Soziale Phobie - die heimliche Angst - Martina Fischer-Klepsch - E-Book

Soziale Phobie - die heimliche Angst E-Book

Martina Fischer-Klepsch

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Beschreibung

Holen Sie sich Ihr Leben (zurück)! Glückliche Beziehungen lassen uns aufblühen und stärken uns. Was aber, wenn diese Ressource zu einer potenziellen Gefahrenquelle wird? Menschen mit Sozialer Phobie fürchten sich davor, von anderen negativ bewertet, ja, sogar verurteilt zu werden. Soziale Interaktionen werden für sie zu einem Spießrutenlauf. Je stärker die Angst vor anderen Menschen und ihren Bewertungen, desto mehr leidet die Lebensqualität der Betroffenen. Sozialer Rückzug und Depressionen können die Folge sein. Damit es gar nicht erst so weit kommt, bietet dieses Buch Hilfe zur Selbsthilfe: - Auf Basis des im Buch vermittelten Hintergrundwissens kann die individuelle Ursache der Angststörung aufgespürt werden. - Expositionsübungen helfen dabei, sich Schritt für Schritt der Angst zu stellen und wieder mehr am Leben teilzunehmen. - Achtsamkeit und Meditation unterstützen auf dem Weg ebenso wie die Stärkung des Selbstwerts und der souveräne Umgang mit Gefühlen. - Durch das Soziale Kompetenztraining erhalten Leser*innen weitere Tools, um auch neue Situationen entspannt zu meistern.

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Seitenzahl: 366

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Martina Fischer-KlepschSoziale Phobie – die heimliche AngstSelbsthilfeprogramm mit Übungen aus der Praxis

Über dieses Buch

Holen Sie sich Ihr Leben (zurück)!

Glückliche Beziehungen lassen uns aufblühen und stärken uns. Was aber, wenn diese Ressource zu einer potenziellen Gefahrenquelle wird? Menschen mit Sozialer Phobie fürchten sich davor, von anderen negativ bewertet, ja, sogar verurteilt zu werden. Soziale Interaktionen werden für sie zu einem Spießrutenlauf. Je stärker die Angst vor anderen Menschen und ihren Bewertungen, desto mehr leidet die Lebensqualität der Betroffenen. Sozialer Rückzug und Depressionen können die Folge sein. Damit es gar nicht erst so weit kommt, bietet dieses Buch Hilfe zur Selbsthilfe: 

Auf Basis des vermittelten Hintergrundwissens kann die individuelle Ursache der Angststörung aufgespürt werden. Expositionsübungen helfen dabei, sich Schritt für Schritt der Angst zu stellen und wieder mehr am Leben teilzunehmen. Achtsamkeit und Meditation unterstützen auf dem Weg ebenso wie die Stärkung des Selbstwerts und der souveräne Umgang mit Gefühlen. Durch das Soziale Kompetenztraining erhalten Leserinnen und Leser weitere Tools, um auch neue Situationen entspannt zu meistern.

Dr. phil. Martina Fischer-Klepsch ist Psychologische Psychotherapeutin mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie und Schematherapie in ihrer Lehrpraxis in Hamburg. Sie bildet junge Kolleg*innen in Aus- und Weiterbildung als Dozentin, Supervisorin und Selbsterfahrungsleiterin aus.

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2021

Coverfoto: © Galacticus (https://stock.adobe.com)

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2021

ISBN der Printausgabe: 978-3-7495-0193-9

ISBN dieses E-Books: 978-3-7495-0205-9 (EPUB), 978-3-7495-0207-3 (PDF), 978-3-7495-0206-6 (EPUB für Kindle).

„Was immer du tun kannst oder träumst, es zu können, fang damit an! Mut hat Genie, Kraft und Zauber in sich.“

(Johann Wolfgang von Goethe)

Einleitung

Liebe Leserin, lieber Leser,

warum haben Sie dieses Buch zur Hand genommen? Erleben Sie sich manchmal als zurückhaltend oder schüchtern? Ängstigt Sie die Vorstellung, auf eine Veranstaltung zu gehen, auf der nur wenige Ihnen bekannte Menschen sind? Haben Sie Angst zu erröten, zu zittern oder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen? Beispielsweise, wenn Sie auf eine Party kommen und alle Blicke auf Sie gerichtet sind? Meinen Sie, dass Sie zu introvertiert sind und zweifeln Sie deshalb an Ihrem Wert? Fürchten Sie sich generell vor Blamage? Fällt es Ihnen beispielsweise schwer, sich bei beruflichen Meetings zu äußern, weil Sie der Meinung sind, dass es sowieso niemanden interessiert, was Sie zu sagen haben?

Dann ist dieses Buch das richtige für Sie. Vielleicht kann es Ihnen helfen, besser zu verstehen, was mit Ihnen los ist. Und vor allem zeigt es Ihnen auf, dass Sie mit Ihren Problemen nicht alleine sind. Eventuell kommen Ihnen die folgenden Beispiele bekannt vor:

Die 26-jährige Michelle galt schon als Kind als sehr vernünftig und ist heute beruflich erfolgreich. Leider hatte sie noch nie einen Freund und war auch noch nie verliebt. Sie fühlt sich gehemmt, was niemand von ihr erwarten würde, da sie gelernt hat, ihre Scheu zu überspielen. Sie hat jedoch große Angst, dass man ihr ihre Unsicherheit ansieht, zum Beispiel indem sie errötet; ein Problem, das ihre Mutter schon hatte.

*

Die 30-jährige Caroline bekam während einer Krise mit ihrem Partner Angst, in der Öffentlichkeit zu essen. Sie sorgte sich, dass sie dabei zittern könnte. Diese Angst hatte begonnen, als sie mit ihrem Team und einem neuen Chef essen gehen musste. Der Chef hatte ausgerechnet ihr gegenüber gesessen und sie nach ihrem Privatleben gefragt. Das hatte Caroline sehr verunsichert.

*

Der 25-jährige Jonas, der in einer sehr extrovertierten und kommunikativen Familie aufwuchs, entwickelte im Studium extreme Ängste vor Referaten und Prüfungen, weshalb sein Studium eine Qual für ihn wurde und sich ziemlich in die Länge zog. Heute ist er arbeitslos und hat große Angst davor, sich wieder zu bewerben.

*

Der 30-jährige Michael traute sich nicht, sich näher mit Frauen einzulassen, weil er befürchtete, im entscheidenden Moment bei körperlichem Zusammensein „zu versagen“, was größte Scham bei ihm verursachen würde. In so eine Situation möchte er auf keinen Fall kommen! In letzter Zeit hat er angefangen, sich beim Feiern Mut anzutrinken.

*

Anette hat panische Angst davor, sich in der Öffentlichkeit übergeben zu müssen. Deshalb hat sie immer eine Plastiktüte dabei und vermeidet es, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Sie isst nach Möglichkeit keine fettigen Nahrungsmittel und geht nicht in Krankenhäuser oder Apotheken, weil sie befürchtet, sich dort anzustecken und sich dann übergeben zu müssen. Sie ist froh, dass sie keinen Kinderwunsch hat, weil sie gehört hat, dass schwangere Frauen häufig unter Übelkeit und Erbrechen leiden.

