Sozialphilosophie - John Dewey - E-Book

Sozialphilosophie E-Book

John Dewey

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Beschreibung

1919 reiste John Dewey für gut zwei Jahre nach China, um dort Vorlesungen zu verschiedenen Themen im ganzen Land zu halten. An der Universität Peking spricht er u. a. über Sozialphilosophie, erläutert, worin deren Aufgabe besteht, nämlich in der reflexiven Bewältigung von Konflikten, und wendet sich in dieser Perspektive dann klassischen Problemen der Politik, Wirtschaft und Kultur zu. Die Vorlesungen gelten als einziger systematischer Beitrag Deweys zur Sozialphilosophie und werden nun zum ersten Mal auf Deutsch publiziert. Eine Entdeckung!

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3John Dewey

Sozialphilosophie

Vorlesungen in China 1919/20

Aus dem Amerikanischen von Martin Suhr

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Axel Honneth und Arvi Särkelä

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

1. Die Funktion der Theorie

Notizen zur ersten Vorlesung

2. Wissenschaft und Sozialphilosophie

Notizen zur zweiten Vorlesung

3. Sozialer Konflikt

Notizen zur dritten Vorlesung

4. Sozialreform

Notizen zur vierten Vorlesung

5. Kriterien für die Beurteilung von Gedankensystemen

6. Kommunikation und Zusammenleben

Notizen zur sechsten Vorlesung

7. Ökonomie und Sozialphilosophie

8. Klassischer Individualismus und freies Unternehmertum

9. Sozialismus

10. Der Staat

Notizen zur zehnten Vorlesung

11. Regierung

Notizen zur elften Vorlesung

12. Politischer Liberalismus

Notizen zur zwölften Vorlesung

13. Die Rechte der Einzelnen

14. Nationalismus und Internationalismus

15. Die Autorität der Wissenschaft

16. Intellektuelle Freiheit

Notizen zur sechzehnten Vorlesung

Axel Honneth und Arvi Särkelä

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Nachwort: Anerkennung als assoziiertes Leben. Zur Aktualität von John Deweys Vorlesungen in China

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Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

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71. Die Funktion der Theorie

Das Thema dieser Reihe von sechzehn Vorlesungen lautet »Sozialphilosophie und Politische Philosophie«. Das heißt, ich werde über Theorien sprechen, die sich mit dem kollektiven Leben der Menschheit befassen. Theorie als Erklärung von Konstitution und Funktionsweise von Dingen tritt immer erst sehr spät auf den Plan. Normalerweise fragen wir erst, warum oder wie wir bestimmte Dinge tun, wenn wir sie schon längst tun. So hatten die Menschen zum Beispiel schon seit Millionen von Jahren Nahrung zu sich genommen und verdaut, ehe sie Theorien über Physiologie und Hygiene formulierten; sie hatten schon seit Hunderten von Generationen gesprochen – und sogar geschrieben –, bevor sie Theorien der Grammatik, Rhetorik und Logik entwickelten, um das Sprachverhalten, wie sie und ihre Vorfahren es gezeigt hatten, zu erklären.

Dasselbe gilt für soziale und politische Philosophie. Wir philosophieren – das heißt, wir konstruieren Theorien – über unsere Sitten und Gewohnheiten und Institutionen erst dann, wenn irgendeine Art von Schwierigkeit oder Hindernis uns zum Nachdenken darüber zwingt, in welcher Form wir unsere Gruppenaktivitäten durchgeführt haben. Immer ist es die soziale Institution, die der Theorie vorangeht, und nicht die Theorie, die der Institution vorangeht.

Die Menschheit teilt eine universale Eigenschaft: Sobald ein Bedürfnis auftritt, kommt es zu einer Aktivität, um das Bedürfnis zu befriedigen. Wenn wir hungrig sind, essen wir; wenn wir müde sind, schlafen wir. Wenn ein Bedürfnis aufgrund eines besonderen Ereignisses (oder eines Ereignisses, das wir noch nicht in eine bestimmte Kategorie oder Klasse von Ereignissen einordnen können) entsteht, probieren und bewerten wir bewusst Aktivitäten, die darauf berechnet sind, die Spannung zu reduzieren. In dem Maße freilich, wie Ereignisse von ähnlichem Charakter in der Erfahrung auftreten und dieselben oder verwandte Aktivitäten sich als wirksam erweisen, eine Reihe von ähnlichen Spannungen zu reduzieren, werden solche Handlungen zur Gewohnheit. Wir denken nicht länger darüber nach, was wir tun; wir fragen uns nicht: »Warum 8tun wir es so statt anders?« Wenn jemand diese Frage stellt, antworten wir »jeder macht es so« oder »so ist es immer gemacht worden«. Solange unsere Art, mit einer Klasse von Situationen fertigzuwerden, uns eine vernünftige Befriedigung verschafft, brauchen wir keine Theorie, um unsere Handlungen zu rechtfertigen.

Selbst wenn sich unsere Lage verändert und unsere individuellen und kollektiven Gewohnheiten sich als weniger wirksam und weniger befriedigend erweisen als früher, besteht eine allgemeine Neigung, vor einer Prüfung und einer Spekulation – das heißt vor einer Theorie – zurückzuschrecken und sich über Menschen zu ärgern oder zu empören, die darauf bestehen, Fragen nach dem Was, Wie und Warum aufzuwerfen. Menschen, die solche Fragen aufgeworfen haben, haben sich oft unbeliebt gemacht, und einige, die sich nicht davon haben abbringen lassen, Fragen über bestehende Institutionen zu stellen, sind für ihre Anstrengungen sogar mit dem Tode bestraft worden. Das klassische Beispiel ist natürlich Sokrates, dessen »warum dies?« und »warum das?« seine Mit-Athener so erbitterte, dass sie ihn schließlich dazu verurteilten, den Schierlingsbecher zu trinken, weil er mit seinen Fragen angeblich die Öffentlichkeit in die Irre geführt und die Jugend verdorben habe. Von jenem Tag an bis heute waren die meisten Gesellschaften abgeneigt zu theoretisieren und bestraften die Theoretiker.

Trotz der Tatsache freilich, dass es die Menschen im Allgemeinen vorzuziehen scheinen, nicht über ihre Probleme nachzudenken, kommen Zeiten, in denen sie dies nicht vermeiden können. Wäre das nicht so, würden wir den Gewohnheiten, den Sitten und Institutionen unserer Vorfahren folgen und es gäbe keine soziale und politische Philosophie.

Solange es uns mit gewohnheitsmäßigen Handlungen einigermaßen gelingt, mit den Situationen fertigzuwerden, denen wir ausgesetzt sind, und die Spannungen zu reduzieren, können die Menschen gut genug zurechtkommen und tun es auch, ohne bewusst über ihr Verhalten nachzudenken. Man muss zum Beispiel nicht sehr viel über Essen nachdenken, wenn man genug davon hat und nicht an Appetitlosigkeit oder Verdauungsstörungen leidet; und man braucht nicht über das Gehen nachzudenken, wenn man seinen alltäglichen Angelegenheiten nachgeht. Aber wer unter Übelkeit oder Appetitlosigkeit leidet, denkt darüber nach, wenn er isst; wer durch einen verrenkten Knöchel am Gehen gehindert 9wird, muss eine Entscheidung darüber treffen, ob er ein Taxi ruft oder den Bus nimmt.

