Solange Schnee vom Himmel fällt - Nicholle Fischer - E-Book

Solange Schnee vom Himmel fällt E-Book

Nicholle Fischer

0,0

Beschreibung

Vier Herzen. Zwei Epochen. Eine Geschichte. 1915 – Marinas Welt steht Kopf. Verheiratet mit einem tyrannischen Ehemann begegnet sie unverhofft ihrer großen Liebe. Der neu ernannte Admiral der baltischen Flotte lässt ihr Herz mit jeder Begegnung immer höherschlagen. Doch zu einer Zeit des Umbruchs, in der Rebellionen und Schlachten das Leben regieren, bleibt kaum Zeit für Romanzen. Gegenwart – Für Lucy bricht eine Welt zusammen, als ihre geliebte Urgroßmutter ihr am Sterbebett ein lang gehütetes Geheimnis offenbart. Getrieben von dem Wunsch, der Geschichte auf den Grund zu gehen, stürzt sie sich in die Recherche. Noch in der gleichen Nacht öffnet sich das Tor in eine andere Zeit und die Vergangenheit erwacht zu neuem Leben. Auf den Spuren ihrer Urgroßmutter muss Lucy sich zwischen Marinas Glück und ihrer eigenen Zukunft entscheiden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 618

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Solange Schnee vom Himmel fällt

Eine Geschichte von Liebe und Vergangenheit

Nicholle Fischer

Copyright © 2019 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Stephan R. Bellem

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout: Michelle Natascha Weber

Umschlagdesign: Marie Graßhoff

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-054-5

Alle Rechte vorbehalten

Für meine Opas.

Für den einen, dessen Geschichten meine Leidenschaft für das Schreiben erst erweckten, und den anderen, dessen Liebe mich selbst nach seinem Tod noch jeden Tag ermutigt, an meine Träume zu glauben. Ihr seid die Helden meiner Kindheit.

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Epilog

Notes

Danksagung

Vorwort

Nicht viele nehmen sich im Alltagschaos einer modernen Welt die Zeit, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Schon gar nicht mit der Vergangenheit eines anderen Landes, dessen Kultur und die Gepflogenheiten einem nicht bekannt sind. Dieser Roman beschäftigt sich nicht nur mit der Geschichte vierer Liebender, sondern beleuchtet auch eine Seite des russischen Bürgerkrieges. Es ist nur eine einzige Sichtweise, die lediglich einen Bruchteil der wahren Geschichte darstellt und auch nur einen Hauch der notwendigen Tragödie rüberbringen kann, die damals tatsächlich passiert ist. Trotz alldem war es mir außerordentlich wichtig, auch die russische Küche und kulturelle Eigenschaften dem Leser näherzubringen, weswegen ich mich für die langen Namen entschuldigen möchte. Um diese Tatsache etwas zu vereinfachen, möchte ich euch vorab die Zusammensetzung der Namen erklären. Im weiteren Verlauf könnt ihr die Zu- und Nachnamen einfach überlesen und euch an die Vornamen halten.

Die russischen Namen setzen sich aus drei Namen zusammen: Vorname, Zuname vom Vater und der Familienname. Es ist ein Zeichen von Respekt und guten Manieren, eine Person mit ihrem vollen Namen anzusprechen. Am Beispiel von Marina kann man die Zusammensetzung sehr gut demonstrieren: Ihr Vorname ist Marina, nichts Ungewöhnliches, ist im Deutschen ja gleich. Als zweites kommt der Zuname des Vaters. Marinas Vater hieß Igor, weswegen ihr Zuname Igorewna lautet. Hierbei ist die weibliche Endung -wna gegeben, da Marina eine Frau ist. Bei einem Mann wäre die Endung -witsch (Igorewitsch). Und als Letztes wird der Familienname (Nachname) genannt: Paschkina. Auch hier steht das »a« als Endung für die weibliche Form, bei der männlichen würde dieses einfach weggelassen. Insgesamt haben wir also eine Konstellation von drei Namen:

Marina Igorewna Paschkina

Während meiner Recherche zu diesem Werk bin ich auf einen russischen Admiral der baltischen Flotte gestoßen, dessen Lebensweg mich so unendlich bewegt und inspiriert hat, dass ich den geschichtlichen Kontext seiner Figur widmen möchte. Ich habe bewusst einige Parallelen zwischen seinem Leben und dem Leben meiner Figuren mit eingebaut, um der Tapferkeit dieses Mannes und seiner Liebe zu einer Frau, die er nicht hätte lieben dürfen, meinen Respekt zu zollen.

Trotz dieses Hintergrundes ist dieser Roman keine Nacherzählung und auch kein historisches Dokument, sondern ein Buch, das zwei Welten über die Zeit miteinander vereint und mögliche geschichtliche Ereignisse mit purer Fiktion verwebt.

Ich habe viel recherchiert, um das Setting so glaubhaft wie möglich einzufangen, und dennoch muss man die Seiten dieser Geschichte mit einem Augenzwinkern betrachten, auch wenn es nicht immer leichtfällt. Wie Lucy an dieser Stelle sagen würde: Heiliges Kaninchen, was hat sich die Autorin nur dabei gedacht?

Nun, ich habe mir ziemlich viel dabei gedacht und hoffe, die Zeilen können euch in eine andere Zeit entführen und schicken euch auf eine magische Reise voller Tragödien, aber auch Freundschaft und Liebe.

Kapitel Eins

Das sanfte Licht der Kerze warf tanzende Schatten an die Wände des Krankenhauszimmers. Einem flinken Taschendieb gleich schlich ein Windhauch durch die Gänge und ließ sie frösteln. Zarter Meeresduft hing ihm nach und brachte eine seltsame Melancholie mit sich. Verschwommene Bilder setzten sich vor ihrem inneren Auge zu einem strahlenden Bild zusammen. Es war beinahe so, als könnte sie das Rascheln von Tüll und das ausgelassene Frauenlachen hören. Der Duft nach Zigarrenrauch und Alkohol hing in der Luft und schwängerte diese mit Erinnerungen.

»Weißt du noch, damals, die Kerzen brannten und ließen deine Augen strahlen«, flüsterte ein Schatten aus der Dunkelheit heraus.

»Ja, es kommt mir vor, als wäre es gestern gewesen …«, erwiderte sie und schloss die Augen, ließ sich gänzlich von der Vergangenheit einnehmen.

»Marina Igorewna, schenken Sie mir diesen einen Tanz«, forderte der frisch gebackene Offizier mich zum wiederholten Male auf.

Alexej Maksimowitsch war ein junger Mann von zarten einundzwanzig Jahren und hatte sich in der vergangenen Woche seine ersten Sterne für Tapferkeit verdient. Mir schien es so, als hätte seine Beförderung ihm auch mehr Selbstvertrauen geschenkt, denn hier stand er nun vor mir. Mit hochrotem Kopf, die Augen demütig gen Boden gesenkt, aber seine Stimme ließ sich nicht beirren. Sein schüchternes Grinsen schmeichelte mir und ich kam nicht umhin, zu bemerken, wie attraktiv er war.

»Meine Liebe, du kannst einem Mann nach einer solchen Schlacht doch keinen Tanz abschlagen«, zog Iwan mich auf und gab meine Hand frei. »Geh und amüsiere dich! Deinem alten Mann kannst du auch später noch Gesellschaft leisten«, ermunterte er mich mit einem Lächeln auf den Lippen, sein warnender Blick in Richtung des Offiziers entging mir jedoch nicht.

Ich versuchte den Anflug von Panik, der mich bei Iwans Blick überkam, mit einem koketten Lachen zu überspielen. »Alexej Maksimowitsch, es schickt sich zwar nicht, eine verheiratete Dame so zu drängen, aber ich gebe meinem Mann recht. An diesem Abend kann ich Ihnen Ihren Wunsch wohl kaum abschlagen.« Bei diesen Worten erstrahlte das Gesicht des jungen Mannes. Er sah aus, als würde er vor Freude einen Luftsprung machen wollen. Iwan quittierte den Übermut des Soldaten lediglich mit einem kurzen Kopfschütteln, doch aus seiner Haltung sprach Verärgerung.

Das Orchester setzte gerade zu einem Foxtrott an, als ich die behandschuhte Hand des Offiziers ergriff. Der Schein der Kerzen erhellte die wirbelnden Paare auf dem Parkett und ließ ihre Schatten an den Wänden tanzen. Ein schwacher Duft nach blumigem Damenparfum, Whisky und Zuckerwasser umwehte die ausgelassene Gesellschaft. Ich sah zu, wie meine Freundin Constanze in den Armen eines jungen Kapitänleutnants mit blonden Locken umherwirbelte und verkniff mir ein Lächeln. »Kommen Sie, kommen Sie! Sonst verpassen wir noch den ganzen Spaß«, drängte ich.

Der junge Mann führte mich mit enthusiastischen Schritten auf die Tanzfläche und dirigierte mich etwas ungeschickt in die Reihen der Tanzenden. Die Musik ergriff mich und ließ die Bewegungen durch meinen Körper fließen. Eine Welle der Sorglosigkeit breitete sich in mir aus und ließ mich über die gelegentlichen Fehltritte meines Tanzpartners kichern.

