Sommerträume auf vier Hufen - Kathrin Siegel - E-Book

Sommerträume auf vier Hufen E-Book

Kathrin Siegel

4,7

Beschreibung

Pferdespaß im Doppelpack! Sommer, Pferde und die erste Liebe für Mädchen ab 10 Jahren. Dieses eBook enthält die beiden Einzelbände "Reiterferien für immer" und "Lauras Liebesnest". Laura ist entsetzt: Aus Berlin Mitte soll sie mit ihren Eltern ins Niemandsland ziehen! Der einzige Lichtblick ist, dass es dort einen Reitstall gibt, in dem sie aushelfen und reiten darf. Und der Sohn der Reitlehrerin ist ziemlich süß. Doch irgendetwas bedrückt ihn. Hat er vielleicht Liebeskummer? Schnell findet Laura heraus, dass das Leben auf dem Land viele Überraschungen bereit hält. Mia dagegen ist sofort begeistert, als ihre Eltern einen Pferdehof auf dem Land kaufen. Endlich kann sie jede freie Minute mit Pferden verbringen. Doch ihr Liebling Roxy ist scheu und schreckhaft. Zum Glück bekommt sie Hilfe von ihrem Nachbarn Marco. Es knistert gewaltig zwischen den beiden, aber plötzlich läuft alles schief. Dann scheut auch noch Roxy und läuft davon.

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Kathrin Siegel

Lauras Liebesnest

Punktkleid und Schleifenschuhe

Manchmal habe ich diese verrückte Idee mit der Fee. Klar, ich weiß, dass es Feen nicht gibt, aber man darf ja wohl ab und zu träumen! Ich stelle mir also vor, dass diese blonde Fee ganz plötzlich vom Schicksal in mein Zimmer gewirbelt wird. Sie steht da, mit verschrecktem Gesicht und zerzaustem Haar, und weiß selbst nicht, wie sie ausgerechnet bei mir landen konnte.

Ich verbessere: Sie schwebt natürlich. Feen sind barfuß, haben hübsch lackierte Zehennägel und stehen nicht komisch in der Gegend herum.

Sie schwebt also vor mir, sieht mich aus riesigen Pokémon-Augen an und haucht: „Laura! Du hast drei Wünsche frei!“

Ich starre sie ungläubig an. Starre in ihre funkelnden schwarzen Pupillen. Ihr Augenaufschlag ist der eines Stars. Vermutlich trägt sie eine Doppelreihe falscher Wimpern.

„Laura!“, fordert sie mich sanft auf. „Laura …“

„L-A-U-R-A? L-A-A-A-U-R-A-A-A!“

Mist. Das war keine Fee, sondern meine Mutter. Sie kann es nicht leiden, wenn ich unpünktlich bin. Meine Mutter ist die Meisterin im Organisieren. Sie ist Ärztin in einem Krankenhaus. Das Krankenhaus ist das größte hier in Berlin, und hinter vorgehaltener Hand nennen die Mitarbeiter es „Fabrikanlage“. In so einer Fabrikanlage zu arbeiten ist echt kein Spaß, und nach einem Arbeitstag ist Mama jedes Mal ziemlich fertig. Vielleicht ist das der Grund, warum sie immer alles perfekt organisiert. Um sechs kommt sie von der Arbeit heim. Dann telefoniert sie erst mal eine Runde. Von halb sieben bis sieben macht sie im Schlafzimmer Yoga. Um sieben steht dann das Essen auf dem Tisch. Bei uns zu Hause kocht mein Vater. Er ist erfolgloser Kinderbuchautor und arbeitet daheim. Nebenberuflich macht er für Mama und mich den Haushalt.

„Prinzessin!“

Genau. Das ist er. Mein Papa. Er mag es auch nicht, wenn ich unpünktlich bin.

Ich springe aus dem Bett, als mein Handy vibriert. Nele, eine aus meiner Mädelsclique, hat geschrieben.

Das heißt, sie hat ein Bild geschickt. Von einem total niedlichen Kleid von H&M. Mit blauen Punkten und Schleifengürtel. Sieht total stylisch aus, ich wünschte, ich hätte das Teil ergattert! Nele ist viel zu groß und schlaksig für so ein Kleid. Das würde perfekt zu meiner zierlichen Statur und meinen hellbraunen Locken passen. Außerdem habe ich die passenden Ballerinas dazu! Im gleichen Blau und ebenfalls mit einer Schleife.

Nele hat einfach immer Glück. Sie wohnt direkt neben H&M, und wenn was neu geliefert wird, ist sie immer die Erste.

Sauer klicke ich das Bild wieder weg und mein Blick wandert nachdenklich durch mein Zimmer. Die Wände habe ich mit meinen Freundinnen pink angemalt. Ein richtig schönes krachendes Rosa. Über dem Bett hängt ein romantisches Poster mit schneeweißem Pferd vor dem Himalaja. Und daneben kleben jede Menge Bilder von Gisele Bündchen. Was, du weißt nicht, wer Gisele Bündchen ist? Das erfolgreichste Model dieses Planeten!

Sie ist so schön, dass man sie für ihre bloße Anwesenheit bezahlt. Man gibt ihr haufenweise Geld, nur damit sie ein bisschen atmet! Und wo wurde dieser Glückspilz mit dem wertvollen Atem entdeckt? Halt dich fest – ausgerechnet bei McDonald’s!

Natürlich gibt es in meinem Zimmer auch ein paar Möbel. Zum Beispiel das weiß lackierte Himmelbett, das Geschenk meiner Eltern zum zwölften Geburtstag. Ein Schreiner hat es extra für mich gemacht. Wenn man den blickdichten Seidenvorhang zuzieht, ist die ganze ungerechte Welt da draußen verschwunden! Auf dem Boden liegt ein total kuscheliger vanillefarbener Sitzsack – der perfekte Ort, um zu lesen oder zu träumen. Ein Bücherregal gibt es auch. Es sind ein paar Liebesromane darin und alle Bände von „Peggy-Sue im Ponyglück“. Das ist so eine Pferdebuchreihe, auf die ich wirklich stehe. Blöderweise gibt es seit Ewigkeiten keine neuen Folgen.