Ganz allgemein gesprochen: Denken tritt erst dann auf, wenn wir auf eine Schwierigkeit stoßen, erst in dem Augenblick, wenn gewohnheitsmäßige oder institutionelle Formen des Handelns sich als unzulänglich für die vorliegende Situation erweisen. Das gilt ebenso von der Einstellung zu sozialen Institutionen und der Politik wie in den einfacheren Fragen von Essen und Gehen. Erst wenn bestehende Sitten und Institutionen nicht länger angemessen funktionieren, ertragen wir es – und selbst dann in vielen Fällen nur unwillig –, ihre Form und Funktion in Frage zu stellen. Wenn unsere Gesetze, Sitten und Institutionen dem Zweck, für den sie ursprünglich entwickelt worden waren, nicht länger dienen, sind wir gezwungen zu fragen: »Was ist das Problem?«, oder: »Warum funktionieren sie nicht?«

Die Analogie zum menschlichen Körper ist lehrreich. Wir denken nicht nur, wenn der Körper nicht länger so funktioniert, wie er sollte, sondern wir kombinieren schließlich die von qualifizierten Beobachtern stammenden Denkergebnisse, um eine Theorie zu bilden, und wir haben zuerst die Kunst, dann die Wissenschaft der Medizin. Die Behandlung von Krankheiten schafft das Bedürfnis nach einer vorgängigen Theorie, um Antworten auf Fragen zu finden, die von der Medizin aufgeworfen werden, und so haben wir Theorien und Wissenschaften von Anatomie und Physiologie, und schließlich Theorien etwa wie jene, die die Ursprünge von Krankheiten in Keimen und Viren verorten, die Theorie der Immunologie und die vielen Zweige der Biochemie.

Die Parallelen zu Gesellschaft und Politik liegen auf der Hand. Wenn das soziale Leben aus den Fugen gerät, wollen wir notwendig herausfinden, was das Problem verursacht. Und eingedenk der Kunst der Medizin als Wiederherstellung des Körpers zu seinem früheren Zustand des Wohlergehens suchen wir nach Methoden, durch die wir hoffen, ganz ähnlich die Gesundheit oder Ganzheit der Gesellschaft so wiederherstellen zu können, wie wir sie in Erinnerung haben. Das theoretische System, das wir entwickeln und formulieren, während wir diese Suche durchführen, macht unsere Sozialphilosophie und unsere politische Philosophie aus.

Ganz allgemein gesprochen, sind in der östlichen wie auch in der westlichen Welt politische Theorien erst entstanden, als eine 10Gesellschaft aus den Fugen geriet und von Auflösung bedroht erschien. Am Ende des fünften Jahrhunderts vor Christi Geburt zum Beispiel erwiesen sich die Rechtsinstitutionen und sozialen Sitten, die den griechischen Stadtstaaten Jahrhunderte der Stabilität gewährt hatten, als zunehmend unangemessen und wirkungslos bei der Regulierung des bürgerlichen und sozialen Lebens in der Periode ökonomischer und moralischer Verwirrung, die auf zwei Generationen des Kriegs mit den Persern folgte. Eine Anstrengung, das Bedürfnis zu befriedigen – und keiner könnte bestreiten, dass es ein Bedürfnis gab –, war die Philosophie Platons; eine andere war die Philosophie, die von Platons Schüler Aristoteles vorgetragen wurde.

Wenn ich nicht falsch informiert bin, müssen die sozialen Theorien, die das chinesische Denken und die chinesische Gesellschaft so viele Jahrhunderte lang geformt haben, sich auf die gleiche Weise gebildet haben. Laotse wurde zu einer Zeit geboren, als das soziale, politische und moralische Leben von Chaos geprägt war; und als später Konfuzius auf den Plan trat, herrschte immer noch eine derartige Unordnung, dass das Volk Chinas die Notwendigkeit einer Philosophie erkannte und akzeptierte, die über mehr als zweitausend Jahre die Basis einer stabilen Gesellschaft bilden sollte.

So viel zu den Ursprüngen der sozialen und politischen Philosophie. Was können wir über die Wirkungen von Theorien sagen, nachdem sie erst einmal formuliert und geltend gemacht worden sind? Selbst wenn wir einräumen, dass eine soziale und politische Theorie erst dann auftritt, wenn eine Gesellschaft aus den Fugen ist, bleibt die Frage, ob die Theorie lediglich die Symptome beschreiben oder auch ein Mittel zur Heilung der Krankheit sein kann. Analog: Beschränkt sich die medizinische Wissenschaft auf Diagnose oder schließt sie Vorschriften für Heilungen ein? Hat es die Wissenschaft der Dynamik, so wie sie beispielsweise auf den Dampf angewendet wird, nur mit der potentiellen Kraft des Dampfes zu tun, der bei der Erhitzung von Wasser produziert wird, oder schließt sie die Nutzbarmachung dieser Kraft ein, um Lokomotiven anzutreiben?

Dies sind Beispiele derselben Art Frage wie: »Welche Wirkungen kann eine Theorie in der Praxis haben?« Oder, in der vorliegenden Untersuchung: »Welchen praktischen Nutzen hat die soziale und politische Philosophie in der sozialen und politischen Praxis?« 11So offensichtlich die Antworten auf diese Fragen auf den ersten Blick erscheinen mögen, so existieren doch zwei Denkschulen hinsichtlich dieser Frage – Antworten, die antithetisch und kontradiktorisch sind. Obwohl es innerhalb jedes Lagers Meinungsverschiedenheiten gibt, können wir der Bequemlichkeit halber und bei Gefahr der Übervereinfachung diese Gesichtspunkte als extremen Idealismus und extremen Materialismus bezeichnen.

Der extreme Idealist, überzeugt, dass alles aus einer Theorie resultiert, betont das Ideal. Aufgrund seiner Voreingenommenheit für Ideale neigt er dazu, die Wirkungen nicht intellektueller Kräfte zu ignorieren und zu schließen, dass alle Institutionen und Gewohnheiten auf die eine oder die andere Weise aus der – expliziten oder impliziten – Anwendung von Theorien resultieren. Er sieht zum Beispiel den kürzlich beendeten Weltkrieg[1] als das Resultat eines Konflikts zwischen unversöhnlichen theoretischen Positionen an.

Der extreme Materialist hingegen ist der Überzeugung, dass eine Theorie keine Ursache ist, sondern eine Wirkung. Sie resultiert aus etwas, kann aber nicht in etwas resultieren. Für ihn war der Krieg in Europa das Ergebnis eines materiellen Konflikts. Seiner Ansicht nach sind alle größeren Weltgeschehnisse das Ergebnis von Kämpfen verschiedener Interessen im Leben. Er beschränkt seine Schlussfolgerung nicht auf Politik und Ökonomie, sondern dehnt sie sogar auf die schönen Künste aus.