Ist auch Ihnen eine der beschriebenen Ängste und Sorgen vertraut? Die Betroffenen aus den Beispielen sind (bis auf Jonas) berufstätig und gehen ihren Aufgaben nach, ohne dass andere ihnen ihr Problem anmerken. Denn bis auf ihre engsten Freunde weiß niemand von ihren Ängsten und Unsicherheiten, und manchmal noch nicht einmal diese.

Die Soziale Phobie umfasst ein ganzes Spektrum von Problemen, Unsicherheiten, Beeinträchtigungen und Folgeproblemen. Bei jedem Betroffenen ist sie etwas anders gelagert und zeigt sich mit unterschiedlichen Beschwerden, die auf den ersten Blick nicht vergleichbar sein müssen. Als langjährige Verhaltenstherapeutin sind mir die verschiedenen „Gesichter“ der sozialen Unsicherheit, der Sozialen Phobie und ihrer Vorstufen bekannt: angefangen von einer leichten Schüchternheit, die sich nach kurzer Aufwärmphase wieder auflöst, über Gehemmtheit, die sich im Kontakt mit Fremden und in der Angst vor Bewertung zeigt, bis hin zu starker Angst, die zu ausgeprägtem sozialem Rückzug und massiven Folgeproblemen führt.

Ein Hauptproblem der Sozialen Phobie ist, dass man ihr nicht entweichen kann. Andere Phobien wie Tierphobien (z. B. die Angst vor Spinnen), Höhenangst, Flugangst und auch Angst, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren oder sich in engen Räumen oder in Menschenmengen aufzuhalten, ermöglichen ein weitgehend angstfreies Leben, wenn die relevanten Situationen gemieden werden. Dies ist zwar in den meisten Fällen keine Lösung, die die Betroffenen auf Dauer zufriedenstellt. Aber immerhin sind sie weitestgehend symptomfrei, wenn sie den beängstigenden Situationen aus dem Weg gehen. Menschen mit einer Sozialen Phobie können ihre Ängste nicht komplett vermeiden, weil sie in vielen Situationen mit anderen Menschen zu tun haben müssen. Das können der Kassierer im Supermarkt sein, die Nachbarin, Kollegen am Arbeitsplatz oder Menschen, die den gleichen Bus benutzen. Ganz ohne Kontakte kann man kaum ein halbwegs normales Leben führen. Das ist der Hauptgrund, warum die Soziale Phobie so belastend und einschränkend ist. Und weil die sozialen Situationen nicht vermieden werden können, stehen die Betroffenen sie häufig unter großer Angst und Anspannung durch. Sie haben sich vielleicht einige Verhaltensweisen zurechtgelegt, die Ihnen helfen, die Angst auszuhalten. Das kann der konsequente Blick aufs Smartphone im Bus sein, aber auch die oben (im Beispiel von Anette) erwähnte Plastiktüte in der Tasche oder die perfekte Vorbereitung des Redebeitrags: Das ist das sogenannte Sicherheitsverhalten, das wiederum zu Folgeproblemen und weiterer Anspannung führt. Damit stellt das, was eigentlich helfen sollte, schließlich eine weitere Belastung dar.

Alle schüchternen und von Sozialer Phobie Betroffenen möchten zu gerne ein leichteres Leben führen, ohne sich ständig über irgendetwas Gedanken machen zu müssen. Sie wollen ihren Alltag entspannter bewältigen. Und das Zusammensein mit anderen Menschen sollte, wie das Leben insgesamt, eher freudvoll sein und eine Quelle von Spaß und Genuss als von Stress und Angst.

Mit diesem Buch möchte ich Ihnen dabei helfen,

Ihre Ängste besser zu verstehen, indem Sie sie analysieren und dadurch eine deutlichere Einschätzung dafür bekommen, was mit Ihnen los ist,

einen Weg zu finden, Ihre Unsicherheiten zu verringern oder sich ganz davon zu befreien,

Strategien zu entwickeln, die neben der Bewältigung von Angst und Unsicherheit zu einer gesünderen Psyche führen.

Es ist für Sie geeignet,

wenn Sie schüchtern oder in sozialen Situationen unsicher sind oder an sozialen Ängsten leiden, die Sie als übertrieben ansehen und derentwegen Sie sich Sorgen machen,

wenn Sie sich Begleitmaterial zu einer Psychotherapie wünschen, um auch für sich zu Hause Unterstützung und hilfreiche Impulse zu bekommen (die Sie ggf. mit Ihrem Therapeuten gemeinsam besprechen können), auch wenn der Therapeut keine spezielle Erfahrung in der Behandlung von Sozialen Phobien hat.

wenn Sie schon eine Therapie gemacht haben, die aber noch nicht ausreichend geholfen hat oder nicht übungsorientiert genug vorgegangen ist,

wenn Sie einen Angehörigen haben, der unter sozialen Ängsten leidet, und Sie ihn besser verstehen und vielleicht auch Hilfe und Unterstützung geben wollen,

wenn Sie noch nicht wissen, an welche Therapeutin Sie sich wenden können oder noch keinen Therapieplatz gefunden haben.

Das Buch soll Ihnen dabei helfen, Ihre Ängste zu verstehen: Wie sind sie entstanden? Wann und in welchen Situationen treten sie auf? Was genau bedeutet für Sie überhaupt Angst? Gibt es nur die eine Angst oder verschiedene Angstgefühle und Angstintensitäten für Sie? Welche Gedanken, welche Gefühle und welche Körperreaktionen treten bei Ihnen in Verbindung mit Angst auf? Wie verhalten Sie sich in Angstsituationen, was tun Sie ganz genau? Und hilft Ihnen Ihr Verhalten oder hält es die Unsicherheit aufrecht, sodass sie im Laufe der Zeit dadurch sogar noch stärker wird? Worin, also bei welchen Vorhaben, Plänen und Zielen, fühlen Sie sich durch die Ängste eingeschränkt?

Was möchten Sie erreichen: Was werden Sie tun, wenn Ihnen die Angst nicht mehr im Wege steht? In welchen Situationen ist Ihnen eine Veränderung besonders wichtig? Gibt es Menschen, denen Sie gerne ohne Angst näherkommen würden? Was wünschen Sie sich oder was brauchen Sie, um mit mehr Lebensfreude durchs Leben gehen zu können?

Auf dem Weg zu Ihren Zielen möchte Sie dieses Buch schrittweise begleiten wie durch eine kleine Verhaltenstherapie: Es vermittelt Ihnen, wie Sie Ihr eigener Therapeut oder Ihr eigener Coach werden können. Ich werde Ihnen dabei Schritt für Schritt meine Vorgehensweise erklären und Gedankenanregungen, Übungen und weitere Impulse an die Hand geben, an denen Sie sich orientieren können. Ebenso erhalten Sie wichtige Informationen über die Soziale Phobie, die sogenannte Psychoedukation, die auch in der verhaltenstherapeutischen Praxis erfolgen würde. Dabei werden Sie Modelle kennenlernen, mit denen Sie herausbekommen können, was die Hintergründe der Sozialen Phobie sind und wie sie sich bei Ihnen entwickelt hat. Sie werden durch Selbstbeobachtung und Achtsamkeit lernen, was in Ihnen in sozialen Situationen genau vorgeht. Sie werden erkunden, welche Gedanken und negative Selbstbewertungen zu sozialen Ängsten beitragen und wie Sie diese verändern können. Schließlich werde ich Ihnen Übungen vorstellen, mit denen Sie Ihre sozialen Ängste im Laufe der Zeit verringern können.