Auf der Kommode befindet sich meine Sammlung mit Pferdeskulpturen aus aller Welt. Sie sind aus Porzellan, aus Ton oder aus Zinn. Ich liebe Pferde über alles!

Dann habe ich natürlich auch noch den Kleiderschrank, der ist bis auf den letzten Zentimeter vollgestopft.

Ich gebe fast mein komplettes Taschengeld für Klamotten aus. Es macht einfach Spaß, zusammen mit Freundinnen zu shoppen.

Mein Papa schiebt die Türe auf. „Prinzessin? Wo bleibst du denn?“, fragt er und hält sich die Augen zu. „Gnade!“, ruft er verzweifelt. „Ich bin zu jung, um so grausam zu erblinden!“

Das macht er ständig, seit die Wände pink angemalt sind. Er behauptet allen Ernstes, Rosa zerstöre seine Netzhaut.

„Ich komm ja schon!“, murmle ich und halte ihm das Handy hin. „Guck mal!“, fordere ich meinen Papa auf und öffne nun doch noch mal das Foto mit dem niedlichen Punktkleid.

„Nett!“, gibt Papa ehrlich zu. „Hast du nicht Ballerinas genau in der Farbe?“

Er kneift mir liebevoll in die Wange.

„Ja!“, sage ich. „Ist doch voll fies, dass Nele es mir weggeschnappt hat. Dieses Kleid gehört zu mir! Das muss sie doch checken!“

Papa hält den Kopf schief. „Echt ärgerlich“, gibt er zu. „Aber es gibt im Leben andere Probleme, oder?“ Dann folgt er pfeifend dem Essensgeruch und verschwindet um die Ecke.

Andere Probleme. Das stimmt.

Ich drehe mich noch mal um und starre das Foto von Gisele Bündchen an.

Wunsch eins: ein eigenes Pferd.

Wunsch zwei: eine Verabredung mit Sven aus der Oberstufe.

Wunsch drei: auf der Fahrt zur Schule in der U-Bahn von Heidi Klum entdeckt werden.

Das Problem ist: Wir wohnen in einer Wohnung im dritten Stock. So ein Pferd würde niemals in unseren Aufzug passen. Sven aus der Oberstufe geht mit Belinda, die letztes Jahr Schulkönigin war. Und Heidi Klum fährt bestimmt nicht U-Bahn, sondern Taxi.

Ich schlurfe endlich ins Esszimmer mit Blick auf den Fernsehturm und schnappe mir lustlos meine Gabel.

„Auch Hallo!“, sagt Mama genervt. „Du hast überhaupt keinen Anstand, Laura.“

„Lass sie“, wirft Papa ein liebes Wort für mich ein. „Laura hat heute eine Krise. Wegen einem gepunkteten Kleid von H&M.“

Wir fangen schweigend mit dem Essen an. Eine Krise ist übertrieben.

Aber ein bisschen hat Papa recht. Es geht mir gut, klar, das weiß ich selbst. Und trotzdem bleiben all meine echten Wünsche unerfüllbar. Was nützt mir ein Handy, wenn Sven mir keine Nachricht darauf schickt? Was nützt mir mein cooles Mädchenzimmer im Zentrum von Berlin, wenn kein Platz für ein Pferd darin ist? Und was nützt mir das tolle Essen, wenn Heidi Klum mir nicht zufällig gegenübersitzt?

Man wird bei McDonald’s entdeckt, nicht im Esszimmer der Eltern.

„Irgendwann nehme ich dich mal zur Arbeit mit!“, seufzt Mama. „Dann weißt du dein Glück wieder mehr zu schätzen.“

Mama arbeitet in einer Abteilung mit Menschen, die psychische Probleme haben. Menschen, die so schrecklich traurig sind, dass sie nicht mehr leben möchten. Menschen, die so große Angst haben, dass sie sich nicht mehr aus dem Haus trauen. Oder Menschen, die so schlimme Dinge erlebt haben, dass sie einfach von heute auf morgen verstummen.

Klar, dagegen sind meine Sorgen lächerlich.

Und trotzdem – so ein Auftritt bei Heidi Klum wäre ehrlich der Wahnsinn. Und Sven und ein Pferd …

Ach. Mit dreizehn soll man eben träumen dürfen!

Nach dem Essen kommt Mama noch mal in mein Zimmer. Das macht sie eigentlich jeden Abend. Weil sie so viel Zeit in der Arbeit verbringt, ist es ihr wichtig, dass wir zwei uns zumindest nach Dienstschluss ausgiebig unterhalten. Sie lässt sich gähnend in den vanillefarbenen Sitzsack fallen und sieht das Poster mit dem Pferdefoto an. Anders als sonst fragt sie heute nicht nach der Schule. Auch meine Mädelsclique interessiert sie nicht.

„Toll, so ein Pferd. Oder?“, fragt sie stattdessen und reibt sich die Augen.

Ich werde stutzig. „Klar …“, murmle ich. „Du weißt doch, dass ich Pferde mag.“

Mama lächelt erleichtert. Dann kaut sie etwas unschlüssig auf ihrer Lippe herum. „Wie fändest du es denn, wenn wir so einen Pferdehof ganz in der Nähe hätten?“, platzt es endlich aus ihr heraus, und sie zwinkert mir so aufmunternd zu, als gäbe es etwas zu feiern.