Vom Gesichtspunkt des historischen Materialisten aus kann der Weltkrieg auf der Basis eines ökonomischen Konkurrenzkampfes erklärt werden. Er verwirft die Idee, der Krieg könne aus einem Konflikt zwischen Theorien entstanden sein, und besteht darauf, ihn als einen materiellen Konflikt zu interpretieren. Im Vorkriegsdeutschland hatte die Industrie derart riesige Überschüsse produziert, dass sie überseeische Absatzmärkte suchen musste. Zur selben Zeit beruhte die ökonomische Entwicklung Englands weitgehend auf dem Seehandel. Auf diese Weise resultierten nach Auffassung des Materialisten die widerstreitenden Interessen dieser beiden großen Nationen unvermeidlich in einem Krieg, und das Gerede von konfligierenden Idealen war nichts weiter als ein Schwall von hohlen Phrasen, um die Bevölkerung zur Teilhabe am Krieg zu 12motivieren. Er verweist auf die erfolgreichen Anstrengungen des deutschen Militärs, das Volk mit Hinweisen auf »Kultur« und mit Schlagworten wie »Sturm und Drang« und »Deutschland über alles« anzustacheln; und auf die Appelle der Führer der Alliierten mittels Schlagworten wie »Freiheit und Gerechtigkeit« oder »diese Welt für Demokratie sicher zu machen«. Der Materialist bestreitet, dass diese Ausdrücke überhaupt irgendwelche Ideale repräsentieren; in seinen Augen sind sie nichts weiter als Mittel, die von Kapitalisten und Militaristen angewendet werden, um ihre Ziele zu fördern. Und mit dieser Bestreitung verwirft er die Möglichkeit des Konfliktes zwischen Idealen.

Ich habe diese antithetischen Gesichtspunkte nicht erwähnt, um sie zu kritisieren, sondern eher, damit Sie die Wirkungen in Betracht ziehen können, welche die soziale und politische Philosophie auf die praktischen Angelegenheiten des Lebens haben könnte. Statt die beiden genannten Gesichtspunkte anzufechten, werde ich einen dritten vorbringen.

Nach dieser dritten Theorie sind Hypothesen und Theorien in ihren Anfangsstadien eher die Ergebnisse als die Ursachen der Praxis. Aber – und dieses ist der wesentliche Unterschied zu den beiden gerade diskutierten Gesichtspunkten – sobald eine Hypothese gebildet wird oder eine Theorie auch nur anfängt, Form anzunehmen, wird sie Teil der Praxis, die sie hervorgerufen hat. Sobald Menschen also anfangen darüber nachzudenken, was sie getan haben, verändert eben der Akt des Denkens das Tun. Die weitere Praxis klärt oder verändert die Theorie; die geklärte oder modifizierte Theorie ändert die Praxis, dann wird die Theorie immer weiter geklärt usw., bis eine kohärente und hinlänglich deskriptive Theorie erreicht ist.

Wie in anderen Aspekten des Lebens tritt auch im sozialen und politischen Bereich Denken immer dann auf, wenn wir auf Schwierigkeiten und unbefriedigende Situationen stoßen; und wie es der Fall bei individuellem Handeln ist – sobald einmal Denken auftritt, resultiert es in irgendeiner Veränderung der Sitten und Institutionen. Diese Veränderungen sind nicht immer unmittelbar zu erkennen, aber die Menschen werden davon beeinflusst und verändern sich, oft mehr, als sie selbst erkennen; und die Veränderungen spiegeln sich in ihrem Verhalten, in ihren Gewohnheiten und in ihrem Charakter – in vielen Fällen mehr als in ihren Äußerungen.

13So ist es nicht sehr bedeutsam, unter einem rein theoretischen Gesichtspunkt über die verschiedenen Philosophien Englands, Frankreichs und Deutschlands zu sprechen; denn vom praktischen Gesichtspunkt aus exemplifizieren sich die verschiedenen Philosophien dieser Länder in dem Verhalten, den Einstellungen und Gewohnheiten ihrer Völker.

Da ganz gewöhnliche Beobachtungen uns davon überzeugen, dass Ideen menschliche Handlungen beeinflussen können und beeinflussen, wird es für uns wichtig zu beobachten, welche Arten von Wirkungen durch welche Arten von Ideen bewirkt werden. Wir müssen uns mit der Frage befassen, welche Ideen gut sind und welche schlecht.

Die erste Funktion der Theorie besteht darin, dem, was anfänglich nur temporär oder zufällig ist, Dauer zu verleihen, Stabilität für Denk- und Handlungsweisen zu schaffen, die schwankend und wacklig sind. Ohne theoretische Unterstützung kann ein angebliches Gut innerhalb relativ kurzer Zeit verschwinden; aber dieses selbe Gut kann mit Hilfe der Theorie im Prinzip verkörpert oder als Doktrin festgehalten und so permanent und stabil werden.

Dies kann sowohl gute als auch schlechte Folgen haben. Ein herausragendes Beispiel in der Geschichte ist die Übernahme des Aristotelismus (so wie er von Thomas von Aquin interpretiert wurde) durch die römisch-katholische Kirche als ihre offizielle Philosophie. Aber warum sollte die katholische Kirche die theoretischen Konstrukte eines Nichtkatholiken zu ihrer offiziellen Philosophie machen? Ganz einfach deshalb, weil im 13. Jahrhundert die theologische Kontroverse und die Kämpfe wettstreitender Philosophien eben die Existenz der traditionellen christlichen Theologie bedrohten und Aristoteles’ systematischer philosophischer Rahmen die Mittel bot, der christlichen Lehre eine feste Gestalt zu geben und sie in einer stabilen und übertragbaren Form zu verewigen. China bietet andere Beispiele. Viele chinesische Institutionen unter der Ägide des Konfuzianismus sind mehr als zweitausend Jahre lang unverändert und unangefochten geblieben. Wenn Theorie zu Starrheit statt zu Stabilität führt, hindert sie den Fortschritt und kann sich auf diese Weise als gefährlich erweisen.

Eine zweite Funktion der Theorie, besonders in den Fällen, in denen die Theorie ein Ideal bildet, besteht darin, dass sie in Krisenzeiten Vertrauen erzeugen und Menschen dazu veranlassen kann, 14ihr Eigentum und selbst ihr Leben für etwas zu opfern, an das sie fest glauben. Wir haben die Verwendung von Schlagworten durch beide Seiten im Weltkrieg erwähnt. Selbst wenn die extremen Materialisten mit ihrer Behauptung Recht haben, dass Militaristen sich den Gebrauch solcher Schlagworte zunutze gemacht haben, um die Bevölkerung für ihre Zwecke zu manipulieren, müssen sie die Tatsache anerkennen, dass solche Begriffe auf die eine oder andere Weise in den Köpfen der Menschen, die von ihnen beeinflusst waren, an (in vielen Fällen kaum verstandene, aber dennoch) Ideale gebunden waren. Menschliches Verhalten wird tatsächlich durch Theorien auf der einen oder anderen Ebene ebenso sehr beeinflusst wie durch die materiellen Existenzbedingungen. In Krisenzeiten können ein paar abstrakte Begriffe die Welt in Brand setzen – ein bemerkenswerter Hinweis auf die Macht der Theorie.

Die beiden erwähnten Funktionen der Theorie sind für uns alle offensichtlich. Theorien können gut und schlecht sein, und gute wie schlechte Theorien haben ihre Wirkungen auf das menschliche Verhalten. Selbst Aberglauben und Halluzinationen können das menschliche Handeln kontrollieren.

Lassen Sie uns jetzt diskutieren, wie eine Theorie ihre Wirkungen hervorbringt, und untersuchen, ob unser gegenwärtiges Zeitalter eine neu konstruierte soziale und politische Philosophie verlangt.

Allgemein gesprochen, können soziale und politische Philosophien, genau wie der menschliche Charakter, unter zwei weite Kategorien subsumiert werden: radikal und konservativ.

