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Der Klang der Geschichte zwischen den Medienrevolutionen des beginnenden und des endenden 20. Jahrhunderts. Wie klangen Städte und Fabriken zu Beginn und am Ende des 20. Jahrhunderts? Wie entwickelten sich Aufzeichnungsmedien? Wie unterscheiden sich der Erste und der Zweite Weltkrieg akustisch? Wie wurde und wird mit Tönen Politik gemacht? Welche Schlager, Kampflieder und Hymnen haben sich in unserem Gedächtnis verewigt? Hatte die DDR einen anderen Klang als die BRD? Welche Lieder und Melodien bestimmen das Selbstverständnis von Menschen, Gruppen und Nationen? Wie entwickelte sich die akustische Überwachung? Einen Großteil unserer Orientierung in der Welt gewinnen wir über das Hören. Das Ohr nimmt vor allem den emotionalen Aspekt einer Information auf. Manche Geräusche sind lebenslang im Unterbewusstsein gespeichert. Klänge können Erinnerungsorte sein und Identität stiften. Musik kann aufwühlen und erregen, sie kann Widerstand erzeugen, mit ihr kann aber auch gefoltert werden. Dieser Band thematisiert die Verfolgung sogenannter »entarteter Musik", unvergessliche Rundfunkreportagen und zentrale Ansprachen des Jahrhunderts ebenso wie die Geschichte des Hörspiels, musikalische Schlüsselwerke der Moderne, Werbejingles, Filmmusiken, Fluglärm und den verführerischen Klang von Stöckelschuhen.
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Seitenzahl: 1252
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Sound der Zeit
Geräusche, Töne, Stimmen1889 bis heute
Herausgegeben vonGerhard Paul und Ralph Schock
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen 2014
www.wallstein-verlag.de
Vom Verlag gesetzt aus der Aldus und der Frutiger
Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, SG-Image
unter Verwendung folgender Fotografie: Die Ethnologin Frances Densmore nimmt die Stimme des Piegan-Häuptlings mit einem Phonographen am 2. Februar 1916 im Smithsonian auf
© Slg. G. Paul – Library of Congress
Druck und Verarbeitung: Pustet, Regensburg
Lithografie: Schwab Scantechnik GmbH, Göttingen
ISBN (Print) 978-3-8353-1568-6
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2688-0
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2689-7
Einleitung
1889 bis 1919
Soundgeschichtliche Gründerzeit. Klanglandschaften der Jahrhundertwende und des Ersten Weltkrieges
JAN-FRIEDRICH MISSFELDER
Verklungenes und Unerhörtes. Klangkulturen des 19. Jahrhunderts
STEFAN GAUSS
Der Sound aus dem Trichter. Kulturgeschichte des Phonographen und des Grammophons
PETER PAYER
Signum des Urbanen. Geräusch und Lärm der Großstadt um 1900
MARTIN KOHLRAUSCH
Kaiser-Sound. Wilhelm II. auf frühen Tondokumenten
TOBIAS WIDMAIER
Heil dir im Siegerkranz. Patriotisches Liedgut im Deutschen Kaiserreich
PETER PAYER
Es ist Zeit, dass wir auf Abwehr sinnen! Lärmschutz im frühen 20. Jahrhundert
HEINZ HIEBLER
Caruso auf Platte. Die Geschichte der Tonspeicherung und der Tonträger
MELANIE UNSELD
Le Sacre du Printemps. Ein Schlüsselwerk der musikalischen Moderne
GERHARD PAUL
Trommelfeuer aufs Trommelfell. Der Erste Weltkrieg als akustischer Ausnahmezustand und die Grenzen der Reproduktion
RALPH SCHOCK
gadji beri bimba / glandridi lauli lonni cadori. Lautpoesie von Hugo Ball bis Bas Böttcher
1919 bis 1933
Klangwelten der Moderne. Die Roaring Twenties
WOLFGANG RATHERT
Fabriksirenen, Nebelhörner, Dampfbootpfeifen. Die Klangwelt der Moderne und das Geräusch
HANS-ULRICH WAGNER
Achtung, Aufnahme! Mikrofonberufe in der Geschichte des Rundfunks
CLAUDIA BULLERJAHN
The Jazz Singer. Der neue Klang des Tonfilms
CLAUDIA SCHMÖLDERS
Frauen sprechen hören. Aufstieg einer Klanggestalt
RALPH SCHOCK
Rumm rumm haut die Dampframme. Großstadtlärm im Spiegel der Literatur
CAROLIN STAHRENBERG
Roaring Twenties. Die populäre Musik der 1920er Jahre
DANIEL MORAT
Die Sinfonie der Großstadt. Berlin und New York
HANNS-WERNER HEISTER
Vorwärts und nicht vergessen. Politische Kampflieder
1933 bis 1945
(Zwangs-)Beschallung und Stille. Klanglandschaften der 1930er und 1940er Jahre
CORNELIA EPPING-JÄGER
LautSprecher Hitler. Über eine Form der Massenkommunikation im Nationalsozialismus
JULIANE BRAUER
… so machtvoll ist der Heimatlieder Klang. Musik im Konzentrationslager
LUTZ NEITZERT
Muzak. Funktionelle Musik, Klangtapeten und Zwangsberieselung im öffentlichen Raum
SIGRID FALTIN
La Paloma. Die Grande Dame der Popmusik
MARTINA HESSLER
Oh the humanity. Herbert Morrisons Radioreportage vom Absturz der Hindenburg in Lakehurst
INGE MARSZOLEK
Schienenklänge – Lokgesänge. Soundkosmos Eisenbahn
HANNS-WERNER HEISTER
»Entartete Musik«. Die Verfolgung moderner, jüdischer und linker Musik
CONRAD PÜTTER
Hier ist England. Der Ätherkrieg gegen das »Dritte Reich«
DIETMAR SÜSS
Warnsignale des Todes. Fliegeralarm und Luftschutzsirenen
BERND ULRICH
Der Krieg – ein rücksichtsloses Geräusch. Der Lärm des Zweiten Weltkriegs
CLAUDIA HELMS
Tönende Wochenschau. Die Musik der Deutschen Wochenschau
ANNELIES JACOBS / KARIN BIJSTERVELD
Der Klang der Besatzungszeit. Amsterdam 1940 bis 1945
GERHARD PAUL
Wagners Walkürenritt. Aus dem Orchestergraben auf das Schlachtfeld des (post-)modernen Krieges
RALPH SCHOCK
Sinnlos verlorene Liebesmüh für Deutschland. Thomas Manns BBC-Reden: Deutsche Hörer!
JÖRG KOCH
Davon geht die Welt nicht unter. Die musikalische Ertüchtigung der »Volksgenossen«
BERND POLSTER
Sound der Freiheit. Swing und »Swingjugend« im Nationalsozialismus
KARL-HEINZ GÖTTERT
Wollt ihr den totalen Krieg? Der Lautsprecher und die Medialisierung der Stimme des Politikers
CLAUDIA SCHMÖLDERS
Freislers Stimme. Vernichtungsrhetorik vor dem Volksgerichtshof 1944
1945 bis 1949
Nachhall und neuer Sound. Klanglandschaften der Nachkriegszeit
HANNS-WERNER HEISTER
Neue Musik nach dem Zweiten Weltkrieg. Ordnung oder Auflösung der Elemente und Engagement
WOLFGANG RUMPF
Music in the Air. AFN: neue Musik, neue Radiokultur, neues Lebensgefühl
HANS-ULRICH WAGNER
Radiomeldungen. Von Seewetterberichten, Suchmeldungen und Verkehrsnachrichten
1949 bis 1989
Soundrevolutionen und Ätherkrieg. Klanglandschaften einer gespaltenen Welt
ADA BIEBER / GÜNTER HELMES
Von Trizonesiern, Konjunkturrittern und Herzensbrechern. Der Schlagersound der 1950er Jahre
THOMAS GOLL
Die Partei, die Partei hat immer recht! Das politische Lied in der DDR
HANS-ULRICH WAGNER
Träume. Die Geschichte des Hörspiels
OLAF STIEGLITZ
Tor, Toor, Toor, Tooooor. Sportreportagen im Radio
HERMANN KURZKE
Deutschland, Deutschland – aus Ruinen. Zwei deutsche Hymnen
STEFAN FRICKE
John Cage. Die Stille und die Ewigkeit
KARIN HARTEWIG
Von toten Punkten und der wilden Frische von Limonen. Der Klang der Marken
MATTHIAS S. FIFKA
Rock around the clock. Die Eroberung Europas durch die Rockmusik
KARIN HARTEWIG
Klack, klack, klack. Der erotische Klang der Stöckelschuhe
HANS-HERMANN HERTLE
Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten! O-Töne und Reportagen zum Mauerbau
ECKART D. STRATENSCHULTE
Lasst euch nicht verhetzen! Der Lautsprecherkrieg in Berlin
MARK BRINK
Düsentrieb und Überschall. Der Himmel als Kloake und die Entstehung des Bürgerprotests gegen Fluglärm
ANDREAS W. DAUM
Ich bin ein Berliner. John F. Kennedys Ansprache vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin
SIBYLLE MACHAT
I have a dream. Martin Luther Kings Rede vom 28. August 1963 in Washington
WOLFGANG BIEDERSTÄDT
We shall overcome. Die Lieder der Bürgerrechtsbewegung von Joan Baez und Bob Dylan
DETLEF SIEGFRIED
Wild Thing. Der Sound der Revolte um 1968 451
KATHRIN FAHLENBRACH
Ho Ho Ho Chi Minh! Die Kampfschreie der Studentenbewegung
GERHARD PAUL
In einem stillen Land. Soundscape DDR
HANS-JOACHIM ERWE
Je t’aime. Soundtrack der »sexuellen Revolution«?