Da die meisten Menschen mit sozialen Ängsten auch unter negativen Gedanken und bewertenden Selbstgesprächen leiden, bekommen Sie zudem Techniken an die Hand, mit denen Sie Ihre Denkweise auf den Prüfstand stellen können. In einem ergänzenden Teil des Buches möchte ich Ihnen ein Basisprogramm gesunder Lebensführung vorstellen. Dabei ist das Erlernen von Achtsamkeit und Meditation ebenso wichtig wie Übungen für soziale Kompetenz und Emotionsregulation. Wir werden auch das Thema „Selbstwertgefühl“ streifen. Und falls das nicht ausreichen sollte, so finden Sie Empfehlungen, wie Sie professionelle Hilfe, zum Beispiel bei einer Verhaltenstherapeutin, finden können.

Ein Wort zur Kognitiven Verhaltenstherapie

Es ist nicht das Ziel dieses Bandes, einen Überblick über die neueren Entwicklungen in der Verhaltenstherapie oder der Psychotherapie überhaupt zu geben. Aber Sie sollten meine Arbeitsweise kennen und wissen, auf welchen Grundüberlegungen mein Ansatz, der als ganzheitlich bezeichnet werden kann, basiert. Denn Sie möchten sich ja als ganzer Mensch entwickeln können.

Der Ansatz, den ich Ihnen hier vorstelle, basiert auf der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT). Er ist in vielen wissenschaftlichen Studien als effektiver Ansatz, insbesondere bei Angst- und Zwangsstörungen, bestätigt worden. Es ist überdies gängige Lehrmeinung, dass die Verhaltenstherapie durch die sogenannte dritte Welle eine stimmige Erweiterung erfahren hat. Während sich die „erste Welle“ nur am beobachtbaren Verhalten des Menschen orientierte, bezog die „zweite Welle“ die Gedanken, die sogenannten Kognitionen, mit in die Therapie ein. Die „dritte Welle“ gibt den Gefühlen, also den Emotionen, einen wichtigen Raum. Deshalb wird zunehmend auch „erlebnisaktivierend“ gearbeitet. Zudem erhielten einige neuere Strömungen einen wichtigen Stellenwert in der Verhaltenstherapie. Dazu gehört die Achtsamkeit oder Meditation, die den betroffenen Menschen dabei hilft, einen besseren Zugang zu sich selbst und damit zu ihrem Befinden zu erhalten, sei es körperlich, gedanklich oder emotional. Weiterhin wird ein liebevoller, gütiger und selbstfürsorglicher Umgang gefördert. Näheres dazu werde ich in diesem Buch vorstellen (Kapitel 12).

Mein verhaltenstherapeutischer Ansatz bezieht die Biografie und eine systemische Sicht mit in die Therapie ein. Die sogenannte Schematherapie ist eine wichtige Erweiterung meiner Sichtweise und therapeutischen Arbeit. Eine kurze Skizzierung der Schematherapie finden Sie auf in Abschnitt 9.6.

Schon vor einiger Zeit wurde mir bewusst, dass die bisher publizierten Manuale und Selbsthilfebücher schwerpunktmäßig auf Kognitiver Verhaltenstherapie basierten und dabei die Verhaltensübungen etwas aus dem Blick geraten sind. Deshalb möchte ich Ihnen ganz bewusst entsprechende Übungen vertiefter vorstellen, als das in anderen Publikationen der Fall ist.

Wichtig ist vor allem zu verstehen: Es gibt nicht die eine Stellschraube, die plötzlich alles verändert und die Sie zu einem neuen Menschen ohne Schüchternheit, Angst und Unsicherheit macht. Aber es gibt viele Rädchen, die ineinandergreifen und die, konsequent und achtsam umgesetzt, zur Verbesserung beitragen können.

Wenn Sie sich also wünschen, ohne Angst mit Kolleginnen Mittagessen zu gehen, sich auf eine neue Stelle zu bewerben und sich mit mehr Selbstvertrauen in ein Bewerbungsgespräch zu begeben, sich bei Meetings zu Wort zu melden, Ihren Geburtstag unbeschwert mit Freunden zu feiern, andere Frauen oder Männer kennenzulernen und sich selbst insgesamt positiver zu sehen und einzuschätzen, dann kann Ihnen dieses Buch dabei helfen.

Die Soziale Phobie während und nach der Coronakrise

Während ich das Buch schreibe, ist unser ganzes Land, ja, die ganze Welt von der Corona-Krise betroffen. Wie gravierend das Abstandsgebot sich auf soziale Unsicherheit auswirkt, kann man im Moment schon feststellen: Die Vermeidung geselliger und sozialer Situationen ist ja gewollt, politisch gefordert und der Kontakt sogar unter Strafe gestellt. Menschen mit verschiedenen Arten von Ängsten werden in ihrem Vermeidungsverhalten unterstützt, weil sie zu Hause bleiben sollen. Auch in meiner Praxis habe ich in der Zeit, als Psychotherapie als Gespräch per Video durchgeführt werden konnte und sollte, die Auswirkungen auf die Psyche meiner Patienten bemerkt: Während eine Gruppe durch Corona noch stärker verunsichert und ängstlich reagiert hat, gab es eine andere Gruppe, die es gut fand, zu Hause bleiben zu dürfen. Dieser Gruppe ging es interessanterweise kurzfristig sogar besser, weil sie nicht mehr gefordert war, sich den Herausforderungen des „kontaktreichen“ Alltags zu stellen. Ganz nach dem Motto „Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht“ richtete sich diese Gruppe mit Corona zu Hause ein. Für Menschen mit sozialen Ängsten ist es sogar zunächst angenehm, eine Mund-Nasen-Schutzmaske zu tragen und sich dahinter verstecken zu dürfen. Umso schwieriger ist es, sich wieder zeigen zu müssen.

Es wird eine Zeit nach der Corona-Krise geben. Ich gehe aber davon aus, dass der Umgang mit der Pandemie unser Leben dauerhaft beeinflussen und die Form des Kontaktes verändern wird. Aber: Unser Bedürfnis nach Kontakt und Bindung zu anderen Menschen wird bleiben. Vielleicht werden uns gute Beziehungen sogar noch wichtiger, noch wertvoller werden. Hoffentlich hilft Ihnen dieses Buch, dabei zu sein, wenn die Menschen, vielleicht auch gestärkt durch die Krise, wieder mehr aufeinander zugehen können.

Noch eine Anmerkung zur Genderschreibweise: Mir ist es wichtig, dass Ihnen die Inhalte dieses Buches in Ihrer schwierigen Lebenssituation helfen. Dazu gehört auch, dass der Lesefluss nicht durch sperrige Genderstar-Konstruktionen unterbrochen wird. Ich habe mich deshalb gegen das Gendern entschieden und werde stattdessen locker wechselnd mal die männliche und mal die weibliche Form wählen in der Hoffnung, so alle Menschen – unabhängig von ihrem Geschlecht – zu erreichen.

TEIL I: DIE ANGST VOR ANDEREN MENSCHEN

1. Habe ich ein Problem?

1.1 Schüchternheit und Soziale Phobie

Es gibt wohl kaum einen Menschen, der nicht einmal Angst davor hat, sich zu blamieren, peinlich zu verhalten oder von anderen abgelehnt zu werden. Schüchternheit und leichte Formen von sozialer Unsicherheit sind sehr weit verbreitet. Es wird Sie vermutlich entlasten zu hören, wie viele Menschen sich in bestimmten Situationen oder auch generell als schüchtern oder gehemmt erleben. Die Angst, vor einer Gruppe zu reden, geben 50 Prozent aller Befragten als Problem an (Hoyer & Härtling, 2019). Dabei kennen die meisten Menschen in so einer Situation Anspannung, Aufregung und eine gewisse Erwartungsangst.

In einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe (Stein, Walker & Forde, 1994) wurde nach sozialen Ängsten gefragt. Dabei stellte man fest, dass sich mehr als die Hälfte der Teilnehmenden als schüchtern bezeichnete und 61 Prozent der Befragten unter sozialen Ängsten in mindestens einer Situation litt. „33 Prozent der Befragten schätzten ihre Angst als ‚viel größer‘ als die meisten anderen Menschen ein“.

Bereits in der Schule oder im Studium wagt ein Schüler oder eine Studentin oft nicht, bestimmte Fragen zu stellen aus Sorge, von anderen als dumm empfunden zu werden und sich dann unterlegen zu fühlen. Sich selbst zeitweise als schüchtern, gehemmt, zurückhaltend, introvertiert und in bestimmten sozialen Situationen als unsicher oder ängstlich zu erleben ist normal. Typisch ist zum Beispiel die Befangenheit zu Beginn einer Feier, wenn man den Raum betritt. Da hilft das Glas Sekt zur Begrüßung, denn das löst die Zunge. Auch sonst eher unbefangene und kommunikative Menschen verkrampfen manchmal und fühlen sich etwa in Redepausen unwohl. Ebenfalls normal ist das Gefühl von Scham, beispielsweise bei einem Missgeschick, wenn man versehentlich im Restaurant etwas vom Tisch hat fallen lassen. Es gibt wohl kaum jemanden, dem es angenehm ist, bei einer neuen Arbeitsstelle am ersten Tag den Kollegen vorgestellt zu werden und ein paar Worte über sich selbst zu sagen; oder der in größerer Runde bei einem Meeting die Ergebnisse eines Projektes vorstellen soll und sonst wenig Erfahrung damit hat, etwas zu präsentieren. Man geht davon aus, dass mehr als 60 Prozent der Menschen aufgeregt sind oder zumindest leichte Ängste verspüren, wenn sie vor einer Gruppe reden sollen (Stein, Walker & Forde, 1994).

All diese Beispiele von plötzlicher Befangenheit, Schüchternheit, Hemmung oder Peinlichkeit können vorkommen und sind weitestgehend normal. Diese Schüchternheit wird zudem meistens von den Betroffenen akzeptiert: Die Momente von Unbehagen sind dabei zwar nicht angenehm, werden aber bald darauf wieder vergessen. Eine gesunde Reaktion besteht darin, einzelne Situationen von Unsicherheit nicht so tragisch zu nehmen und sich davon nicht aus dem Konzept bringen zu lassen.

Wann wird Schüchternheit zum Problem?

Ein Hauptfaktor, der dazu beiträgt, dass jemand ein ernstes Problem mit Schüchternheit hat, ist der Leidensdruck: Wenn die sozialen Ängste häufiger werden und das Leben begleiten, wenn sie mit negativen Gedanken und Bewertungen der eigenen Person verbunden sind, dann fangen sie an, das Leben zu beeinträchtigen. Wenn die anfänglich „normale“ Schüchternheit dazu führt, dass soziale Situationen gemieden werden und beispielsweise Termine wegen einer vorgetäuschten Krankheit abgesagt werden, dann wird die Unsicherheit zu einer Sozialen Phobie.

Dies ist auch dann der Fall, wenn die Angst vor Bewertung „grundsätzlicher“ Natur ist und mit dem Gefühl einhergeht, in vielen Situationen oder immer von anderen als unsicher, inkompetent, langweilig oder unattraktiv angesehen zu werden.

Wenn Sie meistens Angst davor haben, im Mittelpunkt zu stehen oder in der Öffentlichkeit zu sprechen oder zu essen, dann ist aus der normalen Schüchternheit sicher ein Thema geworden. Ein Problem mit Sozialer Phobie haben Sie auch dann, wenn Sie häufig versuchen, angstbesetzte Situationen so gut es geht zu vermeiden oder sie nur unter starker Angst durchstehen.

Kernangst bei der Sozialen Phobie ist die Angst vor Bewertung, Peinlichkeit, Blamage, Demütigung und Ablehnung und dies über einzelne, eher seltene Situationen hinaus. Ein Soziophobiker (oder auch Sozialphobiker, ich verwende beide Begriffe synonym) hat Angst, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen und sich zu blamieren. Dabei können die gefürchteten Inhalte unterschiedlich sein. Häufig besteht die Hauptsorge darin, dass die eigenen Angstsymptome (zittern, erröten, beim Reden den Faden verlieren oder einen Black-Out haben, auf einem Date kein Wort herauskriegen, verkrampft sein) von anderen wahrgenommen und negativ bewertet werden.

Situationen, über die sich andere Menschen keine Gedanken machen, sondern in denen sie sich sogar wohlfühlen, sind für Betroffene angstbesetzt und eine Art Prüfung, in der sie gut „performen“ müssen. Während sich andere entspannen und amüsieren, fühlen sich sozial ängstliche Menschen angestrengt und wie in einer Leistungssituation gefordert. Anstatt nach Kontakten mit anderen Menschen erholt und angenehm angeregt zu sein, sind sie erschöpft und ausgelaugt und neigen dazu, sich selbst schlecht zu machen. Sie befürchten, kritisiert oder gekränkt zu werden und empfinden Kritik gleich als Abwertung ihrer Person. Mit all diesem Problemen geht häufig ein niedriges Selbstwertgefühl einher. Die Grübeleien und Gedanken über soziale Situationen führen zu permanenter Selbstbeobachtung und Prüfung, wie die eigene Person wohl in den Augen anderer Menschen gesehen wird. Das ist alles ungeheuer anstrengend und sorgt dafür, sich am liebsten ins Schneckenhaus zurückziehen zu wollen. Daher führt die Soziale Phobie zur Vermeidung entsprechender Situationen, zu Schutzstrategien und dem sogenannten Sicherheitsverhalten, mit dem soziale Anlässe unter Angst oder starker Anspannung durchgestanden werden (vgl. hierzu Abschnitt 2.3).

1.2 Formen der Sozialen Phobie

Die Soziale Phobie hat viele Gesichter und ist häufig auch für Expertinnen nicht so leicht zu erkennen. Dabei kommen die komplexeren Formen, die mit anderen psychischen Problemen assoziiert sind, in der verhaltenstherapeutischen Praxis sogar häufiger vor als die weniger gravierenden Formen. Schauen wir uns doch die unterschiedlichen Ängste einmal genauer an:

Die Redeangst

Angst vor öffentlichem Reden oder vor „Auftritten“ ist sehr weit verbreitet und „Lampenfieber“ ist auch Menschen, die sich beruflich „zeigen“ müssen wie Schauspielern, gut bekannt. Interessanterweise wird die Redeangst als Soziale Phobie erst dann diagnostiziert, wenn die Angst bereits in relativ kleinen Gruppen von drei bis vier Personen auftritt. Die Angst vor dem öffentlichen Sprechen in größeren Gruppen ist so weit verbreitet, dass diese schon fast als normal angesehen werden kann. Wie erwähnt, haben mehr als 60 Prozent der Bevölkerung dieses Problem. Das Reden vor größeren Gruppen ist, wenn man nicht studiert und Referate vortragen oder beruflich präsentieren muss, eher auf privaten Feiern wie auf Hochzeiten oder runden Geburtstagen ein Thema. Und solche Anlässe kommen nun mal nicht regelhaft vor, sodass es auch entsprechend weniger Übungsmöglichkeiten gibt.