Der typische Radikale ist unzufrieden mit den bestehenden sozialen Institutionen und kritisiert sie heftig, beklagt, was er um sich herum sieht, und schlägt idealistische utopische Pläne vor. Er ist nicht daran interessiert, das zu verbessern, was besteht, sondern plädiert dafür, das Bestehende durch etwas vollkommen Neues und Anderes zu ersetzen; seine Theorien tendieren dazu, eher destruktiv als konstruktiv zu sein. Der Konservative erscheint immer später als der Radikale. Zum Beispiel folgte im klassischen Griechenland der konservative Aristoteles auf den radikalen Platon. Im Staat schlug Platon, der die Institutionen seiner Gesellschaft äußerst geringschätzte, eine Utopie vor, in der Eigentum, Frauen und Kinder gemeinsamer Besitz aller Bürger sein sollten. Auf diese extreme radikale Formulierung folgten die konservativen Theorien 15des Aristoteles, der in seiner Politik, seiner Ethik und seinen anderen Büchern die theoretischen Grundlagen für die Fortsetzung der sozialen und politischen Systeme seiner Zeit schuf. Dasselbe gilt auch für China: Auf die radikalen Theorien von Laotse folgten die konservativen Theorien von Konfuzius.

Der Radikale betont Individualität und individuelles Gewissen, er möchte die bestehenden Institutionen, die seiner Meinung nach die Individualität ersticken, durch idealistische Konstrukte ersetzen. Nach Auffassung der extremen Radikalen ist jede Person, sofern ihr nur gestattet wird, ihrem eigenen Gewissen zu folgen und ihren individuellen Charakter zu entwickeln, durchaus imstande, ihre Handlungen selbst zu bestimmen; die Notwendigkeit einer Regierung wird verschwinden und eine utopische Gesellschaft entstehen.

Der Konservative ist ebenfalls mit den bestehenden Institutionen unzufrieden, aber er erkennt die Tatsache an, dass jede Institution sich entwickelt hat, um ein menschliches Bedürfnis zu befriedigen, dass sie das besitzt, was ein ursprünglicher Sinn genannt werden mag. Eine gegebene Institution kann sich verschlechtert haben, weil die Menschen den Zweck, dem sie ursprünglich dienen sollte, aus den Augen verloren haben. Regierungen zum Beispiel sind wesentliche Institutionen, aber wenn es einem Herrscher nicht gelingt, seine Macht in einer solchen Weise auszuüben, dass sie den Zwecken dient, für die die Regierung eingesetzt worden war, nennen wir dies eine schlechte Regierung.

Von dieser Überzeugung geleitet, unternimmt es der typische Konservative, wenn er eine Institution beurteilt, das Bedürfnis zu identifizieren, das der Institution anfänglich zugrunde lag oder, wie er es vielleicht ausdrückt, »nach dem ursprünglichen Sinn der Institution zu suchen«. Er nimmt an, dass seine Aufgabe darin besteht, den ursprünglichen Sinn wiederherzustellen, statt die Institution zu ersetzen.

Aristoteles war ein Konservativer, weil er der Meinung war, dass sich das Ideal für eine verbesserte Gesellschaft innerhalb bestehender sozialer Institutionen finden lasse und nicht, wie Platon dachte, in irgendeiner Utopie außerhalb der bestehenden Gesellschaft. In den frühen Phasen der Französischen Revolution waren die Jakobiner äußerst radikal und befürworteten die Zerstörung bestehender Institutionen – staatliche, kirchliche, klassenstrukturelle, selbst kalendarische. Aber nach dem Sturz Napoleons I. kam es zu einer 16Umkehr des Trends und zu vermehrten Anstrengungen, so viel wie möglich von dem institutionellen Rahmen der Regierung und Gesellschaft zu erhalten, wie er vor der Revolution bestanden hatte. Wir sehen ein ähnliches Bild bei Konfuzius, der der Meinung war, alle Institutionen besäßen ihre idealen Maßstäbe, und wenn Menschen diese Ideale wieder entdeckten und danach handelten, bestünde keinerlei Notwendigkeit, die Institutionen zu zerstören oder zu ersetzen.

Von diesen beiden theoretischen Arten der Weltanschauung betont die erste – der Radikalismus – das Ideal der Individualität und findet in der menschlichen Person das Maß von Richtig und Falsch. Die zweite Position – der Konservativismus – setzt weniger Vertrauen in Individuen, da sie bemerkt, dass das individuelle Urteil fehlbar ist, und glaubt, die Weisheit der Vergangenheit sei die einzig verlässliche Basis des Handelns. Die erstere Theorie wertet die bestehenden Institutionen ab und sucht ihre Ersetzung durch neue Einrichtungen, während die letztere eine fundamentale Gültigkeit bestehender Institutionen postuliert und sich auf die Klärung ihres Zwecks oder auf die Entdeckung ihres ursprünglichen Sinns konzentriert. Die erste verlässt sich auf individuelle Initiative und Intelligenz, die zweite schaut auf die Altvorderen zurück; die erste setzt auf die reflexive Intelligenz, die zweite fordert eine analytische Untersuchung der Vergangenheit.

Natürlich hat es viele verschiedene Theorien auf dem Feld der sozialen und der politischen Philosophie gegeben, aber sie alle können unter die eine oder die andere der beiden erwähnten Kategorien subsumiert werden. Wenn ich übervereinfacht und übertrieben habe, dann nicht deshalb, weil ich die beiden Positionen lächerlich machen wollte, sondern eher, um die Aufmerksamkeit auf eine grundlegende Schwäche der klassischen und zeitgenössischen sozialen und politischen Philosophie zu lenken und so einer dritten theoretischen Position den Boden zu bereiten, die sich von den beiden genannten unterscheidet.

Seit unvordenklichen Zeiten hat die Menschheit an zwei Irrtumsquellen gelitten, dem Mangel und dem Übermaß. In Krisenzeiten neigen Menschen dazu, entweder zu radikal oder zu konservativ zu sein. Sie sind in die Falle des Entweder-oder geraten, weil sie dazu tendieren, alles, was sie um sich herum sehen, als entweder gut oder schlecht zu beurteilen.

17Trotzdem sagen uns unser gesunder Menschenverstand und unsere alltägliche Beobachtung, dass die Probleme des menschlichen Lebens nicht dadurch gelöst werden können, dass wir unsere Gewohnheiten, Sitten und Institutionen entweder vollkommen abschaffen oder verbissen an ihnen festhalten und allen Anstrengungen widerstehen, sie zu modifizieren und zu erneuern.

Was die Menschheit am meisten braucht, ist die Fähigkeit, Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen und zu beurteilen. Wir müssen die Fähigkeit (und die Disposition) entwickeln, nach besonderen Arten von Lösungen durch besondere Methoden für besondere Probleme zu suchen, die sich bei besonderen Gelegenheiten stellen. Mit anderen Worten: Wir müssen mit konkreten Problemen durch konkrete Methoden fertigwerden, sobald diese Probleme sich in unserer Erfahrung zeigen. Dies ist der Kern dessen, was wir die dritte Philosophie nennen.