GERHARD PAUL
Taa-taa, ta-ta-ta-taaa – Tatü tata. Sound-Logos des Fernsehens
DIETRICH HELMS
Thriller. Das erfolgreichste Album »aller Zeiten«
INGO GRABOWSKY
Sonderzug nach Pankow. Udo Lindenberg und die deutsch-deutsche Sehnsucht
AXEL DOSSMANN
Wir sind das Volk! Von der Stimmgewalt im Herbst 1989 – und von Volker
1990 bis heute
Geräuschkulissen – digitaler Sound – Loudness War. Klanglandschaften des digitalen Zeitalters
ROLF GÖSSNER
Abhören und Lauschen. Zur Entwicklung der akustischen Überwachung
KAI BRONNER
Audio Branding. Von tönenden Werbebotschaften, klingenden Logos und Markensounds
HEINER STAHL
Klanginseln – Hintergrundrauschen – Selbstmischungen. Der Sound der postmodernen Großstadt
STEPHAN WEICHERT
Oh, my god! Klanglandschaft 9 / 11
M. J. GRANT
Rein, schön, furchtbar. Musik als Folter
FRAUKE BEHRENDT
Klingeling … klingeling … klingeling … Telefon! Zur Kulturgeschichte des Klingeltons
KARSTEN LICHAU
… währenddessen auf zwei Minuten jeder Ton und jede Bewegung aussetzt. Die Schweigeminute als akustische Inszenierung politischer Einheit
SIEGLINDE GEISEL
Unerhört. Veränderungen des Geräusch- und Lärmempfindens
Anhang
Hörbeispiele im Internet
Ausgewählte Literatur
Autorenverzeichnis
Personenregister
Ortsregister
Einleitung
Der Teufel kam hinauf zu Gott
Und brachte ihm sein Grammophon
Und sprach zu ihm, nicht ohne Spott
Hier bring ich Dir der Sphären Ton
(Christian Morgenstern)
In seiner Vorlesung über das Wesen der Religion widmete der Philosoph Ludwig Feuerbach den Sinneseindrücken bei der Ausprägung des religiösen Gefühls eine längere Betrachtung: »Hätte der Mensch nur Augen und Hände, Geschmack und Geruch, so hätte er keine Religion, denn alle diese Sinne sind Organe der Kritik und Skepsis. Der einzige sich im Labyrinth des Ohres ins Geister- oder Gespensterreich der Vergangenheit und Zukunft verlierende, der einzige furchtsame, mystische und gläubige Sinn ist das Gehör.« Es gebe Völker, »bei welchen kein anderes Wort für Gott existiert als der Donner«; das Trommelfell sei der Resonanzboden des religiösen Gefühls, das Ohr insgesamt die »Bärmutter der Götter« und damit das »Organ der Angst«. Doch das Ohr ist nicht nur der mediale Kanal, mit dem die Götter Furcht und Schrecken verbreiteten, auch die Menschen nutzten ihn mit der gleichen Absicht. Sie schüchterten den Gegner ein durch lautes Rufen oder Schlagen der Speere auf die Schilde (wodurch sie zugleich ihre eigene Angst vertrieben). Julius Cäsar beschrieb in de bello gallico respektvoll die Schlachtgesänge der Germanen (barditus), James Fenimore Cooper das sprichwörtlich gewordene Huronengebrüll.
Lärm, dem man sich nicht entziehen kann, war für Dante eine der schlimmsten vorstellbaren Foltern überhaupt. Im Kapitel Inferno in der Göttlichen Komödie besteht eine der Strafen der Verdammten darin, ewig an eine Glocke geschmiedet zu sein, deren gewaltige Schläge dem Pönitenten unaufhörlich durch Mark und Bein dröhnen. Auch jeder Besucher eines Rockkonzerts weiß, wovon Dante schreibt. Ohrenbetäubender Lärm ist eben nicht nur Folter; es kann auch höchst mitreißend sein, das Wummern einer Bassgitarre, das Stampfen eines Schlagzeugs in jeder einzelnen Körperzelle zu spüren.
Das Ohr nimmt noch anderes auf. In seiner Vorrede zu Hölderlins Hyperion schreibt Dietrich E. Sattler: »Das Gesagte gilt einem anderen Deutschland, jenseits von Herrschaft, Gerede und Lärm.« Das Ohr also auch als nicht zu verschließendes Einfallstor läppischer Banalitäten, die vom Eigentlichen – dem Ernst, der Stille, der Konzentration – wegführen.
Der englische Mathematiker Charles Babbage kaufte alle Drehorgeln in seiner Umgebung auf, weil sie ihn beim Nachdenken störten. Schopenhauer seufzte: »Der Lärm ist der Mörder aller Gedanken«. Und: »Ich möchte wissen, wie viele große und schöne Gedanken diese Peitschen schon aus der Welt geknallt haben.« Goethe kaufte ein baufälliges Haus in der Nachbarschaft auf, um dessen – absehbar Lärm verursachende – Renovierung zu verhindern. Heine hielt die Pendel sämtlicher Uhren in seiner Wohnung an, weil ihn deren Ticken am Schreiben hinderte – und wusste doch: »Oh Grab, du bist das Paradies für pöbelscheue zarte Ohren!« Ähnlich Kafka, der in seinem Tagebuch notierte: »So viel Ruhe wie ich brauche gibt es nicht oberhalb des Erdbodens.« Richard Wagner bestreute die Straße vor seinem Haus mit Glasscherben, um spielende Kinder fernzuhalten. Wilhelm Busch hasste das Klappergeräusch von Messer und Gabel sowie das Türenschlagen. Marcel Proust ließ dicke Lagen Kork an den Wänden seines Arbeitszimmers anbringen, um alle Außengeräusche abzuhalten.
Nicht nur individuelle Strategien gegen den Lärm wurden entwickelt. In den USA gründete Mrs. Isaac L. Rice wegen der unerträglichen Dauergeräusche aus dem New Yorker Hafen 1908 den ersten Antilärmverein, die Society for the Suppression of Unnecessary Noise; ihr berühmtestes Mitglied war Mark Twain. Der Schriftsteller Ferdinand Avenarius rief im selben Jahr in der Zeitschrift Der Kunstwart zur Bildung eines internationalen Antilärmbundes auf unter dem merkwürdigen Motto non clamor sed amor (nicht das Geschrei, sondern die Liebe). Und Ende der 1920er Jahre versuchte die Wiesbadener Polizei eine »hupenlose Woche« einzuführen. All dies waren Initiativen, um die schlimmsten Auswüchse des Lärms etwas zu lindern, unterbinden konnten sie ihn nicht.
Der Mensch nimmt – mehr oder weniger bewusst – einen Großteil seiner Informationen über das Gehör auf. Es gibt Klänge, die man nicht mehr vergisst, so nachhaltig haben sie sich in das akustische Gedächtnis eingegraben. Für die, die noch den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, zählen dazu gewiss die lang anhaltenden Pfeiftöne der Luftschutzsirenen, die die anfliegenden alliierten Todesschwadronen ankündigten. Auf andere Weise unvergesslich sind aber auch immer wieder gehörte Tonfolgen aus der Werbung für eine Kaffeesahne (»Nichts geht über Bärenmarke«) oder Süßigkeiten (»Haribo macht Kinder froh«), die ebenfalls einen ganz eigenen akustischen Erinnerungskosmos evozieren. Wir haben Stimmen von Sängern bzw. Melodien wie Yesterday oder Fragmente eines akustischen Brandings abgespeichert, die wir, solange wir leben, nicht vergessen. Dazu gehören auch die vertrauten Stimmen etwa der Eltern, der Geschwister oder der Großeltern. Es gibt Verkehrsgeräusche, an die man sich gewöhnt hat und die man eventuell sogar nostalgisch verklärt wie das rhythmische Schnaufen der Dampflok. Und es gibt Geräusche, an die man sich nie gewöhnt, etwa den Lärm von Düsenflugzeugen in der Einflugschneise eines Flughafens. Warum reagieren wir so unterschiedlich auf Gehörtes?
Wie klangen Städte zur vorletzten Jahrhundertwende im Vergleich zu der Zeit vor dem Beginn von Industrialisierung? Und wie klingen Städte heute? Sind sie lauter oder leiser geworden? Ab wann begannen Menschen, den urbanen Lärm als Belastung, gar als unerträgliche Belastung wahrzunehmen? Ab wann wurde der Lärm erfasst und gemessen? Wann wurde – und gegen welche Widerstände – mit der Planung von Lärmschutzmaßnahmen begonnen? Hatte die DDR einen anderen ›Sound‹ als die Bundesrepublik? Weisen politische Gemeinwesen überhaupt so etwas wie eine akustische Kennung auf? Und worin besteht diese? Kann man sie beschreiben? Wie klang die Stimme Hitlers, die wir nur aus den Aufzeichnungen von Großveranstaltungen kennen, im privaten Umfeld? Ist es überhaupt wichtig, diesen Unterschied zu kennen? Wann und mit welchen Folgen begannen die Nazis, Mikrofon und Lautsprecher in ihrer politischen Agitation einzusetzen? Wie beschallte man das riesige Reichsparteitagsgelände in Nürnberg? Wie wurde damals und wie wird heute mit Tönen und Klängen Politik gemacht? Welche Rolle spielen dabei die technischen Medien der akustischen Reproduktion? Welche Bedeutung können Lieder bei der Identitätsbildung von Individuen, Kollektiven oder gar Nationen haben?
Musik war und ist nie nur eine kulturelle Ausdrucksform oder ein passives Hörvergnügen, sie wurde und wird auch heute eingesetzt, um subtil zu beeinflussen, zu benebeln, zu schockieren, zu quälen, gar zu foltern. Eine Musikkapelle begleitete nicht nur im KZ Mauthausen Todgeweihte zur Hinrichtungsstätte. Mit Richard Wagners Walkürenritt fielen US-Truppen in irakische Städte ein. Im amerikanischen Gefangenenlager Guantánamo versuchte man, die dort Festgehaltenen zu brechen, indem man sie über Kopfhörer stundenlang mit Musik aus der Serie Sesamstraße beschallte.
Mit solchen Themen oder Fragen beschäftigen sich die Beiträge in diesem Buch. Wie diese Beispiele zeigen, verwenden wir – ähnlich wie die Hamburger Medienwissenschaftlerin Joan Bleicher und der kanadische Klangforscher R. Murray Schafer – einen weiten Klangbegriff, nämlich im Sinne des Englischen ›sound‹ als der »Gesamtheit von Stimmen, Tönen und Geräuschen«.
