7,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Ein Agent, der nichts mehr zu verlieren hat. Politische Feinde, denen keiner entkommt ...
Ein finsterer US-Wahlkampf und eine akute Terrorwarnung: Der ehemalige Doppelagent Ludwig Licht wird von der CIA nach Pennsylvania gerufen. Er soll aufklären, wer hinter der perfiden Schmutzkampagne steckt, mit der der demokratische Kandidat Ron Harriman moralisch vernichtet werden soll. Doch die Wahlkampf-Affäre stellt nur die Spitze eines Eisbergs dar. Dahinter verbirgt sich eine Terrorgruppe, die Ungeheuerliches vorhat. Um die Bedrohung in letzter Sekunde abzuwenden, wendet Licht nicht nur ungewöhnliche Methoden an, sondern begibt sich auch selbst in größte Gefahr ...
Auch in den zwei weiteren Bänden »North of Paradise« und »East of Inferno« muss Ludwig Licht gegen gefährliche politische Drahtzieher und brisante Machenschaften kämpfen – seine Aufträge führen ihn nach Miami zu einer neuen Kuba-Krise und in die finsteren Regionen Georgiens.
»Thomas Engström entwickelt den klassischen Agententhriller genial weiter: Sein Stil ist rasant, die Spannung gigantisch und sein Humor absolut erfrischend!« Arne Dahl
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 429
Ein schmutziger amerikanischer Wahlkampf und eine akute Terrorwarnung: Ludwig Licht wird von der CIA nach Pennsylvania gerufen, um zu retten, was zu retten ist. Denn der demokratische Kandidat Ron Harriman wird beschuldigt, eine Affäre mit einem Sechzehnjährigen gehabt zu haben, der sich daraufhin das Leben nahm. Brisante Enthüllung oder perfide Verleumdung? Ludwig Licht entdeckt bald, dass die Wahlkampf-Affäre nur die Spitze eines Eisbergs darstellt. Denn eigentlich geht es um eine Terrorgruppe, die das ganze Land zerstören will. Um die Bedrohung in letzter Sekunde abzuwenden, wendet Ludwig Licht nicht nur sehr ungewöhnliche Methoden an, sondern begibt sich auch selbst in größte Gefahr ...
Thomas Engström, 1975 geboren, ist ausgebildeter Jurist und arbeitet seit vielen Jahren als Journalist, Übersetzer und Autor. Nach West of Liberty ist South of Hell der zweite Band seiner viel beachteten 4-teiligen Ludwig-Licht-Serie. Für diesen Band erhielt Thomas Engström den renommierten Schwedischen Krimipreis. Die weiteren Bände North of Paradise und East of Abyss sind bereits in Vorbereitung.
THOMAS
ENGSTRÖM
SOUTH
OF HELL
EIN LUDWIG-LICHT-THRILLER
Aus dem Schwedischen von Lotta Rüegger und Holger Wolandt
C. Bertelsmann
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Söder om helvetet bei Albert Bonniers Förlag, Stockholm
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2014 by Thomas Engström
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019
beim C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Published by agreement with Salomonsson Agency
Covergestaltung: bürosüd
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-18331-8V003
www.cbertelsmann.de
Selbst fürchterliche Menschen sind tragisch. Thomas Adès
PROLOG
Casino Countryside Inn
Bear Creek Township, Pennsylvania, USA
Mi., 17. Okt. 2012
[07:05 EST]
Sogar die Selbstmorde tanzten im Wyoming Valley aus der Reihe.
Der Junge im Motelzimmer trug nur Boxershorts und lag mit angezogenen Knien auf einer beigen Tagesdecke mit Indianermuster. Er war höchstens achtzehn Jahre alt und breitschultrig, hatte halblanges, aschblondes Haar und schmale Hüften. Der linke Oberarm war mit einem stramm sitzenden Schlips abgebunden, und neben den geschlossenen Augen des Jungen lag eine leere Einwegspritze – vermutlich das Letzte, was er in seinem irdischen Dasein erblickt hatte.
George Decker, der Polizeichef von Bear Creek, sah sich nicht zum ersten Mal in seinem Leben mit einer Leiche konfrontiert. Als Marineinfanterist hatte er an der Invasion Grenadas teilgenommen, und in den letzten fünfzehn Jahren hatte er bei seiner Tätigkeit in der ärmsten Region Pennsylvanias mittlerweile den Überblick verloren: Jagdunfälle, Autounfälle mit und ohne Wildbeteiligung, tödliche Messerstechereien und der eine oder andere kaltblütige Mord. Aber dieser Fall war anders gelagert. Der junge Mann hatte sich erbrochen und sah ansonsten so aus, als schliefe er. Seine Jugend und der Umstand, dass er nicht durch einen Unfall entstellt war, ließen diesen Tod so viel tragischer erscheinen als die entsetzlichen Bilder, die sich Decker nach Autounfällen und Granatenangriffen geboten hatten. Vor allem die Freiwilligkeit setzte ihm zu.
Denn es konnte sich nur um einen Selbstmord handeln und nicht wie sonst um eine Überdosis. Ein Blatt Papier und ein Kugelschreiber auf dem Nachttisch, die Kleider ordentlich über eine Stuhllehne gehängt.
In einem Umkreis von mehreren Meilen gab es kein billigeres Zimmer. Die Wände hatten eine unbestimmbare Farbe. Der bauchige, tragbare Fernseher, der Jahre in Gefangenschaft auf dem Buckel hatte, stand festgekettet auf einem holzverschalten Kühlschrank. In der engen, lila gefliesten Dusche war es feucht wie in einem Dampfbad, wobei die Lüftung beinahe die Autobahn vor dem Haus übertönte. Obwohl alle Lichter brannten, wirkte die Dunkelheit im Zimmer undurchdringlich. Zwischen dem Teppichboden und den schimmeligen Dielenbrettern lag Zeitungspapier, das bei jeder Bewegung raschelte.
Deckers Assistentin, eine Frau, die jede dritte Woche nach Haarfärbemittel roch und sich immer räusperte, wenn die Gesprächspausen allzu lang wurden, trat beiseite, als ihr Chef an ihr vorbeiging, um die karierten Gardinen zu öffnen. Sein Blick fiel auf den Frühnebel, der sich von den Bergen herab langsam durchs Tal wälzte.
Decker strich sich mit der Hand über die Bartstoppeln.
»Und wer ist das?«
»Christopher Warsinsky«, sagte seine Assistentin und las vom Führerschein des Jungen ab: »237 Lakeron Drive. Er wäre in zwei Monaten siebzehn geworden.«
»Autoschlüssel?«
»Nein.«
»Wie ist er dann hierhergekommen?« Decker sah sich im Zimmer um.
»Zweihundert Meter von hier liegt eine Bushaltestelle. Oder jemand hat ihn hergebracht.«
Auf dem Nachttisch stand ein geöffnetes leeres Medizinfläschchen. Decker beugte sich vor und roch daran, ohne es anzufassen. Geruchlos. Natürlich Heroin.
»Schau mal«, sagte die Assistentin, die vor dem anderen Nachttisch stand, und hob mit einer Pinzette ein Stück Papier hoch.
»Hast du schon alles fotografiert?«, vergewisserte er sich.
»Ja. Komm her.«
Decker ging um das Bett herum und setzte seine Lesebrille auf. »Scher Dich zum Teufel, Ron«, las er.
Ron?
»Gibst du mir mal bitte sein Handy?«, meinte Decker.
Das weiße iPhone des Jungen ließ sich nicht mit Plastikhandschuhen bedienen. Die Assistentin schaute Decker über die Schulter und erklärte: »Die Fingerabdrücke sind bereits abgenommen.«
Decker nickte und zog seine Handschuhe aus.
Halbherzig schlug seine Assistentin vor: »Sollten wir nicht lieber abwarten, bis …?«
»Nicht nötig. Was man sich ohne Passwort anschauen kann, hinterlässt keine Spuren.«
Er sah sich die Mails des Jungen durch. In den letzten Tagen nichts von Interesse. Abgesehen von den für Teenager typischen Mitteilungen über unausstehliche Lehrer und ungerechtfertigten Hausarrest gab es auch keine bemerkenswerten SMS. Aber dafür einen Chat mit Emma Harriman.
Harriman … vielleicht die Tochter von Ron Harriman? Von Scher-Dich-zum-Teufel-Ron-Harriman? Sie tauschten sich über ein Theaterstück aus. Die Zoogeschichte. Emma führte Regie, Chris war einer der Schauspieler.
Decker tippte aufs Facebook-Icon.
Und in diesem Moment wurde ihm klar, dass bald die Hölle losbrechen würde.