»Marina Igorewna, Sie sind wunderschön, wenn Sie lachen«, platzte es aus dem Offizier heraus. »Oh, natürlich sind Sie immer wunderschön, aber dann besonders … Oje, ich hoffe, ich habe Sie nicht gekränkt.«

Bei seinem verdutzten Gesicht entfuhr mir ein Lachen. Eine trügerische Röte breitete sich von seinen Ohren bis zu den Wangen aus und ließ ihn leuchten wie die untergehende Sonne. Seine Augen funkelten mich liebenswürdig und unschuldig an, während er mich gemäß der Tanzfolge im Kreis wirbelte und anschließend wieder fest an seine Brust zog. Ich lachte wieder, versuchte mir aber gleichzeitig nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich all das hier in Wahrheit langweilte. Dieselben Tänze tagein, tagaus und über all die Menschen wachten, wie treue Soldaten, die weißen Kerzen mit ihren Flammen.  Zwar bildete der Tanz mit diesem Herrn eine willkommene Abwechslung zu den sonst gleichen Gesichtern solcher Gesellschaften, aber auch dieser Spaß konnte mich nicht lange über meine Melancholie hinwegtrösten.

»Alexej Maksimowitsch, passen Sie auf, was Sie sagen, der Herr Konteradmiral hat Sie fest in seinem Adlerblick«, flüsterte ein bereits ergrauender Herr von links.

Sein Rücken war anmutig durchgebogen, während er seine Tanzpartnerin in einer innigen Umarmung festhielt. Die dunkelhaarige Schönheit in seinen Armen konnte ihren Blick nicht von den blassblauen Augen ihres Gegenübers abwenden und verlor sich gänzlich in deren Betrachtung.

Alexej verkrampfte sich bei diesen Worten. In dem kläglichen Versuch, über seine Schulter einen unauffälligen Blick auf Iwan zu erhaschen, stolperte der junge Offizier über meine breiten Röcke und fegte einige Kristallgläser von einem der umstehenden Tische. Ein überraschter Laut entrang sich meinen Lippen, als mein Tanzpartner mich inmitten einer Drehung plötzlich losließ, um sein eigenes Gleichgewicht wiederzufinden. Ich schnappte nach Atem und taumelte zurück. Vollkommen aus dem Takt gekommen, strauchelte ich über fremde Füße und wäre sicherlich zu Boden gegangen, wenn sich nicht in diesem Augenblick zwei starke Arme um meine Mitte gelegt hätten.

Ein schwacher Duft von Salzwasser und Zigarrenrauch kitzelte meine Nase und ließ mein Herz höherschlagen.

»Alles in Ordnung?«, fragte eine tiefe, rauchige Männerstimme in meinem Rücken. Der fremde Atem kribbelte in meinem Nacken und ließ mich erschaudern.

Ich spürte, wie sich mein Rücken bei der ungehörigen Nähe dieses Fremden kerzengerade aufrichtete. Meine Schultern spannten sich an. Ich konnte mir nicht erklären, weshalb mein Körper so intensiv auf diesen Mann reagierte. Um meine unerklärliche Befangenheit zu kaschieren, wirbelte ich in seinen Armen herum, eine bissige Erwiderung auf der Zunge.

Doch beim Anblick meines Retters erstarben mir jegliche Worte auf den Lippen. Es war nicht das funkelnde Braun oder der Kranz aus dunklen Wimpern, die mich so unverhofft aus der Bahn warfen, sondern der Ausdruck in den Augen. Ein Ausdruck, der mir durch Mark und Bein ging. Als blicke er ohne Widerstand hinter meine sorgfältig errichtete Maske. Der winzige Anflug eines wissenden Lächelns verriet mir, dass er mich sah, wie ich wirklich war – einsam, gelangweilt, müde vom Leben und den ständig wechselnden Gesellschaften. Er ließ sich nicht von meinem aufgesetzten Lachen, der falschen Fröhlichkeit täuschen und schien mich stattdessen sofort zu durchschauen. Normalerweise konnte ich meine Gefühle sehr gut verbergen, aber er blickte mich mit einer solch inbrünstigen Intensität an, dass mein verräterisches Herz ertappt schneller schlug. Ich fühlte mich entblößt und gleichzeitig so wohl wie kaum jemals zuvor. Die Zeit um uns herum stand vollkommen still und umhüllte diesen Augenblick wie ein Kokon. Unvergänglich. Für immer.

Von irgendwoher drangen aufgeregte Stimmen zu mir durch, Sekt tröpfelte stetig auf den teuren Teppich und hinterließ eine feuchte Spur bis hin zum Tanzparkett. Die schmalen Lippen im kantigen Gesicht des Mannes deuteten noch immer ein schwaches Lächeln an, doch die kleinen Lachfältchen um seine Augen verrieten, dass er oft und gerne für einen Spaß zu haben war. Etwas in mir regte sich bei dieser Vorstellung und ich spürte eine wehmütige Sehnsucht nach diesem unbekannten Lachen.

Seine aristokratische gerade Nase und die hohen Wangenknochen verliehen ihm den Anschein einer anmutigen Statue. Es war keinesfalls so, als hätte ich in meinem Leben noch keinen attraktiveren Mann gesehen, aber etwas an ihm berührte eine Saite meines Herzens und ließ diese in einer fremden, aufregenden Melodie erklingen.

»Marina! Geht es dir gut?« Die Stimme von Constanze drängte sich durch den Nebel in meinem Kopf. Ihr affektierter französischer Akzent holte mich in die Realität zurück.

Ich riss mich vom Anblick des Fremden los und plötzlich prasselten tausend Eindrücke wie kühler Novemberregen auf mich ein. Alexej blinzelte mich aus weit aufgerissenen Augen voller Entsetzen und Bedauern an. Einem Schleier gleich hatte sich eine der Tischdecken um seinen Kopf gelegt und wäre die ganze Situation nicht so schrecklich, wäre ich bei diesem albernen Anblick wohl in Gelächter ausgebrochen. Augenscheinlich hatte er nicht das Glück gehabt, von einem attraktiven Fremden gerettet zu werden.

Das Orchester hatte aufgehört zu spielen. Sämtliche Gespräche waren verstummt und die Blicke auf uns gerichtet. Iwan hatte sich wohl einen Weg durch die umstehenden Menschen gebahnt und stand nun neben Constanze, die mich mit einer Mischung aus Besorgnis und Belustigung in den Augen anblinzelte.

»Ja. Ja, es geht mir gut. Es ist nichts passiert.«

Peinlich berührt von der Situation und entschlossen, den Vorfall so schnell wie möglich aus dem Gedächtnis aller Beteiligten zu tilgen, strich ich mein Kleid glatt und befreite mich aus dem Griff des Fremden. Mit einem belustigten Husten ließ er seine Arme sinken und wandte den Blick ab, zweifellos um seine unpassende Erheiterung zu kaschieren. So würdevoll wie nur möglich und die kläglichen Reste meines verbliebenen Stolzes aufsammelnd, überquerte ich die kurze Distanz zu den Esstischen, die in dekorativ angerichteten runden Tafeln um die Tanzfläche herumstanden. Alexej lag mir im wahrsten Sinne des Wortes zu Füßen und klappte wie ein Fisch an Land den Mund stumm auf und zu.

»Nun kommen Sie, stehen Sie schon auf und lassen Sie uns den Tanz beenden. Sie haben nicht tapfer einen Minenleger bestiegen, nur um jetzt von diesen hohlköpfigen Taugenichtsen ausgelacht zu werden«, flüsterte ich an sein Ohr und half ihm auf die Beine.

Aufgeregte Stimmen wurden laut und umspülten uns wie kaltes Bachwasser. Ich ließ mich von dem Tumult nicht beirren und gab dem Orchester ein Zeichen. »Nun kommen Sie, meine Herren, wir sind hier, um Spaß zu haben und den Sieg zu feiern! Lassen Sie uns tanzen und feiern, unsere Soldaten haben gesiegt!«, verkündete ich mit gespielter Fröhlichkeit, nahm ein Sektglas von einem der Tische und hob es in die Höhe.

»Auf unsere tapferen Männer!«

Siegesrufe wurden laut und schon bald stimmten alle mit ein. Paare bildeten und versammelten sich erneut auf der Tanzfläche. Bedienstete huschten zu dem umgekippten Tisch und beseitigten Scherben und die übrigen Spuren des kleinen Fauxpas. Neue Gläser wurden gebracht, die Tischdecke gewechselt und schon bald war es so, als wäre nie etwas passiert.

»Kommen Sie mit! Wenn wir so tun, als wäre dies alles nicht der Rede wert, dann wird es das auch nicht sein«, zischte ich dem Offizier zu, der sich immer noch in einer Art Schockstarre zu befinden schien. Ich zog ihn mit mir auf das Parkett und bemühte mich, nach außen hin einen ausgelassenen Eindruck zu machen.

Nicht nur einmal begegnete mein Blick dem des Fremden. Unweit von uns tanzte er mit einer blonden Dame. Ihre wallende cremefarbene Robe war am Saum mit goldenen Stickereien verziert, der hochgeschlossene Kragen zeigte zwar wenig Haut, aber der Stoff saß aufreizend eng an ihrem Mieder und betonte beinahe anzüglich jede einzelne ihrer Kurven. Ich verabscheute sie sofort. Wie ein kleines Mädchen kicherte sie an seiner Schulter und spielte mit ihren Fingern an seiner Uniform herum. Sie gaben ein schönes Paar ab, das musste ich neidlos anerkennen. Erhaben und fröhlich.

Doch ebenso wie mein eigener Blick schien der seine immer nach mir zu suchen und ihr albernes Gegacker ließ mich nicht nur einmal entnervt die Augen verdrehen. Ich ermahnte mich zur Ordnung, schließlich war ich verheiratet. Mühsam darauf bedacht, meine Aufmerksamkeit einzig meinem Tanzpartner zu widmen, der sich gerade in einer belanglosen Erzählung über Kriegsschiffe verlor, seufzte ich übertrieben laut und verfluchte innerlich diesen leidigen Abend.