Aber wie ›klingt‹ nun eigentlich Geschichte, und warum hat die Geschichtswissenschaft in akustischer Hinsicht bislang »kaum einen Laut« von sich gegeben (Tillmann Bendikowski)? Historikerinnen und Historiker eignen sich seit jeher die Vergangenheit über das Studium von Texten und auch – in jüngerer Zeit verstärkt – durch die Analyse von bildlichen Quellen an. Dass wir nur einen verschwindend kleinen Teil der Vergangenheit ›hören‹ können – nur für die Zeit ab etwa 1900 existieren authentische akustische Quellen –, hat dazu geführt, dass die Geschichtswissenschaft bei der Recherche und Deutung der Geschichte lange Zeit fast vollständig darauf verzichtet hat, das Sinnesorgan Ohr zu berücksichtigen. Auch wenn die Geschichtswissenschaft infolge des iconic turn nun zunehmend aus ihrer Textlastigkeit herauszufinden scheint, bewegt sie sich weiterhin überwiegend in einer Sphäre der Stille und Lautlosigkeit. Töne und Geräusche werden bestenfalls dann zum Untersuchungsgegenstand, wenn sie schriftlich festgehalten, also in einen Text ›übersetzt‹ worden sind. Der eigentliche ›Sound der Geschichte‹ jedenfalls ist bislang nur selten konstitutiv in die Historiografie eingegangen, das gilt für die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts wie für unserer eigene demokratische Phase.
Warum sollen wir uns nach den Bildern des Jahrhunderts nun auch noch mit seinem Sound beschäftigen? Auf diese Frage haben etwa der Bildwissenschaftler Gottfried Boehm, der Zeithistoriker Thomas Lindenberger und die Medienwissenschaftler Harro Segeberg und Frank Schätzlein Antworten gegeben. Es gebe, so Boehm, jenseits der Sprache »gewaltige Räume von Sinn, ungeahnte Räume der Visualität, des Klanges« – also gerade keine Texte, mit denen Historiker es noch immer primär zu tun haben, und sie sind auch nicht wie diese analysierbar. Laut Lindenberger müssen die »heutigen ›Mitlebenden‹« auch »als ›Mithörende‹ und ›Mitsehende‹ konzipiert werden, um ihre Erfahrungen und Erzählungen angemessen deuten zu können. Ihre Lebenswelt war und ist bestimmt von der alltäglichen Gegenwart der Audiovision, ihre Erfahrung von Wirklichkeit auch vermittelt über die Klänge von Schallplatte und Radio, die Fotos in den Illustrierten, die bewegten (Ton-)Bilder in Wochenschauen, Spielfilmen und Fernsehen.«
Für Segeberg und Schätzlein schließlich ist die Moderne nicht nur die Moderne der Bilder, sondern auch die »der Geräusche und Töne«, die es vermögen, »einen zehnmal größeren Wahrnehmungsraum als Bilder (zu) entfalten«. Daher sei es »schon längst an der Zeit, die Medien des 20. und 21. Jahrhunderts nicht länger nur von ihren Bildobjekten, sondern mindestens ebenso sehr von ihren Klangobjekten her aufzuschlüsseln«.
In den Geisteswissenschaften, so scheint es, wird Sound zunehmend als Teil einer umfassenden Geschichte der Sinne begriffen. Wenn Geschichte in ihrer Totalität erfasst werden soll, so bedeutet dies, auch ihren Sound zu reflektieren. Für das 20. Jahrhundert kommt noch etwas hinzu. Mit den Erfindungen der technischen Akustik und damit einhergehend neuer Aufnahme-, Speicher- und Verbreitungsmedien wie Mikrofon, Schallplatte, Tonband, Lautsprecher und Radio wurden die Ausübung von Macht und die Hegemonie über den Hörsinn um ein Vielfaches verstärkt. Zugleich stellten diese Medien immer auch neue Instrumentarien der auditiven Darstellung sowie der Reflexion von Macht und Gewalt zur Verfügung. Methodisch verkompliziert sich alles, da infolge der technischen Reproduzierbarkeit der Klänge die Differenz zwischen einem (vermeintlichen) Originalklang und seiner elektroakustischen Wiedergabe zunehmend zu schwinden droht, und ›Echo-Sound‹ – ähnlich wie Bilder – zu einer zweiten Natur, zur »zweiten Natur des Akustischen« (Marcus Gammel), geworden ist.
Auch die Geschichtswissenschaft befasst sich seit einigen Jahren mit diesem Thema, allerdings immer noch eher verhalten. Die Rede ist vom acoustic turn (Petra M. Meyer), der dem pictorial oder iconic turn folge. Sound History, so scheint es, ist in der Forschung angesagt. Historische Fachzeitschriften wie die Zeitgeschichtliche(n) Forschungen, das Archiv für Sozialgeschichte, die Historische Zeitschrift, gar Geschichte und Gesellschaft haben sich inzwischen des Themas angenommen. Der Mainzer Historikertag 2012 widmete dem Thema eine eigene Sektion. Fragestellungen der Sound History gingen konstitutiv in neuere Darstellungen wie die von Axel Schildt und Detlef Siegfried zur Kulturgeschichte der Bundesrepublik ein; eine neuere Publikation von Robert Maier befasste sich mit den Spuren des Zweiten Weltkriegs im akustischen Gedächtnis.
Eine Geschichte des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts unter dem Aspekt des Sounds hat indes nicht all das bloß zu bestätigen, was über diese Zeit eh schon bekannt ist. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, auf neue, nur über Klänge bzw. den Sound erfahrbare Aspekte aufmerksam zu machen, entsprechende Fragestellungen abzuleiten und neue Antworten zu finden. Dies wollen wir in unserem Buch versuchen.
Töne, Klänge und Geräusche sind uns – ähnlich wie Bilder – nicht nur Quellen für etwas; vielmehr sehen wir in ihnen eigenständige Themen der Betrachtung. Sound ist auch ein Akteur, der, vermittelt durch vielfältige mediale Formen, als nicht zu unterschätzender Faktor (manchmal auch als Waffe) in historische Prozesse eingreift und selbst Geschichte macht. Wie R. Murray Schafer überzeugend dargelegt hat, waren historische Klänge immer auch Insignien und Instrumente von Macht. Kirchenglocken etwa symbolisierten über Jahrhunderte die klerikale Hegemonie, bis sie im 19. Jahrhundert abgelöst wurden von den Fabriksirenen der Industriebarone, die die Menschen zur Arbeit riefen. Wie bestimmte Bilder als optische Ikonen gewirkt haben, so entfalteten auch Töne, Klänge und Geräusche eine eigenständige und eigensinnige Kraft, etwa die Rockmusik der 1950 /60er Jahre oder die Lieder der baltischen Revolution nach 1989, die die Verhältnisse ›zum Tanzen‹ gebracht haben.
Das Themenspektrum des Sounds der Geschichte in diesem Buch reicht von musikalischen Klängen in Gestalt von populären Ohrwürmern und den Hits des Jahrhunderts bis hin zu Hymnen und Klassikern der Neuen Musik, von akustischen Stereotypen wie Erkennungsmelodien und Jingles über den ›Wortsound‹ legendärer Reden und Ansprachen, bemerkenswerter Reportagen und historischer Ereignismeldungen bis zu den technischen Tönen und (Alltags-)Geräuschen, vom Lärm des Krieges und des modernen Verkehrs bis zum verführerischen Klacken des Stöckelschuhs. Besonders aufschlussreich fanden wir Fragestellungen zum Verhältnis von Bild und Sound, also Synästhesien: Warum und auf welche Weise vermögen bestimmte Bilder, Klang- und Geräuschvorstellungen auszulösen, oder umgekehrt: wie imaginieren Klänge bestimmte Bildvorstellungen?
Der vorliegende Band gliedert sich in drei große Themenfelder:
– Eine Medien- und Kulturgeschichte akustischer Technologien und deren Gebrauch im Zeitalter der technischen und elektronischen Reproduzierbarkeit, also die Geschichte von Phonograph, Grammophon, Schallplatte, Lautsprecher, Tonfilm und Radio bis zum iPhone. Aus der Tatsache, dass Medien Klänge nicht im Sinne einer naturgetreuen Wiedergabe reproduzieren, sondern – wie andere Medienprodukte auch – immer interessegeleitet formatieren, folgt, »dass jede Geschichte des Klangs immer auch Mediengeschichte seiner Speicherung sein muss« (Jan-Friedrich Missfelder).
– Eine Klanggeschichte des Politischen, die nach der Wirkmacht sowie der sozialen und politischen Nutzung von Klängen, Tönen und Geräuschen fragt, den Gebrauch und die Funktion von Lautsprecher und Radio in politischen Bewegungen untersucht; den Einsatz von Musik und Lärm in den Kriegen und Diktaturen des 20. Jahrhunderts und ihre Nutzung als Folterinstrument nachzeichnet und nicht zuletzt die Bedeutung von Musik, Kampfrufen und Sprechchören in den großen Umbruchsituationen wie 1968 ff. und 1989 ff. herausarbeitet.
– Ein dritter Themenbereich befasst sich mit der Bedeutung des Sounds in der Erinnerungsgeschichte. Dabei gehen wir von der These aus, dass Erinnerung nicht nur durch visuelle oder olfaktorische, sondern auch durch akustische Eindrücke jedweder Art geprägt wird. Wie, warum und mit welchen Folgen verbinden sich in der Erinnerung bestimmte Ereignisse mit welchen Klängen? Welche Bedeutung kommt etwa dem ›Wortsound‹ bedeutender oder demagogischer Reden des Jahrhunderts zu? In welchem Verhältnis steht dieser erinnerte Sound zum tatsächlichen Inhalt einer solchen Rede? Die Bedeutung akustischer Eindrücke für die Erinnerung wie insgesamt die Auslotung der vielfältigen Formen unseres akustischen Gedächtnisses ist ein noch weithin unbearbeitetes Forschungsfeld.
Es geht uns, allgemeiner formuliert, um die Frage nach der Bedeutung, die vergangene Gesellschaften und ihre Akteure der akustischen Dimension ihrer jeweiligen Erfahrung zuschreiben; es geht uns um die Inventarisierung des Verklungenen und die akustische Kennung des Jahrhunderts bzw. einzelner Zeitabschnitte und Ereignisse; es geht schließlich um das kollektive Hör-Gedächtnis und um herausragende akustische Erinnerungsorte, in deren Klangspuren sich Geschichte beispielhaft verdichtet hat.