Die gemeinsame Schwäche des extremen Radikalismus und des extremen Konservativismus, wie ich sie beschrieben habe, ist ihre Abhängigkeit von pauschalen Verallgemeinerungen. Ersterer glaubt, alle Institutionen seien von Übel, und ruft dazu auf, sie über Bord zu werfen und unverzüglich ein Paradies zu schaffen. Der Letztere ist der Meinung, alle Institutionen seien im Grunde vernünftig, wenn wir nur ihren ursprünglichen Sinn entdecken und an ihm festhalten. Beiden gelingt es nicht, sich auf konkrete Probleme zu konzentrieren, die sich in der Erfahrung ergeben, und lassen zu, dass derartige Probleme unter pauschalen Verallgemeinerungen begraben werden.

Um zum Schluss zu kommen: Das gegenwärtige Problem der sozialen und politischen Philosophie besteht darin, Wege zu entdecken, das menschliche Verhalten durch menschliches Wissen und Intelligenz zu kontrollieren und zu Zielen zu lenken, die durch die menschliche Vernunft gerechtfertigt sind. Welche Instrumente können entwickelt werden, die uns dabei dienen können, mit unserer gegenwärtigen Umwelt fertigzuwerden? Das sind die Probleme der dritten sozialen und politischen Philosophie, und sie werden das Thema der nächsten Vorlesung in dieser Reihe bilden.

18Notizen zur ersten Vorlesung

Der direkte Gebrauch der Sprache für bestimmte Zwecke je nach den Bedürfnissen des Augenblicks ging der Grammatik, Rhetorik und dem Wörterbuch lange voraus. Atmen, essen, verdauen, sehen und hören gab es lange vor der Lehre vom Körper und der Physiologie. Wir handeln zunächst, um besonderen Bedürfnissen und bestimmten Gelegenheiten Genüge zu tun. Erst später denken wir darüber nach, was, wie und warum wir es tun, und versuchen, allgemeine Prinzipien zu formulieren, eine Philosophie der jeweiligen Materie. Genauso verhält es sich mit sozialem, kollektivem Handeln. Menschen entwickelten Bräuche und überlieferten ihren Nachkommen jahrhundertelang Traditionen, bevor sie versuchten, einen vernünftigen Grund für das zu entdecken, was sie da taten. Sie unternahmen keinerlei Versuche zu einer Erklärung. Wären sie danach gefragt worden, hätten sie gesagt, sie hätten derlei Bräuche, weil sie ihnen gefielen, weil ihre Vorfahren ihnen geraten hätten, so zu handeln, oder weil ihre Götter sie gestiftet hätten. Allzu genau nachzufragen galt als gottlos oder illoyal und konnte wie bei Sokrates zum Tode führen.

Denken ist von Natur aus lästig und unangenehm. Es ist leichter, dem Instinkt und der Sitte und den Befehlen anderer zu folgen. Menschen denken erst nach, wenn sie durch ein Ereignis dazu gezwungen werden, das sie veranlasst, einen nicht durch Gewohnheit oder Neigung bereitgestellten Ausweg zu suchen. So begannen die Menschen erst dann über ihre kollektiven Gewohnheiten, ihre bestehenden Institutionen nachzudenken, wenn diese nicht mehr zu ihrer Zufriedenheit funktionierten. Die Schwierigkeiten konnten in internen Streitigkeiten, äußeren Kontakten und Konflikten oder beidem bestehen. Aber irgendetwas, das eine Veränderung oder Desintegration fürchten ließ, brachte sie dazu, Vergleiche anzustellen und zu forschen und zu versuchen, eine Wahl zu treffen und am wirklich Guten festzuhalten. Krankheit und Wunden aus einer Schlacht veranlassten die Menschen, Anatomie und die normalen physiologischen Prozesse zu studieren. Andernfalls hätten die Menschen ihre natürlichen Prozesse für immer und ewig hingenommen, ohne jemals über sie nachzudenken, ohne jemals ihre Aufmerksamkeit auf sie zu richten. Soziale Pathologie hatte ähnliche Auswirkungen auf das soziale Theoretisieren. (Illustrationen aus Griechenland, aus 19China.) Nachdem die Theorie erst einmal entstanden war, verlief das Leben nicht mehr auf dieselbe Weise. Menschen atmen und essen nicht wegen ihrer Kenntnisse von Anatomie und Physiologie. Diese Akte beruhen weiterhin auf tieferen Kräften. Aber sie essen und atmen aufgrund ihrer Kenntnis vielleicht etwas anders, besonders in Notfällen.

Freilich mag sich die Frage stellen, welche Unterschiede Ideen, Theorien, Philosophien wirklich machen. Machen sie einen Unterschied in dem, was Menschen tun, oder nur in dem, wie sie das, was sie tun, empfinden? Ist Philosophieren praktisch, so wie der Dampf als Antriebskraft in der Lokomotive? Oder ist es vielmehr wie der Lärm des entweichenden Dampfes der Pfeife – ein Nebenprodukt, eine Begleiterscheinung, ein Symptom dessen, was passiert? Es gibt stark übertriebene Antworten in beide Richtungen. Belesene Menschen und Philosophen werden wahrscheinlich abstrakten Ideen besondere Bedeutung beimessen, sie als die wichtigsten Bewegungsursachen ansehen. Sie suchen für alles ideologische Erklärungen. Sie übersehen, bis zu welchem Ausmaß Menschen immer noch durch primäre Instinkte wie Hunger, Sexualität und Liebe zu Macht oder Bequemlichkeit, durch die Umstände oder ihre Gewohnheiten zum Handeln getrieben werden. Sie sagen zum Beispiel, der letzte Krieg sei primär und im Wesentlichen ein Konflikt von Philosophien, von Ideengebäuden gewesen. Am anderen Extrem haben wir die sogenannten materialistischen Erklärungen von Institutionen und sozialen Veränderungen. In den Augen ihrer Verfechter sind ökonomische Ursachen die einzig wirklichen oder wirksamen Ursachen. Ideen sind nur Wirkungen, Produkte.

Die einzigen erklärenden Ursachen sind die Wünsche zunächst nach den primären Notwendigkeiten des Lebens und danach nach Macht über andere und nach dem Genuss der Bequemlichkeiten, die sich dem Reichtum verdanken. Selbst Kunst und Religion und Systeme der Moral wie auch soziale Bräuche und politische Regulierungen sollen ökonomisch erklärt werden. Der Krieg war kein Konflikt von Ideen und Idealen, sondern ein Kampf um ökonomische Vorteile und kommerzielle Übermacht. Ideale, Theorien sind nur eine Maske, um den eigentlichen materiellen Kampf zu verhüllen, hübsche Phrasen, um die Massen zu erregen, die sich von ihnen bezaubern lassen. Philosophien, die vorgeben, mehr zu tun, als das Spiel ökonomischer Kräfte zu analysieren und zu beschreiben, 20sind nur Träume oder Mittel, durch die die wenigen Mächtigen die Massen beherrschen. Wir stoßen hier auf die erste große Frage, die die Sozialphilosophie betrifft – eine Frage, die erst im Verlaufe der gesamten Diskussion beantwortet werden kann. Aber wir wollen zu Anfang die Natur der Antwort, die in den folgenden Vorlesungen entwickelt werden wird, dogmatisch antizipieren. Ideen, Theorien sind ursprünglich Produkte, [ihrerseits aber auch] Ursachen nichtintellektueller Kräfte. Denken entsteht sozusagen nur in den feinen Rissen fester Gewohnheiten und durchdringt nur mit großer Schwierigkeit die widerstrebende Materie. Oder es spielt launisch und wie ein phosphoreszierendes Leuchten auf der Oberfläche eines riesigen Ozeans von Traditionen, Bräuchen und besonderen Anpassungen an die Umstände. Aber nichtsdestoweniger hat und hatte es einen wirklich praktischen Einfluss, und unter bestimmten Umständen, die in der nächsten Lektion behandelt werden sollen, kann es einen bedeutenden richtungweisenden Einfluss haben. Wenn Wirkungen erst einmal erzeugt worden sind, verbinden sie sich in allen lebenden Formen mit den Ursachen, von denen sie hervorgebracht worden sind, und modifizieren die Kräfte, die sie hervorbrachten. Die deutsche Philosophie war ein Produkt deutscher Bedingungen, kein Erzeugnis reiner Vernunft. Aber nachdem sie sich erst einmal verbreitet und das Denken der Menschen durchdrungen hatte, bestätigten und rechtfertigten Vorstellungen von System, Ordnung und Effizienz die Ursachen, die andernfalls mit der Zeit vielleicht vergangen wären; sie verankerte im Denken der Menschen, was andernfalls vielleicht vergängliche Ereignisse gewesen wären, sie verstetigte, stabilisierte und perpetuierte flüchtige physische Ursachen. In einem Land, wo der Konfuzianismus mehr als zweitausend Jahre lang eine Kraft gewesen ist, besteht wohl keine Notwendigkeit, ausführlich zu begründen, dass selbst dann, wenn man den konkreten und praktischen Ursprung des Systems einräumt, er Faktoren organisierte, befestigte und fokussierte und zu dauerhaften Faktoren gemacht hat, die sich ohne ihre intellektuelle Formulierung womöglich als vergänglich erwiesen hätten.