»Seine letzte Statusmeldung stammt von heute Nacht um vier Uhr«, sagte Decker zu seiner Assistentin. »Ron Harriman bricht seine Versprechen«, las er vor. »Er hat mich ausgenutzt und mir das Herz gebrochen. Ich will nicht mehr leben.«
Mit hochgezogener Augenbraue musterte die Assistentin den Jungen eingehend. »Sieh mal einer an! Dann gibt es also doch noch einen richtigen Wahlkampf.«
Decker sah sie vielsagend an und meinte: »Ich fahre zum See runter und versuche Harriman zu finden. Ruf mich an, sobald feststeht, wer die Obduktion übernimmt. Setz dich zuerst mit der Wache in Scranton in Verbindung. Und versuch beim Empfang herauszufinden, ob die Überwachungskameras etwas hergeben. Schau nach, ob er alleine gekommen ist. Und kontrolliere alle Autos in der Nähe.«
»Wer informiert die Angehörigen?«
»Die Adresse hast du ja.«
Auf dem Parkplatz war es feuchtkalt und trübe. Jetzt am Morgen waren es nur sieben Grad, aber bis Mittag sollte das Thermometer bis auf zwanzig Grad steigen. Das Motel war ein alter, türmchenverzierter Kasten aus morschem, grauem Holz mit drei weißen Baracken und einem Parkplatz vor jeder Zimmertür und lag oberhalb des Highway 115. Der ganze Komplex hatte die Aura eines Umspannwerks oder eines umgebauten Schlachthofs. Etwas weiter den Hügel hinauf lag eine graue Kirche in einem Wäldchen. In der anderen Richtung lärmten Lastzüge und Pendler auf der Autobahn vorbei, die ins Tal zu den Einkaufszentren und in die Universitätsstadt Wilkes-Barre führte. Und natürlich auch nach Kanada, wenn man die entsprechende Zeit, das Geld für einen vollen Tank und gutes Urteilsvermögen mitbrachte. Zwei Stunden weiter weg begann eine andere Welt. Aber auch die Flucht nach Osten war möglich. Auch Manhattan ließ sich in zwei Stunden erreichen. Fluchtwege gab es also genug. Trotzdem blieb eine halbe Million Menschen in diesem Tal wohnen. Chris Warsinsky hatte eine andere Lösung gewählt.
Selbstmorde unter jungen Menschen waren im Wyoming Valley nicht ungewöhnlich. Sie waren sogar so häufig, dass die Presse von einer Epidemie sprach. Aber hier handelte es sich nicht um einen gewöhnlichen Selbstmord. Im Casino Countryside Inn war die Bombe eines politischen Selbstmordattentäters explodiert.
Decker kannte Ron Harriman kaum. Er wusste, dass dieser für kurze Zeit amerikanischer Botschafter in Berlin gewesen war und jetzt bei den bevorstehenden Kongresswahlen für die Demokraten im elften Wahlkreis kandidierte. Seine Frau besaß drei Hunde, die die anderen betuchten Einwohner am Bear Creek Lake terrorisierten.
Decker bedauerte es, Harriman nicht besser zu kennen, denn dann hätte sich die Sache vielleicht rein intuitiv lösen lassen. So sah sich Decker gezwungen, Harriman bei ihrer ersten Begegnung mit einer Anklage zu konfrontieren. Kein guter Beginn in Anbetracht der Tatsache, dass dieser Mann in Zukunft vermutlich sehr viel Einfluss haben würde.
Es galt also, die Sache ohne viel Aufhebens über die Bühne zu bringen.
Zehn Minuten lang fuhr er durch Oktoberlaub und Nebelschwaden. Der Bear Creek Lake mit seiner kleinen Staumauer und den kurvigen Sträßchen hätte in jede Neuengland-Touristenbroschüre gepasst. Hier wohnte die wahre Aristokratie der Gegend: die Nachfahren der Industriebarone vergangener Zeiten. Kurz vor dem Ortskern bog Decker links auf die Beaupland Road ab, die an einigen Sommerhäusern vorbeiführte, ehe er den Lake Drive East erreichte, der sich um den See schlängelte.
Ein Selbstmord war natürlich ein Akt der Aggression. Aber hätte sich die Statusmeldung auf Facebook nicht direkt an Ron wenden müssen? Auf dich ist kein Verlass, Ron. Du hast mich ausgenutzt und mir geschadet. Decker fand die Formulierung des Jungen etwas zu allgemein gehalten.
Aber andererseits: Waren nicht alle jungen Leute heutzutage die reinsten PR-Spezialisten – ständig auf der Jagd nach Zuspruch und ständig bereit, öffentliche Statements abzugeben?
Harrimans Haus war ein imposantes Anwesen aus der Zeit um 1910. Die gelb gestrichene dreistöckige Holzvilla war mindestens vierhundert Quadratmeter groß, lag auf einer Anhöhe oberhalb des Sees und überragte sämtliche anderen Häuser in der Gegend. Drei uralte Scharlach-Eichen standen in einem Abstand von fünfundzwanzig Metern vor dem Haus aufgereiht. Auf dem Parkplatz, der ebenso groß war wie Deckers Garten und von einer niedrigen Lavendelhecke gesäumt wurde, standen die drei Familienautos – ein schwarzes Lincoln Town Car, ein weißer Mercedes E 350 mit rotem Verdeck und ein giftgrüner Jeep Wrangler. Decker parkte auf der unbefestigten Straße, stieg aus und folgte einem gepflasterten Weg zum Haus.
Es gab einige offene Fragen. Warsinsky war keinesfalls ein Junkie, dachte Decker auf dem Weg zur knallrot lackierten Haustür. Der Junge war weiß, auch wenn Decker diesen Umstand in seinem Bericht nicht eigens hervorheben würde, er war athletisch, und nichts deutete auf längeren Drogenmissbrauch hin. Gleichzeitig war es für junge Leute heutzutage einfacher, Heroin zu beschaffen als Schlaftabletten.
Es gab einige offene Fragen, aber das war immer so. Und in der Regel ließen sie sich klären.
Die Tür wurde geöffnet.
»Decker«, sagte Harriman und zog eine Braue hoch.
»Herr Botschafter.«
Harriman trug Slacks, ein schwarzes Polohemd und eine Breitling-Armbanduhr. Er trat auf die Treppe und schloss die Tür hinter sich. »Meine Frau ist mit den Hunden spazieren, und ich weiß gar nicht, was ich Ihnen anbieten könnte.«
»Machen Sie sich keine Gedanken, Mr. Harriman. Ich wollte Sie nur nach Ihrem Verhältnis zu Christopher Warsinsky fragen.«
»Zu Chris? Er ist ein Freund meiner Tochter. Sie sind in derselben Theatergruppe.«
»War er oft hier?«
Harriman zuckte mit den Achseln. »Ich bin viel auf Reisen. Was ist geschehen?«
»Er wurde heute Morgen tot aufgefunden.«
Die Sonne drang durch den sich lichtenden Nebel. Einige Sekunden lang sah Harriman wahrhaftig aus wie ein Staatsmann, aber dann verwandelte sich die würdige Erschütterung in hässliches Misstrauen.
»Tot? Wie das?«
»Vermutlich Selbstmord. Eine Überdosis im Casino Countryside Inn.«
Harriman fuhr sich mit beiden Händen durch das rotbraune, volle Haar und warf einen besorgten Blick Richtung Straße.
»Mein Gott, wie furchtbar. Mir fehlen die Worte. Wenn Sie Genaueres über ihn erfahren wollen, müssen Sie sich mit meiner Tochter unterhalten, sie kannte ihn, wie gesagt …«
»Mr. Harriman.«
»Ja?«
»Unmittelbar vor seinem Tod hat Chris auf Facebook gepostet, Sie hätten ihm … das Herz gebrochen. Möchten Sie sich dazu äußern?«
»Auf Facebook? Was soll der Unsinn?«
»Er schreibt, auf Sie sei kein Verlass, Sie hätten ihm das Herz gebrochen, und er wolle deswegen nicht mehr leben.«
»Soll das ein Witz sein?«
»Leider nein.«
Harriman zog die Schultern hoch. Dann reckte er sich, als übernehme er die Rolle eines Fünf-Sterne-Generals, und hob einen vorwurfsvollen Finger.
»Ich habe ihn wirklich nicht näher gekannt. Er muss … ernsthafte psychische Probleme gehabt haben.«
»Das ist, wenn man sich das Leben nimmt, nicht auszuschließen«, erwiderte Decker leise.