Zu diesem Zweck beschreiben und untersuchen die einzelnen Beiträge zunächst das Spezifische einzelner Töne, Klänge und Geräusche. Sie gehen sodann ihrem historischen, politischen und kulturellen Entstehungskontext nach sowie ihren Funktionen bzw. den verschiedenen sozialen und politischen Nutzungsformen. Einen besonderen Akzent legen etliche Beiträge auf den kulturellen Umgang mit dem Sound des Jahrhunderts in Musik, bildender Kunst und Literatur, also auf dessen nachträgliche kollektive Rezeption und Bearbeitung, durch die der Sound oft erst Bestandteil der Alltagskultur wurde. Schließlich wird nach der Bedeutung bestimmter Klänge und Geräusche für das kollektive Gedächtnis gefragt.
Anders als es vielleicht den Anschein haben könnte, liefert unser Buch keine in sich geschlossene Sound History des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, allenfalls einige Aspekte und Facetten. Es markiert ein Arbeits- und Forschungsfeld, das es weiterhin zu bestellen gilt. Nicht zuletzt möchte es sensibilisieren für die Bedeutung des Akustischen in der Geschichte und den Umgang mit Tönen, Klängen und Geräuschen in der Gegenwart.
Ähnlich wie eine Visual History ist auch eine Sound History nur als interdisziplinäres Projekt sinnvoll anzugehen. Es freut uns daher, Autorinnen und Autoren aus den unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen sowie ausgewiesene Medientheoretiker und -praktiker aus dem In- und Ausland gewonnen zu haben, von denen etliche zu den Protagonisten der neuen Sound Studies bzw. der Sound History zählen. Einige der hier publizierten Aufsätze fassen umfangreiche Studien oder Forschungsergebnisse zusammen; andere sind Untersuchungen, die eigens für diesen Band geschrieben wurden. Dass die methodischen Ansätze und die Begrifflichkeit in diesen Texten nicht einheitlich sind, sollte nicht verwundern, denn das Forschungsgebiet ist neu. So verstehen wir diesen Band denn auch als einen Beitrag zu einer noch zu schreibenden Soundgeschichte des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts.
Die Auswahl der hier behandelten Töne, Klänge und Geräusche beruht vornehmlich auf unseren eigenen akustischen Erinnerungen. Wir nehmen allerdings an, dass diese große Schnittmengen mit dem kollektiven Soundgedächtnis aufweisen. Durch Vorschläge von Autoren wurden weitere Texte angeregt. Gleichwohl bleibt die getroffene Auswahl in hohem Maße subjektiv und beansprucht keinerlei Repräsentativität. Wir haben uns entschlossen, die einzelnen Aufsätze chronologisch anzuordnen, um so die historische Orientierung zu erleichtern, aber auch, um Veränderungen in der Zeit deutlich werden zu lassen. Die Auswahl der Abbildungen, die jeden Aufsatz eröffnen, besorgte Gerhard Paul. Trotz intensiver Recherchen konnten in einigen Fällen die Rechteinhaber nicht ermittelt werden. Hier ist der Verlag bereit, rechtmäßige Ansprüche nach Anforderung abzugelten.
Die Idee zu diesem Buch entstand im Januar 2011 bei einem Abendessen im Saarbrücker Restaurant Zum Stiefel. Ende 2013 ist in der Bundeszentrale für politische Bildung in der Reihe »Zeitbilder« ein Broschurband dieses Buches erschienen. Aus Kostengründen konnten leider nicht alle Texte in die hier vorliegende Ausgabe übernommen werden.
Wir danken Thedel von Wallmoden und dem Wallstein Verlag, dass unsere »Soundgeschichte« – wenn auch in abgespeckter Form – nun auch im Buchhandel erworben werden kann. Wir danken Stefanie Mürbe vom Wallstein Verlag für die gute Zusammenarbeit und Lina-Sophie Jacobs, die die Register dieser Ausgabe erstellte. Die Lektorierung der auch dieser Ausgabe zugrundeliegenden Texte besorgte in bewährter Professionalität Verena Artz (Bonn).
Gerhard Paul und Ralph Schock im August 2014
DANTE ALIGHIERI: Die Göttliche Komödie, Bd. 1: Inferno / Hölle, übersetzt von Hartmut Köhler, Stuttgart 2010.
TILLMANN BENDIKOWSKI: Öffentliches Singen als politisches Ereignis. Eine Herausforderung einer historischen Quelle für die Geschichtswissenschaft, in: ders./Sabine Gillmann / Christian Jansen / Markus Leniger / Dirk Pöppmann (Hrsg.): Die Macht der Töne – Musik als Mittel politischer Identitätsstiftung im 20. Jahrhundert, Münster 2003, S. 23-37.
JOAN BLEICHER: Zur Rolle von Musik, Ton und Sound im Internet, in: Harro Segeberg / Frank Schätzlein (Hrsg.): Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien, Marburg 2005, S. 366-380.
GOTTFRIED BOEHM: Jenseits der Sprache. Anmerkungen zur Logik der Bilder, in: Christa Maar / Hubert Burda (Hrsg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 28-43.
LUDWIG FEUERBACH: Vorlesungen über das Wesen der Religion – nebst Zusätzen und Anmerkungen, Berlin 1981. MARCUS GAMMEL: Von der Mündung zur Quelle. Zur zweiten Natur des Lautsprechers, in: kunsttexte.de 4 (2010) 1, S. 1-5, URL: urn:nbn:de:kobv:11-100178823.
RICHARD KATZ: Drei Gesichter Luzifers – Lärm, Maschine, Geschäft, Zürich / Leipzig 1934.
THOMAS LINDENBERGER: Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihre Herausforderung durch die audiovisuellen Medien, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 1 (2004) 1, S. 72-85, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/site/40208148/default.aspx.
ROBERT MAIER (Hrsg.): Akustisches Gedächtnis und Zweiter Weltkrieg, Göttingen 2011.
PETRA M. MEYER (Hrsg.): Acoustic Turn, München 2008.
JAN-FRIEDRICH MISSFELDER: Period Ear. Perspektiven einer Klanggeschichte der Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012) 1, S. 21-47.
DANIEL MORAT: Der Klang der Zeitgeschichte. Eine Einleitung, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 8 (2011) 2, S. 172-177.
DERS.: Zur Geschichte des Hörens, in: Archiv für Sozialgeschichte 51 (2011), S. 695-716.
GERHARD PAUL (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. 2 Bde., Göttingen bzw. Bonn 2008 /09.
JÜRGEN MÜLLER: The Sound of Silence. Von der Unhörbarkeit der Vergangenheit zur Geschichte des Hörens, Historische Zeitschrift 292 (2011) 1, S. 1-29.
R. MURRAY SCHAFER: Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens, Berlin 2010.
AXEL SCHILDT / DETLEF SIEGFRIED: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009.
HARRO SEGEBERG / FRANK SCHÄTZLEIN (Hrsg.): Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien, Marburg 2005.
Klanglandschaften der Jahrhundertwende und des Ersten Weltkrieges
In vielerlei Hinsicht waren die Jahre vor und während des Ersten Weltkrieges in Deutschland und Europa soundgeschichtlich eine Art Sattelzeit, auf der die Klangsignatur des 20. Jahrhunderts gründete.
Die akustische Umgebung der Menschen – der kanadische Klangforscher und Pionier der historischen Soundforschung R. Murray Schafer spricht von »Soundscape«, was sich am besten mit »Klanglandschaft« übersetzen lässt – war noch in der Frühen Neuzeit zu über 90 % von Natur- und Menschenlauten geprägt. Mechanische Klänge machten den Rest aus. Natürliche und mechanische Laute gliederten den Tag: der erste Hahnenschrei, das Läuten der Kirchenglocken, das Schlagen der Hämmer in den Schmieden. Manchmal erschallten Jagd- oder Posthörner oder es rollten Kutschen über Kopfsteinpflaster. Im 18. Jahrhundert drängten dann die Geräusche von Werkzeugen, Maschinen und Verkehrsmitteln immer hartnäckiger ans Ohr. Die Schallwellen der sich industrialisierenden Gesellschaften waren nun auch auf dem Land zu hören. In den Städten verdichtete sich der Lärm. Der französische Schriftsteller Stendhal hat dies in seinem Roman Rot und Schwarz 1830 so beschrieben: »Kaum hat man den Ort betreten, so zerreißt einem der laute Lärm einer dröhnenden, gar bedrohlich aussehenden Maschine die Ohren. Ein paar Dutzend wuchtiger Hämmer erschüttern mit ihrem Auf und Nieder das Straßenpflaster.«
Eine gleichmäßige Dauerbeschallung indes war noch immer unbekannt. Mit dem 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert durchlebten die westlichen Gesellschaften schließlich eine auditive Revolution – und dies im doppelten Sinne: Die Umweltgeräusche veränderten sich nachhaltig; mit der Erfindung neuer Tontechniken brach ein neues akustisches Zeitalter an. Es gab nur wenige Geräusche des 19. Jahrhunderts, die in dieser neuen Zeit Bestand hatten. Das schwere Schnauben der Dampflokomotiven schaffte es immerhin bis in die 1960er Jahre, bevor es vom Klang der Elektrolokomotiven und schließlich der IC- und ICE-Triebköpfe abgelöst wurde, der so gar nichts mehr zu tun hatte mit dem seiner dampfenden Vorgänger.
Die in Deutschland erst verspätet einsetzende industrielle Revolution und die sich beschleunigende Urbanisierung veränderten grundlegend die bisherigen Geräuschwelten. Die Fabriksirene eroberte ihren Platz neben der Kirchenglocke und bestimmte nun den Alltag von immer mehr Menschen. Der Lärmpegel in den Städten, die – bislang von Fußgängern dominiert – sich rasant zu (auto-)mobilen Zentren wandelten, erreichte bislang unbekannte Höhen. Dampfmaschinen erzeugten nun Laute, die schon aus großer Entfernung zu hören waren: Ab den 1830er Jahren durchpflügten Lokomotiven das Land und Schiffe die Meere. Das Getöse schwerer dampfgetriebener Dreschmaschinen war in den bis dahin vergleichweise stillen ländlichen Regionen weithin zu vernehmen. Breitbandige Lärmschwaden legten sich über ganze Landstriche. Schafer spricht von einem »akustischen Imperialismus«, der sich, von den westlichen Industrienationen ausgehend, über weite Teile des Erdballs ausbreitete. Der neue Lärm galt zunächst keineswegs als belästigend und negativ, sondern – ähnlich wie die rauchenden Fabrikschlote – als Ausdruck von Macht, Effizienz und Fortschritt.