Nicht Ideen oder Theorien sind wirksam. Aber Menschen, die von gewissen Ideen durchdrungen sind, die ihnen durch die Erziehung eingeprägt wurden, sind andere Personen, selbst andere Maschinen, als wenn sie keine solchen oder andere Ideen gehabt hätten. Dieses ist wahr, selbst wenn die Ideen falsch sind. Ein 21Mensch mit einer Illusion handelt anders als einer ohne sie. Und während vielleicht der Haupteffekt philosophischer Systeme darin bestanden hat, die Kraft von Bedingungen zu konsolidieren, zu verbreiten und zu verewigen, die andernfalls lokal und vergänglich gewesen wären, haben sie doch auch eine anregende und treibende Kraft, besonders in Krisenzeiten. Der Materialist gibt allzu viel zu, wenn er sagt, dass Theorien oder Ideale Werkzeuge sind, die von den herrschenden Sonderinteressen zum Schein verwendet werden, um die Massen zu beeinflussen. Denn diese Behauptung räumt ein, dass Menschen tatsächlich von Idealen beeinflusst werden und dass sie nur dadurch bewogen werden können, massenhaft und energisch gegen Gefahr und Übermacht zu handeln, dass man an Ideale, an allgemeine Vorstellungen appelliert. »Kultur in Gefahr« auf der einen Seite, »Freiheit in Gefahr« auf der anderen. Wenn große Menschenmassen nicht dazu gebracht worden wären, dergleichen zu glauben, hätte der Krieg nicht weitergeführt werden können. Bewiesen ist allenfalls, dass allgemeine Ideen in Krisenzeiten so wirksam und so kraftvoll sind, dass die rein materiellen ökonomischen Interessen der Wenigen nur indirekt durchgesetzt werden können, indem man auf die eher idealistischen Wünsche und Überzeugungen der Vielen eingeht. Besonders gilt dies unter den jüngsten Bedingungen der Kriegführung, wo die alten direkten Motive persönlicher Helden- und Ruhmestaten ihre Wirksamkeit verloren haben – allgemeine Motive, Patriotismus, Nationalgefühl, Gerechtigkeit, Humanität usw. müssen ins Spiel gebracht werden. Kein Begriff ist falscher als der, dass Menschen durch Berechnungen des Eigentinteresses zum Handeln bewogen werden. In vielen Hinsichten wäre die Welt besser, wenn es mehr Weisheit, mehr aufgeklärtes Eigeninteresse, mehr wohlerwogenes Abwägen von Vor- und Nachteilen gäbe. Handeln beruht immer noch eher auf Instinkt und Emotion als auf Berechnung, aber viele Instinkte können nur kollektiv durch Stimuli einer idealistischen Art ins Spiel gebracht werden. Und Gedankensysteme, Philosophien, die für die Wenigen abstrakt sind, verdichten sich zu solchen einfachen und bewegenden Schlagwörtern, Kriegsgeschrei und Idealen für die Vielen.

Der Grund dafür, so viel Zeit auf die Diskussion der praktischen Wirksamkeit allgemeiner Ideen und Theorien zu verwenden, ist der, dass sie dazu dient, die alternativen Kräfte herauszustellen, die Menschen bewegen – Sitten, etablierte Autorität, Vorurteil, Sonder22interessen, die Ambitionen mächtiger Menschen, die sie veranlassen, andere als Werkzeuge zu benutzen usw. Der beste Beweis dafür, dass Philosophie eine gewisse Macht hat, ist die Furcht vor ihr, die durch die Vertreter und Wächter dieser Interessen ausgedrückt wird. Emerson formulierte diese Idee recht eindringlich, als er sagte: Sei auf der Hut, wenn Gott einen Denker auf den Planeten loslässt. Dann werden alle Dinge flüssig. Denken bedeutet die Einführung eines neuen und insofern unberechenbaren Faktors – eine Abweichung oder ein Neuanfang und eine Erfindung. Das Unbehagen, das der engstirnige Konservative angesichts von Versuchen zeigt, auch nur seine eigenen Überzeugungen rational zu formulieren, ist durchaus gerechtfertigt. Der Appell an die Vernunft, der dabei impliziert ist, ist beunruhigend.

Wir müssen freilich zwischen den verschiedenen Arten, wie Theorien praktischen Einfluss ausüben, unterscheiden. Im Allgemeinen können wir drei Typen unterscheiden. Erstens diejenigen, die primär die Mängel der bestehenden Institutionen wahrnehmen und sie kritisieren und verurteilen. Sie konzipieren einen anderen Idealstaat, der so anders ist, dass er geradezu einen totalen Gegensatz bildet und nur durch eine Revolution verwirklicht werden kann. Sie sind idealistisch, wenn nicht gar romantisch, utopisch in ihrem Ton. Sie finden die wahren Maßstäbe und Modelle des Lebens in etwas, das weit entfernt und jenseits von den bestehenden Zuständen liegt. Sie sind der Auffassung, dass der Geist durch den Kontakt mit den Dingen, wie sie tatsächlich existieren, verdorben wird, bis er die wahre Bedingung und das wahre Modell überhaupt nicht mehr wahrzunehmen imstande ist. Aber wenn die Verwirrung, Dunkelheit und der Irrtum, die auf diesem Einfluss beruhen, aufgehoben werden, dann wird eine innere Erleuchtung die Menschen dazu befähigen, die Wahrheit zu sehen und einen radikalen Wandel herbeizuführen. Dieser Typus ist auf diese Weise plötzlich, abrupt in seinen Vorstellungen und appelliert an Selbstvertrauen, an Inspiration von innen, kombiniert mit Verachtung für den existierenden Zustand der Dinge und seinen korrumpierenden Einfluss. Unter anderen Bedingungen zeigt sich etwas von diesem Typus in Platons Staat, in den sozialen Bestrebungen der frühen (im Unterschied zu den späten) Christen, in Shelleys Dichtung, in der Haltung von Lao-tse. Er erwartet, dass Dinge, die jetzt verachtet werden, jene Dinge umstürzen, die jetzt geachtet sind, dass die schwachen Dinge die Mächtigen verwirren; dass Ideale das Wirkliche beherrschen. Er färbt 23das Denken in Zeiten großen sozialen Wandels; die Französische Revolution, die Russische erstreben einen neuen Himmel und eine neue Erde.