Nicht zum ersten Mal.

Ein Tanz genügte, um die Stimmung im Saal wieder aufzulockern, und ich entließ den immer noch bleichen Offizier mit einem leisen Dank zurück zu seinen Kumpanen, die Zigarren schwingend und mit Whiskygläsern zuprostend auf ihn warteten.

Iwan gesellte sich scheinbar beiläufig an meine Seite und umfasste meinen Arm fest mit seiner Hand. »Was sollte dieser Auftritt? Du hättest den Burschen einfach liegen lassen und in dein Zimmer gehen sollen«, fuhr er mich an, lächelte jedoch unverbindlich zu den umhertanzenden Paaren.

»Lass mich los«, erwiderte ich ebenso erbost und versuchte mich loszumachen, doch Iwans Finger gruben sich noch fester in mein Fleisch.

»Vergiss nicht, wessen Frau du bist und wem du zu gehorchen hast, Marina.« Meinen Namen spie er dabei so hasserfüllt und verächtlich aus, dass ich unwillkürlich erschauerte. Nach einem langen Blick in meine Augen gab er mich endlich frei.

Erleichtert atmete ich auf, beeilte mich wegzusehen und rieb mir den schmerzenden Arm. Unwillkürlich glitt mein Blick zu der stolzen Gestalt des fremden Soldaten und blieb an seinem Gesicht hängen. Er schien Iwan und mich unauffällig zu beobachten, während die blonde Dame ausgelassen plauderte und sich sichtlich um seine Aufmerksamkeit bemühte.

Aber vielleicht bildete ich mir dies auch bloß ein. Es war mir unbegreiflich, weshalb ausgerechnet dieser eine Mann solch eine Faszination auf mich auszuüben schien, doch ich konnte meine Augen einfach nicht von ihm lassen.

Unsere Blicke begegneten sich, verharrten einen Moment ineinander und ganz plötzlich war mir nach Weinen zumute. »Entschuldige mich, dein Weib ist müde und geht nun zu Bett«, spuckte ich Iwan entgegen und wirbelte auf dem Absatz herum.

Auf meiner Flucht durch die lachenden Menschengruppen bildete sich ein großer Kloß in meinem Hals, der mich zu ersticken drohte. Wie sehr ich das alles doch leid war. Die ständigen Demütigungen, dieses vermaledeite Lachen aus meinem Mund, welches so falsch und hohl in meinen Ohren klang – mein ganzes Leben! Ich selbst betrachtete mich nicht als schwache Frau, doch um meine Ehe war es nicht gut bestellt.

In meine Gedanken vertieft lief ich an zwei Mädchen vorbei, die mir verstohlene Blicke zuwarfen und hinter ihren Fächern zweifelsohne über mich herzogen. Ich beachtete sie nicht weiter und ging mit langen Schritten voran. Erst nachdem ich den Saal und all die Menschen hinter mir gelassen hatte und sich die Tür in meinem Rücken schloss, kam ich wieder zur Ruhe. Ein Dienstbote beobachtete mich aufmerksam, ich entließ ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung, darauf erpicht, endlich allein zu sein. Als auch er verschwunden war, gab ich mich meinem inneren Tumult hin.

Schwer ließ ich mich auf einer goldenen Bank nieder und vergrub meinen Kopf in den Händen. Ich war keine Frau, die einfach in Tränen ausbrach, auch heute würde ich dies nicht tun, doch allein der Gedanke, mein Innerstes einfach aus mir herausfließen zu lassen, war tröstlich.

Nur dumpf drangen die Geräusche aus dem Ballsaal durch die dicken Holztüren, dennoch schien selbst dies bereits zu viel. Ich zupfte meine widerspenstigen Locken zurecht und klemmte sie mit einigen Haarnadeln zurück in den Knoten an meinem Hinterkopf, ehe ich das Kleid glatt strich und auf der Suche nach einem Hauch Privatsphäre auf eine Terrasse im Westflügel trat.

Marmorstatuen und ein vergoldeter Brunnen mit perlendem Rotwein begrüßten mich vor einem sternenklaren Winterhimmel. Ich fröstelte, hieß die kühle Nachtluft jedoch auch gleichzeitig wie einen guten Freund willkommen. Erschöpft ging ich zu dem sprudelnden Brunnen, lehnte mich dagegen und schloss die Augen. Ich nahm die Kälte mit einem gierigen Atemzug tief in meine Lunge auf, hielt sie darin gefangen und entließ sie dann mit einem leisen Aufkeuchen zurück in die Dunkelheit.

»Entschuldigen Sie mich, wenn ich störe, aber mir scheint, eine angesehene Dame wie Sie sollte hier nachts nicht so ganz allein verweilen.«

Diese Stimme. Ich erstarrte. Ein Herzschlag, noch einer und ein dritter waren nicht genug, um mich auf das vorzubereiten, was mich beim Aufsehen erwartete. Der Fremde von vorhin stand mir gegenüber. Seine Augen fest und tröstlich auf mich gerichtet.

»Mir scheint, ich habe es bisher versäumt, mich Ihnen vorzustellen. Mein Name ist Alexander Nikolajewitsch Gorskij, ich diene unter Nikolai von Essen der baltischen Flotte«, sagte er und kam mit langen Schritten auf mich zu. »Darf ich mich setzen?«, fragte er nach einem weiteren Moment des Schweigens.

Ich nickte stumm, war mir immer noch nicht sicher, ob ich die Gesellschaft eines anderen Menschen überhaupt ertragen konnte. Er war nicht aufdringlich, ließ beim Hinsetzen einigen Platz zwischen uns und verstummte nach seiner Vorstellung. Die Stille des Augenblicks war tröstlich und ließ mir genügend Zeit, um mich zu sammeln.

»Marina Igorewna, Tollpatsch in Person und Frau des Konteradmirals Iwan Paschkin«, erwiderte ich nun meinerseits und brachte sogar ein kleines Lächeln zustande.

Alexander Nikolajewitsch belohnte mich mit einem Lächeln. »Als Tollpatsch würde ich Sie nun wirklich nicht bezeichnen. Die Situation vorhin haben Sie sehr gekonnt entschärft«, sagte er lachend.

»Sie sagten Gorskij? Aber doch nicht der Alexander Nikolajewitsch … wurden Sie nicht erst vergangene Woche zum Admiral ernannt?«

In diesem Tempo aus angenehmen Gesprächen, gelegentlichem Blickkontakt und einigen geklauten Schlucken Rotwein aus dem Brunnen ging der Abend weiter. Wir redeten und lachten, sprachen über belanglose Dinge und hatten trotzdem stets Neues zu erzählen.

Alexander war ein außerordentlich faszinierender Mensch und guter Zuhörer. Er drängte mich nicht, wenn ich nicht sprechen wollte, und vermochte es stets, eine angenehme Ruhe zu verströmen.

Die Zweisamkeit wurde jäh unterbrochen, als Iwan auf der Suche nach mir sich ebenfalls zu uns gesellte. »Da bist du ja. Oh, wie ich sehe, hast du schon Bekanntschaft mit Alexander Nikolajewitsch gemacht.« Iwan sah überrascht zwischen uns hin und her.

Das Gefühl, bei etwas Verbotenem ertappt worden zu sein, ließ mich hastig aufspringen. »Wir haben uns über eure künftige Zusammenarbeit unterhalten. Ich wies Alexander Wassiljewitsch gerade an, auf meinen Mann achtzugeben«, sagte ich und lachte betont fröhlich.

Alexander richtete sich ebenfalls auf und reichte Iwan die Hand. »Ihre Frau ist wirklich sehr unterhaltsam und wunderschön dazu, Sie haben großes Glück.«

Die Männer tauschten stumme Blicke aus, während mein Herz wie wild schlug. Es war albern. Wir hatten nichts getan. Ich hatte nichts getan. Und doch strafte mich mein verräterisches Gefühl Lügen. Ein letzter Blick auf Alexander ließ mich wehmütig zusammenzucken.

Iwan legte schwer seinen Arm um meine Hüfte und zog mich gebieterisch an sich. »Hattest du nicht gesagt, du würdest zu Bett gehen, Angel moy1? Entschuldigen Sie bitte, falls meine Frau Ihnen wertvolle Zeit gestohlen hat. Das schwache Geschlecht weiß nicht immer um die Vorzüge des Schweigens.« Iwans aufgesetzte Freundlichkeit war wie zähflüssiger Honig, viel zu süß und vollkommen unpassend.

Alexander schwieg und sah mich an. Seine Finger strichen wie in einer unbewussten Geste über die in der Nacht glänzende Scheide seines Kortiks2. Ich folgte der Bewegung seiner Hand und ließ mich von ihr ebenfalls beruhigen, schöpfte unverhofft neue Zuversicht.

Iwan wirbelte mich zu sich herum und drückte mir einen feuchten, nach Alkohol und Zigarren schmeckenden Kuss auf den Mund. »Aber nett anzusehen ist meine Marina schon, da haben Sie in jedem Fall recht.«

Angewidert entwand ich mich seinem Griff. »Du bist ja vollkommen betrunken.«

Erneut lachte Iwan los, winkte ab und deutete eine spöttische Verbeugung an. »Alexander Nikolajewitsch, es war mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen«, nuschelte er kaum verständlich. »Marina, wir fahren heim.«

Ich sah noch ein letztes Mal zu der in weiß gehüllten Gestalt des Admirals und schüttelte traurig den Kopf. »Vielen Dank für Ihre Gesellschaft«, flüsterte ich in die Nacht hinein, ehe Iwans wuchtiger Körper sich an meinen lehnte und ich ihn unter seinem Gewicht schwankend zu unserer Kutsche führte.