Die Laute der neuen Techniken unterschieden sich quantitativ und qualitativ von allen bisherigen Klängen. Zunächst nahm die Zahl der Geräusche übermächtig zu. Die Töne der Natur und die traditionellen Klangwelten des 19. Jahrhunderts wurden zunehmend überlagert bzw. verdrängt. Die neuen Geräusche der Straßen- und der Eisenbahnen, der Krafträder und der Automobile vermischten sich mit dem Klang der Kirchenglocken, dem Hornsignal des Postillons, den Türglocken und den mechanischen Kassen der Kolonialwarenläden, um diese schließlich ganz zu überlagern. Zudem entstanden völlig neue technische Klänge, für welche das Echolot und der funkentelegraphische Notruf nur zwei Beispiele sind. Der Erste Weltkrieg bildete den Kulminationspunkt der bisherigen Klanggeschichte des industriellen Zeitalters. Er ist daher zu Recht als die »größte Lärmentfesselung« (Sieglinde Geisel) beschrieben worden, welche die Menschheit bis dahin zustande gebracht hatte. Die sich zum Trommelfeuer steigernden Schüsse der Artillerie sprengten in akustischer Hinsicht alles bisher Dagewesene. Über Dutzende Kilometer legte sich der Kriegslärm über das Land. Wer das Kriegsgeschehen überlebt hatte, erkrankte nicht selten an den Folgen des jahrelang ertragenen infernalisch lauten Dauerlärms, viele ehemalige Soldaten erlitten dadurch dauerhafte psychische Schäden.
Mit Industrialisierung und Weltkrieg wurde der Lärm von einer privaten zu einer öffentlichen Angelegenheit und drang ins öffentliche Bewusstsein ein. Er wurde »entdeckt«, beschrieben, verteufelt, heroisiert und schließlich seit Beginn des neuen Jahrhunderts zum Politikum. Bereits im 19. Jahrhundert hatten Ärzte bei Arbeitern, die Stahlplatten vernieteten, schwerste Gehörschäden diagnostiziert, ein Leiden, das als Kesselschmiedkrankheit bekannt wurde. Es war jedoch zunächst nicht der Lärm der Industrie, der die Gemüter erregte, sondern eher der Straßen- und Nachbarschaftslärm. Noch vor dem Ersten Weltkrieg gründete der Philosoph und Pädagoge Theodor Lessing einen Antilärm-Verein in Deutschland; in einer Kampfschrift geißelte er »all dies entsetzliche Randalieren, dies unaufhörliche Brüllen, Dröhnen, Pfeifen, Zischen, Fauchen, Hämmern, Rammeln, Klopfen, Schrillen, Schreien und Toben«. Vereinzelt nahmen sich noch vor dem Weltkrieg Stadtverwaltungen der Lärmplage an und ersannen erste Maßnahmen zu ihrer Reduzierung. Die Industrie vermarktete schnell das neue Bedürfnis nach Stille. Ab 1907 vertrieb der Apotheker Maximilian Negwer von Berlin aus die Geräuschschützer Ohropax. Mit dem Weltkrieg wurden diese zum Massenartikel, versprachen sie den Soldaten doch Schutz gegen die Schallwirkung des Kanonendonners und verlässliche »Nervenberuhigung«.
Die Zeit um die Jahrhundertwende von 1900 war zugleich eine mediengeschichtliche »Sattelzeit«. Neue revolutionäre »Aufschreibesysteme« (Friedrich Kittler) wie die Schreibmaschine, der Phonograph und Fotografie / Film ermöglichten nun das mechanische Speichern von Schrift, Ton und Bild. Erstmals in der Menschheitsgeschichte differenzierten sich diese auseinander. Sie läuteten das Ende der durch den Buchdruck geprägten »Gutenberg-Galaxis« (Marshall McLuhan) ein. Voraussetzung hierfür waren die Erfindung des Klang- und Tonschreibers, des Phonographen, 1877 durch Thomas Alva Edison und des Grammophons zehn Jahre später durch Emile Berliner. Bis dahin waren keine Originaltöne von historischen Ereignissen oder aus dem Alltag tradiert worden. Schrift und Bild, also Literatur und Kunst, waren die einzigen Speichermedien gewesen, um akustische Erfahrungen festzuhalten, ihnen Dauer zu verleihen und in beliebigem Kontext wiederzugeben. Überliefert sind erste Tonaufnahmen von Otto von Bismarck und von Wilhelm II., die sich 1889 bzw. 1904 bereit erklärten, in einen Aufnahmetrichter zu sprechen. Mit dem Knistern und dem Rauschen des Phonographen und des Grammophons betraten zugleich qualitativ neue Geräusche die Bühne der Geschichte.
Die Unterhaltungsindustrie machte sich schnell die Möglichkeiten der technischen Reproduzierbarkeit von Tönen und Stimmen kommerziell zunutze. Mit der Entwicklung der Schallplatte zum Massenprodukt um die Jahrhundertwende wurden die Stimmen von bekannten Sängern wie Enrico Caruso auf Platte gepresst. Sie waren damit für ein Massenpublikum verfügbar. Noch vor dem Ersten Weltkrieg begann der Siegeszug der neuen Medien, welche nach und nach die Geräuschkulisse in Beruf und Alltag veränderten. Stimmen, Musik und Geräusche lösten sich von ihren Urhebern und beschallten nun Privatwohnungen und öffentliche Räume. Erstmals konnte Musik orts- und zeitunabhängig rezipiert werden. Thomas Mann hat in seinem Roman Der Zauberberg dem Grammophon ein literarisches Denkmal gesetzt. Die Sängerinnen und Sänger, die Hans Castorp hörte, »sah (er) nicht, ihre Menschlichkeit weilte in Amerika, in Mailand, in Wien, in Sankt Petersburg – sie mochten dort immerhin weilen, denn was er von ihnen hatte, war ihr Bestes, war ihre Stimme, und er schätzte diese Reinigung oder Abstraktion, die sinnlich genug blieb, um ihm, unter Ausschaltung aller Nachteile zu großer persönlicher Nähe, […] eine gute menschliche Kontrolle zu gestatten«. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Töne und Stimmen war es möglich geworden, dass diese – sowohl aus ihren originären Zusammenhängen wie von ihren körperlichen Urhebern getrennt – frei flottierend über die Kontinente vagabundierten. Dabei wurden sie beständig in neue Zusammenhänge integriert und multifunktional verwendet – ein Vorgang, den Schafer als »Schizophonie« bezeichnet hat. Mit der Reproduzierbarkeit von Tönen und Stimmen legte sich ab 1900 Schritt für Schritt ein künstlicher Klangteppich zunächst über die westliche Hemisphäre, später über den gesamten Erdball. Zu den natürlichen Klängen und Geräuschen der Natur und der Menschen und zu den mechanischen und technischen Geräuschen von Industrialisierung und Urbanisierung gesellte sich eine zweite, künstliche Natur des Akustischen. Ihr sich beständig wandelndes Verhältnis zueinander prägte die spezifische Klangsignatur des 20. Jahrhunderts.
Die reproduzierten Töne und Stimmen drangen zunehmend auch in das kommunikative und kollektive Gedächtnis ein, überlagerten und verdrängten dabei die privaten Stimmen und Geräusche und schufen spezifische akustische Erinnerungsorte. Die neuen Geräusche und Klangwelten verlangten zugleich nach einem angemessenen kulturellen Ausdruck. In der bildenden Kunst waren es die Futuristen, die von der neuen Technik begeistert waren und den Maschinen- und Verkehrslärm als Indikator des gesellschaftlichen Fortschritts glorifizierten. Mit neuen bildnerischen Darstellungsformen, die auch grafische Elemente und Ideogramme umfassten, sowie einer neuen Geräuschkunst versuchten sie, die neuen Klangqualitäten zu thematisieren. Sie gaben damit zugleich der zeitgenössischen Kunst und Musik neue Impulse.
Die neue Qualität des Lärms verlangte auch eine neue Sprache. Vor allem der industrialisierte Schlachtenlärm des Weltkriegs provozierte Schriftsteller auf beiden Seiten der Front, ihre akustischen Erfahrungen literarisch festzuhalten und hierfür eigene Ausdrucksformen zu entwickeln. Keiner hat den Lärm des Krieges präziser und ausführlicher beschrieben als Ernst Jünger in seinen Tagebüchern. Für ihn wie für zahlreiche Frontsoldaten war die differenzierende Beschäftigung mit den spezifischen Klängen der Waffen eine Überlebensfrage: nur wer in der Lage war, die Geschosse auch akustisch zu identifizieren, besaß eine Chance, angemessen zu reagieren und sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. In der dadaistischen Lautpoesie fand die Auseinandersetzung mit den neuen Lärmwelten eine eigenständige literarische Form.
Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg brachte auch entscheidende Neuerungen und Verschiebungen in der musikalischen Geografie Europas in Richtung einer musikalischen Moderne. Mit Komponisten wie Arnold Schönberg und Gustav Mahler, vor allem aber mit Igor Strawinsky geriet das konventionelle System der Tonalität ins Wanken, wogegen sich europaweit der Protest des bildungsbürgerlichen Publikums erhob. Dies zeigte nicht zuletzt der Skandal um die Uraufführung von Strawinskys Ballett Sacre du Printemps 1913 in Paris. Die neuen Geräusche der Industrialisierung und Urbanisierung inspirierten zunehmend auch Komponisten. Zu einem Experimentierfeld neuer musikalischer Formen geriet die Stummfilmmusik. Erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs jedoch vermochte sich die musikalische Moderne voll zu entfalten. Die Musikkultur der Kaiserzeit, daran besteht kein Zweifel, prägten noch konventionelle klassische, vor allem patriotische Töne im Stile von Heil dir im Siegerkranz – ein Lied, das sich zur (inoffiziellen) Hymne des wilhelminischen Deutschlands entwickelte.