Ich runzle die Stirn. Seit Jahren schon flehe ich meine Eltern an, endlich mal Urlaub auf einem Pferdehof zu machen. Aber Mama ist immer so kaputt, dass sie weit weg in den Süden will. Sonne und Meer. Ein Swimmingpool und gutes Essen. Urlaub auf dem Reiterhof ist das Letzte, was sie möchte.

„Sprichst du etwa von den Sommerferien?“, frage ich hoffnungsvoll.

Wenn sie jetzt Ja sagt, glaube ich tatsächlich an Feen. Dann schicke ich Sven noch heute eine SMS und morgen gehe ich direkt nach der Schule zu McDonald’s.

Aber Mama schüttelt den Kopf. Auf einmal sieht sie nachdenklich aus. Sie räuspert sich umständlich und schiebt sich eine braune Locke aus dem Gesicht.

„Laura, du bist doch schon ziemlich groß!“, sagt sie. „Fast erwachsen.“

Ich nicke. Es gibt Models, die mit dreizehn entdeckt werden. Klar brauchen die die Unterschrift der Eltern dafür. Aber auf den Fotos sehen sie plötzlich aus wie achtzehn.

„Und du bekommst ja mit, wie hart ich arbeite und wie wenig Zeit für dich und Papa bleibt.“

Ich nicke wieder.

„Ich habe heute einen Anruf erhalten aus Nest am Berg. Das ist ein kleiner Kurort in Brandenburg. Dort gibt es eine sehr angesehene Rehaklinik. Die suchen ganz dringend eine neue Oberärztin.“

Ich verstehe nur Nest. Begriffsstutzig sehe ich meine Mama an.

„Wir könnten von meinem Vorgänger das Haus übernehmen. Er hat mir schon Fotos auf den Computer geschickt.“ Plötzlich redet Mama wie ein Wasserfall. Voller Begeisterung richtet sie sich in meinem Sitzsack auf, die Müdigkeit scheint wie weggeblasen. „Das Haus ist supergemütlich und romantisch. Mit Garten und Blick auf den Wald. Fast wie aus einem Märchenbuch. Nest am Berg ist ganz idyllisch gelegen. Ich könnte zu Fuß zur Klinik, die Anlage ist nur ein paar Minuten entfernt. Geregelte Arbeitszeiten und in den Mittagspausen könnte ich immer heim. Papa könnte sein Arbeitszimmer im ersten Stock einrichten, mit Blick in die freie Natur. Und auf dem Klinikgelände gibt es sogar ein paar Pferde für die Reittherapie. Ich bin sicher, dass ich da was für dich organisieren kann. Du könntest nachmittags Reitstunden nehmen. Klar, du müsstest mit dem Bus in die Schule fahren. Und die ist eine halbe Stunde entfernt. Aber jetzt bist du ja auch mit der U-Bahn unterwegs. Ich bin sicher, du wirst ganz schnell Freunde finden. Nest hat vorletztes Jahr sogar einen Preis gewonnen. Als Blumendorf der Region – klingt doch irgendwie nett!“

Immer noch verstehe ich nur Nest. Aber so langsam dämmert mir, was Mama da sagt.

„Sprichst du davon, dass wir weggehen aus Berlin?“, frage ich leise. Damit habe ich nun am allerwenigsten gerechnet.

„Na ja“, auf einmal wirkt Mama doch wieder unsicher. „Entschieden ist es noch nicht. Aber Papa ist Feuer und Flamme für die Idee. Und dass ich von einem Leben auf dem Land träume und schon lange nach einer neuen Anstellung suche, das weißt du ja.“

Ja, das weiß ich. Aber wer bitte schön fragt mich? Immerhin findet mein Leben hier in Berlin statt! Meine Mädelsclique ist hier und meine Schule. Unsere Wohnung im dritten Stock.

Ich auf dem Land? Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.

Kein McDonald’s und kein H&M. Genauso gut könnten wir zum Mond auswandern.

Mein Blick gleitet zum Poster mit dem Pferd zurück.

Habe ich mir nicht eben ein Pferd gewünscht? Jetzt bietet Mama mir aus heiterem Himmel einen ganzen Stall voller Pferde an. Und trotzdem fühle ich mich kein bisschen glücklich!

Levis Jeans und Adidas Sneakers

„Ich hab dich ganz doll lieb, Laura!“ Sunny mit ihrer langen roten Mähne ist die dramatischste von uns vieren. Jetzt fängt sie tatsächlich zu heulen an und der schwarze Mascara verläuft unter ihren Augen. Echt peinlich vor den Möbelpackern. Aber dann beginnt auch die schlaksige Nele zu schniefen. Nur Vanessa wirkt gelassen wie immer. Sie hat extra für meine Verabschiedung ihre coole Nerdbrille aufgesetzt. Riesig groß ist die und passt farblich perfekt zu ihrem modischen Kurzhaarschnitt und dem schimmernden Lipgloss.

„Mädels!“, sagt sie und drängt die heulende Sunny beiseite, um mich ebenfalls an sich zu drücken. „Es bringt alles nichts. Laura muss ins Exil. Sobald eine von uns achtzehn wird und den Führerschein hat, holen wir dich wieder raus aus dem Kaff, Laura. Versprochen!“

Achtzehn. Das sind noch über vier Jahre. Keine Ahnung, ob ich vier Jahre an einem Ort ohne Starbucks überleben kann. Ich habe Nest am Berg gegoogelt. Es gibt nicht einmal einen Interneteintrag dazu.

Nur zur Rehaklinik habe ich was gefunden. „Ein Nest für die Seele“. Eine Klinik speziell für Kinder und Jugendliche mit Psychoproblemen.