Menschen, die Angst vor dem Sprechen haben, reagieren bereits dann verunsichert, wenn sie mit wenigen Menschen verabredet sind und etwas Persönliches gefragt werden. Dann haben sie das Gefühl, dass alle Augen auf sie gerichtet sind und dass sie sich blamieren, wenn sie zum Beispiel nicht unterhaltsam und eloquent von ihrem letzten Urlaub erzählen können. Sie sind daher häufig sehr schweigsam, lassen andere reden oder antworten nur sehr knapp und kurz angebunden, was später zu erhöhter Selbstkritik und dem Gefühl, langweilig und uninteressant zu sein, führen kann.

Das ist bei Jonas der Fall, der im Studium starke Ängste vor Referaten entwickelt hatte. Mittlerweile hat sich die Angst so weit ausgedehnt, dass er sogar bei Treffen mit Freunden, die er eigentlich genießt, weil er sehr kontaktfreudig ist, ein Problem damit hat, etwas Persönliches gefragt zu werden. Es geht ihm nicht gut damit, was er anderen nicht zeigen möchte. Er stellt den Anspruch an sich, immer locker sein zu müssen.

Die Angst, vor anderen zu essen oder zu trinken

Die Angst, vor anderen zu essen, ist u. a. mit der Sorge verbunden, mit der Hand zu zittern und dabei etwas zu verschütten. Für Soziophobikerinnen ist es eine schreckliche Vorstellung, dass das Zittern ihrer Hand von anderen wahrgenommen und sie deshalb für unsicher gehalten werden könnten. Beim Trinken aus besonders filigranen Gläsern ist das Trinken schwieriger, weil größere Gläser oder Tassen mit beiden Händen angefasst werden können. Beim Essen ist das Einnehmen einer Suppe mit dem Löffel stärker angstbesetzt als das Essen von festen Nahrungsmitteln mit Messer und Gabel, wobei in der Regel auch das schwieriger ist, als zum Beispiel ein Sandwich mit den Händen zu essen. Die Angst vor dem Essen oder Trinken führt meistens zu einer Verkrampfung der Hand oder des Armes, was wiederum das Risiko des Zitterns erhöhen kann. Leider breitet sich diese Angst, wie im übrigen auch die bei anderen spezifischen Sozialen Phobien, durch die Vermeidung immer mehr aus und kann dazu führen, dass nicht mehr im Restaurant, auf Feiern oder außerhalb des engsten Familienkreises gegessen werden kann.

Caroline hatte besonders Probleme dabei, wenn sie mit Messer und Gabel essen musste. Sie hatte Angst, mit der Hand zu zittern, wenn sie das Essen mit dem Messer auf die Gabel schob. Deshalb bestellte sie eher ein Essen, für das sie nur die Gabel benötigte. Im Laufe der Zeit hörte sie aber ganz damit auf, ins Restaurant zu gehen und vermied es, mittags mit den Kollegen in der Kantine zu essen.

Die Angst, vor anderen zu schreiben

Bei der Angst, vor anderen zu schreiben, wird das Zittern der Hand, das von anderen gesehen und negativ bewertet werden kann, besonders gefürchtet. Diese Angst kann beim Unterschreiben oder beim Ausfüllen von Formularen, zum Beispiel beim Einchecken ins Hotel oder auch beim Eingeben der PIN von der Kreditkarte, auftreten. Häufig ist sie auch eine Form der Präsentationsangst und tritt beim Schreiben an einem Flipchart auf.

Die Angst beim Bezahlen

Die Angst beim Bezahlen an einer Supermarktkasse ist vergleichbar mit der Angst, vor anderen zu schreiben. Man muss das passende Bargeld parat haben oder Wechselgeld entgegennehmen. Dabei wirken nicht nur die Blicke der Kassiererin, sondern auch die der Wartenden in der Schlange für Sozialphobiker bedrohlich. Sie scheinen nichts Besseres zu tun zu haben, als die (sozialphobische) Person an der Kasse zu beobachten und das Warten macht sie möglicherweise ungeduldig. In dieser Situation haben Betroffene mehr als in anderen Situationen die Sorge, ihre Mitmenschen zu verärgern und dafür verantwortlich zu sein, dass andere ungehalten reagieren. Ältere oder behinderte Menschen sind besonders von diesen Ängsten betroffen.

Die Prüfungsangst

Bei der Angst vor Prüfungen geht die Furcht vor dem Scheitern in einer Prüfung mit der Angst vor der Bewertung einher. Im Vordergrund steht die Angst, das Gelernte nicht abrufen zu können und zu versagen. Häufig führen überhöhte Ansprüche an das Ergebnis und die eigene Leistungsfähigkeit zu hoher Anspannung und zu der Angst vor dem Misslingen. Diese setzt oft schon bei der Vorbereitung ein und behindert eine konsequente Prüfungsvorbereitung mit der Folge, dass man aufschiebt. Dann stellt bereits das Lernen am Schreibtisch ein Problem dar und es bestehen gravierende Konzentrationsmängel, sodass in der Folge Prüfungstermine abgesagt werden. Die Prüfungsangst wird oft als spezifische Phobie diagnostiziert, ist jedoch häufig eine Form der Sozialen Phobie.

Die Angst vor dem Telefonieren

Durch die Digitalisierung mit Chats und Kurznachrichten haben sich viele, insbesondere jüngere Menschen abgewöhnt, miteinander zu telefonieren. Manchmal finden sogar Beziehungsgespräche oder lange Diskussionen im Chat statt. Man muss sich nicht so „zeigen“, kann sich Zeit lassen, bis man reagiert, und vorher noch einmal überlegen. Beim Telefonieren ist man „ungeschützter“ oder „sichtbarer“. Der andere bekommt mehr von einem mit: die Reaktionszeit, Klang und Modulation der Stimme, Schnelligkeit des Sprechens, die spontane Wortwahl, die Interaktion mit dem anderen. Es bleibt einem beim Telefonieren nichts anderes übrig, als sich zu „zeigen“. Mehr ist dieses natürlich noch bei einem Videotelefonat der Fall, bei dem man auch gesehen werden kann. Viele Soziophobiker fürchten sich davor, beim Arzt oder einer Behörde anzurufen und etwas nachzufragen oder um etwas zu bitten. Sie haben Sorge, ihr Anliegen nicht verständlich machen zu können, unfreundlich behandelt oder abgelehnt zu werden. Es kann jedoch auch vorkommen, dass die Angst besteht, zu telefonieren, wenn jemand zuhört. Dies stellt ein Problem in Büros, insbesondere in Großraumbüros dar, in denen man sich nicht zurückziehen kann und andere Kolleginnen einen sehen und hören können.