»Aber das ist doch vollkommen gestört. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Sie müssen mir glauben, dass ich mit dem Jungen kaum zu tun hatte. Ich habe ihn und Emma einige Male mit dem Auto abgeholt oder ihn begrüßt, wenn die beiden vor dem Fernseher saßen. Keine Ahnung. Ich kann mich kaum an sein Aussehen erinnern.«
»Warum hat er dann diese Zeilen gepostet?«
»Jemand muss sein Konto gehackt haben.«
»Er hat auch eine handschriftliche Mitteilung hinterlassen, mit den Worten: ›Scher dich zum Teufel, Ron.‹«
»Scher dich zum Teufel?«, wiederholte Harriman leise. »Das kann man wohl sagen. Wissen Sie, was das für Folgen hat? In drei Wochen sind Wahlen. Sie haben doch hoffentlich keine Journalisten verständigt?«
»Da es auf Facebook steht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Medien davon erfahren. Das ist Ihnen doch sicher auch klar.«
»Welch ein Alptraum. Mir ist vollkommen schleierhaft, was dahintersteckt.«
»Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob Sie sich etwas haben zuschulden kommen lassen, Mr. Harriman. Sofern Sie nicht ein Verhältnis mit einem Minderjährigen gehabt haben. Es ist natürlich kein Verbrechen, einen Selbstmord verursacht zu haben. Nur damit Sie verstehen, wie …«
»Danke, ich bin Jurist. Das verstehe ich sehr gut. Sonst noch was?«
Erstaunt sah Decker den Politiker an, dem nicht so ganz klar zu sein schien, wessen Sympathien er sich doch besser gesichert hätte.
»Sie bestreiten also, ein strafbares Verhältnis zu Chris Warsinsky unterhalten zu haben«, stellte Decker kühl fest.
»Ja.«
»Und Sie haben ihm auch keinerlei Hoffnungen gemacht?«
Harriman starrte Decker glasig an. Das Schweigen dauerte zu lange.
»Es kommt ja vor, dass sich junge Leute irgendetwas einbilden«, meinte der ehemalige Botschafter schließlich. »Das könnte natürlich der Fall sein. Vielleicht hat er mich ja als Promi gesehen und als solchen verehrt.«
Decker hatte das Gefühl, Harriman das perfekte Argument zur eigenen Verteidigung geliefert zu haben.
»Wie Sie sich denken können, wird es eine Obduktion geben.«
»Natürlich. Aber ich habe ihn nicht angefasst, das werden Sie feststellen.«
»Ist Ihre Tochter zu Hause, Mr. Harriman?«
»Nein, sie ist in der Schule. Ich selbst bin im Übrigen auf dem Weg in unser Wahlkampfbüro. Sind wir fertig?«
»Natürlich«, sagte Decker, reichte dem ehemaligen Botschafter die Hand und machte auf dem Absatz kehrt. »Ich lasse von mir hören.«
Aber die Tür war bereits ins Schloss gefallen.
Auf dem Weg zu seinem Wagen sah Decker, dass Harrimans Frau von ihrem Spaziergang zurückkehrte. Der Polizeichef beeilte sich, in sein Auto zu steigen, weil er keine Lust hatte, ihre Fragen zu beantworten. Davon würde es in der nächsten Zeit ohnehin genug geben.
OPUS 14 MINUS 19 TAGEDIE SUBTILE BEGABUNG
Konzernzentrale von EXPLCO
K Street, Washington, D. C., USA
Fr., 19. Okt. 2012
[11:05 EST]
Wie viele? Zwei, drei? Clive Berner, von alten Washingtoner Bekannten, insbesondere von ehemaligen CIA-Kollegen auch GT genannt, kehrte in die grimmige Gegenwart zurück. Kein einziger. Null Teelöffel Zucker im Kaffee lautete das eiserne Gebot.
Kurz gesagt: Alles, was schmeckte, war ungesund. Es war ein abgekartetes Spiel, das mit seinem Tod enden würde. Gott hasste ihn und hatte ihn mit Diabetes gestraft, um ihn stets daran zu erinnern.
Er schaltete die Nespresso-Maschine aus und nippte an seinem Kaffee. Die Washingtoner Niederlassung der Sicherheitsfirma EXPLCO war in den drei obersten Stockwerken eines beigen Bürokomplexes untergebracht. Durch sein Fenster sah GT die nüchterne Silhouette des Washington Memorials. Es befand sich ganz in der Nähe des Weißen Hauses, das nur fünfhundert Meter entfernt lag. Drückte man die Nase an die Scheibe, konnte man unten auf dem Farragut Square die Lobbyisten in Anzügen mit ihren Pappbechern von Starbucks auf denselben Parkbänken sitzen sehen wie die Junkies, die Schulklassen und die japanischen Touristen.
Die Privatwirtschaft hatte durchaus interessante Seiten. GT verdiente jetzt dreimal so viel wie zu seinen Zeiten als Berliner CIA-Chef. Auch die Sozialleistungen waren nicht zu verachten: überdurchschnittliche Rentenansprüche, ein Haus in Alexandria, zwei geleaste Autos und die Mitgliedschaften in unzähligen Clubs, die er allerdings nie aufsuchte. Und der Jahresbonus erst! Beim Gedanken daran wurde ihm beinahe schwarz vor Augen. Ein Jahresbonus, der sich an der Leistung orientierte. Wenn es nur bei der CIA auch so ein System gegeben hätte! Doch wie ließen sich in einem geheimen Krieg für das Überleben der Zivilisation eigentlich die Leistungen messen?
Sein Büro hingegen war weniger erfreulich. Die mickrigen zwölf Quadratmeter entbehrten jeglicher Machtsymbole. Hellgraue Wände, Neonröhren. Ein weißer Schreibtisch, ein weißer Bürostuhl, ein weißes Zweiersofa und ein elliptischer Couchtisch, zu dem er mit abgesenktem Bürostuhl rollte, wenn er Besucher empfing.
Immerhin hatte er abgenommen. Ganze zehn Kilo – wo waren die eigentlich abgeblieben? Mit ziemlicher Sicherheit bei irgendeinem anderen armen Schwein. Die Summe des Übergewichts auf der Welt blieb konstant. Jetzt wog er 115 Kilo und hatte als Ziel 105 Kilo angepeilt. Hundert, sagte seine Frau, neunzig, meinten die Ärzte. Nun ja.
An seiner Tür stand: CLIVEBERNER, Stellvertretender Direktor für internationale Beziehungen.
Die Firma hatte zwar dreißig stellvertretende Direktoren, trotzdem war es das beste Türschild, das er je besessen hatte. Neben dem Aufsichtsrat und dem CEO gehörte er zu den dreißig Mächtigsten in einem Betrieb mit viertausend Mitarbeitern. Rein rechnerisch befand er sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere, allerdings nur rein rechnerisch.
Aber ab und zu brauchte es ein wenig Würze im Leben – Zucker im Kaffee. Ihm fehlten die Einsätze. Seine Flüge nach London, wo er Risikokapitalisten die Investitionen am Horn von Afrika schmackhaft machen sollte, konnten das nicht wettmachen. Er war felsenfest davon überzeugt, dass dieser Mangel der einzige Grund für seine Krankheit war.
Auf der Homepage der Firma wurde er entsprechend gewürdigt: »EXPLCO beschäftigt ehemalige Soldaten aus allen Verbänden der US-Army sowie ehemalige Mitarbeiter des Außenministeriums und der Geheimdienste, darunter einen ehemaligen stellvertretenden Außenminister, zwei ehemalige Mitglieder des nationalen Sicherheitsrates und einen ehemaligen Stationschef der CIA.« Er war also regelrecht eine Galionsfigur.
Es klopfte. Ohne eine Antwort abzuwarten, betrat sein Sekretär sein Büro. Er legte die wenigen Meter zum Schreibtisch seines Chefs zurück und sagte dann:
»Sie ist jetzt da. Soll ich sie vorlassen?«
GT schaute von seiner Kaffeetasse hoch. »Wen?«
»Miss Durani.«
»Ja, nur zu.«
Er hatte keine Ahnung, wer diese Frau war. Einige verwirrte Sekunden lang hielt sie auf der Schwelle inne, bis er sie bat, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Um nichts in der Welt wollte er mit seinem Bürostuhl zu ihr hinüberrollen.
Schwarzer Hosenanzug, limettengrüner Rollkragenpullover. Anfang vierzig. Indische Abstammung? Das schwarze Haar in einem Knoten, die spitzen Knie dicht nebeneinander. Sie saß auf der Sofakante.
»Miss Durani!«, sagte er, stand auf, trat auf sie zu und gab ihr die Hand.
»Mr. Berner.«
»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«
»Nein danke.«
Er ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken und trommelte zweimal mit dem Daumen auf den Schreibtisch. Weiter geschah nichts.
»Tja.« Er räusperte sich. »Wie weit ist diese Angelegenheit eigentlich gediehen?«
»Ich habe die Nachricht gestern Nachmittag erhalten. Mrs. Hayeford hat mich angerufen, was mich sehr gefreut hat.«
GT nickte.