„Wenn du was brauchst … Kosmetik, Klamotten, Modezeitschriften …“, Nele mustert mit prüfendem Blick meine Levis Jeans und die neuen Adidas Sneakers. Sie ist die kritischste von uns allen, was Mode betrifft. Wenn ihr was nicht gefällt, kann sie ziemlich gnadenlos sein. Aber ansonsten ist sie ein prima Kumpel. Nele beugt sich leicht zu mir herunter. Sie trägt das gepunktete H&M-Kleid. Wenn ich ehrlich bin, steht es ihr ganz gut. Trotzdem wünschte ich, ich hätte es entdeckt und nicht sie.

„Wir schicken dir jederzeit ein Paket in die Steppe“, redet sie weiter. „Mit allem, was du zum Überleben brauchst!“

Meine Mama spaziert soeben mit dem Hausmeister vorbei. „Übertreibt ihr nicht ein bisschen?“, fragt sie stirnrunzelnd und bleibt stehen. „Wir ziehen nicht ans Ende der Welt, sondern lediglich raus aufs Land. Wir haben dort ein ganzes Haus für uns alleine! Mit Garten! Kommt Laura doch besuchen. Nest ist nur eineinhalb Zugstunden weg von Berlin und ihr habt jetzt schließlich sechs Wochen Sommerferien. Etwas Frischluft schadet euch außerdem allen nicht. Nele, du siehst mal wieder aus, als wärst du gestorben. Und Vanessa, seit wann bitte brauchst du eine Brille?“

Nele schminkt sich immer ganz blass mit blutroten Lippen. Sie hat das auf einem Foto von Kate Moss abgeguckt.

Kate Moss wurde übrigens mit vierzehn auf einem Flughafen in New York entdeckt.

„Die Brille ist ein Accessoire!“, sagt Vanessa gekränkt. „Das ist total in, zumindest in London.“

„Ach so!“ Mama nickt verunsichert.

„Meine Damen!“ Mein Vater erscheint mit einem Blumentopf vor uns. Darin ist das welke Basilikum, das Papa seit Wochen auf unserem Küchenfenster zu Tode gießt. Dem Basilikum zumindest wird es in Nest am Berg bestimmt gut gefallen.

„Mädels, wir simsen!“, sage ich mit tränenerstickter Stimme.

Noch einmal umarmen wir uns alle.

„Vergiss nicht, heute Abend läuft wieder Germany’s next Topmodel!“, ruft Sunny mir hinterher und fährt sich etwas übertrieben durch ihre rote Mähne.

„Laura guckt in Zukunft lieber Bauer sucht Frau!“, ruft Vanessa mir spaßhaft hinterher.

Ich drehe mich noch mal zu meinen Freundinnen um. Da stehen sie: Nele, die hübsche Bohnenstange mit dem blonden Pferdeschwanz. Vanessa mit dem schwarz getönten Bubikopf und der ausgefallenen Brille. Und die fröhliche Sunny mit dem beneidenswert langen feuerroten Haar.

Meine braune Lockenpracht wird in der Gruppe fehlen.

Die Mädels werden mir fehlen.

Meine Clique eben.

Seufzend steige ich zu Mama und Papa in den Wagen. Ein letzter Blick auf den Fernsehturm. Berlin ist auf einmal Vergangenheit und wir folgen dem Möbelwagen die Straße hinunter.

„Ich glaube, das ist es!“, sagt Mama und parkt hinter dem Möbelwagen. In echt sieht das Haus viel weniger romantisch aus als auf den Fotos. Kleiner irgendwie und ein wenig verlassen. Aber wahrscheinlich liegt das an dem ungemütlichen Wetter hier. Seit einer halben Stunde regnet es unentwegt und in der Ferne hört man es gefährlich donnern. Man sieht nirgends einen Wald und auch keinen Berg. In Nest herrscht die reinste Nebelsuppe.

„Wirkt doch ganz niedlich“, murmelt Papa zuversichtlich. „Ich könnte mir ehrlich vorstellen, dass hier mein erster Bestseller entsteht.“

Wie gesagt ist mein Papa Kinderbuchautor. Aber seine Bücher verkaufen sich nicht so toll. Er wartet seit Jahren auf den Durchbruch.

„Und ich sehe mich schon Yoga im Garten machen mit Blick ins Grüne!“, sagt Mama aufmunternd.

Ich sage gar nichts. Was bitte soll ich hier? Der Ort ist noch kleiner, als ich befürchtet habe. Es gibt nur einen einzigen Laden weit und breit. Und in dessen Schaufenster stapeln sich gedrechselte Wanderstöcke.

Wanderstöcke, Birnenschnaps und Müsliriegel.

Ansonsten gibt es in Nest noch eine kleine Kirche, ein paar Bauernhöfe und etliche Wohnhäuser mit Gemüsebeeten. Die meisten der Häuser sehen echt baufällig aus. Nichts hier ist schick und frisch renoviert wie in unserer alten Straße in Berlin Mitte.

Am Holzzaun gegenüber ist ein Messingschild angebracht. „Pension Ruhesanft“. He, das klingt ja wie ein Friedhof!

Frustriert schnappe ich nach meinem Handy. Die Mädels warten bestimmt schon auf meinen ersten Bericht. Der erste Eindruck ist schließlich entscheidend. Moment mal!

Entgeistert starre ich auf mein Display. Tot. Nicht ein einziger Balken ist zu sehen. Entweder hat Nest am Berg das Mobilnetz noch nicht entdeckt – oder mein treues Handy hat sich mit dem Wegzug aus Berlin freiwillig selbst abgeschaltet.

„Hat euer Handy Empfang?“, frage ich meine Eltern verzweifelt.