Die Angst vor dem Erbrechen: Emeteophobie

Auch die Emeteophobie, die Angst vor dem Erbrechen, kann eine spezifische Soziale Phobie sein. Die Betroffenen befürchten, sich übergeben zu müssen, auch wenn sie alleine sind, oder sie haben Angst, andere Menschen könnten sich in ihrer Gegenwart erbrechen. Eine Soziale Phobie ist es bei der Befürchtung, sich in der Öffentlichkeit erbrechen zu müssen und dabei von anderen gesehen und bewertet zu werden. Die Angst vor dem Erbrechen kann sehr einschränkend sein, weil sie zu ausgeprägtem Vermeidungsverhalten führen kann. So werden Fahrten auf Schiffen, im Bus oder auch in anderen Verkehrsmitteln aus Angst vor Peinlichkeit und Blamage gemieden. Bestimmte Speisen werden aus Sorge vor der Übelkeit nicht gegessen, was manchmal zu Gewichtsabnahme führen kann. Manche Betroffene haben wegen ihrer Emeteophobie immer eine Plastiktüte dabei. Dieses ist eine Form des Sicherheitsverhaltens, das eine große Rolle bei der Aufrechterhaltung der Sozialen Phobie spielt. Der Abbau des Sicherheitsverhaltens ist daher wichtig und wir werden darauf im Übungsteil ausführlich zu sprechen kommen.

Anette kam mit der Angst vor dem Erbrechen, die sie sehr in ihren Aktivitäten und der Kontaktgestaltung einschränkte, in meine Praxis. Sie hatte vor Therapiebeginn jahrelang nicht mehr selbst in einer Apotheke eingekauft aus Angst, dort mit kranken Menschen in Kontakt zu kommen und sich bei ihnen anzustecken. Außerdem mied sie Krankenhäuser. Aus Angst, sich zu übergeben, fuhr sie nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Sie hatte immer eine Plastiktüte dabei, falls es zum „Schlimmsten“ kommen sollte.

Die Angst vor dem sexuellen Versagen

Die Sorge, beim intimen Zusammensein mit einer Freundin im entscheidenden Moment zu versagen und Erektionsprobleme zu bekommen, tritt bei Männern relativ häufig auf. Meistens vergeht die Sorge wieder, wenn in einer Beziehung Vertrauen entsteht und erste positive Erlebnisse Sicherheit gegeben haben. Bei manchen Männern bleibt das Problem aber sogar innerhalb einer festen Partnerschaft bestehen. Neben organischen Ursachen wie Diabetes, Herzerkrankungen und Bluthochdruck spielen psychische Ursachen vermutlich eine größere Rolle. Bei Männern spricht man von erektiler Dysfunktion: Die Angst, nicht seinen „Mann stehen zu können“, tritt in der Kennenlernphase und der Anbahnung eines intimen Kontaktes häufiger auf als in festen Beziehungen.

Frauen kennen auch sexuelle Probleme wie Vaginismus. Dabei bestehen Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, die so stark sein können, dass ein Koitus nicht möglich ist. Psychologischer Hintergrund ist ein ähnlicher wie bei anderen Formen von Versagensängsten. Das „Gelingen“ des sexuellen Kontaktes wird als Leistung angesehen und das Nichtgelingen dementsprechend als Scheitern.

So war es bei dem 30-jährigen, beruflich erfolgreichen Michael, der viele Freunde hatte, gerne ausging und viel reiste. Er hatte, nachdem sich seine erste Freundin vor Jahren von ihm getrennt hatte, keine feste Beziehung mehr und wollte eher in Affären sein Glück suchen. Er trieb intensiv Sport, um einen trainierten Körper vorweisen zu können, und wollte ein unterhaltsamer Gesprächspartner sein. Bei neuen Kontakten zu Frauen hatte er große Angst vor dem sexuellen Versagen, weshalb er lange Zeit keine Frau mehr getroffen hatte. Zuletzt war ihm vor dem ersten Date richtiggehend übel geworden vor Angst, beim späteren Intimwerden nicht funktionieren zu können.

Die Angst vor dem Benutzen öffentlicher Toiletten, vor dem Einkoten oder Einnässen

Während das Bestehen Sozialer Ängste bereits schambesetzt ist und meistens verschwiegen wird, wird über Intimes wie die Benutzung öffentlicher Toiletten, die Verdauung oder gar Probleme mit der Sexualität gar nicht gesprochen. Die Angst, öffentliche Toiletten zu benutzen, ist bei Männern, die jedoch auch nicht darüber reden, relativ weit verbreitet. Bei der Nutzung von Urinalen, die von anderen Männern im Raum frei einzusehen sind, entsteht die Sorge, nicht urinieren zu können, was als peinliche Blamage erlebt wird. Diese Form der Sozialen Phobie wird Paruresis genannt, was übersetzt „schüchterne Blase“ heißt. Wenn nur dieses Problem besteht, wird in der Regel keine Therapie besucht, weil die Benutzung öffentlicher Toiletten bzw. die Benutzung von Urinalen meistens gemieden werden kann.

Es gibt Soziophobiker, die Angst davor haben, sich in der Öffentlichkeit „in die Hose zu machen“, die sogenannte Diarrhoephobie. Es werden nur Orte aufgesucht, bei denen ein WC verfügbar und leicht erreichbar ist. Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln werden vorher akribisch vorbereitet, um die genaue Kenntnis der Umgebung von U-Bahn-Stationen zu haben. Bei Menschen mit entzündlichen Darmerkrankungen (Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa) kann diese Angst ein Begleitphänomen ihrer medizinisch verursachten Erkrankung darstellen. Es gibt aber auch Fälle, die rein psychologischer Natur sind: Durch die Angst vor dem „Missgeschick“ ist der Körper somatisch gesehen in permanentem Aufruhr, was die Wahrscheinlichkeit von Durchfall oder Diarrhoe verstärkt. Ähnlich ist es bei der Angst davor, den Urin nicht halten zu können. Aus Sorge davor wird das Trinken, vor allem vor Fahrten oder in der Öffentlichkeit, vermieden oder es wird zu wenig getrunken, was sekundär zu einer Verkleinerung der Blase und dadurch zu stärkerem Harndrang bereits nach kleinen Trinkmengen führen kann.

Für manche Menschen ist es schon ausgesprochen schlimm, wenn andere ihr Magenknurren oder andere Verdauungsgeräusche hören können oder wenn sie einen Schluckauf haben oder aufstoßen müssen. Normale menschliche Regungen sind damit bereits extrem peinlich.

Hanna hatte eine extrem flache Atmung, was ihre Anspannung, die ohnehin permanent vorhanden war, verschärfte. Sie atmete nicht mehr tief oder in den Bauch ein, weil es ihr unangenehm war, wenn jemand sah oder hörte, wie sie atmete.

Die Angst vor dem Erröten: Erythrophobie

Jeder kennt das Gefühl, dass es plötzlich heiß aufsteigt, wenn man sich ertappt oder beschämt fühlt. Solche Situationen treten häufig bereits in der Schule oder in der Pubertät, zum Beispiel bei den ersten Kontakten mit attraktiven Personen des anderen Geschlechts, auf. Das Erröten verliert sich bei den meisten Menschen in der Regel jedoch wieder. Bei Erythrophobikerinnen ist das Rotwerden an sich jedoch so schambesetzt, dass allein die Sorge davor dazu führt, dass es auftritt. Während die Angst anfangs meistens tatsächlich in blamablen Situationen auftrat, kann sie später bereits beim Einkaufen und bei völlig unverfänglichen sozialen Kontakten mit Menschen, die man nicht wiedersieht, entstehen. Wer diese Sorge nicht hat, wird es vermutlich nicht so schlimm finden, wenn jemand errötet. Für die Betroffenen wird das Leben dadurch jedoch zum Spießrutenauflauf und der Leidensdruck kann enorm sein. Im Übrigen ist das Problem hierbei ähnlich wie bei anderen Formen der Sozialen Phobie auch: Durch die Befürchtung davor und die ständige Selbstbeobachtung und das „Hinspüren“, verbunden mit der bangen Frage „Bin ich schon rot?“, tritt es häufig überhaupt erst auf.