Nach dieser Nacht waren wir uns noch bei einigen weiteren Gesellschaften begegnet. Wie zwei ungleiche Magnete zogen wir uns gegenseitig an und verfielen wie alte Freunde in Konversationen über gemeinsame Erlebnisse und private Witze. Diese Freundschaft fand hinter Iwans Rücken statt.

Jedes Mal, wenn er uns zusammen sah, verzog er missbilligend das Gesicht, ließ mich jedoch gewähren. Er wusste ebenso gut wie ich, dass ein Admiral der baltischen Flotte zu diesen Zeiten nicht lange an Land blieb. Und er behielt wie immer recht.

Nicht einmal zwei Wochen nach unserer ersten Begegnung wurde Alexander abkommandiert und ich blieb bei Iwan, der sich zur Überfahrt nach Omsk bereit machte.

Gefangen in einer lieblosen Ehe, war ich gezwungen zuzusehen, wie mein einziger Freund einen Minenleger bestieg und sich vom Wasser forttreiben ließ.

Kapitel Zwei

Gegenwart, 11.Oktober 2013

CMS Clinic, Moskau

Wie geht es ihr?«, fragte ich die Schwester in gebrochenem Russisch.

Sie sah vom Bett meiner Babushka1 auf und schenkte mir ein trauriges Lächeln. »Es tut mir leid, Ihrer Urgroßmutter geht es immer schlechter.« Die Krankenschwester wechselte mit geübten Griffen das Kissen aus und verließ das Zimmer.

Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss und ließ mich mit der schlafenden Gestalt meiner Babushka allein. Liebevoll betrachtete ich ihr faltiges Gesicht und lächelte. Meine Urgroßmutter war früher einmal eine wunderschöne Frau gewesen. Zwar hatte ich sie zu der Zeit nicht erlebt, aber nach den Fotografien und den schmeichelnden Erzählungen meines Uropas war sie auf jeder Veranstaltung ein Blickfang. Erhaben und spitzzüngig zugleich, vermochte sie jeden in ihren Bann zu ziehen. Sie hatte als Schauspielerin und Model gearbeitet, doch ihre wahre Leidenschaft galt der Literatur.

Auch wenn sie meine Urgroßmutter war, so hatte ich schon immer zu ihr die engste Bindung. Während ich sie so betrachtete, wurde mir plötzlich ganz schwer ums Herz. Ich wusste, dass Babushka Marina schon sehr alt war und es war naiv von mir, zu denken, dass sie uns alle überleben würde. 120 Jahre war schließlich ein stolzes Alter und nur wenige Menschen erreichten überhaupt eine so hohe Zahl.

Ich konnte mich sogar noch daran erinnern, wie sie mehrfach um Interviews gebeten wurde, und es gab immer mal wieder Leute, die sie neidvoll nach ihrem Geheimnis fragten. In solchen Momenten schlich sich immer ein kleines Lächeln auf ihre Lippen und ihr Blick kehrte sich nach innen.

»Ich habe einst das Versprechen gegeben, niemals aufzugeben und bis zum letzten Atemzug für zwei Menschen weiterzuleben«, pflegte sie dann liebevoll zu sagen. Wie oft hatten wir sie gefragt, was sie damit meinte, aber nie eine Antwort bekommen.

Gedankenverloren musterte ich ihr fahles Gesicht und Tränen traten mir in die Augen. Ihr ganzes Leben lang war sie so voller Energie gewesen. Ihr sanftes und doch stolzes Wesen hatte sie zu meinem größten Vorbild gemacht und nun lag sie hier in diesem weißen Bett, inmitten von sterilen Wänden und geschäftigem Krankenhauspersonal, und konnte sich kaum noch bewegen.

»Lucy?« Eine schwache Stimme drang an mein Ohr und ließ mich aufspringen.

»Babushka! Hier bin ich«, rief ich aus.

»Moye solnyshko2, komm zu deiner Uroma. Du bist viel zu weit weg.«

Ich beeilte mich, ihrem Wunsch Folge zu leisten, und beugte mich tiefer zu ihr hinunter.

»Und nun erzähl mir, wie dein Studium so läuft. Wie geht es Max?«

Uroma Marina verzog ihr Gesicht zu einem Lächeln und meine Augen füllten sich erneut mit Tränen.

»Na, na, mein hübsches Kind. Du wirst doch die letzten Stunden deiner geliebten Urgroßmama nicht mit Tränen verschwenden«, tadelte sie mich sofort liebevoll.

»Das Studium läuft so weit gut. Ich werde mich zwar nie wirklich mit Berlin anfreunden, aber die Professoren sind super und ich habe auch schon erste Freunde gefunden. Mama und Papa sind nach wie vor nicht glücklich darüber, dass ich so weit weg wohne, und wie Sascha ist, muss ich dir gar nicht erst erzählen.« Ich lachte wehmütig, eine Sehnsucht nach meinem Bruder und meinen Eltern ergriff mich wie aus dem Nichts. In diesem Moment hätte ich alles dafür getan, nicht allein in diesem Krankenhauszimmer zu sein und zusehen zu müssen, wie es meiner Uroma zunehmend schlechter ging. »Ich versuche so oft wie möglich zu ihnen nach Bremen zu kommen, aber es ist nicht immer einfach. Und Sascha hat jetzt seine erste Freundin, da ist der Kleine ohnehin durch und durch mit seinen Hormonen beschäftigt.«

Ich machte eine kurze Pause und sammelte meine Gedanken.

»Lucy«, setzte sie mahnend an. »Du bist ein schlaues Mädchen, dass das Studium läuft, hätte ich niemals bezweifelt. Doch was ist denn nun mit Max?«

Beschämt wandte ich den Blick ab. Ich konnte es nicht ertragen, in diese intelligenten Augen zu blicken und sie anzulügen. »Nun ja, was soll ich großartig sagen? Wir haben uns vor einigen Wochen getrennt. Er hat mich wohl mit einer anderen betrogen.«

Ich konnte nicht sehen, was mein Geständnis in Babushka Marina auslöste, aber ich hörte, wie ihre Laken leise raschelten, als sie sich mühevoll aufsetzte, ihre Arme ganz fest um mich legte und mich an ihre Brust zog.

»Armes Kind, nimm es dir nicht so zu Herzen. Ich wusste schon immer, dass Max nichts für dich ist. Viel zu schwach. Keine Ehre in den Knochen. Meine Urenkelin hat etwas Besseres verdient.« Sie zwickte mich liebevoll in die Seite und ich kicherte betont fröhlich.

»Du bist furchtbar!«, protestierte ich, konnte jedoch nicht wirklich böse auf sie sein. Ich genoss noch einen weiteren Augenblick in ihren Armen und löste mich dann von ihr. »Du musst dich hinlegen und darfst dich nicht so viel bewegen«, schimpfte ich mütterlich und drückte sie sanft zurück auf die Kissen.

Während ich die Fernbedienung für das Bett suchte, um das Rückenteil aufzurichten, lächelte ich still vor mich hin. Egal, was in meinem Leben gerade los war, Babushka Marina hatte immer die passenden Worte parat.

Nachdem ich die verdammte Fernbedienung unter einem zusammengefalteten Handtuch auf einem der Ohrensessel gefunden hatte, ging ich zurück zu ihrem Bett und setzte mich ebenfalls auf die Matratze. Ich bemühte mich, mich so klein wie möglich zu machen und sie nicht zu stören.

»Babushka? Erzählst du mir nochmal die Geschichte, wie du Uropa kennengelernt hast?« Bei diesen Worten glitt ein seltsamer Schleier über das Gesicht meiner Urgroßmutter. Ich legte den Kopf schräg und betrachtete sie neugierig.

»Aber Lucy, du weißt doch, dass ich deinen Urgroßvater bei einer Aufführung getroffen und er sich in mich verliebt hat«, setzte sie mit belegter Stimme an.

»Aber gestern … da hattest du von einer Party gesprochen … ihr habt getanzt und euch dann draußen auf einer Terrasse unterhalten.«

Die Augen meiner Uroma weiteten sich und sie starrte mich entsetzt an. Der Ausdruck jagte mir einen Schauer über den Rücken. Für einen kurzen Augenblick dachte ich, sie würde gleich einen Herzinfarkt bekommen. Die Maschine neben ihr fing an schneller zu piepsen und wurde immer schriller.

»Babushka? Babushka!«, rief ich und sprang vom Bett. »Soll ich einen Arzt rufen? Was ist denn los?«

Entschlossen griff die alte Dame nach meinem Arm. »Nein, mir geht es gut! Ich wusste nur nichts mehr von dem, was ich dir gestern alles erzählt habe«, gab sie mit matter Stimme zu. »Was genau habe ich gesagt?«

Ich dachte kurz nach und erzählte von ihrem Treffen mit dem mysteriösen Mann auf der Feier und wie die beiden sich unterhalten haben. »Du hattest gesagt, er hieß Alexander, aber Urgroßvater hieß Vsewolod … Ich dachte, du hättest dich geirrt, aber jetzt …« Jäh verstummte ich und biss mir auf die Zunge. »Wer war dieser Alexander?«

Die Stille, die auf meine Frage folgte, war praktisch mit den Händen zu greifen.