Der zweite Typus ist nüchtern, vorsichtig und konservativ. Er zielt darauf ab, den Geist der bestehenden Institutionen zu rechtfertigen. Er findet die wahren Muster und Maßstäbe im Innern der Angelegenheiten. Er blickt mit Misstrauen auf Wandel, besonders abrupten Wandel, weil das Übel auf der Abweichung von notwendigen Bedeutungen und festen Beziehungen beruht, die in den Dingen selbst liegen. Reform ist Restauration, Wiedergewinnung dieser wahren Muster. Das ist die Haltung von Menschen wie Aristoteles, Konfuzius und Hegel. Während der erste Typus im Hinblick auf die Dinge, wie sie sind, kritisch und pessimistisch ist, ist dieser selbstzufrieden oder optimistisch. Die Dinge sind wesentlich, wenn schon nicht beiläufig, richtig und vernünftig. Das Übel liegt eher im Geist, der sich von ihnen entfernt hat. Statt also an den Geist selbst zu appellieren, um in ihm selbst, intuitiv und angeboren, Ideale des Wandels zu finden, glaubt er, der Geist müsse durch sorgfältiges Studium der Dinge, Formen und Beziehungen, die ihm äußerlich sind, belehrt und berichtigt werden. Sein Naturell ist realistisch, nicht idealistisch. Er zielt auf eine Reform von Charakter und Geist, um sie mit den wahren Bedeutungen bestehender Institutionen und Beziehungen in Übereinstimmung zu bringen, nicht auf eine Reform von Institutionen durch einen Appell an die inneren Ideale des erleuchteten Geistes. Er lehrt Selbstmisstrauen, Misstrauen gegenüber Enthusiasmus, Impuls, die Wichtigkeit geduldigen Studiums und der Belehrung von außen. Er tendiert dazu, das individuelle Selbst unterzuordnen, wie der radikale Typ dazu neigt, es zu überhöhen.

Beide Typen von Theorie stimmen trotz ihres profunden Antagonismus darin miteinander überein, dass sie pauschal sind – indem sie eine allgemeine Haltung von entweder Verurteilung oder Rechtfertigung gegenüber den Dingen, wie sie sind, einnehmen. Beiden fehlt also die Art von praktischer Macht oder Wirksamkeit, deren es am meisten bedarf – der Macht, die erforderlichen Veränderungen zu entwerfen und zu lenken. Der Erste erwartet, dass irgendeine plötzliche und revolutionäre Veränderung eine ideale Bedingung herbeiführt; der Zweite widersetzt sich allem Wandel. Aber was die Menschheit braucht, ist die Fähigkeit, die Veränderungen, die eintreten müssen, zu formen und zu lenken. Dem konservativen Typus 24fehlt es an einer Kraft, die Veränderung zu lenken, weil er die Dinge, wie sie im Wesentlichen sind, heiligspricht und rechtfertigt.

Dem radikalen und idealistischen Typus fehlt es an einem Zugriff auf die Dinge, wie sie sind, weil er der äußeren Angelegenheit und Institution pauschal das innere Ideal gegenüberstellt. Das Gesamtresultat ist entweder negatives und destruktives Handeln oder Untätigkeit, Passivität, ein Warten darauf, dass das Ideal durch irgendein Wunder realisiert wird.

Die folgenden Lektionen werden folglich versuchen, den dritten Typus sozialen und politischen Denkens zu formulieren und anzuwenden, indem sie die historischen Philosophien kritisieren, die sich pauschal auf den einen oder den anderen der ersten beiden erwähnten Typen stützen. Insbesondere die nächste Vorlesung ist einer Exposition der Hauptzüge der dritten Art von Theorie gewidmet.

252. Wissenschaft und Sozialphilosophie

Allgemein gesprochen entstanden die Sozialwissenschaften – die Wissenschaften, die sich mit dem menschlichen Zusammenleben (associated human life) befassen – im 19. Jahrhundert in Europa. Die Gesetze und Prinzipien, die ursprünglich in der Naturwissenschaft entwickelt worden waren, wurden erst allmählich auf das individuelle menschliche Leben angewendet, und noch später auf die Probleme der menschlichen Gesellschaft. Was wir Sozialwissenschaften nennen, ist das Ergebnis der Anwendung des Geistes und der Methoden, die sich bei der Bemühung um ein besseres Naturverständnis herausgebildet hatten, auf soziale Probleme.

Mein heutiges Thema ist der Einfluss dieses wissenschaftlichen Geistes auf die dritte soziale und politische Philosophie, die ich am Schluss meiner ersten Vorlesung als Alternative zum extremen Radikalismus und extremen Konservativismus erwähnt habe.

Es ist interessant zu bemerken, dass die moderne Wissenschaft in ihren Anfängen mit einem Stoff zu tun hatte, der denkbar weit von den unmittelbaren Problemen des menschlichen Lebens entfernt war – mit der Astronomie. Dann wandte der Mensch die Methoden der Wissenschaften auf seine unmittelbare Welt an und die moderne Physik und Chemie wurden geboren. Erst danach gewannen wir einen wissenschaftlichen Zugang zu lebenden Dingen und entwickelten die Lebenswissenschaften Botanik und Zoologie. Erst in vergleichsweise jüngster Zeit ist uns aufgegangen, dass die Probleme des Zusammenlebens eine Erforschung und Ordnung durch dieselben Methoden zulassen, die sich im Umgang mit der objektiven Welt bewährt hatten.

Sobald der Mensch erst einmal erkannte, dass wissenschaftliche Methoden mit Erfolg auf das Studium gesellschaftlicher Ereignisse angewendet werden konnten, erlebten wir die Geburt der Sozialwissenschaften. Die Wissenschaft zum Beispiel, die mit den Ursprüngen der menschlichen Rassen zu tun hat, mit ihrer Evolution, ihren Sitten und der Anpassung an eine Umwelt, wird Anthropologie genannt; die Wissenschaft, die mit Produktion, Distribution und Nutzbarmachung materieller Güter zu tun hat, wird Ökonomie genannt; die Wissenschaft, die mit den Institutionen zu tun 26hat, durch die die Menschen versuchen, ihr eigenes Verhalten und das ihrer Mitmenschen in ihren Beziehungen in Dorf, Stadt, Staat oder Nation zu regulieren, wird Politikwissenschaft (politics) genannt; die Wissenschaft, welche die Anstrengungen des Menschen untersucht, sich zu seinem Universum in Beziehung zu setzen, seine Überzeugungen und Werte zu studieren, wird Religionswissenschaft (religion) genannt; die Wissenschaft, die die vergangenen Anstrengungen des Menschen erforscht, mit den Situationen fertigzuwerden, denen er sich ausgesetzt sah, wird Geschichtswissenschaft (history) genannt; die Wissenschaft, die mit den Mitteln der Kommunikation von Ideen unter Menschen zu tun hat, wird Linguistik genannt. Diese und andere sind die Sozialwissenschaften, die die Gesetze und Methoden der Naturwissenschaften auf die Probleme des gesellschaftlichen menschlichen Lebens anwenden.