Mama, die immer noch reglos auf dem Fahrersitz hockt, kramt in ihrer Handtasche nach ihrem Telefon. „Nein“, murmelt sie nach einem kurzen Blick auf ihr Telefon. „Mein Kollege hat schon angedeutet, dass es hier im Kurort ein Funkloch gibt. Aber auf dem Dachgarten der Klinik soll der Empfang ganz gut sein.“

Ich starre meine Mutter sprachlos an. Was will ich denn mit Handyempfang auf dem Dach einer Klinik? So langsam grenzt das hier an eine Entführung.

„Du kannst doch Mails schreiben“, tröstet Papa mich und dreht sich zu mir um. „Spätestens in einer Woche haben wir Internetzugang. Außerdem schauen wir jetzt erst mal in aller Ruhe unser neues Zuhause an. Du musst doch nicht permanent mit deinen Mädels simsen.“

Er steigt aus dem Auto aus und hält mir die Tür auf. Der Regen nieselt mir in den Kragen. In aller Ruhe das Haus anschauen.

Ruhesanft.

Ruhe ist das Letzte, was ich momentan möchte.

„Komm, jetzt zieh nicht so ein Gesicht!“ Mama knufft mich freundschaftlich in die Seite. „Bis wir zurückkommen, haben die all deine Sachen ausgepackt! Dein neues Zimmer entsteht, während wir gemütlich die Gegend erkunden. Du kapierst überhaupt nicht, was für ein Glück du hast!“

Mama hat ja recht. Es ist wirklich ein Luxus, dass die Klinik den kompletten Umzug für uns bezahlt. Und nicht nur den Umzug, sondern auch das Auspacken und Einräumen der Sachen. Wir müssen keinen Finger rühren. Die Leute vom Umzugsdienst bauen alle Möbel dort auf, wo wir sie haben möchten. Sie haben vorher Fotos von allen eingerichteten Zimmern der Berliner Wohnung gemacht. Und genau so richten sie die Zimmer in unserem Haus in Nest wieder ein. Exakt jetzt. In dieser Minute.

Mama und Papa haben mir den schönsten Raum im ganzen Haus überlassen. Das Zimmer im ersten Stock mit eigenem Balkon. Hier kann ich mir bei gutem Wetter einen Liegestuhl ins Freie stellen. Mich bräunen bis zum Umfallen. Wenn irgendwann mal die Sonne scheint!

Ich drücke mich noch enger an Mama, die einen aufgespannten Regenschirm über uns hält. Wir laufen durch den Nieselregen rüber zur Klinik. Nach nicht mal fünf Minuten haben wir das Klinikgelände erreicht. Wir flüchten in die warme Eingangshalle.

„Na!“ Mama schüttelt den Regenschirm aus. „Zu viel versprochen? Das wirkt hier doch überhaupt nicht wie eine Klinik. Sondern eher wie ein gemütliches Hotel!“

Das stimmt. Überall hängen bunte Bilder an den Wänden und direkt in der Mitte der kleinen Halle plätschert ein Zimmerspringbrunnen fröhlich vor sich hin. Es riecht nach Pfirsich und frisch gebügelter Wäsche. Nirgends rasen gehetzte Krankenschwestern herum, nur aus einer angelehnten Tür hört man es heiter lachen. Hinter dem Holztresen sitzt eine junge Frau und löst gedankenversunken ein Kreuzworträtsel.

„Ach, Frau Doktor Siedemann!“ Sie klappt ihr Heft zu und kommt mit einem breiten Lächeln hinter dem Tresen hervor. „Yasmin“ steht auf einem herzförmigen Button auf ihrer Bluse. Yasmin reicht meiner Mutter die Hand. „Sie wollten doch erst morgen anfangen, Frau Doktor Siedemann, oder?“

Mama nickt. „Ja. Aber ich will meiner Tochter die Klinik zeigen, solange die Möbelpacker im Haus drüben sind. Vor allem interessiert uns der Pferdestall. Meine Tochter ist eine ziemliche Pferdenärrin!“

Yasmin sieht mich vielsagend an. „Das passt ja prima!“, sagt sie. „Bestimmt lässt Frau Reinicke dich auf ihren Lieblingen reiten. Natürlich noch nicht auf Peppi. Der ist zu jung. Aber ich denke mal, Melody könnte zu dir passen.“

Keine Ahnung, wer Frau Reinicke ist. Aber reiten lässt die mich ganz bestimmt nicht.

„Laura kann gar nicht reiten“, erklärt Mama schnell. „Wir haben bisher ja in Berlin gelebt. Und da ist das mit Pferden ein bisschen schwierig.“

„Ach so!“ Yasmin sieht auf einmal mitleidig aus.

„Aber die Pferde anschauen, das kannst du ja schon mal!“, schlägt sie vor. „Wenn du willst, begleite ich dich zum Stall hinüber.“ Sie wendet sich wieder meiner Mama zu. „Frau Doktor, der Chef ist momentan im Aufenthaltsraum. Bestimmt freut er sich, Sie heute schon begrüßen zu dürfen.“

„Gut. Wenn ich euch alleine lassen kann, werfe ich mal einen Blick zu den Kollegen!“, entscheidet Mama.

In dem Moment rast ein Schatten an uns vorbei.

„Mario! Wo willst du denn hin? Draußen regnet es! Nimm bitte deine Regenjacke mit!“, ruft Yasmin ihm mahnend nach.

Der Junge bleibt wie angewurzelt stehen. Ehrlich gesagt wirkt er ein bisschen komisch. Die Augen stehen zu weit auseinander und sein Mund ist aufgerissen, als wäre er ein Fisch. Außerdem stehen seine blonden Haare in alle Richtungen ab. Für diesen Haarschnitt wurde der Begriff „Sturmfrisur“ erfunden.

Als dieser Mario mich entdeckt, öffnet sich sein breiter Mund noch etwas weiter.

Jetzt sieht er ehrlich aus wie ein Fisch. Oder ein Breitmaulfrosch. Irgendwie seltsam.