Während die Fotografie als optisches Speichermedium in der Zwischenzeit auch in der Geschichtswissenschaft auf größeres Interesse gestoßen ist, ist den akustischen Veränderungen in Alltags- und Arbeitsleben sowie den Erfindungen der akustischen Speicher- und Übertragungsmedien im ausgehenden 19. Jahrhundert deutlich weniger Aufmerksamkeit zuteil geworden. Und dies, obwohl die Klänge von Industrialisierung und Urbanisierung ein wesentlicher Bestandteil der akustischen Umwelt waren und die Fähigkeit, Stimmen, Geräusche und Klänge aufzunehmen, zu reproduzieren und über große Entfernungen zu übermitteln, die Kommunikationsformen der Menschen des 20. Jahrhunderts entscheidend veränderten.
Gerhard Paul
Klangkulturen des 19. Jahrhunderts
Jan-Friedrich Missfelder
Gottfried Kellers Roman Der Grüne Heinrich beginnt mit einer Bootspartie auf dem Zürichsee. Von Rapperswil aus durchquert der Kahn schließlich auf dem Limmatfluss die Stadt Zürich. Keller beschwört auf dieser Fahrt »das ganze Treiben einer geistig bedeutsamen und schönen Stadt« des 19. Jahrhunderts aus der Sicht des Bootspassagiers. Der Stadtrat versammelt sich gerade am Rathaus: »Trommelschlag ertönt.« Neben den Magistraten, die »gegrüßt oder ungegrüßt vom zahlreichen emsigen Volke« zusammenströmen, »rasseln diplomatische Fremdlinge« in prächtigen Roben über die Brücken. Weiter geht es mit den Geräuschen der Ökonomie: »Jetzt ertönt das Getöse des Marktes von einer breiten Brücke über unserm Kopfe; Gewerk und Gewerb summt längs des Flusses und trübt ihn teilweise, bis die rauchende Häusermasse einer der größten industriellen Werkstätten voll Hammergetönes und Essensprühen das Bild schließt.« Jenseits Zürichs öffnet sich der Blick auf die »weite schneereine Alpenkette«; die Fahrt endet in der alten Bäderstadt Baden mit der Beschreibung einer Burgruine, durch deren Grundfelsen der Schienenweg der Schweizerischen Nordbahn, der sogenannten Spanisch-Brötli-Bahn, von Zürich nach Baden gebohrt wurde.
Im Anfang des Grünen Heinrich ist die Essenz des 19. Jahrhunderts verdichtet und als Klangerfahrung repräsentiert: die politische Ordnung einer traditionellen Stadtgesellschaft, die beginnende Industrialisierung, die ästhetisierende Naturerfahrung und die Eisenbahn als neues Mittel der Raumerschließung und Zeitverkürzung. Vor Thomas Edisons Erfindung des Phonographen im Jahre 1877 (→ GAUSS, S. 31) existieren keine O-Töne aus dem 19. Jahrhundert. Seine Klangwelt kann daher nicht wie die des 20. oder 21. direkt von der Hörerfahrung her erschlossen werden, sondern man muss besondere Aufmerksamkeit auf Beschreibungen und bildliche Darstellungen des Akustischen in nichtklingenden Medien richten. Hier ist keine Quellengattung besonders privilegiert. Richtig – und teils auch gegen den Strich – gelesen, versprechen Gesetzestexte, Tagebücher, Reiseberichte, Stadtansichten oder fiktionale Quellen vielfältige Aufschlüsse nicht nur über verklungene Klangwelten, sondern auch über vergangene Hörerfahrungen und Wahrnehmungsweisen. Der Anfang des Grünen Heinrich ist hierfür ein gutes Beispiel. Keller beschreibt nicht nur, was zu hören ist, sondern vor allem auch, wie sich die verschiedenen Klänge und der implizite Hörer zueinander verhalten.
Ein Boot ist im 19. Jahrhundert ein relativ stilles Verkehrsmittel, kein Motor oder Hufgetrappel kann von der Wahrnehmung der Umweltklänge ablenken. Die einzelnen akustischen Szenen – vom Rascheln der extravaganten Botschafter-Roben über das Stimmengewirr des Marktes bis hin zu den Hammerschlägen der innerstädtischen Industriebetriebe – werden von Keller nacheinander aufgerufen, es entstehen keine klanglichen Überlappungen oder Kakophonien. Das ist zwar einerseits dem Medium Literatur geschuldet, verweist aber zugleich auf ein Charakteristikum der Klangwelt des 19. Jahrhunderts (und der Zeit davor), das diese fundamental vom Soundscape der Moderne unterscheidet. Fremd sind dabei keineswegs die Klänge selbst. Kaum einer der Klänge, welche die Straßen, Häuser und Wälder der Vormoderne anfüllten, ist wirklich verschwunden oder nicht mehr reproduzierbar. Fundamental gewandelt haben sich dagegen die akustischen Wahrnehmungsstrukturen. Das beginnt mit der Beziehung der einzelnen Klänge untereinander.
R. Murray Schafer, der kanadische Komponist und Klangforscher, spricht für die vorindustrielle Welt von einem Hi-Fi-Soundscape, in dem »ein günstiges Verhältnis von Signal und Rauschen« herrscht und »einzelne Laute deutlich [werden], weil der Pegel der Umweltgeräusche niedrig ist«. In einer Lo-Fi-Situation wie der modernen Stadt sind dagegen, so Schafer, »die einzelnen akustischen Signale überdeckt von einer übermäßig verdichteten Anhäufung von Lauten«. Obwohl man annehmen muss, dass die akustische Welt des 19. Jahrhunderts insgesamt leiser war als die heutige, liegt der entscheidende Unterschied nicht im reinen Volumen, sondern in der unterschiedlichen Hör- und Differenzierbarkeit. Der Anfang des Grünen Heinrich führt genau diese Differenzierung vor Ohren.
Mit den Wahrnehmungsstrukturen ändern sich zudem die Sinnhorizonte, die der klingenden Umwelt zugeschrieben werden. Klänge sind, in Schafers Worten, Signale, sie tragen Bedeutung und produzieren sozialen Sinn. Der Trommelschlag, der die Zusammenkunft des Zürcher Rates ankündigt, signalisiert die Präsenz der politischen Elite der Stadt und konnte vom »zahlreichen emsigen Volke« auch genauso hörend »gelesen« werden. Solche Bedeutungszuschreibungen sind historisch wandelbar, spiegeln die Veränderung der historischen Klangkulturen im Prozess der Modernisierung wider.
Nun war das Zürich der Zeit um 1850, in der der Roman spielt, kein Paradigma des gesamten 19. Jahrhunderts in Europa. Die akustischen Verhältnisse in Frankfurt und Berlin oder gar die in Manchester und London waren gänzlich andere. Hier, in den Metropolen der industriellen Moderne, deutete sich schon der Übergang von Hi-Fi zu Lo-Fi an, der für den Kulturkritiker Schafer eine einzige Geschichte des Verlusts an akustischer Delikatesse und Differenzierungskraft darstellt. Doch für die Zwecke dieses Essays kann Kellers kurzes Klangporträt der Limmatstadt eine methodische Leitlinie abgeben. Stadtgesellschaft, Industrie und Natur sollen hier exemplarisch als Klangkulturen betrachtet werden, ohne dass damit der Anspruch verbunden wäre, diese Aspekte umfassend beleuchten zu können oder gar das 19. Jahrhundert in seiner Komplexität auch nur annähernd sinnesgeschichtlich erfasst zu haben.
In einem der letzten Kapitel seiner 1851 erschienenen philosophischen Miniaturensammlung Parerga und Paralipomena macht der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer seinem Ärger wortreich Luft (→ PAYER, S. 59). Als den »unverantwortlichsten und schädlichsten Lärm«, den ein denkender Stadtbewohner zu ertragen habe, identifiziert er »das wahrhaft infernalische Peitschenknallen« der Fuhrleute. Durch seine Plötzlichkeit, Schärfe und Lautstärke sei es in der Lage, jeden zusammenhängenden Gedankengang zu unterbrechen und damit recht eigentlich unmöglich zu machen. »Hammerschläge, Hundegebell und Kindergeschrei sind entsetzlich; aber der rechte Gedankenmörder ist der Peitschenknall.«
Schopenhauers Philippika gegen die Peitsche als einer »Lautmarke« (R. Murray Schafer) der Stadtgesellschaft des 19. Jahrhunderts verweist auf eine Eigenart städtischer Mobilität. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein waren (nicht nur) europäische Städte fast ausschließlich »Fußgängerstädte« (Jürgen Osterhammel). Dies bewirkte eine enge Verkopplung von Arbeitsplatz und Wohnraum, sodass kurze Wege und hohe Dichte an Einwohnern als Kennzeichen der meisten vormodernen Stadtgesellschaften gelten können. Sie waren Anwesenheitsgesellschaften, basierten auf face-to-face- Sozialbeziehungen, die auch die politische Struktur bestimmten. Dass sich der Zürcher Stadtrat in Kellers Roman zu Fuß und »gegrüßt oder ungegrüßt« vom Volk zum Rathaus bewegt, ist bezeichnend. Die akustische Signatur solcher Stadträume war bis in die 1870er Jahre hinein vorwiegend durch jene Klänge bestimmt, die aus der alltäglichen, direkten Interaktion von Menschen entstehen.
Pferde als Zugtiere spielten eine entscheidende Rolle auch für die akustische Anmutung der städtischen Räume. Hufgetrappel, Wiehern, Rattern von Wagenrädern, von Pferde-Omnibussen oder -Trams auf dem Pflaster oder eben Peitschenknallen blieben über das ganze 19. Jahrhundert hinweg die Grundlaute des innerstädtischen »Pferdezeitalters« (Reinhart Koselleck). Dass schon vor der Motorisierung des Verkehrs die Geräuschkulisse der Stadt stark durch Verkehrsmittel aller Art geprägt wurde, zeigt auch eine Klage der deutschen Schriftstellerin Emmy v. Dincklage in ihrer Autobiografie von 1879. Ähnlich wie Schopenhauer sah sie »alles Reden und Hören, alles Denken und Studieren« durch »Hundewagen mit einigen geleerten Blechkannen der Milchverkäufer, […] alle möglichen Karren, schellende Tramway-Fuhrwerke, knarrende Kohlenwagen, Rollwagen und zahlreiche Vehikel« übertönt und gestört. Es gab allerlei Versuche, diesen höllischen Lärm durch technische Innovationen zu dämpfen, etwa durch die Einführung von Asphalt als Straßenbelag (Paris 1854, Berlin ab 1878) oder durch die allmähliche Ersetzung der metallbeschlagenen Holzräder durch Gummireifen, für die der Schotte John Dunlop 1888 ein Patent anmeldete.