»Alexander war der Mann, den ich geliebt habe. Als wir uns kennenlernten, waren wir beide in lieblosen Ehen gefangen, aus denen wir versuchten auszubrechen. Er war der Einzige, der jemals mein Herz berührte, und auch der Einzige, der mich jemals verstanden hat.«

Bei diesem Geständnis hatte ich das Gefühl, mein eigenes Herz würde in der Brust brechen. Seit ich denken konnte, hatte die Beziehung meiner Urgroßeltern etwas Wunderschönes und Tröstliches für mich. Ich hatte mir stets gewünscht, einmal so zu werden wie die beiden. Und nun? Nun war dieser Wunsch nichtig und meine kindlichen Träumereien von einem perfekten Eheleben unter der Last einer Lüge zusammengebrochen.

»Setz dich zu mir, Kind, ich werde dir alles erzählen.«

Ich folgte ihrer Bitte, auch wenn es mich innerlich zerriss. Alles in mir wehrte sich gegen diese neue Wahrheit und doch musste ich die ganze Geschichte hören. Ich wollte unbedingt erfahren, wer dieser Mann gewesen ist und warum meine Uroma bei der Erinnerung an ihn plötzlich wie ein junges Mädchen aussah und mir ganz fremd erschien.

Kurz dachte ich über mein eigenes verkorkstes Liebesleben nach. Max war mein erster Freund gewesen und wir waren auch eine Zeit lang glücklich gewesen. Aber hatte er mich jemals wirklich verstanden?

»Wie mein geschwätziges Ich gestern anscheinend in Trance bereits erzählt hat, habe ich Alexander das erste Mal in Helsinki getroffen. Damals wurde er gerade frisch zum Befehlshaber der baltischen Flotte ernannt. Ein stolzer Mann und ein guter Admiral.« Sie kicherte. »Etwas an ihm zog mich magisch an und dass diese Nähe meinen damaligen Mann zur Weißglut trieb, hatte auch einen ganz besonderen Reiz für mich.«

Meine Urgroßmutter, die eben noch kaum atmen konnte und wie eine bleiche Mumie reglos im Bett lag, bekam plötzlich Farbe im Gesicht und ihre Augen glühten voller Leben.

»Erzähl mir alles«, flüsterte ich atemlos.

Vergangenheit, 20.März 1915

Helsinki, Russland

»Verdammt, Marina! Müssen wir wirklich schon wieder diese Diskussion führen?« Iwans Stimme bebte vor kaum unterdrücktem Zorn und mein eigener Herzschlag beschleunigte sich aus Furcht vor seinem Temperament.

»Ich habe dir bereits gesagt, dass ich noch einen Moment brauche. Setz dich ins Arbeitszimmer und warte gefälligst, bis ich fertig bin!«, gab ich trotz allem störrisch durch die Tür zurück.

»Wenn du in zehn Minuten nicht unten bist, komme ich rein!«, donnerte er vor Wut schnaubend und entfernte sich mit laut krachenden Schritten.

»Marina Igorewna, müssen Sie den Herrn denn immer so sehr reizen?«, fragte meine Zofe eingeschüchtert.

Sie war ein junges Mädchen, siebzehn oder achtzehn Jahre alt, und hatte kaum etwas von der Welt gesehen. Ihr ängstlicher Blick war immer noch auf die Tür geheftet und sie zitterte am ganzen Leib. Auch ich hatte Angst, doch wusste ich diese nach einigen qualvollen Ehejahren zu verbergen.

»Natalia, wenn du einem Mann nicht zeigst, dass er keine Kontrolle über dich hat, wird er dich ewig wie eine dumme Zuchtstute behandeln. Zeigst du ihm aber, dass er keine Macht über dich besitzt, dann seid ihr gleichberechtigt in eurem Haushalt.«

Selbst ich wusste, dass meine Worte eine Lüge waren, aber sie hatte noch Zeit, ehe diese traurige Wahrheit sich in ihrem Leben festsetzen würde. Ich schenkte der Zofe über den Spiegel ein aufmunterndes Lächeln, welches sie mit einem entschlossenen Funkeln in den braunen Augen erwiderte.

»Komm und hilf mir bei den Haaren, ich weiß nicht, wie lange dein Herr sich noch in Geduld üben kann, ehe er seine Drohungen wahr macht und die Tür mit Gewalt stürmt.«

Die flinken Finger des Mädchens flochten mein braunes Haar zu seidenen Zöpfen und steckten diese am Hinterkopf fest. Um mein bleiches Gesicht ringelten sich noch einzelne widerspenstige Locken, aber ich ließ sie da, wo sie waren. Irgendwie gefiel es mir, wenn die Frisur nicht gänzlich perfekt war. Es unterschied mich von all den anderen makellosen Gesichtern und Haarprachten.

Das Mädchen setzte mir einen zur Garderobe passenden Hut auf und schüttelte noch ein paarmal meinen Rock auf. Kurz betrachtete ich mich selbst im mannshohen Spiegel neben dem Frisiertisch und nickte zufrieden.

Das violette Kleid hatte ein gut sitzendes Korsett und war hochgeschlossen. Aus dem Kragen ragte eine weiße Spitzenbluse hervor. Der Rock war weit und lang, fiel jedoch in eleganten Wellen, die sich zu meinen Füßen bauschten und die hübschen braunen Stiefelchen zeigten.

Mit geradem Rücken, das Handtäschchen fest umklammert, stolzierte ich aus dem Zimmer hinaus und die Wendeltreppe nach unten. »Nun, Iwan. Ich wäre so weit«, verkündete ich würdevoll.

Der Blick meines Gemahls ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Pure Mordlust haftete diesem an, als er ihn über meinen Anblick gleiten ließ. Iwan erhob sich, das Whiskyglas in der Hand.

»Für wen hast du dich so hergerichtet?«, fragte er ruhig. Doch sein Tonfall konnte mich nicht täuschen. In seinem Inneren brodelte es gefährlich.

»Mach dich nicht lächerlich! Ich bin eine verheiratete Frau. Du bist der Einzige, für den ich mich herrichten lasse. Wenn dir die Garderobe nicht zusagt, gehe ich nach oben und lasse das Mädchen etwas anderes raussuchen.«

Er sah mich abschätzend an. Obwohl ich eine Heidenangst vor diesem Mann hatte, erwiderte ich seinen Blick stoisch, als er seine freie Hand zur Faust ballte und wieder entspannte.

»Du gehst auf keinen Fall noch einmal nach oben! Wir sind jetzt schon zu spät, das schickt sich nicht.«

Ich betrachtete meinen Angetrauten noch einmal nachdenklich. Er war ein großer Mann, hatte breite Schultern und durchdringende blaue Augen. Sein dunkles Haar wurde am Oberkopf bereits lichter, doch dies tat seiner Attraktivität keinen Abbruch. Iwan pflegte stets stolz in seiner Marineuniform aufzutreten. Die weiße Jacke mit den verdienten Abzeichen und sein lässig schwingender Kortik verliehen ihm ein heldenhaftes Aussehen und bescherten ihm großen Respekt in unseren Kreisen, doch ich kannte seine wahre Natur.

Schon lange ließ ich mich nicht mehr von seiner trügerischen Fassade täuschen; so schön sein Äußeres auch sein mochte, sein Innerstes war verfault. Mir wurde übel bei seinem Anblick und der Geruch von Zigarrenrauch und teurem Whisky, der Iwan stets anhaftete, ließ mich würgen.

Auf dem Bankett tummelten sich bei unserem Eintreffen bereits die immer gleichen Gesichter. Da waren die Todorski-Zwillinge mit ihren Gatten. Die Rosnovs und ihre Kinderschar.

Mehrere junge Frauen scharten sich um Iwan und hofften, die Aufmerksamkeit des Konteradmirals auf sich zu lenken, dies quittierte ich lediglich mit einem müden Blick. Sollten sie ihn meinetwegen haben! Solange er sich mit diesen Hühnern vergnügte, würde er mich hoffentlich in Ruhe lassen.

Unruhig schweifte mein Blick durch die Menge. Für einen Wimpernschlag verharrte er auf den unterschiedlichen Gesichtern, in der Hoffnung, ihn irgendwo in der Menge zu erblicken. Mein Herz wurde ganz schwer, als klar wurde, dass Alexander nicht hier war.

»Ein Spiel! Ein Spiel!«, rief da Katharina Romanova, die heutige Gastgeberin, und tänzelte an mir vorbei, eine Wodkaflasche in der einen und ein leeres Whiskyglas in der anderen Hand. Sie stellte im Gehen das Glas auf einem leeren Tischchen ab, umklammerte die Flasche aber so fest, dass ich das Gefühl nicht loswurde, man müsse ihr diese aus den toten Fingern reißen.

Ich seufzte übertrieben. »Katharina, meine Liebe! Denkst du wirklich, dass es dafür schon Zeit ist?«, fragte ich gutmütig, doch sie winkte energisch ab.

»Marina Igorewna, für Trinkspiele ist es niemals zu früh!«

Ich seufzte abermals, bedeutete einem Kellner, zu mir zu kommen und nahm mir gleich zwei Champagnergläser von seinem Tablett. Wenn Katharina erst einmal mit ihren Spielen anfing, würde ich schon sehr bald alkoholischen Nachschub benötigen, um dies zu ertragen.