„Das ist Mario“, stellt Yasmin uns vor. „He, ihr dürftet im gleichen Alter sein! Du bist doch auch dreizehn, Laura, oder?“

„Ich bin bald vierzehn!“, stelle ich kühl fest. „In zehn Tagen habe ich Geburtstag.“ Mir egal, wie alt dieser Junge ist. Ich suche mir meine neue Clique doch nicht in der Klapse!

Allerdings sieht Mario das offenbar anders. Er setzt sich urplötzlich wieder in Bewegung, ist mit vier Schritten bei mir, und dann geht alles ganz schnell. Mario umfasst mich ungelenk wie einen Medizinball, quetscht mich an sich und gibt mir einen feuchten Schlabberkuss auf die Wange. „Super-Mario ist in Laura verliebt!“, kreischt er begeistert, lässt mich schlagartig wieder los und düst davon, als hätte es ihn nie gegeben.

Jetzt ist es mein Mund, der offen steht. Sprachlos starre ich dem davonrennenden Jungen hinterher. Mein Puls geht schnell, mein Gesicht und die Ohren glühen. Wie peinlich war das denn?

Aber Mama und diese Yasmin scheinen gar nichts Sonderbares daran zu finden.

„Wie schön!“, sagt Yasmin erheitert. „Du hast schon einen ersten Verehrer in Nest. Dabei ist Mario ansonsten ziemlich schüchtern. Mich hat er noch nie geküsst. Aber gut, das kann ja noch kommen.“

Angeekelt wische ich mir über die Wange. Ich lasse mich doch nicht einfach von einem wildfremden Typen küssen!

„Mario hat das Downsyndrom“, sagt Mama und klopft mir lächelnd auf die Schulter. „Menschen mit Downsyndrom sind oft sehr emotional.“

Mir doch egal, was für ein Syndrom der Junge hat. Außerdem gibt ihm das noch lange nicht das Recht, einfach über mich herzufallen. Meine Laune ist inzwischen am Tiefpunkt angelangt.

„Jetzt komm mal mit mir mit!“, bietet Yasmin versöhnlich an. „Wir lassen deine Mama ihren neuen Chef begrüßen. Hier, Frau Siedemann. Ihr Namensschild.“ Sie reicht meiner Mutter ein Herz mit ihrem Namen darauf. Dann folge ich Yasmin etwas unwillig hinaus in den Nebel. Der Regen hat zum Glück wieder aufgehört, aber der Boden ist ziemlich matschig. Meine neuen Adidas Turnschuhe sind in null Komma nichts eingedreckt.

„Bestimmt wird es euch in Nest gefallen!“, plappert Yasmin fröhlich vor sich hin und merkt gar nichts von meinem Frust. „Ich bin vor drei Jahren wegen dem Job hergezogen, ich komme ursprünglich auch aus Berlin. Aber inzwischen fühle ich mich richtig zu Hause hier. Es gibt so tolle Wanderwege in der Region. Das wird dir gefallen.“

Wandern? Welcher Planet hat Yasmin denn in mein Mädchenuniversum geschickt? Ich mag keine Ruhe und ich will nicht wandern. Ich will nicht von einem gleichaltrigen Breitmaulfrosch abgeschleckt werden und ich möchte auf der Stelle wieder Handyempfang haben. Ich will nicht in einem Landstrich leben, in dem man Gummistiefel und Wanderstöcke braucht. Und in einem Ort, der so ausgestorben ist, dass es einen gruselt.

„Einmal im Monat ist in der Kirche ein Mittelalterkonzert. Das ist ein richtig toller Chor. Der wird dir gefallen.“

Yasmin redet unbeirrt weiter.

Mittelalterkonzert? Es wird immer schlimmer.

Yasmin und ich sind inzwischen hinter dem Klinikgebäude angelangt und nutzen den Trampelpfad in Richtung Weide. Links kommen wir an einem eingezäunten Gartenstück vorbei. Holzbänke und Tische stehen hier draußen. Aber wegen dem ungemütlichen Wetter ist natürlich niemand da. Rechts gibt es eine Wiese mit Apfelbäumen. Noch ein paar Schritte bergab, dann stehen wir endlich vor dem Stall mit dem Anbau und der Koppel.

„Frau Reinicke ist heute auf Hausbesuch“, sagt Yasmin. „Aber sie hat sicher nichts dagegen, wenn ich dir die Pferde kurz zeige.“

Sacht schiebt sie den Bretterverschlag auf.

Und das ist er. Der erste Moment in meinem Leben, in dem ich einen richtigen Pferdestall betrete. Obwohl ich schon immer verrückt nach Pferden war, hat sich in Berlin einfach nie eine Gelegenheit ergeben. In der Weihnachtszeit war ich immer auf dem Jahrmarkt am Alexanderplatz – in der runden Glitzerarena beim Ponyreiten. Aber das hier ist völlig anders. Das hier ist absolut echt!

Ein Geruch nach Heu und Pferd lullt mich ein. Schlagartig fühle ich mich mit Nest am Berg versöhnt. Ein Pferdestall gleich um die Ecke! So was wäre in meiner alten Heimat undenkbar. Vor Aufregung wird mir einen Moment ganz schwindelig.

„Hallo!“ Vorsichtig nähere ich mich dem Gatter. Ein wunderschöner Fuchs mit einer beeindruckenden rotbraunen Mähne schält sich aus dem dämmrigen Licht des Stalles heraus. Stolz, aber freundlich blickt das Pferd mich an.