»Sie wissen nicht, wer ich bin, oder?«, meinte die Frau.
»Stimmt genau.« GT lächelte entschuldigend und so charmant wie möglich, wobei sich sein Schnauzer wie die Barthaare eines Seelöwen sträubte. »Ich habe eine anstrengende Woche hinter mir.«
»Ich bin Ihre neue Rechercheassistentin.«
War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Nachdem ihn die CIA zwangsweise in den Ruhestand versetzt hatte, war GT ständig auf der Hut, was Signale von der Unternehmensleitung betraf. Aber schließlich war er ja die Leitung. Es fiel ihm schwer, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen.
Richtig, vor einigen Wochen hatte er bei einem Lunch mit Hayeford die Bemerkung fallen gelassen, dass er ungern recherchiere. Das hatte er hauptsächlich getan, um sich überhaupt über etwas zu beklagen. Nun gut.
»Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Jetzt fällt mir natürlich ein, Miss …«
»Sagen Sie einfach Leya.«
»In Ordnung. GT.«
»Wie bitte?«
»Nennen Sie mich einfach GT.«
»Wie in Gin Tonic?«
»Die Sache ist vielschichtiger.«
»Ich verstehe.«
»Hat man Ihnen schon einen Schreibtisch gegeben?«
»Soweit ich weiß, werde ich mich hauptsächlich in der Bibliothek aufhalten.«
»Aber Sie brauchen ein eigenes Büro, das werden wir gleich …«
Das Telefon klingelte.
»Botschafter Harriman auf Leitung zwei«, meldete sein Sekretär.
»Harriman?« GT fragte sich allmählich, ob seine Diabetes auch das Gedächtnis beeinträchtigte. »Wieso das?«
Leya hob einen Finger.
»Einen Moment bitte«, teilte GT seinem Sekretär mit.
Die Frau zog die Washington Post aus ihrer Aktentasche hervor, blätterte kurz und hielt dann GT einen Artikel hin:
Demokratischer Kongresswahl-Champion (Pennsylvania)
in den Selbstmord eines Minderjährigen verwickelt
»Soll ich ihn durchstellen?«, fragte sein Sekretär.
GT hielt den Hörer zu. »Sie machen mir Angst«, flüsterte er Leya zu.
Ohne sich auch nur die Andeutung eines Lächelns zu erlauben, antwortete sie: »Habe ich auf dem Weg hierher in der U-Bahn gelesen.«
»Stellen Sie ihn durch«, sagte GT.
»Clive?«, war Harrimans schleppende Stimme zu vernehmen.
»Ja?«
»Hier ist Ron Harriman.«
Eine nicht ganz angenehme Pause folgte. Sie waren nicht gerade als Freunde auseinandergegangen. GT hatte den damaligen US-Botschafter in Berlin erpresst, um das ihm zu jener Zeit wichtigste Lebensziel zu erreichen.
»Nett, wieder mal von Ihnen zu hören, Ron.«
»Hören Sie, ich sitze in der Klemme. Und zwar so richtig. Können Sie herkommen?«
Luftraum über Baltimore
Maryland, USA
Fr., 19. Okt. 2012
[18:05 EST]
Eine der zahlreichen Veränderungen im Leben von GT waren die vielen Stunden, die er sich mittlerweile in der Luft aufhielt. Obwohl er mit zunehmendem Alter eigentlich langsamer treten wollte, verbrachte er fast die halbe Arbeitszeit in der Luft, was überaus anstrengend war. Aber wenn er flog, dann immerhin mit Stil.
Die schlechten Zeiten hatten dazu geführt, dass sich EXPLCO seine Privatjetflotte mit fünf anderen Unternehmen teilte. Im Gegensatz zu GTs früherer Tätigkeit in Europa verlief die Abwicklung offen und unkompliziert. Keine falschen Logos an den Flugzeugen, keine umständlichen Buchungsverfahren und keine unnötigen Verhandlungen mit der Luftfahrtbürokratie anderer Staaten. Seine Reisen ließen sich mit Taxifahrten vergleichen. Er teilte seinem Sekretär mit, wo er hinwollte, und falls es einen verfügbaren Privatjet gab, wurde dieser gebucht. Andernfalls flog er, schlechte Zeiten hin oder her, Business Class.
Seine neue Rechercheassistentin bemühte sich um eine unbeeindruckte Miene, was ihr sichtlich schwerfiel. Die überbreiten Sitze aus dunkelbraunem Leder waren in Vierergruppen um Milchglastische angeordnet. Ein Koch bereitete das Essen an Bord zu. Er hatte ihnen gerade das Menü vorgetragen und entrüstet festgestellt, dass ihm die kurze Flugzeit einige Begrenzungen auferlegte. Sie aßen Caesar-Salat, wobei GT auf die Soße verzichtete.
»Wohin fliegen wir eigentlich?«, fragte er Leya und schaute auf die Uhr. Es war zehn nach sechs. Die Flugzeit betrug noch eine halbe Stunde.
Seine Begleiterin schaute von ihrem Laptop hoch. »Ins Wyoming Valley. Die beiden Hauptorte sind der alte Industriestandort Scranton und die Universitätsstadt Wilkes-Barre. Der elfte Wahlkreis umfasst beide Orte plus Hinterland. Ron Harriman hat bei den Vorwahlen der Demokraten dieses Jahr einen überragenden Sieg errungen und strebt jetzt einen Sitz im Repräsentantenhaus in Washington an.«
»Scranton – wo habe ich das schon mal gehört?«
»Es ist der Geburtsort des Vizepräsidenten. Außerdem geriet Scranton letzten Sommer in die internationalen Schlagzeilen, als der Bürgermeister die Löhne der städtischen Beamten auf sieben Dollar in der Stunde senkte, um die Stadt vor dem Konkurs zu bewahren. Die Arbeitslosigkeit ist enorm. Rein wirtschaftlich stellt das riesige Spielkasino zwischen beiden Städten den einzigen Lichtblick dar. In Scranton und Wilkes-Barre leben etwa eine halbe Million Menschen, und zwar zu 92 Prozent Weiße. Das ist der höchste Anteil in den gesamten USA.«
»Diese Gegend liegt also in jeder Beziehung am Arsch der Welt?«
»Das weiß ich nicht. Aber es liegen Studien vor, die auf eine umfassende Unzufriedenheit in der Bevölkerung hindeuten. Die Selbstmordrate ist ebenfalls sehr hoch.«
»Okay, zurück zum Wahlkampf.«
»Harriman hat gegenüber seiner Gegnerin, der Republikanerin Gwen Heart, einen Vorsprung von fünf Prozent. Die Kongresswahl findet am selben Tag wie die Präsidentenwahl statt, also in einem knappen Monat am 6. November. Harriman und Heart kandidieren beide zum ersten Mal. Der Delegierte des elften Wahlkreises geht in Rente. Heart hat sich ganz weit rechts positioniert und wird von der Tea-Party-Bewegung unterstützt. Laut eigener Angabe besitzt sie 37 Handfeuerwaffen. Die einkommensschwachen weißen Wähler auf dem Land scheinen ihre Zielgruppe zu sein.«
»Aber Harriman liegt in Führung?«
»Ja, schließlich reden wir von Pennsylvania. Die Gewerkschaften sorgen meist dafür, dass die Demokraten gewählt werden. Aber sie haben hier wie auch andernorts im Zuge der hohen Arbeitslosigkeit Mitglieder verloren. Harriman lag bis gestern in Führung. Neue Prognosen werden nächste Woche veröffentlicht, und dann wird er, so wie die Presse gerade über ihn herfällt, nicht mehr in Führung liegen.«
»Spielen Sexskandale heute überhaupt noch eine Rolle?«
»Ich habe da eine Theorie«, sagte Leya todernst.
»Dann lassen Sie mal hören.«
»Die Wahl bietet dem Bürger eine großartige Gelegenheit, sich moralisch überlegen zu fühlen. Die Leute können in der Wahlkabine ihr Urteil sprechen. Vielleicht denken sie vorher gar nicht daran, aber dann stehen sie da und greifen zum Rohrstock.«
GT nickte und starrte über die Tragfläche auf der Backbordseite. »Ihnen ist vermutlich klar, worauf unser Auftrag hinausläuft?«
Leya wartete auf die Fortsetzung.
»Ron Harriman ist ein vollkommen lächerlicher Mensch. Wissen Sie, was auf der Toilette seines Berliner Büros herumstand? Eine ganze Serie … wie nennt man das noch gleich? Richtig, Hautpflegeprodukte. Irgendwas Koreanisches oder Japanisches.«
»Kanebo?«
»Nein, irgendwas mit S.«
»Shiseido?«
»Shiseido! Genau. Kiloweise Cremes und ähnlicher Unsinn. Ein unglaublicher Anblick.«
»Sie halten ihn also für latent homosexuell?«
Zum ersten Mal sah GT seine Assistentin lächeln. Er verschränkte die Arme vor der Brust und verzog sein Gesicht zu einer lächerlichen Grimasse.