Ein pompöser Kronleuchter erhellte den viel zu großen Saal. Überall waren runde Tische aufgestellt und Platz für eine kleine Tanzfläche geschaffen. Erwartet wurden zwar nicht mehr als vierzig Gäste, aber aufgetischt wurde wie für den Besuch der Zarenfamilie höchstpersönlich.

Champagner und Whisky flossen in Strömen aus den Flaschen und benetzten die gierigen Kehlen der Gäste. Der vertraute Duft nach fettigem Essen, schwerem Alkohol und einer Mischung aus Rasierwasser und Blumen hing in der Luft und jagte mir eine Gänsehaut über den Körper.

»Kommen Sie, kommen Sie! Wir spielen«, rief Katharina Romanova und klatschte so aufgeregt in die Hände, dass sie beinahe das Whiskyglas fallen ließ, welches ihr gerade von einem der Kellner gereicht wurde und in dem bereits die vorgefalteten Zettelchen mit den Aufgaben raschelten.

Ich nahm an einem der freien Tische Platz und hoffte, in der Menge unterzugehen. Die Tür öffnete sich quietschend in der aufgeregten Stille und fiel wieder ins Schloss. Wie alle anderen wandte auch ich den Kopf in Richtung Tür und erschauderte von Neuem.

In meinem Bauch tanzten aufgeregte Schmetterlinge und ließen ihn wohlig kribbeln. Jedes Härchen auf meinen Armen schien sich aufzurichten.

Alexander Nikolajewitsch hatte soeben den Raum betreten. In seiner Haltung lag Stolz und etwas Verborgenes. Er schien den Wirbel um seine Ankunft als höchst unangenehm zu empfinden. Seine Uniform saß perfekt an dem muskulösen Körper. Die goldenen Abzeichen strahlten mit den blitzenden Augen um die Wette und ließen den Raum noch heller leuchten. Die weiße Admiralsjacke war ebenso Respekt einflößend wie die vergoldete Scheide an seinem Gürtel.

Er schritt mit sicheren Schritten durch die Menge und blieb vor der Gastgeberin stehen. Mit einer anmutigen Verbeugung nahm er ihre Hand und hauchte einen Kuss auf die behandschuhten Finger.

Mein Herz setzte kurz aus und stolperte sofort wieder los. Ich ertappte mich dabei, wie ich atemlos auf Katharinas Hand starrte und mir mehr als alles andere auf der Welt wünschte, mit ihr den Platz tauschen zu können.

»Entschuldigen Sie bitte meine Verspätung, ich konnte nicht so schnell aus dem Hafen kommen, wie ich es mir gewünscht hätte. Ich hoffe, Sie verzeihen mir mein ungebührliches Verhalten.« Er richtete sich auf und Katharina ließ ein leises Kichern verlauten.

»Aber, aber, Alexander Nikolajewitsch, Sie müssen für Ihr Vergehen bestraft werden.« Sie stupste kokett mit ihrem Fächer gegen seine Brust und wieherte wie ein aufgeregtes Pferd.

»Aufgeblasene Stute«, murmelte ich und verdrehte die Augen. Ich nahm einen tiefen Schluck aus dem Champagnerglas und kippte das zweite gleich hinterher.

»Für Ihr Zuspätkommen müssen Sie als Erstes in mein Töpfchen greifen und eine Aufgabe ziehen.« Manisch ließ die bereits ergrauende Frau das Whiskyglas mit den Zettelchen darin vor Alexanders Gesicht rascheln.

Der sonst so tapfere Admiral schien sich nicht wohl bei der Sache zu fühlen, griff jedoch gehorsam in das Glas und zog nach wenigen Sekunden die Hand wieder heraus. In den Fingern hielt er einen fein säuberlich gefalteten Zettel, den er wunschgemäß Katharina überließ. Aufgeregtes Flüstern wurde laut, alle hielten gespannt den Atem an.

»Ruhig, Kinder, ich lese jetzt vor: Deine Aufgabe wird sein, die erste Dame oder den ersten Herrn, die oder der zu deiner Linken sitzt, zu küssen. Bedenke, dass dieser Kuss dein letzter sein könnte und genieße ihn in vollen Zügen.«

Lautes Lachen und Gackern erklang. Katharina wieherte am lautesten und wischte sich winzige Tränchen aus den grauen Augen. Ihr Mann, ein ranghoher Richter, trat an ihre Seite und pflückte zum wiederholten Male die Wodkaflasche aus den bereits zitternden Händen seiner Gattin. Sie vermochte es, sehr zum Bedauern des Richters, stets in Reichweite des Alkohols zu verbleiben und war dafür bekannt, diesen nicht lange aus den Händen zu geben.

»Die verwahre wohl besser ich für den Augenblick«, sagte er gerade laut genug, dass wir anderen jedes Wort hören konnten. Empörtes Getuschel wurde laut.

Katharina Romanova hingegen war sich keiner Schuld bewusst, stattdessen angelte sie nach einem Schnapsglas von einem der Tische und hielt es Alexander vor die Nase.

»Sei doch nicht immer so ein Griesgram, der Wodka ist doch für unseren Alexander Nikolajewitsch, er muss sich noch ein wenig Mut antrinken.« Verschwörerisch zwinkerte sie Alexander zu, als ihr Mann ihm seufzend einen großzügigen Schluck einschenkte. Pflichtbewusst wurde dieser in einem Zug geleert und das eigentliche Spiel konnte weitergehen.

Ich verkrampfte mich, und wäre mein Korsett nicht so eng geschnürt gewesen, wäre ich vor Schreck wohl vom Stuhl gekippt.

»Nun schauen wir doch mal, welche Dame zu Ihrer Linken sitzt.«

Da sämtliche Gäste im Raum herumstanden, war es nicht schwer, die »Glückliche« zu finden. Zu meinem Bedauern – oder auch grenzenloser Freude – war ich die einzige Frau, die es gewagt hatte, sich bei einem solchen Spiel hinzusetzen. Dies sah nun auch Katharina und kam auf mich zugerannt.

»Na, wer hätte das gedacht! Alexander Nikolajewitsch, Sie sind ja ein wahrer Glückspilz! Unsere Marina Igorewna hier ist ein echter Wildfang. Schön wie eine zarte Blüte im Frühling und feurig wie die abendlichen Sonnenstrahlen im Sommer. Diesen Kuss werden Sie bestimmt nicht so schnell vergessen.«

Ehe ich wusste, wie mir geschah, zog sie mich auf die Füße und schleppte mich in die Mitte des Saales.

»Aber Katharina Romanova, das können Sie doch nicht …«, setzte ich an, wurde jedoch jäh unterbrochen.

»Alles für die Truppen, meine Liebe«, gab diese nur kurz von sich und gesellte sich zu ihrem Gatten, um das Spektakel aus der Ferne zu genießen. Irgendwie hatte sie es geschafft, ihm die Flasche wieder abzunehmen und sich einen ordentlichen Schluck in ein unauffälliges Wasserglas zu kippen. Seelig nippte sie an der durchsichtigen Flüssigkeit und schwankte im Takt der Musik.

Überfordert ließ ich meine Hände sinken und versuchte, nicht allzu verzweifelt auszusehen. Alexander trat einen Schritt auf mich zu.

»Schön, Sie zu sehen«, sagte er.

Seine Stimme ließ mich für einen Wimpernschlag die Situation vollkommen vergessen. Ich versank vollständig in der Betrachtung seiner Augen, die spitzbübisch zu glänzen begannen. »Ich freue mich auch, Sie zu sehen, Alexander Nikolajewitsch«, erwiderte ich tonlos. Wie von selbst schien sich mein Körper ihm zugewandt zu haben.

»Gor’ko3! Gor’ko! Gor’ko! Gor’ko!«, riefen die Leute um uns herum im Chor.

Das Licht schien plötzlich gedämmt und auch die aufbrausende Musik beruhigte sich. Oder war das mein eigener Puls, der die berauschend sanfte Melodie in meinem Kopf erklingen ließ? Der stolze Admiral machte einen Schritt auf mich zu. Sein Blick fixierte meinen und hielt ihn in seinem Bann gefangen.

»Alexander Nikolajewitsch … Sie wollen nicht wirklich …«, flüsterte ich und wünschte mir doch nichts sehnlicher, als die Distanz zwischen uns zu überbrücken.

Gleichzeitig fürchtete ich mich vor diesem Augenblick.

Alexander beugte sich zu mir vor, die Augen immer noch auf meine gerichtet. Mein verräterisches Herz begann wie wild zu schlagen. Sein typischer Geruch nach Salzwasser und frischer Sommerbrise umhüllte mich vollständig.

Ich schloss machtlos die Lider, streckte mich ihm entgegen. Wollte nichts sehnlicher, als meine Arme um ihn legen, den Kopf an seine starke Brust betten und mit diesem Duft verschmelzen.

Ein kratziges Kinn streifte meine Wange und warme Lippen drückten sich auf die zarte Haut neben meinem Mund.

»Ich würde Sie niemals um eines Spieles willen küssen, Marina Igorewna«, wisperte er sanft in mein Ohr und ich konnte das Lächeln in seiner Stimme hören.

Die umstehende Menge jubelte teils vor Begeisterung, teils vor Empörung. Ich war noch nicht bereit, meine Augen wieder zu öffnen, noch nicht bereit, mich der Realität zu stellen.

»Würden Sie mich bitte nach draußen begleiten? Ich glaube, der Champagner ist mir nicht bekommen«, flüsterte ich atemlos.

Sofort legten sich zwei starke Arme um meine Schultern und schützten mich vor unwillkommenen Blicken. Ich wusste nicht, wo Iwan sich gerade herumtrieb, war aber froh, dass er die Szene anscheinend nicht mit angesehen hatte.