„Das ist Gulliver!“, sagt Yasmin leise und streichelt dem selbstbewussten Wallach zärtlich durch die Mähne. „Nebenan ist Melody untergebracht. Sie ist das gutmütigste Pony, das man sich nur vorstellen kann. Schau dir mal die witzigen Punkte an. Irgendwie niedlich, oder?“

Als könnte Melody verstehen, was Yasmin über sie sagt, kommt das gescheckte Pony zutraulich an den Verschlag getrottet. Niedlich ist gar kein Ausdruck dafür! Dieses Pony ist echt zum Verlieben! Aber was ist das? Hinter Melodys Rücken regt sich was. Ein winziger Kopf erscheint, große Kulleraugen blicken unbekümmert zu mir empor. Das süßeste Fohlen, das man sich nur vorstellen kann, stakst neugierig auf mich zu und beschnuppert frech meine Hände. Als Yasmin meinen verzückten Gesichtsausdruck sieht, lacht sie auf. „Das hier ist unser Klinikliebling Peppi. Er ist Melodys Nachwuchs, wie man an seiner Fellfarbe unschwer erkennen kann. Seit wir das Fohlen im Stall haben, möchte auf einmal jeder zur Reittherapie. Dabei wollen sie in Wahrheit alle nur mit Peppi schmusen. Wenn einer von den Patienten Sorgen hat, sich einsam fühlt oder verzweifelt ist, kannst du sicher sein, dass er sich zuallererst an Peppi wendet. Peppi ist sozusagen der Teddy der Station. Er kann richtig frech sein, das wirst du noch merken!“

Das gescheckte Fohlen ist aber auch wirklich zu süß. Seine Schnauze fühlt sich unglaublich weich und warm an meinen Fingerspitzen an. Kann man sich in ein Fohlen verknallen? Offensichtlich ja, denn am liebsten würde ich den lustigen Peppi sofort mit nach Hause nehmen! Peppi bemerkt meine Begeisterung. Zufrieden schnaubt er auf und sieht seine Mutter so erwartungsvoll an, als würde er ein Lob erhoffen. Das Lob bekommt er stattdessen von mir. Sanft streichle ich ihm durch sein seidiges Fell. Ich könnte stundenlang bei dem süßen Racker und seiner Mutter bleiben. Alles andere scheint mir auf einmal völlig unwichtig.

„Komm doch morgen Nachmittag gegen drei wieder vorbei!“, unterbricht Yasmin meine Tagträumerei. „Dann ist Frau Reinicke auf jeden Fall da und kann dir wegen Reitunterricht weiterhelfen.“

Morgen um drei. Das sind noch über vierundzwanzig Stunden …

„Ich muss leider an die Anmeldung zurück!“, drängt Yasmin schon wieder zum Aufbruch. „Und allein darf ich dich nicht bei den Pferden lassen. Gehen wir zurück zur Klinik. Ich mache dir einen Kakao. Wir haben im Aufenthaltsraum eine richtig gute Maschine.“

„Tschüss, bis morgen!“, flüstere ich den Pferden zu. Ein letzter sehnsüchtiger Blick auf Peppi und Melody. Und schon sind wir wieder auf dem Trampelpfad in Richtung Klinikgebäude.

Poncho und Gesundheitsschuhe

Als ich aufwache, weiß ich erst mal gar nicht, wo ich bin. Das Zimmer ist das gleiche wie immer, aber das Licht ist anders. Außerdem der Geruch und die Geräuschkulisse. Es stinkt nach Mist und draußen quält sich unter tödlichem Lärm ein Traktor vorbei. Klingt echt, als wäre es ein Panzer. Willkommen in meinem neuen Leben in Nest am Berg! Mitleidig starrt mich Gisele Bündchen von der Wand herab an.

Dann sehe ich zu meinen Pferdeskulpturen auf der Kommode hinüber. Die Möbelpacker haben die Sammlung wirklich exakt so aufgebaut wie in meinem alten Zimmer. Ganz links das tänzelnde Glaspferdchen, das Sunny mir aus dem Zypernurlaub mitgebracht hat. Daneben die italienische Reiterskulptur aus Messing vom Flohmarkt. Das schwedische Pony aus Porzellan hat Oma mir mal zu Weihnachten geschenkt und den Pferdekopf aus Ton habe ich selbst im Unterricht getöpfert.

Aber was ist meine Sammlung schon gegen ein richtiges, echtes, lebendiges Pferd? Ich muss an den Moment zurückdenken, als Gulliver sich gestern aus dem Schatten des Stalls auf mich zubewegt hat. Ein fast magischer Augenblick war das gewesen. Für einen Herzschlag war die Zeit stehen geblieben. Am liebsten hätte ich mich sofort auf Gullivers Rücken geschwungen und wäre losgaloppiert.

Aber das ist natürlich Unsinn. Jemand, der sein Leben lang nur im Kreis geritten ist, kann nicht einfach aufspringen und durch die Gegend reiten.

Aber heute um drei erfahre ich mehr. Vielleicht kennt diese Frau Reinicke ja wirklich jemanden, der mir alles beibringen kann. Vielleicht habe ich Glück und es gibt einen Reitlehrer in der Gegend.

Mit einem Sprung bin ich aus dem Bett und auf dem Weg nach unten.

Papa sitzt schon auf unserer neuen Terrasse und hat Frühstück gemacht. „Herrlich, oder?“, fragt er und schlürft an seinem Kaffee.

„Meinst du den Mist oder den Lärm?“, antworte ich und lasse mich auf den freien Stuhl neben ihm plumpsen.

Der Traktor verschwindet endlich und es wird wieder ruhig. Nur im Apfelbaum neben der Hollywoodschaukel zwitschert ein einsamer Vogel.

„Prinzessin, kannst du dich denn überhaupt nicht freuen? Schau doch mal die gigantische Aussicht, die wir von hier aus haben!“

Erst jetzt fällt es mir auf: Tatsächlich lacht die Sonne vom Himmel. Vom Garten aus hat man einen endlosen Blick über ein Mohnblumenfeld. Am Horizont bewegen sich sanft die Wipfel des Waldes. Rechts erhebt sich ein mächtiger Berg, an den sich unser kleines Dorf schmiegt wie eine schlummernde Katze. Klar. Nest am Berg. Irgendwo muss der Name ja herkommen.