»Nein, ich halte ihn für latent geistesgestört.« Er kippte die Lehne seines Sitzes nach hinten und tupfte sich mit einer karierten Stoffserviette die Lippen ab. »Was haben Sie eigentlich für einen Hintergrund?«
»Meine Familie stammt aus Pakistan. Ich bin mit drei in die USA gekommen.«
»Ich meine beruflich.«
»Ich habe in Soziologie promoviert und war zehn Jahre Dozentin in Georgetown. Die letzten fünf Jahre habe ich als Beraterin für das FBI gearbeitet.«
»Sie sind für diese Arbeit hier also überqualifiziert.«
»Überqualifiziert war ich immer.«
Der Steward erschien, räumte ab und teilte mit, dass der Landeanflug umgehend beginnen würde. Er war in Leyas Alter und sehr athletisch. GT fühlte sich mit seinen zweiundsechzig Jahren noch älter als sonst.
»Was ist passiert? Warum sind Sie nicht mehr bei den Bullen?«
»Ich habe neue Herausforderungen gebraucht.«
»Falsche Antwort.«
Sie seufzte. »Ich habe einem Verdächtigen eine Kanne kochendes Wasser ins Hemd gekippt.«
GT grinste. »Gab es einen besonderen Grund?«
»Nein. Damals hatte ich Probleme mit Stimmungsschwankungen.«
»Und die haben Sie jetzt im Griff?«
»Ich habe mich einer Gesprächstherapie unterzogen. Erfolgreich.«
»Erfolgreich?« GT kam aus dem Grinsen gar nicht mehr heraus. »Na dann.«
Leya schien ihre Replik innerlich nochmals abzuspulen, um zu ergründen, was daran so lustig gewesen war. GT stellte fest, dass sie gewisse Asperger-Tendenzen aufwies, was auf die meisten fähigen Menschen zutraf.
»Also«, sagte GT und legte seine Hände auf die Tischplatte. »Ich möchte gleich vorausschicken: Harriman ist bereit, Zehntausende Dollar aus seinem Wahlkampfbudget zu opfern, um seiner Frau zu beweisen, dass er nichts zu verbergen hat. Zu diesem Zweck hat er uns eingeschaltet. Sobald wir etwas gefunden haben, packen wir unsere Sachen und verabschieden uns. Es handelt sich um einen rein symbolischen Akt.«
»Sind Sie sich wirklich so sicher, dass er etwas mit diesem Jungen hatte?«
»Der Junge wird sich ja wohl kaum das Leben genommen haben, weil sich Harriman die teureren Hautpflegeprodukte leisten konnte.«
Die Maschine schwenkte ab und leitete dann den Landeanflug ein. GT erwog, Leya von seiner letzten Begegnung mit Harriman zu erzählen. Vor gut einem Jahr hatte er diesem damit gedroht, seine Zusammenarbeit mit den Informationsanarchisten von Hydraleaks zu enthüllen. Harriman hatte daraufhin mitgeholfen, den Kurier der Organisation aus seinem Versteck zu locken. Der Botschafter hatte seinen Teil der inoffiziellen Abmachung eingehalten und durfte deswegen davon ausgehen, dass auch auf GT Verlass war und dass dieser seinen Mund hielt. Jetzt hatte der Kandidat für die Kongresswahlen jedoch einen bedeutend schlimmeren Skandal am Hals, zumindest was die ehrenwerten Wähler im elften Wahlkreis Pennsylvanias betraf: eine Affäre mit einem Mann.
GT musterte Leya, die sich gerade wieder ins Internet vertieft hatte. Nein, sein Instinkt hatte ihn noch nie getrogen: In Zweifelsfällen war Schweigen Gold.
Im Taxi vom Flughafen fühlte sich GT zu seiner eigenen Verwunderung geradezu beschwingt. Es war schon Ewigkeiten her, dass er solche konkreten Aufgaben zu lösen gehabt hatte. Weder der schadhafte Highway – dessen Risse und Schlaglöcher den Wagen regelmäßig in die Luft beförderten – noch die verfallenen Brauereien und Kohlenlager konnten seine gute Laune trüben.
»Wie laufen die Geschäfte?«, fragte er den Taxifahrer, einen Muskelberg ohne Haare auf dem Kopf.
»Etwas besser, seit beim Busverkehr noch mehr eingespart wurde. Ab fünf Uhr nachmittags und an Wochenenden fahren keine Busse mehr. Gut für mich, aber schlecht für die armen Schlucker ohne Auto. Auf die Studenten ist allerdings nach wie vor kein Verlass. Die gönnen sich für ihr letztes Geld lieber einen Wodka-Shot und gehen dann zu Fuß nach Hause. Außerdem …«
Eine Meldung über Funk unterbrach ihn. GT konnte die einzelnen Worte nicht verstehen.
»Eines unserer Taxis ist seit gestern spurlos verschwunden«, erklärte der Fahrer.
»Ach? Mit oder ohne Fahrer?«
»Mit der Fahrerin. Davon gehen wir zumindest aus. Ihr Mann ist sehr besorgt.«
»Was heißt verschwunden? Passiert so was öfter?«
»Wie bitte? Tja, das kommt schon mal vor.«
Im Zentrum von Wilkes-Barre sah es aus wie in Detroit oder Baltimore: Sieben oder acht Blocks mit großstädtischer Bebauung, protzige Bankpaläste aus der Zeit um 1940 und in der Mitte, wo die Straßen zusammenliefen und einen Kreisverkehr bildeten, ein kleiner Park. Hier begann die Main Street und verlief in südwestlicher Richtung.
An einer roten Ampel bog das Taxi rechts ab. Hier änderte die Bebauung ihren Charakter: Professorenvillen und kleine Institute. Nach einigen Hundert Metern hielt das Taxi.
»Macht genau vierzehn Dollar«, sagte der Fahrer.
GT gab ihm einen Zwanzigdollarschein. Leya und er stiegen aus und fröstelten. Erstaunlich, wie viel kälter es nach nur einer Stunde Flug war.
Das Wahlkampfbüro von Ron Harriman nahm ein ganzes Gründerzeithaus in der Westhampton Street ein. Ein alter Obstgarten mit dunkelbrauner Ziegelmauer umgab das weiß verputzte Palais, das durch den Efeubewuchs noch älter wirkte. Zu dieser Tageszeit herrschte kaum Verkehr – bis auf vereinzelte Taxis, einen Streifenwagen und ein Lieferauto von UPS.
Die Gartenpforte stand offen, die Haustür ebenfalls. Ein Paar mittleren Alters mit einem Border Collie kam die kurze Treppe herunter und nickte ihnen im Vorbeigehen zu. Gerade betraten drei junge Frauen mit Rucksäcken das hell erleuchtete Haus, offenbar freiwillige Wahlkampfhelfer. Entsetzt stellte GT fest, dass die Sicherheitsvorkehrungen dem eines Hinterhofflohmarkts entsprachen.
Leya folgte ihm ins Haus. Vom Entree führte eine breite, gerade Treppe ins nächste Stockwerk. Über zwei Flügeltüren rechts und links gelangte man in zwei große Räume mit Schreibtischen und vermutlich gestifteten alten Computern und Telefonen, die von etwa zehn Wahlkampfhelfern benutzt wurden. GT konnte sich frei im Gebäude bewegen, ohne dass ihn jemand nach seinem Namen fragte. Leya wartete unterdessen wohlerzogen im Entree.
In dem einen der beiden Räume hing ein riesiges Schwarzes Brett an der mahagoniverkleideten Wand. Etwa hundert Porträtfotos blickten in den Raum: Menschen unterschiedlichen Alters, verschiedener Hautfarbe und sexueller Orientierung. Der Querschnitt eines progressiven Wahlkampfs.
»Clive.«
GT drehte sich um. Harriman, der dunkelblaue Jeans, ein weißes Hemd und einen schwarzen Blazer trug, wirkte immer noch unverschämt jugendlich. Seine Sommersprossen traten nach dem Sommer in seiner Heimat deutlicher hervor als früher, und sein Haar wellte sich womöglich noch perfekter. Ein Mix aus Bobby Kennedy und Rebellion. Ein Sohn des Establishments, der den Mut und die Kraft besaß, dieses herauszufordern – so lautete die Botschaft, die sein Äußeres vermitteln sollte. Eigentlich hätte das peinlich wirken müssen.
GT und Harriman gaben sich die Hand. Zwischen ihnen herrschte eine gewisse Reserviertheit, aber damit ließ sich leben. Das gemeinsame Problem würde die alte Schmach auslöschen.