Dass die Peitsche für Schopenhauer zu solch einer Pein werden konnte, hatte einen Grund in der Veränderung der Sozialstruktur der europäischen Städte. Der Philosoph gehörte einer im Verlauf des Jahrhunderts stetig wachsenden Schicht von Schriftstellern, Künstlern, Journalisten, Beamten oder Wissenschaftlern an, die als Freiberufler oder staatlich bestallte Kopfarbeiter gänzlich andere akustische Ansprüche anmeldeten als Bewohner mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Städte. Schopenhauer selbst sah im übermäßigen Peitschenknallen denn auch einen feindlichen Akt und einen »freche[n] Hohn des mit den Armen arbeitenden Teiles der Gesellschaft gegen den mit dem Kopf arbeitenden«.
Diese neue Empfindlichkeit betraf auch einen anderen Kernbereich städtischer Klangproduktion: Straßenmusik. Pfeifer, Fiedler und fahrende Sänger aller Art hatten der Klangwelt alteuropäischer Städte ihr akustisches Gepräge gegeben und waren die ganze Frühe Neuzeit hindurch immer wieder Gegenstand obrigkeitlicher Regulierungsbestrebungen. Diese hatten aber meist eher einen migrationspolitischen Hintergrund und bezogen sich weniger auf die spezifisch akustische Seite. Das änderte sich im 19. Jahrhundert: Auf Initiative einiger Mitglieder der kulturellen und intellektuellen Elite, unter ihnen die britischen Schriftsteller Charles Dickens und Thomas Carlyle, wurde 1864 in London insbesondere die Praxis des öffentlichen Drehorgelspiels massiv eingeschränkt, weil die damit verbundene Klangemission den Ruhebedürfnissen dieser Kreise zuwiderlief.
Dass Peitschenknallen und Drehorgelspiel um die Mitte des Jahrhunderts zu einem offensichtlichen Lärmproblem werden konnten, verweist zudem auf die zunehmende Segregation und Privatisierung des öffentlichen Raums, eine auch administrative Trennung von lärmintensiven und ruhigen Gegenden. Im Zuge dieses Prozesses ergab sich eine Umstellung von zeitlicher auf räumliche Einhegung des Lärms. Während noch im 18. Jahrhundert in so unterschiedlichen Städten wie Zürich und New York vor allem im Kontext bestimmter Zeiten wie der Nacht oder während des Sonntags Ruhe eingefordert wurde, ging man z. B. im New York des frühen 20. Jahrhunderts zu einer expliziten, auch administrativ durchgesetzten Zonierung über, die besonders lärmsensible Orte wie Schulen, Krankenhäuser oder Kirchen vom Klang der industriellen Moderne freihalten sollte (→ MORAT, S. 149).
Diese zunehmende räumliche Spezifizierung des urbanen Klangs betraf auch die professionelle Musikausübung, namentlich die Etablierung eines öffentlichen Konzertwesens ab dem Ende des 18. Jahrhunderts, wiederum vor allem in den (musikalischen) Metropolen Wien, Paris und London. Neu gebaute Konzertsäle und öffentliche Opernhäuser standen nun nicht nur dem Adel offen, sondern auch breiteren Bevölkerungsschichten. Insofern wurden musikalische Praxis und Hörerfahrung der Stadtbewohner durch Oper und Konzert demokratisiert, zugleich aber auch domestiziert, indem eine klar erkennbare und auch räumlich erfahrbare Trennung zwischen kulturell legitimierter Kunstmusik (die zu dieser Zeit mit dem Klavier auch in die Privathäuser einzog) und dem Sound der Straße eingeführt wurde.
Diese Herausbildung unterschiedlicher Klangräume innerhalb der Stadt ging einher mit dem Niedergang umfassender klanglicher Kommunikationssysteme. Dies betraf vor allem die Glocken der zahlreichen Kirchen und Rathäuser, die das städtische Leben seit Jahrhunderten akustisch strukturiert und rhythmisiert hatten. Während die Glocken, wie Alain Corbin gezeigt hat, in ländlichen Gebieten weiterhin eine unverzichtbare Orientierungsfunktion hatten, verloren sie diese in den Städten immer mehr an öffentliche Uhren und Fabriksirenen. Schopenhauer und Dincklage benötigten den Glockenklang nicht mehr als Zeitmarkierung und Kommunikationsmedium, fühlten sich durch ihn aber auch nicht in ihrer Geistesarbeit gestört. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren Glocken zu einer akustischen Selbstverständlichkeit geworden, die man nicht eigens als Hörerfahrung zu thematisieren brauchte.
Im Jahre 1811 erschien in der New Yorker Zeitschrift Independent Mechanic ein Artikel über eine Reise durch die Schweiz, die der Autor schon während des Jahres 1772 unternommen hatte. Begeistert gibt er seine Eindrücke wieder, wobei er sich nicht nur genretypisch auf die grandiose Bergwelt bezieht, sondern vor allem das städtische Gewerbe feiert: »Wo immer ich in eine Stadt eintrat, hörte ich von überall her das Klirren der Hämmer und das Klingen der Maurerkellen.« Auch auf dem Land zeigt sich der schweizerische Wohlstand vor allem akustisch durch das Singen der Frauen und Mädchen, begleitet vom Klappern der Spinnräder. Die Klänge von Handwerk und früher Industrie werden als Zeichen des Fortschritts und der Prosperität gedeutet, sie fügen sich nahtlos in ein harmonisches Panorama von Stadt und Land ein.
Mit der einsetzenden Mechanisierung und Industrialisierung trennten sich jedoch die Klangwelten, wie man wiederum exemplarisch am Grünen Heinrich ablesen kann. Während das traditionelle Gewerbe auf dem Land, in Kellers Worten, vergleichweise leise »summt«, dröhnt die innerstädtische Industrie von »Hammergetönes«. In dieser Passage ist die Industrialisierung nicht nur als ein ökonomisch bedeutsamer Vorgang zu greifen, sondern auch als eine sinnesgeschichtliche Zeitenwende. Das Stampfen und Dröhnen des universellen Motors der Industrialisierung, der Dampfmaschine, das Klappern von immer größeren Wassermühlen und das Rattern mechanischer Webstühle ersetzten nach und nach die Klänge des traditionellen Gewerbes.
Nicht, dass dieses in allen Fällen per se leise und dezent gewesen wäre. Frühneuzeitliche Polizeiordnungen, die besonders lärmintensive Wirtschaftszweige wie das Schmiedehandwerk akustisch zu regulieren versuchten, zeigen, dass auch vorindustrielles Gewerbe als Klangproblem wahrgenommen werden konnte. Die Industrialisierung mit ihren technologischen Innovationen wie der Dampfmaschine bedeutete aber eine neue Qualität des Lärms. Das heißt gleichwohl nicht, dass die Klangwelt der Fabrik von Anfang an als störend wahrgenommen wurde. Im Gegenteil: Der Erfinder der Dampfmaschine, James Watt, beschwor zu Beginn des Jahrhunderts die Assoziationskette Maschinenlärm, Macht und Fortschritt. Je lauter eine Maschine dröhnte, desto besser. Rein akustisch bedeutete der Beginn des 18. Jahrhunderts also eine gewaltige Veränderung, vom leisen Rattern des protoindustriellen Textilgewerbes hin zum Heavy-Metal der aufkommenden Schwerindustrie. Wahrnehmungsgeschichtlich hingegen ist eine erstaunliche Kontinuität zu konstatieren. Beide Klangformen sprechen von derselben Sache, von der Blüte von Wirtschaft und Gesellschaft, der erfolgreichen Naturbeherrschung und dem allgemeinen menschlichen Fortschritt.
Es ist schwierig zu sagen, wann genau und wodurch sich dies ändert. Erst gegen Ende des Jahrhunderts, ab den 1870er Jahren, sind in den verschiedenen europäischen Staaten Initiativen und Kampagnen nachweisbar, die das industrielle Soundscape nunmehr als die Gesundheit gefährdenden Lärm begreifen und es auch als solchen bekämpfen (→ PAYER, S. 59). Gleichwohl gerieten andere unangenehme Begleiterscheinungen der Industrialisierung wie Gestank oder Rauchentwicklung früher in das Blickfeld der Hygieniker als der Lärm. Eine mögliche Erklärung könnte darin liegen, dass nicht alle Mitglieder der Gesellschaft den akustischen Nebenfolgen der industriellen Revolution gleichermaßen ausgesetzt waren. Der größte Lärm spielte sich mehr und mehr innerhalb abgeschlossener Fabrikgebäude ab, zu deren Klangwelt keinen direkten Zugang hatte, wer nicht als Arbeiter dieser Beschallung ausgesetzt war. Zudem waren großräumige Industrielandschaften, in denen wie in Manchester oder Sheffield ganze Städte und Landstriche im Sinne der Industrie umgestaltet wurden, selten. Häufiger waren, vom Schweizer Sonderfall einer vorwiegend ländlichen Industrialisierung einmal abgesehen, kleinräumige Industriezonen am Rande der Städte.
Zugleich wurden aber allmählich auch jene Räume vom industriellen Klangbild durchdrungen, die bislang als weitestgehend leise Hi-Fi-Soundscapes gelten konnten. Das häufigste Medium dieser akustischen Invasion war die Eisenbahn (→ MARSZOLEK, S. 209). Sie bedeutete für die Menschen des 19. Jahrhunderts nicht nur eine Revolution des Transportwesens, indem das langsame, teure und unbequeme Postkutschensystem innerhalb kurzer Zeit ersetzt wurde, sondern auch eine radikale Umstellung in der sinnlichen Wahrnehmung der Umwelt. Das betrifft sicherlich in erster Linie den Gesichtssinn, erlaubte doch die erhöhte Geschwindigkeit der Eisenbahn keine visuelle Kontemplation der Welt jenseits des Abteilfensters mehr, sondern erzwang ein »panoramatisches Sehen« (Wolfgang Schivelbusch), das von Details absah und eher auf das Ganze der vorüberziehenden Landschaft blickte.