»Nächste Runde! Neues Glück!«, brüllte Katharina in unserem Rücken und die Menge klatschte aufgeregt.

Zum Glück waren die meisten ebenso wie die Gastgeberin bereits weitestgehend vom Alkohol angeheitert, sodass unser plötzlicher Abgang niemanden zu wundern schien. Meine Beine fühlten sich an wie Butter und drohten, jede Sekunde unter mir nachzugeben.

»Marina Igorewna, was fehlt Ihnen denn?« Der besorgte Unterton in der sonst so unerschütterlichen Stimme ließ mein naives Herz höherschlagen.

»Nichts, ich brauche nur frische Luft. Der Champagner und all die vielen Menschen …«, erwiderte ich halbherzig.

Wir traten hinaus in den kühlen Märzabend. Ganz der Edelmann, zog Alexander seine Jacke von den Schultern und hüllte mich behutsam darin ein.

»Ich kann nicht ansehen, wie Sie hier frierend die Tapfere spielen«, sagte er lächelnd. Lediglich in ein weißes Hemd gehüllt, sah er noch hinreißender aus. Oder sprach da etwa der Alkohol aus mir?

Funkelnde Sterne erhellten den dunklen Himmel und irgendwo zirpte eine einsame Grille ihre traurige Melodie.

Der Meeresduft war Dank der Jacke überall um mich herum und benebelte meine Sinne. »Alexander Nikolajewitsch … ich … ich …«, stotterte ich, brach jedoch ab, weil sich kein vernünftiger Satz auf meinen Lippen bilden wollte. Ich wusste noch nicht einmal genau, was ich eigentlich sagen wollte.

»Wir müssen nichts sagen, lassen Sie uns einfach nur die Stille genießen«, flüsterte er ebenso leise, und da war es wieder. Die schmalen Lippen in seinem kantigen Gesicht verzogen sich zu einem herzzerreißenden Lächeln.

Alles in mir wollte diesen Augenblick für immer festhalten. Ihn irgendwo einfangen und an schlechten Tagen hervorholen, um mich an diesem Anblick bis an mein Lebensende erfreuen zu können.

Gegenwart, 11.Oktober 2013

CMS Clinic, Moskau

»Marina Igorewna, warum in Gottes Namen sind Sie noch wach?« Die zornige Stimme der Schwester riss uns beide aus der Erzählung.

Ich konnte feuchte Spuren auf meinen Wangen fühlen und wischte sie hastig fort. Meiner Urgroßmutter ging es ähnlich. Die Tränen kullerten lautlos aus ihren Augenwinkeln und versickerten in den Kissen.

»Es tut uns sehr leid, wir haben die Zeit vergessen«, beeilte ich mich zu sagen und sprang rasch vom Bett auf.

»Die Besuchszeit ist längst vorbei, ich würde Sie jetzt bitten, sich von Ihrer Urgroßmutter zu verabschieden und morgen wiederzukommen«, sagte die Schwester nun in einem etwas milderen Tonfall.

Ich nickte, beugte mich über das Bett meiner Babushka und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Vergiss nicht, wo wir stehen geblieben sind, du musst mir die Geschichte unbedingt zu Ende erzählen«, flüsterte ich in ihr graues Haar und sie drückte bestätigend meine Hand.

Als ich das Krankenhaus verließ, hallte die Geschichte meiner Uroma immer noch in mir nach. Die Zärtlichkeit, mit der sie jedes Wort für seine Beschreibung gewählt hatte.

Aus jedem einzelnen Satz sprach so viel Liebe und Sehnsucht, dass es mir das Herz brach. Und selbst nachdem ich mich bereits schlafen gelegt hatte, verfolgten mich die Bilder bis in meine Träume hinein.

Kapitel Drei

Gegenwart, 12.Oktober 2013

Hotel »Svesda1«, Moskau

Ich erwachte aus einem sehr unruhigen Schlaf. Immer noch müde blinzelte ich zu dem Radiowecker auf dem Nachtisch und schreckte hoch. Viertel nach zehn! Ich musste los. Blitzschnell sprang ich aus dem Bett, warf dabei versehentlich eine Flasche Apfelschorle um, die ich in der Nacht ausgetrunken hatte, und zog mich hastig an. Meine gesamten Gedanken waren auf meine Urgroßmutter und ihre Geschichte gerichtet.

Ich kam nicht umhin, mich zu fragen, ob sie meinen Urgroßvater jemals wirklich geliebt hatte. Sie waren zwar stets um einen respektvollen Umgang miteinander bemüht gewesen, aber ich hatte sie noch nie mit solch einer Sanftheit in der Stimme über ihn sprechen hören, wie es bei Alexander der Fall gewesen war.

Auch das Frühstück im Hotelrestaurant konnte meine innere Unruhe nicht auflösen und so machte ich mich mit flauem Gefühl im Magen auf den Weg ins Krankenhaus.

Da ich gezwungen war, heute die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen, brauchte ich eine Weile, bis ich mich an der Haltestelle orientiert hatte und einen Bus bestieg. Trotz der ausführlichen Erklärung der Hotelrezeptionistin fand ich den Weg nicht sofort. Viel lieber wäre ich wieder mit dem Taxi gefahren und hätte mir die aufwendige Suche erspart, aber mein bereits angeschlagenes Budget lag schon jetzt kränklich keuchend am Boden und fragte mich, was in Gottes Namen ich eigentlich trieb und warum ich mir nicht endlich einen Job suchte.

Der Bus war voller Menschen. Wortfetzen von Gesprächen und lautes Lachen drangen zu mir durch. Es war eng und stickig, Körper drängten sich aneinander und nicht nur einmal war ich versucht, auszusteigen und mir ein Taxi zu rufen.

Nach einigen Haltestellen stiegen jedoch die meisten Passagiere aus und ich hatte das Glück, einen Sitzplatz zu ergattern. Gedankenverloren starrte ich aus dem verschneiten Fenster. Wie war es nur so weit gekommen, dass meine Urgroßmutter ganze zweimal verheiratet gewesen war, aber nie mit dem Mann, den sie liebte?

Das Gesicht von Max vor meinem inneren Auge unterbrach meine Melancholie. Ich senkte die Lider und fühlte plötzlich einen riesigen Kloß in meinem Hals, der mich zu ersticken drohte. War es überhaupt möglich, in dieser schnelllebigen Gesellschaft jemanden zu finden, den man äußerlich attraktiv fand und dessen Charakter einem auch gefiel? Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass genau dieser eine Mensch einen selbst ebenfalls ansprechend fand und noch nicht in festen Händen war? Wäre ich gut in Mathe und Wahrscheinlichkeitsrechnung gewesen, hätte ich gerne eine Statistik darüber erstellt. So aber blieb einzig das unbeständige Gefühl der Ausweglosigkeit zurück.

Mir war bewusst, wie naiv und töricht ich mich verhielt, wenn ich genau in diesem Augenblick ausgerechnet an Max dachte. Unsere Beziehung konnte man wohl kaum mit der tragischen Liebe vergleichen, die meine Uroma für Alexander empfunden hatte, und dennoch war sie das Einzige, was ich als Vergleich vorbringen konnte. Ich sehnte mich ebenfalls danach, jemanden zu finden, der für mich genau das sein könnte, was dieser Fremde für meine Urgroßmutter gewesen war.

Mein Blick huschte unruhig durch den halb vollen Bus und blieb an einem merkwürdig gekleideten Mann hängen.

Nicht weit von mir stand er in einer altertümlichen Armeeuniform. Das hellblonde Haar hatte er nach hinten gegelt, doch einige Strähnen standen immer noch frech von seinem Kopf ab.

Ich blinzelte verwundert. War das womöglich ein Schauspieler? Ehe ich meinen Gedanken zu Ende bringen konnte, hatte sich der Mann zu mir umgedreht und ich blickte in die erstaunlichsten grünen Augen, die ich je gesehen hatte. Sie strahlten mich mit einer solch intensiven Ruhe an, dass mir ganz warm ums Herz wurde. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden und auch der Fremde machte keine Anstalten, wegzusehen.

Neugierig betrachtete ich seine feinen Gesichtszüge, wobei mir seine Attraktivität keinesfalls entging. Noch nicht ganz Mann, hatte er weiche Gesichtszüge. Die Konturen seiner Lippen waren voll und strahlten in einem gesunden Rot. Doch trotz des sehr jungen Gesichtes verrieten seine Armmuskeln und die stolze Haltung eines Soldaten, dass er längst kein Junge mehr war. Auch die sorgenvoll zusammengezogenen Brauen straften meinen ersten Eindruck von ihm Lügen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit schaffte ich es endlich, mich von seinem Anblick zu lösen und wegzusehen. Von meinem eigenen Benehmen derart beschämt, wagte ich es nicht mehr, in seine Richtung zu blicken und als ich meine Station schließlich erreichte, war der Fremde bereits fort. Ich lächelte beim Aussteigen still in mich hinein, froh, wenigstens für einen Moment Max vergessen zu haben. Mir war durchaus bewusst, dass die Begegnung mit dem Fremden wohl ein einzigartiges Erlebnis bleiben würde und dennoch schmeichelte mir seine Aufmerksamkeit.

Wie beflügelt betrat ich gut gelaunt das Krankenhaus und meldete mich am Empfang an. Als ich meinen Namen nannte, erstarrte plötzlich das Lächeln auf den Lippen der Schwester und wich einem bedauernden Gesichtsausdruck. Alles in mir verkrampfte sich.