»Sie sehen gut aus, Ron.«
»Nicht in meinem Inneren«, erwiderte Harriman mit einem schwachen Lächeln.
»Können wir uns irgendwo hinsetzen und reden?« GT warf einen Blick auf die Frauen, die gleichzeitig mit ihm und Leya eingetroffen waren. Sie sahen sich an einem Bildschirm eine Liste mit möglichen Aufgaben an. Es galt, etwas halbwegs Unkompliziertes zu finden, das sich gut im Lebenslauf machte, das bequeme Studentenleben aber nicht allzu sehr störte.
Leya gesellte sich zu ihnen und stellte sich vor. Dann gingen sie die Treppe hoch – auf halbem Weg musste GT innehalten, um zu verschnaufen – und bogen rechts in einen langen Korridor ab. In einem Erker standen ein pflaumenfarbenes Chesterfield-Sofa und ein Sessel.
»Einleitend möchte ich mich bedanken, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, hierherzukommen«, sagte Harriman, nachdem er auf dem Sessel und die beiden anderen auf dem Sofa Platz genommen hatten. »Das bedeutet mir sehr viel.«
Ein waschechter Oprah-Augenblick. GT spielte unbewusst an seinem Schlips herum und bemühte sich um eine joviale Miene. Die Sekunden vergingen.
Dann holte er tief Luft und sagte: »Es ist wichtig, die Karten offen auf den Tisch zu legen, Ron. Sonst kann ich Ihnen nicht helfen.«
»Auf die Gefahr hin, wie ein Clinton-Imitator in einer TV-Show zu klingen«, sagte Harriman bitter, »kann ich nur beteuern, dass ich mit diesem Jungen nie etwas hatte. Ich schwöre. Nie.«
Aus unerfindlichem Grund begann Leya zu nicken. GT warf ihr einen erstaunten Blick zu und schaute Ron Harriman dann wieder tief in die Augen.
»Wir sind unter uns«, sagte er leise. »Vielleicht sollten wir …«
»Ich habe ihn nie angefasst. Er war bei uns zu Hause, weil er meine Tochter kennt. Meine Frau hat bedeutend mehr Zeit mit ihm verbracht als ich. Wenn Sie mir nicht glauben, muss ich mir jemand anderen suchen.«
»Vielleicht sollten wir über diese Sache eine Nacht lang schlafen?«, fuhr GT fort.
»Ich habe seit anderthalb Tagen nicht mehr geschlafen.«
Leya räusperte sich. »Wie erklären Sie sich seinen Selbstmord, Mr. Harriman?«
»Es muss ein abgekartetes Spiel sein«, sagte Harriman leise.
GT und Leya tauschten Blicke.
»Mir ist klar, wie das klingen muss«, sagte Harriman verzweifelt. »Glauben Sie mir. Aber wenn Sie einen Moment lang davon ausgehen, dass ich nicht mit ihm geschlafen habe – falls Sie mir diesen kleinen Gefallen tun könnten –, was gäbe es sonst für eine Erklärung?«
»Ein abgekartetes Spiel also«, wiederholte GT.
»Diese Geschichte ist wirklich das Beste, was meiner Gegnerin hätte passieren können. Plötzlich hat sie eine Chance, diese Wahl zu gewinnen.«
»Ich hatte noch keine Zeit, mich näher mit Gwen Hearts Hintergrund zu befassen«, sagte Leya freundlich, »aber ich kann kaum glauben …«
»Ihre Anhänger sind fanatisch«, erklärte Harriman. »Diese Typen sind richtig krank im Kopf und könnten auf eigene Faust gehandelt haben. Die Sache mit Chris ist nicht der einzige Vorfall in letzter Zeit. Heart ist mir im Wahlkampf immer eine Nasenlänge voraus gewesen. Letzte Woche wollte ich als Experiment eine Freihandelszone auf nationaler Ebene in Hazelton vorschlagen. Heart muss davon gehört haben. Jedenfalls hat sie diese Idee als ihre eigene ausgegeben. Das war schon fast unheimlich.«
»Sie haben also einen Spitzel in Ihren Reihen«, stellte Leya fest.
»Vielleicht. Ich weiß aber nicht, wer das sein sollte.«
GT deutete in die Luft. »Wir befinden uns ja nicht in einem Bankgewölbe. Hier scheinen die Leute einfach zu kommen und zu gehen, wie es ihnen passt.«
»Diese Leute stellen mir sehr großzügig ihre Zeit zur Verfügung«, meinte Harriman. »Da kann ich ihnen ja schlecht mit Peitsche und Stechkarte hinterherjagen.«
»Die Bilder unten an der Wand – fotografieren Sie alle freiwilligen Wahlkampfhelfer?«
»Ja. So ist es zumindest gedacht. Einige der Bilder wählen wir dann aus und hängen sie an die Wand.«
»Und die anderen?«
»Die sind, glaube ich, in einem Ordner.«
»Den würden wir uns gerne anschauen.«
Harriman erhob sich. »Einen Augenblick, bitte«, sagte er und verschwand.
CIA-Beamte, die in den Ruhestand gingen, hatten oft das Gefühl, nun sei das Leben vorbei. Aber GT spürte jetzt ganz deutlich, wie es in der linken Schläfe pulsierte. Sein Mund wurde ganz trocken, und seine Muskeln spannten sich an. Dort draußen lauerte etwas. Es hatte über lange Zeit hinweg Gestalt angenommen, lag jetzt da und wartete auf ihn.
Leya schwieg, und ihre Augen bewegten sich hin und her, als würde sie gerade einen Text an einem Bildschirm überfliegen. GT fiel ein, dass sie sich in der Probezeit befand und dass die Entscheidung bei ihm lag, ob er sie behalten wollte.
Harriman kehrte mit zwei weißen Ordnern zurück.
»Das hier ist der neueste«, sagte er, als GT begann, ihn von hinten durchzublättern.
GT nickte. »Lassen Sie sich einen Ausweis vorlegen?«
»Wir sind Demokraten.« Harriman lächelte grimmig. »Personenkontrollen sind nicht unser Ding.«
Viele junge Leute, viele Frauen, viele Männer mittleren Alters mit Bart und Brille. Einige Schwarze, einige Asiaten, eine Handvoll Latinos. Alle wirkten, zumindest vorübergehend, fröhlich und entgegenkommend. Alle außer …
»Und wer ist das?«, fragte GT, als er den neueren der beiden Ordner zur Hälfte durchgeblättert hatte.
Der Mann auf dem Foto war um die vierzig. Sein Kopf war rasiert, seine Augen waren blau, und er trug einen Knebelbart. Eine Tätowierung schlängelte sich aus dem Halsausschnitt seines T-Shirts aufwärts. Die Pfote einer Echse? Drachenklauen?
Harriman beugte sich über den Tisch. »Keine Ahnung.«
»Craig Winston«, las GT vor. Er schob Harriman den Ordner zu und drehte ihn um. »Was stimmt an diesem Bild nicht, Ron?«
Harriman betrachtete es und zuckte mit den Achseln.
»Die Zigarettenschachtel«, sagte Leya.
»Die Zigarettenschachtel«, wiederholte GT.
In der Brusttasche des Mannes steckte eine Packung mit roten Winstons.
»Falls er diese Marke nicht wegen seines eigenen Nachnamens gewählt hat«, fuhr GT fort, »sollten wir ihn genauer unter die Lupe nehmen. Und zwar nicht nur wegen seines Namens und der Zigaretten. An dem ist alles faul. Schauen Sie sich nur mal seinen Blick an. Bei Pflegeeltern aufgewachsen, mehrere Haftstrafen, ein Pfefferkorn in der Mehltüte, wie mein Vater gesagt hätte.«
GT verließ sich voll und ganz auf seine Intuition, und zwar nicht, weil er sich hundertprozentig sicher gewesen wäre, sondern um die Dienste seiner Firma zu verkaufen. Den Kunden Angst zu machen fiel ihm nicht weiter schwer, denn auf diesem Gebiet besaß er jahrzehntelange Erfahrung. Früher war es allerdings immer darum gegangen, seinen Vorgesetzten Angst zu machen, damit sie seinen Etat erhöhten und nicht ganz lupenreine Operationen genehmigten.
