holzboden, wobei es wie verrückt blinkte. Schon so spät! Seit jenem verpassten Dienst im Ring hatte ich mir für jeden Tag, an dem ich Schicht hatte, einen Wecker gestellt. Ich klaubte das Smartphone vom Boden, stellte den Wecker ab und zog mich um.

Heute Abend legte ich nicht allzu viel Energie in das Bierkniffel-Duell mit Fabi und ließ ihn gerne gewinnen. Mit etwas mehr Einsatz hätte ich mein Blatt definitiv besser ausfüllen und obendrein Friedhelm einen höheren Umsatz einbringen können, doch meine Gedanken wanderten ständig zu Julius. All die schönen Momente, die wir geteilt hatten, flimmerten vor meinem inneren Auge auf und ab. Sie umhüllten mich wie eine warme Decke und begleiteten mich auch noch, als ich nach Dienstschluss mein Fahrrad auf die Straße schob. Ich musste über mich selbst lachen, dass ich nicht fuhr, obwohl ich allein war. Die Macht der Gewohnheit! Zwar war es schon unangenehm kalt an den Fingern und darüber hinaus bereits nach Mitternacht, trotzdem zog ich mein Handy aus der Tasche und sah mich Julius‘ Nummer wählen. Er antwortete beinahe sofort.

„Malene?“

Überraschung, Sorge, Freude? Ich konnte den Tonfall nicht deuten. Doch allein der Klang seiner Stimme jagte mir einen wohligen Schauer über den Rücken.

„Hallo?“

Mist, ich sollte etwas sagen, wie es sich für Telefonate gehörte. Dummerweise hatte ich mir vor dem Wählen keinerlei Gedanken über den Text gemacht.

„Hej“, brachte ich schließlich hervor.

„Ist alles in Ordnung?“ Er klang besorgt.

„Ja … ja. Ich lauf gerade zurück zur WG.“

„Du läufst? Was ist mit deinem Rad?“

„Dem geht’s gut. Aber es ist daran gewöhnt, den Rückweg geschoben zu werden.“

Julius lachte kurz. Eigentlich war es mehr ein rhythmisches geräuschvolles Ausatmen, das ich so oft bei ihm erlebt hatte. Auch ohne ihn zu sehen, wusste ich, wie sich dabei sein rechter Mundwinkel nach oben zog und er die Augen etwas zusammenkniff.

„Ich wollte nur wissen, ob du okay bist.“

Für einen Moment blieb es ruhig in der Leitung. Nicht erst jetzt wünschte ich, Julius wäre hier an meiner Seite. Dann könnte ich versuchen, in seiner Mimik zu lesen, wie er meine Frage auffasste.

„Okay trifft es ungefähr“, antwortete er schließlich. „Ich sitze noch am Schreibtisch und hole nach, was ich letzte Woche verpasst habe.“

Gut, ich hatte ihn immerhin nicht geweckt.

„Wie geht es dir?“

Das Zittern in seiner Stimme war nicht zu überhören und verunsicherte mich. Was sollte ich ihm antworten? Wie ging es mir?

„Okay“, flüsterte ich.

Julius seufzte. Vermutlich hatte er sich, genau wie ich, eine andere Antwort erhofft. Ich trottete die Straße entlang und lauschte seinem Atem durch den Lautsprecher. Nicht so tief und ruhig wie sonst, hin und wieder schlich sich ein unruhiges nach Luft schnappen in den Rhythmus. Aber es war ein Zeichen seiner Nähe. Julius war da und hatte noch nicht aufgelegt, obwohl mir nichts zu sagen einfiel. Das heißt, eigentlich fiel mir ganz viel ein. Nur brachte ich es nicht über die Lippen. Die Worte lagen mir förmlich auf der Zunge, scheiterten jedoch an meinen Schneidezähnen und zogen sich wieder zurück.

Eine ganze Weile später stand ich im Hof vor den Fahrradständern, die Finger steif vor Kälte. Noch immer hörte ich Julius am anderen Ende atmen. Gesprochen hatten wir seit einer Viertelstunde nicht mehr. Und obwohl jeder andere es vermutlich merkwürdig gefunden hätte, fühlte es sich keineswegs so an. Im Gegenteil, ich wollte nicht auflegen, auch wenn mein Körper, besonders meine Hände, danach schrien, in warmem Badewasser zu versinken.

„Danke, dass du mich begleitet hast“, sagte ich.

„Gerne, Malene. Danke, dass du angerufen hast.“

Jeder normale Mensch hätte an dieser Stelle das Gespräch beendet und aufgelegt, wir ließen die Leitung offen und schwiegen uns die Worte zu, die uns auf der Seele lagen.

Bei dem Versuch, den Schlüssel aus meiner Jackentasche zu ziehen und mein Rad anzuschließen, stieß ich mit dem Arm gegen den Sattel, woraufhin das Rad polternd gegen die Aschentonne fiel.

„Malene? Ist alles in Ordnung?“

„Ja, mein Rad ist nur umgefallen“, … und hatte dabei vermutlich alle Bewohner drumherum aus dem Schlaf geschreckt.

„Vielleicht sollten wir besser auflegen, damit du beide Hände freihast.“

Welch pragmatisch vernünftiger Vorschlag! Trotzdem gefiel er mir nicht. Andererseits war es sicherlich nicht ratsam, den Rest der Nacht hier im Hof zu verbringen.

„Schlaf gut.“

„Danke, du auch.“

Mein Arm protestierte schmerzend, als ich das Handy nach Julius‘ Abschied endlich vom Ohr nahm. Mit steifen Fingern hielt ich es in der Hand und wartete, bis der Bildschirm schwarz wurde, ehe ich es in die Tasche steckte. Ich richtete mein Rad wieder auf, tappte über den Hof zur Tür und die Treppen zur WG hinauf. Meine Glieder waren durchgefroren, aber mein Herz taute langsam wieder auf.

Tamara hat mir heute erzählt, dass sie meine Marmelade zu Pfannkuchen gegessen hat. Sie war begeistert und hat gefragt, ob ich noch ein Glas für sie habe!!! Drei Herzen, verliebtes Emoji.

Ich lächelte, während ich das Handy über meinen Unitext zog, den ich mir für die Pause mitgenommen hatte. Leonie musste wahnsinnig aufgeregt sein, wenn sie mir sogar schon eine Nachricht schrieb. Nachdem sie unserer Junior-Professorin die Marmelade mitgebracht hatte, hatte Leonie sich erst einmal bedeckt gehalten und ich hatte nicht fragen wollen. Jetzt freute ich mich dafür umso mehr für sie. Ich wünschte Leonie so sehr, dass sie glücklich werden würde. Zwar konnte ich mir nicht vorstellen, wie es wäre, wenn sie und Tamara tatsächlich zusammenkämen und unsere Dozentin plötzlich als Freundin meiner Mitbewohnerin in unserer WG-Küche hocken würde. Aber das war vielleicht auch nur eine Frage der Gewöhnung.

Rasch tippte ich eine Antwort, nahm einen Bissen von dem belegten Brötchen und widmete mich wieder meinem Unitext. Kurz darauf blinkte mein Handy jedoch erneut. Leonie schien wirklich Redebedarf zu haben.

Hallo Malene, ist es für dich in Ordnung, wenn ich dich nachher abhole?