„Mama ist schon vor einer Stunde in die Klinik!“, sagt Papa und schiebt mir den Brotkorb zu. „Und ich fange auch gleich mit der Arbeit an. Seit wir hier angekommen sind, fühle ich mich richtig inspiriert. Die Ideen überschlagen sich in meinem Kopf. Hier finde ich endlich die Ruhe, einen Bestseller zu schreiben.“

Mein Blick gleitet über den Minutenzeiger auf Papas Armbanduhr. Gerade mal halb zehn. Noch über fünf Stunden bis zu meinem Treffen.

Toll. Meine Eltern machen Karriere, während ich hier versauere. Was die Mädels wohl gerade machen? In den Ferien treffen wir uns fast jeden Tag am KaDeWe. Das ist das größte Kaufhaus Berlins und es gibt dort unglaublich angesagte Mode. Natürlich viel zu teuer für uns. Aber es hindert einen ja niemand daran, die Sachen zum Spaß anzuprobieren.

„Was hältst du von einem Roman über einen Jungen, der nur in Reimen spricht?“ Eine Frage holt mich ins Hier und Jetzt zurück.

Habe ich es schon erwähnt? Mein Papa ist ein erfolgloser Kinderbuchautor.

„Dieser Junge lebt bei richtig fiesen Verwandten in der Dachkammer. Eines Tages entdeckt er, dass er zaubern kann und in Wahrheit die Welt retten soll“, spinnt mein Papa seine noch nicht geschriebene Geschichte weiter.

„Klingt irgendwie nach Harry Potter“, murmle ich.

„Was?“ Papa guckt mich entgeistert an. „Aber Harry Potter hat ja wohl nicht in Reimen gesprochen.“

Ich glaube, auf Papas Bestseller müssen wir noch warten.

„Und was machst du heute?“, fällt Papa endlich ein. Er guckt mich ganz interessiert an, als gäbe es in Nest am Berg tausend Möglichkeiten, seinen Tag zu füllen.

„Erst mal suche ich ein Netz“, sage ich und unterdrücke ein Gähnen.

„Du willst fischen gehen?“, fragt Papa perplex.

„Quatsch!“ Jetzt muss ich doch lachen. „Ich will telefonieren. Mit den Mädels. Die haben ja seit meiner Abreise gestern nichts mehr von mir gehört.“

„Auf dem Dach der Klinik soll man ganz gut mit dem Handy telefonieren können!“, fällt Papa ein.

Ich nicke. „Ja, das hat Mama schon gesagt.“

„Ist doch super!“, sagt Papa zufrieden und steht auf. „Dann wissen wir ja alle, wie wir unseren Tag sinnvoll nutzen können.“

„Hallo, Laura!“, sagt die fremde Frau, als ich mit hängendem Kopf an ihrem Zaun vorbeischlurfe. Verdutzt drehe ich mich zu ihr um. Offenbar ist das die Besitzerin der Pension Ruhesanft. Ehrlich gesagt ist ihr Anblick ein wenig befremdlich. Sie trägt ziemlich verfilzte Rastazöpfe, obwohl sie bestimmt fast vierzig ist. Außerdem steckt sie in Klamotten, die kein Model der Welt freiwillig tragen würde. Ein schlabbriger selbst gehäkelter Poncho, eine viel zu enge Leggins im Farbton Wühlmausgrau und plumpe Gesundheitsschuhe.

So habe ich mir die Besitzerin eines Hotels nicht gerade vorgestellt.

„Woher wissen Sie denn meinen Namen?“, frage ich unsicher.

„Na ja, so oft bekommen wir keine neuen Nachbarn!“, sagt sie und grinst mich an. „Ich bin Helene. Helene Schneider. Meiner Familie und mir gehört das olle Hotel hier. Wir kommen übrigens auch aus Berlin. Hier in Nest haben wir die Ruhe und Inspiration gefunden, um endlich unseren Traum von einer eigenen Pension zu erfüllen.“

Mir klappt die Kinnlade runter. Gibt es hier auch irgendjemanden, der in Nest geboren ist? Wahrscheinlich nicht. Im Biounterricht habe ich mal das Wort „Nestflucht“ gelernt. Daran muss ich jetzt denken. Während alle echten Nestler offenbar auf und davon sind, kommen lauter sonderbare Berliner, um hier Inspiration und Ruhe zu finden.

„Meine Kinder wirst du auch noch kennenlernen!“, sagt Helene vielversprechend. „Ich habe zwei Zwillingsjungs und eine Tochter. Sie sind alle furchtbar nett.“

Jetzt hat sie doch mein Interesse geweckt. Inzwischen bin ich dankbar für jeden Menschen in meinem Alter. Beim Frühstücken habe ich sogar an den sonderbaren Super-Mario gedacht. Ob ich den Breitmaulfrosch auch irgendwann wiedersehen werde?

„Die Zwillinge sind vier. Und unsere Tochter ist bald ein Jahr alt. Vielleicht willst du mal babysitten bei uns?“, holt Helene Schneider mich zurück in die triste Realität. Wäre ja zu toll gewesen, wenn sie zwei fünfzehnjährige Zwillingssöhne und eine vierzehnjährige Tochter gehabt hätte. Eine Tochter, die wie ich Model werden will und Pferdeposter sammelt.

„Schau doch morgen Nachmittag mal zum Tee vorbei. Es gibt selbst gebackenen Kuchen“, lädt unsere Nachbarin mich ein, als ich mich verabschiede. Selbst gebackenen Kuchen. Ich denke an Starbucks und könnte schon wieder heulen.