Harriman schluckte. »Er ist vor drei Wochen zu uns gestoßen, also kurz bevor der ganze Ärger begann. Sie haben recht, da stimmt was nicht. Verdammt, dass man sich auch immer um alles selbst kümmern muss.«
»Ich denke, das ist unser Mann.«
»Was wollte er hier?«, meinte Harriman nervös. »Die Sache ist verdammt unangenehm.«
»Vielleicht hat er ja nur hier rumgesessen und Augen und Ohren aufgesperrt. Vielleicht hat er aber auch einen Mobilfunkempfänger dabei, der die verschlüsselten 3-G-Signale ans alte GSM-System weiterleitet und …«
»So etwas gibt es?«
»Durchaus. So ein Gerät passt in einen Rucksack und wird heutzutage gerne auf Flugplätzen verwendet. Aber dann müsste er jeden Tag hier gewesen sein. Wo liegt Ihr Büro?«
Sie gingen die Treppe hinunter und durch den großen Raum, in dem sich die drei Studentinnen immer noch vor dem Computer drängten. Durch eine Schiebetür kamen sie in ein fünfzehn Quadratmeter großes Zimmer mit einem hohen, schmalen Fenster zum Hinterhof. Statt der Holzvertäfelung gab es hier eine rot-weiß gestreifte Tapete. Der Schreibtisch war eine moderne Kopie aus Kirschbaumholz – angefertigt nach den Vorstellungen des Kunden vom frühen 19. Jahrhundert. GT legte den Zeigefinger an die Lippen, trat auf das Telefon zu und zog den Stecker aus der Buchse.
»Haben Sie einen Schraubenzieher?«, fragte er Harriman.
Dieser ging um den Schreibtisch herum, öffnete eine Schublade und reichte GT ein Schweizer Armeemesser.
Clive Berner drehte das Telefon um und schraubte es auf.
Wenn ihm in diesem Moment ein Lastwagen über die Füße gefahren wäre, hätte er es nicht gemerkt. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Doch, da steckte es, genau wie er vermutet hatte. Eine ferngesteuerte Infinity-Wanze älteren Modells, kaum größer als eine Streichholzschachtel. Er entfernte sie nicht, sondern durchtrennte einfach das kurze Ausgangskabel.
Zwei Dinge missfielen GT an einer Infinity-Wanze: Zum einen wurde das Signal nicht über Funk weitergeleitet, sondern über das Telefonnetz. Die Person, die die Gespräche abhörte, konnte sich also in weiter Entfernung aufhalten. Zum anderen erfasste das Mikrofon alles, was in einem Umkreis von mindestens fünfundzwanzig Metern gesagt wurde, also auch alle vertraulichen Gespräche in Harrimans Allerheiligstem.
Wie verhext starrte Ron Harriman auf das kleine elektronische Gerät.
»Nicht zu fassen«, sagte er. An seiner Stirn zuckte eine Ader. »Ich bin sprachlos.«
GT setzte das Telefon wieder zusammen und steckte den Stecker wieder in die Buchse.
Auf dem Schreibtisch lag ein Handy, vermutlich Harrimans. GT nahm es in die Hand und baute es auseinander. Nichts.
Das ließ mehrere Schlüsse zu. Der Eindringling – wahrscheinlich Winston – hatte keinen Zugriff auf dieses Handy gehabt. Oder die Person, die Harriman abhörte, konnte das Mikrofon seines Handys fernsteuern und so alle Telefonate, aber auch andere Gespräche abhören. Diese Technik war recht einfach und fand immer weitere Verbreitung.
»Langsam werde ich hungrig«, meinte GT unvermittelt. »Vielleicht sollten wir herausfinden, was die Stadt um diese Tageszeit zu bieten hat?«
Automatisch steckte Harriman sein Handy ein.
»Das Handy brauchen Sie nicht«, sagte GT mit einer gewissen Selbstbeherrschung.
»Nein, natürlich nicht.«
Harriman legte das Gerät auf den Schreibtisch zurück.
Draußen betrug die Temperatur nur etwa fünf Grad, und die Luft war feuchtkalt wie in einer Hafenstadt. Falls GT länger blieb – und es sah ganz danach aus –, musste er warme Kleider kaufen. Leya, die ebenfalls nur ein dünnes Jackett trug, ging mit verschränkten Armen ein paar Meter vor ihnen her. Nur Harriman war gewappnet und trug einen kurzen Mantel über seinem Blazer.
Die Stadtväter geizten offenbar mit der Straßenbeleuchtung, denn die Lampen waren durch Energiesparfunzeln ersetzt worden, die ein schwaches, unheimliches Licht spendeten. Erst als das Scheinwerferlicht eines entgegenkommenden Autos auf GTs Gesicht fiel, war zu erkennen, wie aufrichtig glücklich er war.
Die Pizzeria lag auf der anderen Seite der Main Street neben einem Multiplexkino und gegenüber von einem rund um die Uhr bewachten Parkplatz mit Schranke. Die frisch gestrichenen, safrangelben Wände des Lokals ließen die roten, verschlissenen Cordbezüge der Bänke noch schäbiger wirken. Die Kellnerin war jung, dick und enthusiastisch.
GT bestellte eine Cola light, obwohl der Süßstoff seinen Blutzuckerspiegel in Aufruhr versetzte, die anderen orderten je eine Pizzaecke mit Peperoni.
»Falls es sich um einen Alptraum handelt, dürfen Sie mich jetzt gerne wecken«, sagte Harriman leise und starrte aus dem Fenster, vor dem ein älterer schwarzer Mann in Daunenjacke systematisch eine Mülltonne durchsuchte.
»Wer sind Ihre Feinde?«, fragte Leya und wischte sich die Hände ab.
Harriman schnaubte verächtlich: »Alle. Alle Idioten hier. Ich hätte auf Liz hören und nach Connecticut ziehen sollen. Diese verdammten Bauern …« Er lächelte die Kellnerin kühl an, wartete ab, bis sie den Tisch abgeräumt hatte, und fuhr dann fort. »… die finden einen echten, progressiven Demokraten unerträglich. Das ist ihnen einfach zu viel. Sie können sich darauf verlassen, dass Leute, die sonst nie wählen, jetzt ihre Stimme abgeben, nur um mich loszuwerden.«
»Es müssen also nicht zwingend Gwen Hearts Wahlkampfhelfer hinter dieser Abhöraktion stecken?«, fragte GT. »Ich meine, wenn alle Sie so unendlich hassen.«
»Woher soll ich das wissen! Das herauszufinden ist Ihre Aufgabe. Aber eines ist sicher: Diese Leute geben ihre Erkenntnisse an Gwen Hearts Wahlkampfbüro weiter.«
»Und der Selbstmord?«, fragte Leya.
Keine Antwort.
»Eins nach dem anderen«, meinte GT. »Aber es stellen sich natürlich viele interessante Fragen.«
Harriman schüttelte den Kopf. »Verdammt, manchmal frage ich mich wirklich, warum ich überhaupt …«
»Wenn Sie möchten, dass ich die Sache weiter verfolge, Ron, dann wird es Sie einiges kosten«, erklärte GT.
»Geld ist genug da.«
GT schlürfte seinen letzten Rest Cola.
»Gut.«
»Sie müssen mir helfen, Clive, außer Ihnen kenne ich niemanden in Ihrer Branche.«
»Okay. Aber für den Einsatz an der Front bin ich nicht mehr zu gebrauchen.« Er klopfte sich sachlich auf den Bauch. »Und der Nachwuchs in der Firma ist nicht sonderlich diskret. Söldnertypen mit allem, was dazugehört. Die sind völlig skrupellos.«
Der Alte in der Daunenjacke hatte die Plünderung der Mülltonne beendet und lehnte sich mit dem Rücken an die Fensterscheibe, hinter der Harriman und seine Begleiter saßen. Er zog eine angerauchte Zigarette aus der Tasche und zündete sie mit einem blauen Einwegfeuerzeug an. GT musterte ihn gründlich. Es war durchaus denkbar, dass der Mann ein Mikrofon in der Tasche hatte. Mit bestimmten Sensoren ließen sich Schwingungen von Glasscheiben wieder in Sprache umwandeln, eine Technik, die die Russen entwickelt hatten. Vielleicht war er jetzt näher gerückt, um den Empfang zu verbessern.
»Schaffen Sie ihn weg«, sagte GT zu Leya.
Leya stand auf und verließ das Lokal.
Harriman sah GT fragend an.
»Man kann nie wissen«, meinte dieser.
Draußen überreichte Leya dem Alten einen Geldschein, klopfte ihm freundlich auf die Schulter und sagte etwas. Der Mann riss erstaunt die Augen auf, starrte den Geldschein an, steckte ihn in die Hosentasche und trottete dann die Main Street entlang davon.
»Wie ist Ihnen das denn geglückt?«, fragte GT, nachdem Leya wieder Platz genommen hatte.
»Ich habe ihn dazu aufgefordert, im Scientology-Center ein Buch zu kaufen.«
GT grinste. »Wie viel haben Sie ihm gegeben?«
»Zwanzig Dollar.«
»Es wäre billiger gewesen, ihn einfach zum Teufel zu schicken«, meinte Harriman düster. »Bestenfalls vertrinkt er das Geld, schlimmstenfalls befolgt er Ihren Rat. Sie hätten ihn einfach wegjagen sollen.«
»Das entspricht nicht unseren Arbeitsmethoden«, lautete Leyas blitzschnelle Antwort.