»Ist etwas mit meiner Urgroßmutter?«, verlangte ich zu erfahren. Mein Herz setzte einige Schläge aus und ich hielt den Atem an.

»Es tut mir leid … Ihre Urgroßmutter ist heute Nacht gestorben.« Sie sagte noch etwas von einem Arzt, der sich im Laufe des Tages mit mir unterhalten würde und dass für den Abtransport des Körpers bereits gesorgt war, doch ich hörte nicht mehr zu.

Ein ohrenbetäubendes Rauschen verdrängte alle anderen Gedanken aus meinem Kopf. Ich stolperte einige Schritte zurück und fiel in einen Sessel, von dem ich zuvor gar keine Notiz genommen hatte. Nichts schien noch zu mir durchzudringen. Die Polsterung gab mir den Halt, den mein Körper nicht aufbringen konnte, während ich unentwegt auf meine Hände starrte.

Waren meine Finger schon immer so schmal und lang gewesen? Sahen sie denen meiner Uroma ähnlich? Ich wollte unbedingt so sein wie sie; auch wenn es sich bloß um so etwas Belangloses wie Finger handelte, so hoffte ich doch, dass meine Hände ihren glichen.

Ich hatte mir noch nie Gedanken darüber gemacht. Wie konnte es sein, dass jemand gestern noch da und heute einfach verschwunden war? Für immer. Nein. Ich schüttelte entschieden den Kopf und stand auf.

»Ich will meine Urgroßmutter sehen. Jetzt!«, forderte ich energisch von der überrumpelten Schwester. Sie faselte irgendeinen beschwichtigenden Unsinn.

»Sofort!« Meine Stimme klang schrill und verzweifelt.

Der Gedanke, dass es sich hier um einen Irrtum handeln musste, war der einzige, der mich noch aufrechthielt.

»Einen Moment bitte, ich hole den Doktor!«, quietschte die Schwester mit vor Schreck geweiteten Augen und wählte eine Nummer auf dem Telefon.

Ich wartete ungeduldig in der Lobby, spielte an meiner Halskette herum und verdrängte jeden Gedanken, der in meinem Kopf nach Aufmerksamkeit brüllte. Es konnte nicht wahr sein, es durfte einfach nicht wahr sein.

»Frau Derewanko?«, erklang eine angenehme Männerstimme in meinem Rücken und ließ mich herumwirbeln. »Mein Name ist Doktor Konstantin Sergejewitsch, ich war der Arzt Ihrer Urgroßmutter.«

Der Arzt, ein hochgewachsener, schlanker Mann Mitte dreißig, reichte mir seine Hand, die leicht benommen ergriff und höflich schüttelte.

»Ich würde gerne meine Uroma sehen«, brachte ich krächzend heraus.

Konstantin Sergejewitsch nickte knapp und gab der Empfangsschwester so zu verstehen, dass ich nun mit ihm mitgehen würde. Als ich ihr einen flüchtigen Blick zuwarf, spiegelte sich in ihren Augen Erleichterung und Bedauern. Ich schluckte, wandte mich von der Frau ab und folgte stattdessen dem Arzt durch die sterilen Gänge des Krankenhauses.

»Ihre Urgroßmutter ist heute Nacht gegen vier Uhr verstorben. Sie hatte keinerlei Schmerzen und ist friedlich eingeschlafen«, sagte er, bemüht um einen einfühlsamen Tonfall, doch es war klar, dass er geübt darin war, aufgewühlten Angehörigen schlechte Nachrichten zu übermitteln.

Ich hingegen befand mich in einem tranceähnlichen Zustand. Ich wusste, dass sich meine Füße bewegten, ich die Worte des Arztes hörte, doch nichts davon drang wahrhaftig zu mir durch. Alles sträubte sich dagegen, das Unmögliche zu akzeptieren. Nein, ich würde gleich bestimmt in das Zimmer meiner Uroma kommen und sie würde lächelnd in ihrem Bett liegen. Der Arzt würde merken, dass eine andere arme Frau gestern Nacht verstorben war und sich entschuldigen. Ja, so musste es sein.

Eine innere Ruhe hüllte mich ein wie Zuckerwatte. Der Arzt führte mich in einen Raum, irgendwo im Keller des Krankenhauses.

»Bevor ich Ihnen den Körper Ihrer Urgroßmutter zeige, muss ich Sie warnen, dass der Anblick für die Angehörigen nie leicht ist. Sind Sie wirklich sicher, dass Sie das wollen?«

Ich nickte, entschlossen, stark zu bleiben. Innerlich stellte ich mich auf den Anblick einer friedlich schlafenden alten Dame ein. Doch wenn ich mir so sicher war, dass sich in dem kühlen Raum nicht meine Babushka befand, warum schlug mein Herz dann wie wild gegen die Rippen?

Ein süßlicher Geruch vermischte sich mit dem Duft nach Desinfektionsmittel und Blut. Leicht schwankend hielt ich mich am Türrahmen fest, sammelte meine Kräfte. »Ja, ich bin mir sicher«, flüsterte ich mit brüchiger Stimme.

Gut eineinhalb Meter hoch waren viereckige Türen in die Wand gelassen, die aussahen wie die Schubladen einer übergroßen Kommode. Langsam streckte der Arzt seine Hand nach einer dieser Boxen aus und drückte den Hebel nach unten. Eine Bahre fuhr heraus.

Darauf lag in ein makelloses weißes Laken. Es verdeckte die groben Umrisse eines menschlichen Körpers, der vollkommen reglos dalag. Ich erstarrte, konnte meinen Blick jedoch nicht von dem Tuch abwenden. Zögerlich hob der Arzt eine Ecke an, vergewisserte sich, dass ich noch nicht umgekippt war, und schob den Stoff zur Seite.

Alles in mir gefror zu Eis. Auf der kalten Bahre lag meine Urgroßmutter. Ein lautloses Schluchzen entrang sich meiner Kehle. Ich schlug mir vor Schreck die Hand vor den Mund und unterdrückte so weitere Geräusche. Jede Zelle meines Körpers schien zu zittern, sträubte sich gegen diesen Anblick.

Sie wirkte so friedlich, hatte ihre Augen geschlossen. Um die faltigen Lippen hatte sich ein kleines Lächeln gebildet, das ihre ganze Gestalt zum Strahlen brachte. Dieser Moment, obwohl er lediglich einige Sekunden andauerte, ehe der Arzt das Laken wieder über die Gestalt legte und behutsam die Schublade schloss, brannte sich für immer in mein Herz ein.

Ich bedankte mich noch bei dem Mann, schaffte es, mich zu verabschieden und zu den Damentoiletten zu eilen. Erst da gab ich der schmerzenden Woge in meinem Inneren Raum, um auszubrechen. Wie eine Ertrinkende klammerte ich mich an das kühle Waschbecken, während meine Beine unter dem Schmerz nachgaben und ich zu Boden ging. Geschüttelt von Krämpfen und lautem Schluchzen bleib ich reglos auf den Fliesen sitzen und ließ mich von meiner Trauer überrollen.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Waren es Minuten? Stunden? Vielleicht sogar Tage? Alles hatte plötzlich seinen Sinn verloren. Meine Kehle fühlte sich von all dem Weinen rissig und porös an, doch es erschien mir nicht genug. Ich hatte das seltsame Verlangen, mir selbst Schmerzen zuzufügen, um die innere Leere in mir zu kaschieren. Wollte ich überhaupt in einer Welt ohne sie leben?

»Komm auf die Beine und mach mir keine Schande, Kind!«

Ich schrak hoch. War das die Stimme von Babushka Marina?

Entsetzt sah ich mich in dem sterilen Toilettenraum um, konnte jedoch keinen anderen Menschen ausmachen, und die einzigen Geräusche waren mein anhaltendes Schluchzen und das stetige Tropfen des kaputten Wasserhahns. Ich sank zurück auf die Fliesen, bettete meinen Kopf in meine Hände und schloss die Augen. Erinnerungsfetzen huschten wie leuchtende Blitze durch meine Gedanken.

Da war sie ja. Endlich konnte ich ihr wieder näher sein. Babushka Marina saß mit meinem Ded2 auf der Terrasse und spielte Karten. Sie lachte leise vor sich hin und tat so, als würde sie nicht bemerken, wie Ded einige Karten aus seinem Ärmel gegen die aus der Hand tauschte.

Mein jüngeres Ich schaute mit großen braunen Augen zu ihnen hoch und kicherte jedes Mal, wenn meine Urgroßmutter über den alten Schummler liebevoll meckerte.

Ich war so sehr in die Erinnerung vertieft, dass ich praktisch das Zirpen der Grillen hören konnte. Der Duft von frisch gebackenen Piroschki3 und schwarzem Tee hing in der Luft und ließ meinen Magen sehnsüchtig knurren.

Plötzlich veränderte sich das Bild, vermischte sich mit einem anderen. Mein Urgroßvater verschwand, die Terrasse wich einem hell erleuchteten Ballsaal. Wieder war meine Urgroßmutter da. Gekleidet in eine weite Robe, lag sie in den Armen eines großen Mannes. Beide verloren sich in der Betrachtung des jeweils anderen, während sie über die leere Tanzfläche zu schweben schienen. Babushka Marina lachte und bettete ihren Kopf an die Brust des Mannes.

»Endlich. Nach all der Zeit …«, murmelte sie in seine Uniform. Er sagte nichts, hauchte ihr lediglich einen zarten Kuss auf den Scheitel und führte den Tanz langsam fort.