Die 21-jährige Nora war schon als Kind eher schüchtern. Sie beschreibt das auch von ihrer Mutter, die deshalb kaum Freundinnen hatte. Da es auch wenige Verwandte gab, hatte die Familie wenige Außenkontakte. Nora hat Angst, besonders im Kontakt zu Männern zu erröten. Das wäre ihr extrem peinlich. Sie hatte noch nie einen Freund und wenn sie sich mal zu einem Date verabredet, schminkt sie sich perfekt, sodass man mögliche Röte nicht sehen kann. Sie verabredet sich lieber abends, nach Möglichkeit in einem Lokal, in dem es nicht so hell ist. Sie ist dann so mit sich selbst beschäftigt, dass sie sich kaum auf ein Gespräch konzentrieren kann, und empfindet sich als völlig „unentspannt“ und steif. Meistens kommt sie danach frustriert nach Hause und hat überhaupt keinen Spaß gehabt. Sie geht jede einzelne Gesprächssequenz noch einmal durch und kritisiert sich selbst und ihr „Fehlverhalten“.

Die Angst, ein Hochstapler zu sein: das Impostor-Syndrom

Abschließend möchte ich der Vollständigkeit halber noch kurz das Impostor-Syndrom nennen, worunter hautpsächlich Menschen mit Selbstwertproblemen leiden. Sie sind davon überzeugt, dass sie ihrem Job eigentlich gar nicht gewachsen sind und fühlen sich ständig wie ein Hochstapler, auch wenn die Rückmeldungen von Kollegen und Vorgesetzten durchweg positiv ausfallen. Ihre eigene Selbsteinschätzung ist so gering, dass sie permanent unter der Sorge leiden, sie könnten eines Tages „geoutet“ werden als jemand, der falsch auf dieser Stelle ist. Dass diese Angst zu einer Fülle von Folgeproblemen führt, wie etwa zusätzlicher Angst vor dem Präsentieren oder vor Feedback-Gesprächen, leuchtet unschwer ein.

Dem 45-jährigen Florian macht die Arbeit als Softwareentwickler viel Spaß und sie geht ihm leicht von der Hand. Neulich wurde ihm sogar eine Position als Gruppenleiter angeboten, die er jedoch abgelehnt hat, weil er es sich nicht zutraut, andere Menschen zu führen. Er ist der Meinung, dass es eigentlich gar nicht stimmt, dass er einen guten Job mache. Eigentlich wartet er nur darauf, dass es herauskommt, dass er eigentlich nichts kann. Seinen Erfolg schreibt er eher dem „Zufall“ als seiner eigenen Leistung zu. Er ist der Meinung, dass er bisher einfach Glück gehabt habe. Leider kann er deshalb seine Erfolge auch nicht als Ressource verbuchen und sein Selbstwertgefühl ist entsprechend gering.

1.3 Soziale Phobie – die heimliche Angst

Bei anderen Phobien wie der Tierphobie, der Höhenangst oder der Agoraphobie tritt das, wovor die Patienten Angst haben, in der Regel nicht auf: Die Angst davor, dass das Tier einem etwas tut, dass man aus großer Höhe in die Tiefe fällt oder die Angst vor dem Absturz des Flugzeuges, dem Kontrollverlust, der Ohnmacht etc. wird von Angstpatienten selbst als übertrieben angesehen. Bei der Sozialen Phobie kann das Gefürchtete leider tatsächlich auftreten: das Erröten, Verkrampfen, Zittern, die Sprechblockade, der leere Kopf, die Erektionsprobleme – all das ist nicht übertrieben, die Sorge davor wird leider oft bestätigt. Zudem ist die Scham eines der mit der Sozialen Phobie einhergehenden Hauptprobleme: Während Menschen mit anderen Ängsten in den letzten Jahren zunehmend offen mit ihren Symptomen und den entsprechenden Folgen umgehen können und im Freundeskreis über eine Psychotherapie sprechen, schämen sich Soziophobikerinnen wegen ihrer Symptome und verheimlichen sie häufig sogar im näheren Umfeld.

Deshalb ist es nicht übertrieben, von einer „heimlichen Angst“ zu sprechen: Die Betroffenen sind so sehr damit beschäftigt, ein „gesundes“ Bild nach außen aufrechtzuerhalten, dass sie ihr Vermeidungsverhalten durch Notlügen verbergen und keine Mühe und Anstrengung scheuen, damit niemand merkt, wie es ihnen geht. Leider ist das aber auch einer der Hauptfaktoren, weshalb die Soziale Phobie in der Regel nicht von selbst wieder verschwindet, sondern sehr hartnäckig und chronisch verläuft. Weil das Krankheitsbild so komplex und umfassend ist, handelt es sich bei der sozialen Angst eigentlich um mehr als „nur“ um eine Soziale Phobie. Der Begriff Soziale Phobie verleitet zu der falschen Annahme, es handele sich um ein leichtes Problem. Man muss jedoch davon ausgehen, dass es sich bei dieser Art von Angst um eine je nach Ausprägungsgrad schwere Störung handelt, die komplexer ist als eine reine Phobie. Deshalb hat man sich in jüngerer Zeit in Fachkreisen auf einen anderen Begriff verständigt: Weil der Problemkreis so viele verschiedene Themen mit einbezieht, spricht man heute auch von einer Sozialen Angststörung.

Durch die Verheimlichung ist auch die Suche nach Hilfe schwierig. Es entsteht ein Teufelskreis aus Angst vor Blamage, dem Verstecken der Angst, der Vermeidung und dem Sicherheitsverhalten, das die Angst davor, entdeckt und abgelehnt zu werden, nur noch weiter verstärkt.

Es stellt sich die Frage: Wie sollen Sie Tipps und Hilfestellungen bekommen, wenn Sie sich nicht mal einem Freund oder jemandem im Bekanntenkreis anvertrauen? Und wie sollen die Ängste von selbst besser werden, wenn Sie so sehr dagegen ankämpfen und sich mit Sicherheitsverhalten notdürftig beruhigen, sodass ein akzeptierender und gnädiger Umgang mit sich selbst unmöglich ist? Wie sollen Sie die Angst verlieren, deren Gegenstand so schlimm für Sie ist, dass nicht sein kann, was nicht sein darf?

Einen ersten Gedankenimpuls möchte ich Ihnen schon jetzt am Anfang des Buches geben, der im Zuge der weiteren Kapitel noch greifbarer für Sie werden soll: Akzeptanz ist die Voraussetzung für die Überwindung eines psychischen Problems. Und genau deshalb sind das Verstecken und die Heimlichkeit so problematisch. Es verhindert, dass Hilfe und Unterstützung gesucht und gefunden werden kann.

Wie häufig ist die Soziale Phobie?