Diese Anfängerin gefiel GT immer besser. Sie war keine Idealistin, sondern einfach nur gut erzogen. Und effizient. Unbegreiflich, dass sie vom FBI ausgebildet worden war.
»Na gut«, meinte Harriman. »Und was tun wir jetzt?«
Ein Streifenwagen näherte sich langsam und blieb dann stehen. Der Fahrer leuchtete mit einer hellen Taschenlampe auf den Parkplatz, der fast ganz im Dunkeln lag. Als er nichts Verdächtiges entdeckte, schaltete er die Lampe wieder aus und legte sie vor dem Rücksitz auf den Boden des Wagens. Sein Partner sagte etwas, stieg aus und betrat die Pizzeria. Während er die Toilette aufsuchte, goss die Kellnerin Kaffee in zwei Pappbecher.
»Wie gesagt, wir verzichten auf die schwere Artillerie«, meinte GT. »Wir benötigen ein eher … diskretes Talent.«
Venus Europa
Oranienstraße, Berlin-Kreuzberg
Sa., 20. Okt. 2012
[08:10 EST]
Im Lokal befand sich eine Leiche. Dabei handelte es sich allerdings nicht um den Mann auf dem Bartresen, sondern um die Maschine, die auf dem Fußboden lag – zerschlagen und zerschmettert, in Hunderte von Teilen. Die Mordwaffe, eine Feueraxt, befand sich auf einem der Eichentische.
Der schlafende Mann war Mitte fünfzig. Seine Wange lag auf dem polierten schwarzen Holz des Tresens, das blonde, halblange Haar klebte ihm im Gesicht, und die Hände hielt er zwischen den Knien. Er war schwitzend eingeschlafen und fröstelte jetzt bei jedem Atemzug.
»He? Du?«
Ganz hinten in seinem Bewusstsein blitzte etwas auf. Ein Gespenst, das mit einer Zündkerze spielte, ein Junge, dem es endlich gelungen war, die Kindersicherung eines Feuerzeugs zu überlisten. Ein Aufflammen. Als die Dunkelheit wiederkehrte, war sie weniger finster.
»Ludwig!«
Er spürte zwei Finger und einen Daumen an seinem Handgelenk. Als er die Augen aufschlug, sah er Tina, die Vizechefin des Venus Europa, eine Frau, deren Verachtung ihm gegenüber sich höchstens mit der hasserfüllten Fürsorglichkeit seiner Mutter messen konnte.
»Was ist denn los?«, fragte sie. »Was hast du angestellt?«
»Nein, nein«, sagte Ludwig Licht, richtete sich halb auf, stürzte beinahe zu Boden, gewann das Gleichgewicht wieder und ließ sich vom Tresen gleiten. »Das ist nicht meine Schuld.«
Sein Gleichgewichtssinn war irgendwie falsch eingestellt und schien sich einen Meter neben ihm zu befinden. Er schwankte und kippte seitlich weg.
»Verfluchte, verdammte Scheiße …«
Seine Schulter schmerzte. Schwer zu sagen, ob es daran lag, dass er gegen eine Stuhllehne geprallt war, oder ob sie einfach nur taub war, weil er stundenlang auf dem Tresen gelegen hatte. Sicherheitshalber trat er gegen den Stuhl, der einige Meter über den gekachelten Boden schlitterte.
»Aufstehen«, sagte Tina und hielt ihm ihre beiden Hände hin.
»Diese verdammten Scheißmöbel.«
»Hoch mit dir.«
Er schloss die Augen. Nicht gut, gar nicht gut. »Na ja, ich weiß nicht so recht …«
»Los jetzt, hoch mit dir! Wir öffnen in einer Stunde. Die Leute wollen frühstücken. Du musst hier weg, und ich muss aufräumen. Was hast du eigentlich mit der Espressomaschine angestellt?«
Wider Erwarten gelang es Ludwig, ohne Hilfe aufzustehen. Er betrachtete die Verwüstung.
»Gewisse Konflikte lassen sich nicht durch Verhandlungen lösen«, murmelte er. »So war das vielleicht nicht in der Arztvilla in Hamburg, wo du aufgewachsen bist. Aber das hier ist Berlin. Das hier ist das richtige Leben, verdammt noch mal.«
Tina starrte ihn an und schüttelte fassungslos den Kopf.
»Es ist einfach nicht zu fassen, was für ein Idiot du bist.«
»Scheißegal«, sagte Ludwig und starrte zu Boden. »Wir holen uns das Geld von der Versicherung.«
»Dann musst du aber Anzeige wegen Sachbeschädigung erstatten.«
»Ja, schon gut.«
»Und den Polizisten erklären, warum die Türen unbeschädigt sind. Wenn du eine Quittung für dieses Gerät hast, dann fress ich einen Besen.«
»Sie ist doch hier!«
»Wie?«
»Die verdammte Maschine. Sie ist hier. Oder etwa nicht? Wieso sollte ein Stück Papier wichtiger sein als die physische … Präsenz? In was für einer Welt leben wir eigentlich? Kannst du mir diese Frage bitte beantworten?«
»Ach, halt einfach den Mund, dann bringe ich dich nach Hause.«
Ludwig folgte ihr nach draußen und wartete, bis sie abgeschlossen hatte. An diesem Herbstmorgen war es ungewöhnlich warm – wie schon die ganze Woche. Weiter reichte seine Erinnerung nicht zurück. Als sein Spiegelbild in einem Schaufenster vorbeischwappte, sah er, dass er eine erbsengrüne Jeans, eine dunkelblaue Jeansjacke und einen engen, orangenen Pullover mit V-Ausschnitt trug, Kleider, die er sich irgendwann einmal aus unerfindlichem Grund zugelegt haben musste. Ein faszinierender Gedanke. Wann genau in dieser von Nebel erfüllten vergangenen Woche hatte ihn dieser farbhysterische Konfektionseifer befallen?
Der Samstag begann in der Oranienstraße gegen halb sieben, also jetzt. Junge Radler, die auf dem Weg zu ebenso begehrten wie unterbezahlten Praktikumsplätzen in Unternehmen mit schwammigem Tätigkeitsprofil waren, Wirte und Cafébesitzer, Tabakhändler, die kaum Gewinne machten, Taxifahrer, die ihre Schicht beendet hatten, Straßenkehrer, die die Verwüstungen der vorhergehenden Nacht beseitigten und sich die neuen Graffiti ansahen.
Tina ging mehrere Schritte vor ihm her. Sie trug ihre Arbeitskleidung, weiße Bluse, schwarze Weste und Hose. Ihr dünner roter Herbstmantel gehörte nicht dazu.
»Langsam werde ich nüchtern«, sagte Ludwig, als sie vor seiner Haustür in der Adalbertstraße standen. »Wir trinken noch rasch einen Kaffee.«
Tina zog ihr Handy aus der Tasche, um auf die Uhr zu sehen. »Ich muss zurück und deine Verwüstung in Ordnung bringen.«
»Fünf Minuten.«
»Okay.«
Die Treppe brachte ihn beinahe um. An seiner Fitness war eigentlich nichts auszusetzen, aber sein Gehirn hinkte schaukelnd hinterher und geriet dabei in Schieflage.
Tina suchte die Toilette auf, während er den Wasserkocher einschaltete und zwei Tassen aus dem Schrank nahm.
»Nescafé«, sagte er halblaut und schraubte den Deckel ab. »Darauf ist immer Verlass.«
Der Wasserkocher regte sich nicht. Ludwig zog den Stecker aus der Wand, schob ihn dann wieder zurück und schaltete das Gerät nochmals ein. Nichts.
»Dann eben nicht.« Er drehte den Heißwasserhahn auf und wartete. Als das Wasser halbwegs warm war, gab er das Pulver in die Tassen und rührte heftig um. Es löste sich fast vollständig auf.
Tina nahm am Küchentisch Platz und starrte finster aus dem Fenster, das auf den Hof hinausging.
»Dann wollen wir mal sehen«, sagte Ludwig und goss Whisky in die Tassen. Er öffnete den Kühlschrank und warf einen Blick hinein. Ein Liter Milch, dreieinhalb Sixpacks Warsteiner Premium, ein Karton Eier, eine Riesenpackung dänischer Bacon und … da, eine Dose Sprühsahne. Sie stand schon seit Monaten dort, wenn nicht schon länger. Nun denn.
Ludwig stellte die Tassen auf den Tisch, schüttelte die Dose und sprühte etwas Gelbgrünes, Schleimig-Undefinierbares auf Tinas Getränk.