Doch die Eisenbahn brachte auch vollkommen neuartige akustische Erfahrungen mit sich. Aus der Binnenperspektive des Passagiers ergab sich eine paradoxe Situation. Einerseits machte die Isolation in den zumindest in Europa üblichen abgeschlossenen Abteilwagen (die das Postkutschenprinzip kurzerhand auf die Schiene übertrugen) in Verbindung mit der nicht unerheblichen Lautstärke, die in den Wagen herrschte, jene Kommunikation zwischen Reisenden unmöglich, die – je nach Temperament der Insassen – in der Postkutsche anregend oder enervierend gewirkt hatte. Zugleich wurde durch die Geräuschkulisse die visuelle Wahrnehmung der Außenwelt vollkommen von der akustischen getrennt, was zu einer zuvor kaum gekannten Verunsicherung des Weltbezugs geführt haben muss. So schreibt Max Maria von Weber, Sohn des deutschen Komponisten Carl Maria von Weber und einer der führenden »Eisenbahnphilosophen«, in seiner Schule des Eisenbahnwesens von 1857: »So hat jeder Aufmerksame beobachtet, dass, wenn man bei festlichen Gelegenheiten an schreienden Volksmassen vorüberfährt, das Schreien nur an der Bewegung der Gesichter bemerkt, gar nicht gehört werden kann.«
Der Ausbau des Eisenbahnnetzes veränderte auch die Wahrnehmung der Natur auf vollkommen unerhörte Weise. Wurden die ersten Gleise noch parallel zu den bereits bestehenden Straßen verlegt, erkannte man recht bald, dass die Bedürfnisse des neuen Verkehrsmittels gänzlich neue Raumerschließungsmaßnahmen erforderten. So gingen die Ingenieure bald dazu über, die Landschaft selbst umzugestalten, indem Hügel, Täler und Hindernisse einer vollkommen ebenen Trassierung weichen mussten. Eisenbahnbau bedeutete also eine neue Form von Naturunterwerfung. Dies geschah gleichwohl nicht nur durch die allmähliche – und weltweite – Ausbreitung des Gleissystems, sondern auch mit Blick auf die sinnliche Wahrnehmung der Eisenbahn selbst, und dies besonders in akustischer Hinsicht.
Um dies zu verdeutlichen, sei der Sprung über den Atlantik gewagt. Henry David Thoreaus autobiografischer Bericht Walden über sein Leben in den Wäldern von Massachusetts enthält ein kurzes Kapitel über »Sounds«, das nicht nur über die Geräusche der Natur rund um den See Walden Pond Aufschluss gibt, sondern vor allem über die akustische Invasion der Eisenbahn in dieses Biotop. Obwohl Thoreau überdeutlich macht, dass keine »domestic sounds« wie das Sirren des Spinnrads, Kindergeschrei oder auch nur das Gegacker domestizierter Hühner das Soundscape seines Refugiums stören, bleibt seine »unfenced nature« nicht von zivilisatorischen Klängen verschont. Thoreau entwickelt eine sehr feine Differenzierung zwischen solchen Klängen, die dem unverfälschten Klangraum der Natur anverwandelt werden können, und solchen, die diesen unwiderruflich durchbrechen. So erscheinen ihm die Schläge ferner Kirchenglocken als »natural melody, worth importing into the wilderness«.
Die Eisenbahn mit ihrem Pfeifen und Stampfen trägt Annehmlichkeiten und Gefahren der Zivilisation mitten in die Natur hinein, liefert Luxusgüter an die entferntesten Orte und verknüpft die Wälder von Massachusetts mit der Welt des internationalen Kapitalismus. Ihre Präsenz wird jedoch rein akustisch erzeugt. Die Züge bleiben in den dichten Wäldern unsichtbar, doch ihre Signale verändern das Leben auf dem Land für immer. Ihr stetes Wiederkehren nach fixen Fahrplänen strukturiert den bäuerlichen Alltag: »The startings and arrivals of the cars are now the epochs of the village day. They go and come with such regularity and precision, and their whistle can be heard so far, that the farmers set their clocks by them, and thus one well conducted institution regulates the whole country.« Thoreau zeigt, dass im Verlaufe des 19. Jahrhunderts die Grenze zwischen dem industriell durchgeformten Stadtraum und der unberührten ländlichen Natur in akustischer Hinsicht immer durchlässiger wurde. Er macht auch deutlich, dass durch das Auftauchen der Eisenbahn in weitgehend unbesiedelten Gegenden der Welt nicht nur neue akustische Erfahrungen gemacht werden konnten (und mussten), sondern dass diese den gesamten Erfahrungsraum neu ausrichteten. Sich dem zu entziehen, war kaum möglich.
In klanggeschichtlicher Hinsicht war das 19. Jahrhundert ein kurzes Jahrhundert. Um 1880 spätestens änderte sich vieles des hier Beschriebenen. Technisierter, bald motorisierter Verkehr hielt Einzug in die Städte, Protagonisten des Wohlfahrtsstaats begannen, sich um das Hörvermögen der Arbeiterschaft zu sorgen, erste Lärmschutzinitiativen wurden lanciert. Der Klang der Vormoderne war nun fast endgültig verklungen, das Unerhörte der Jahrzehnte zuvor zur Gewohnheit oder zur Belastung geworden. Es mag kein Zufall sein, dass die ersten Versuche der Klangreproduktion in eben diese Zeit fallen. Die Walzen, die Edisons Phonograph ritzte, reproduzierten nicht die Klänge der industriellen Moderne, sondern jene einer verklungenen Zeit: vom Kinderlied Mary had a little lamb über die romantische Dichtung Robert Brownings bis zur unwahrscheinlichen Kombination des Studentenliedes Gaudeamus igitur und der Marseillaise, die niemand anderes als der Eiserne Kanzler Otto von Bismarck auf einer Walze vereinigte (→ GAUSS, S. 31). Das neue Medium gewann auf diese Weise geradezu eine nostalgische Funktion.
Aus der Retrospektive der 1880er Jahre erscheint dagegen das Zürich Gottfried Kellers als eine eigentümliche Klangwelt des Übergangs. Durch die akustische Differenzierung der einzelnen Klangquellen bleibt diese zwar fest im Hi-Fi-Soundscape Alteuropas verankert, mit den expliziten akustischen Bezügen auf Eisenbahn und Industrie verweist sie aber zugleich schon auf die großstädtische Klangkultur des Jahrhunderts (→ PAYER, S. 39).
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JAN-FRIEDRICH MISSFELDER: Period Ear. Perspektiven einer Klanggeschichte der Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012) 1, S. 21-47.
JÜRGEN OSTERHAMMEL: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009.
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R. MURRAY SCHAFER: Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens, Mainz 2010 [1977].
WOLFGANG SCHIVELBUSCH: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. u. a. 1979.
ARTHUR SCHOPENHAUER: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften II, Darmstadt 1976.
HILLEL SCHWARTZ: Making Noise. From Babel to Big Bang and Beyond, New York 2011.
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Kulturgeschichte des Phonographen und des Grammophons
Stefan Gauß
Auf der Tagesordnung der Monatssitzung des Elektrotechnischen Vereins stand am 26. November 1889 der erste nachweisbare Vergleich zwischen dem Phonographen und dem Grammophon. Versammelt hatten sich im Großen Hörsaal des Kaiserlichen Postfuhramts der Staatssekretär des Reichspostamts Heinrich von Stephan, der Geheime Regierungsrat Werner von Siemens, der Ober-Telegraphen-Ingenieur Grahwinkel sowie weitere Berliner Unternehmer, Ingenieure, Offiziere und Wissenschaftler. Der Telegraphen-Ingenieur des Reichspostamts Müller stellte dem Auditorium den Phonographen vor. Er sprach einige Sätze hinein, die auf eine Wachswalze aufgezeichnet wurden, und spielte diese wieder ab. Über das Hörerlebnis berichtet Költzow, Werkmeister in einer elektrotechnischen Fabrik: »Die Sprache war rein und klar mit etwas Nebengeräusch, jedoch sehr leise, sodass nur die Umstehenden, die sich in nächster Nähe befanden, etwas hören konnten.« Emile Berliner führte das von ihm konstruierte Grammophon vor. Költzow schrieb über den Höreindruck: »Als Berliner seinen Apparat in Tätigkeit setzte, entstand ein fürchterliches Geräusch, welches fast unerträglich war, bald aber ertönte eine vollständige Orchestermusik, aus welcher man trotz des Geräusches fast jedes einzelne Instrument heraushören konnte.«
Der Ingenieur und Unternehmer Emile Berliner, der 1870 von Hannover in die USA ausgewandert war, hatte sein Grammophon zum ersten Mal am 16. Mai 1888 vorgestellt, und zwar vor Wissenschaftlern des Franklin-Instituts in Philadelphia. Ab Anfang September 1889 befand er sich in Deutschland. Es war seine Absicht, den Bekanntheitsgrad seiner »Erfindung« zu erhöhen und Investoren zu finden. Dazu hielt er Vorträge in Hannover, Berlin und Frankfurt a. M., in welchen er die Funktionstüchtigkeit und den Gebrauchswert des Grammophons demonstrierte und die Technik erläuterte.
Nahezu zur selben Zeit waren der US-amerikanische »Erfinder« und Unternehmer Thomas Alva Edison und sein Assistent Theo Wangemann auf Werbereise für den von Edison entwickelten Phonographen. Er wurde gerade in Paris auf der Weltausstellung gezeigt, wo Edison ihn auch seinem Freund und Geschäftspartner Werner von Siemens vorstellen wollte. Da dieser jedoch verhindert war, schickte Edison Wangemann nach Berlin. Die erste Vorführung des Phonographen vor deutschen Wissenschaftlern fand in den Räumen der Firma Siemens & Halske am 15. September 1889 in Anwesenheit von Edison statt. Wie die Berliner Presse tags darauf berichtete, verwies Edison bei dieser Vorführung auf die Rationalisierungseffekte, die mit dem Gebrauch des Phonographen zum Zweck der geschäftlichen Kommunikation verbunden seien. Wangemann ergänzte, dass die Tonwalze als Ersatz für den geschriebenen Brief dienen könne; er selbst habe in Paris eine Tonaufnahme angefertigt und diese als postillon d’amour an seine Ehefrau in New York geschickt. Wenige Tage nach der Vorführung verließ Edison Deutschland wieder Richtung USA.