Man geht davon aus, dass in Deutschland drei bis vier Millionen Menschen unter einer Sozialen Phobie leiden. Epidemiologische Untersuchungen geben die Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens eine Soziale Phobie zu bekommen, mit ca. 13 Prozent an, wobei die Angaben je nach eingesetzten Studien und Messinstrumenten schwanken (Stangier, Heidenreich & Peitz, 2009). Es wird davon ausgegangen, dass jedes Jahr vier bis acht Prozent der Bevölkerung an einer Sozialen Phobie erkranken. Aktuell, also zum jeweiligen Zeitpunkt, leiden drei bis vier Prozent der Bevölkerung unter einer Sozialen Angststörung (Hoyer & Härtling, 2019). Damit stellt sie die häufigste Angststörung und nach der Depression und der Substanzabhängigkeit die dritthäufigste psychische Störung in Deutschland dar. Trotz der nachgewiesenen Häufigkeit und der großen Beeinträchtigung für die Betroffenen kommt es bei der Diagnosestellung durch Unterschätzung der Symptomatik und der Schwierigkeiten, die Störung von anderen Angststörungen und depressiven Störungen abzugrenzen, häufig zu Fehleinschätzungen. Die Häufigkeit des Vorkommens der Sozialen Angststörungen spiegelt sich somit leider nicht in der Menge an Publikationen und Forschungsbemühungen. Viele Menschen halten Soziale Angst, Schüchternheit und Hemmung für Charakterzüge und kommen nicht auf die Idee, dass die damit verbundenen Probleme geändert und verbessert werden können. Dabei sind die Fälle, die in den Statistiken erfasst werden, ja die sogenannten krankheitswertigen. Das sind die Fälle, die nach klinischer Einschätzung so gravierend sind, dass sie eine entsprechende Diagnose rechtfertigen. Die Menschen mit leichteren sozialen Ängsten, die das Kriterium für eine Diagnose nicht erfüllen, sind in diesen Statistiken nicht mit aufgenommen. Das sind dann bis zu 50 Prozent der Bevölkerung, die Angst haben, vor einer Gruppe eine Rede zu halten oder andere soziale Unsicherheiten unterschiedlicher Abstufungen zeigen (Stangier, Heidenreich & Peitz, 2009). Gewisse Symptome sozialer Angst kennen viele, wenn nicht sogar die meisten Menschen, wenn sie in abgegrenzten sozialen Situationen Aufregung, Anspannung, Unsicherheit oder auch Angst verspüren. Wir werden weiter unten noch mehr über die Abstufungen und Schweregrade der Sozialen Phobie sprechen. Wichtig ist dabei die eigene Bewertung der vorhandenen Symptome als schlimm oder peinlich, denn nur dann kann sich die Symptomatik ausweiten und verschlimmern.

Eine interessante Frage ist in dem Zusammenhang auch, ob die sozialen Ängste durch Mediennutzung zunehmen und durch soziale Netzwerke mit allem, was dazu gehört: sozialer Vergleich, „Cybermobbing“, die Möglichkeit, sich zu verstecken oder durch schöne Bilder „aufzuhübschen“ etc. Dazu sind mir aber keine Zahlen bekannt. Wir werden auf die Problematik des sozialen Vergleichs und die nachteiligen Folgen für das Selbstwertgefühl noch weiter unten zu sprechen kommen (vgl. Kapitel 15).

Sind Männer und Frauen gleich häufig betroffen?

Die Soziale Phobie ist unter Männern und Frauen ungefähr gleich häufig verteilt. In der Literatur wird davon ausgegangen, dass mehr Frauen unter Sozialer Angststörung leiden (Verhältnis 3:1). Dabei spielt aber vermutlich auch eine Rolle, dass Männer die Angst noch stärker unterdrücken und beispielsweise mit Alkoholkonsum kompensieren. Dann wird vermutlich eher eine begleitende (komorbide) Störung diagnostiziert. In meine Praxis kommen aber immer noch mehr Frauen als Männer. Dabei ist die Offenheit, eine Psychotherapie in Anspruch zu nehmen, in den letzten Jahren auch bei Männern größer geworden. Leider stelle ich aber oft fest, dass die Männer länger warten als Frauen, bevor sie sich Hilfe suchen. Bei Männern kommt es auch heute noch häufiger vor, dass sie bestimmte Situationen eher unter Angst und Anspannung durchstehen, als sie zu vermeiden. Männer trinken häufiger Alkohol, um die Unsicherheiten zu lindern und lockerer zu werden. Und oft sind bei Männern die Probleme schon größer geworden oder es haben sich zusätzliche Beschwerden entwickelt, bevor sie sich zur Verhaltenstherapie anmelden. Auf die anderen Beschwerden und Folgen der Sozialen Phobie werden wir später noch ausführlich zu sprechen kommen (vgl. Abschnitt 2.4).

1.4 Die Diagnose Soziale Phobie / Soziale Angststörung

In diesem Abschnitt erfahren Sie etwas über diagnostische Kriterien nach den Systemen, mit deren Hilfe Psychotherapeutinnen und Forscher die psychischen Symptome ihrer Patienten und Probandinnen kategorisieren. Diese möchte ich Ihnen kurz vorstellen. Aber wie bereits oben betont: Entscheidend ist nicht das Bestehen einer „Diagnose“, sondern einzig und allein die Tatsache, dass Sie die genannten Unsicherheiten oder Ängste bei sich spüren und daran arbeiten möchten. Bitte bedenken Sie auch, dass Sie, wenn Sie unsicher sind und Fragen haben, jederzeit ein Feedback in einer Verhaltenstherapiepraxis bekommen können, wenn Sie einen Termin in der Sprechstunde vereinbaren. Näheres dazu finden Sie in Kapitel 17.

Es gibt internationale Diagnosesysteme, mit deren Hilfe alle Krankheiten verschlüsselt werden können. Jeder Bereich hat ein eigenes Kapitel mit Ziffern, die für das Bestehen der Krankheit oder Störung vergeben werden können. So haben auch die psychischen Störungen ein Kapitel, das so umfassend ist, dass es dafür ein ganzes Buch gibt.

Im deutschen Sprachraum wird das ICD (International Classification of Mental Disorders, Dilling & Freyberger, 2019) verwendet. Auch ich muss im Rahmen meiner verhaltenstherapeutischen Praxis diagnostizieren und die Diagnosen nach ICD verschlüsseln. Ohne Diagnose zahlen die Krankenkassen keine Therapie: Die jeweilige Störung, deren Behandlung von den Psychotherapeutinnen bei den Krankenkassen beantragt wird, muss „krankheitswertig“ sein, also eine bestimmte Stärke aufweisen, damit die Krankenkasse ihre Kostenzusage erteilt.

Die Diagnosesysteme werden alle paar Jahre neu aufgelegt. Dafür gibt es große, sich international austauschende Expertengruppen. Ziel ist es heutzutage, die Störungen „deskriptiv“ zu erfassen, das heißt, dass sie nach ihren Phänomenen beschrieben werden, ohne Bewertung oder einer bestimmten Schule folgend (wie früher der Begriff „Neurose“, der stark psychoanalytisch geprägt war). Immer noch aktuell ist die 10. Version des ICD. Es wird bereits seit einigen Jahren überarbeitet und die Veröffentlichung des ICD-11 von Jahr zu Jahr verschoben. Daher müssen wir uns in dieser Auflage des Buches mit der 10. Version, also dem ICD-10 begnügen.

Soziale Phobien nach ICD-10 – F40.1

(Dilling, Mombouer & Schmidt, 2016)