Die Sozialwissenschaften haben sich verschieden schnell entwickelt und verschiedene Erfolgsgrade bei ihren Bemühungen erreicht, das Wissen vom menschlichen Verhalten zu ordnen. Immer wieder haben einige von ihnen Schlussfolgerungen gezogen, die spätere Forschungen als ungültig erwiesen haben. Ungeachtet dieser Umstände freilich lässt sich eine Feststellung über die Sozialwissenschaften insgesamt treffen – sie haben eine unglaubliche Verwandlung in den Einstellungen der Menschen und in ihren Denkgewohnheiten bewirkt. Kein gebildeter Mensch nimmt heute noch an, dass wissenschaftliche Gesetze und Theorien nur für die Naturwissenschaften wie etwa Mathematik, Physik und Chemie konstruiert werden können oder dass die Unregelmäßigkeiten des menschlichen Lebens es aus dem Bereich der Wissenschaften ausschließen. Wir haben die Tatsache akzeptiert, dass die physischen, psychischen und sozialen Verhaltensweisen des Menschen auf genau dieselbe Weise erforscht und erklärt werden können (wenn auch nicht immer mit demselben Grad an Genauigkeit) wie natürliche Phänomene.

Trotzdem haben gerade die Schöpfer der Sozialwissenschaften seltsamerweise oft eine verschwommene Ansicht von Sozialphilosophie. Sie scheinen zu glauben, dass Wissenschaften festen natürlichen Gesetzen folgen und es mit harten Fakten zu tun haben, während die Philosophie als bloße Spekulation keiner Beachtung wert ist.

Ich hatte nicht die Absicht, Sozialwissenschaftler zu kritisieren, aber es gibt eine Sache, auf die wir an diesem Punkt unsere Auf27merksamkeit richten müssen: Wenn der Stoff einer wissenschaftlichen Untersuchung eine Kategorie menschlichen Verhaltens ist, dann leiten sich die Prinzipien und Theorien gewöhnlich vom Studium einer bestimmten Situation während eines bestimmten Zeitraums her. Diese Prinzipien und Theorien können durchaus eine genaue und adäquate Beschreibung und Erklärung des Verhaltens bieten, das in dieser Situation und zu dieser Zeit beobachtet wird. Allzu oft freilich unternehmen es Sozialwissenschaftler, die Anwendung solcher Prinzipien und Theorien zu verallgemeinern und zu universalisieren und anzunehmen, dass sie überall und zu allen Zeiten gleichermaßen anwendbar sind.

Lassen Sie uns als ein Beispiel dieser Tendenz die Ökonomie anschauen. Diese ist erst im 18. und 19. Jahrhundert als eine Sozialwissenschaft entwickelt worden. Ihre allgemeinen Prinzipien wurden als Ergebnis der Untersuchung der ökonomischen Bedingungen und des Verhaltens in einem sehr begrenzten Teil Westeuropas formuliert. Die Fragen, auf die die frühen Ökonomen Antworten suchten, waren: »Wie lassen sich mehr Güter zu geringeren Kosten produzieren? Wie können diese Güter am effektivsten verteilt werden? Wie kann die Nachfrage so angeregt werden, dass der Konsum anwächst?«

Das waren Fragen, die in einer bestimmten Region in Westeuropa von großer Bedeutung waren, aber nachdem Ökonomen allgemeine Prinzipien formuliert hatten, die auf die Zeit und den Ort anwendbar waren, wo sie abgeleitet worden waren, tendierten sie dazu, sie als universale Gesetze anzusehen, die gleich gut in der ganzen Welt und für alle Zeiten angewendet werden konnten. In Wirklichkeit unterschied sich die ökonomische Situation im westlichen Europa in drei wichtigen Aspekten von den Situationen, die an anderen Orten zu jener Zeit bestanden, wie auch von der Situation, die auf ihrem eigenen Boden zunehmend an ihre Stelle tritt: (1) die Produktion im 19. Jahrhundert in Europa geschah mittels eines kapitalistischen Systems, das weitgehend aus riesigen Einheiten bestand; (2) die ökonomische Entwicklung war wettbewerblich, nicht kooperativ; und (3) die Absicht der ökonomischen Organisation war offen profitorientiert und ohne Bezug zum Wohl der Öffentlichkeit.

Die Ökonomen, die eine Situation untersuchten, für die diese Faktoren charakteristisch waren, gelangten zu einer Formulierung 28von Prinzipien, die in ihren Augen den Status eines universalen Gesetzes hatten und alle ökonomischen Aktivitäten des menschlichen Lebens beschreiben sollten. Ein Beispiel eines solchen »Gesetzes« war das Gesetz von Angebot und Nachfrage, das angeblich die unerbittliche Operation des Prozesses von Produktion und Konsumtion beschrieb. Dieses Gesetz mochte Armut oder Unglück nach sich ziehen; erdrückende Armut für einige, Überfluss für andere; es konnte beklagt werden, aber nach Ansicht der Ökonomen musste es akzeptiert werden. Es war so unveränderlich wie die Umlaufbahnen der Planeten.

In der Folge verlangten Carlyle, Ruskin und andere soziale Denker ihrer Zeit, erschreckt von der Armut und Herabwürdigung, die sie sahen, und nicht willens, den Verkündigungen der klassischen Volkswirtschaftler den Status eines Naturgesetzes zuzubilligen, die Abschaffung einer solchen tragischen Art von Wissenschaft. Aus der Kontroverse ging eine neue Schule hervor, die »historischen Ökonomen«, die historische Tatsachen und Systeme anerkannten und daraus schlossen, dass Prinzipien und Gesetze, die vom Studium besonderer Tatsachen in der Geschichte abgeleitet waren, relativ auf diese Tatsachen sind, keine absoluten und universal anwendbaren Gesetze.

Die Geschichte bietet uns ein weiteres Beispiel für die Tatsache, dass allgemeine Prinzipien auf der Basis besonderer Ereignisse formuliert werden. Tatsachen verändern sich, und der Übergang zu einer anderen Menge von Tatsachen schafft das Bedürfnis nach einer neuen Formulierung des Prinzips, einer neuen Theorie. Ein hierher gehöriger Fall ist die Tatsache, dass die Natur der europäischen Gesellschaft auf einer bestimmten Stufe hauptsächlich die Natur eines Stadtstaates war. In der Folge war sie eine Feudalgesellschaft; noch später wurde sie zu einer industriellen Gesellschaft. Es ist offensichtlich, dass Prinzipien, die für einen Stadtstaat vollkommen angemessen und adäquat gewesen sein mochten, in einer Feudalgesellschaft keine Geltung mehr hatten, und dass Prinzipien, die in einer Feudalgesellschaft gut funktionierten, in einer industriellen Gesellschaft nutzlos, obsolet oder schädlich werden.

Was ich durch den Hinweis auf Ökonomie und Geschichte illustriert habe, gilt ebenso für die anderen Bereiche menschlichen Verhaltens, die das Thema der Sozialwissenschaften bilden. Die Situationen, in denen Menschen leben, unterscheiden sich von Ge29neration zu Generation, und daraus folgt, dass Generalisierungen und Prinzipien, die aus dem Studium dieser Situationen abgeleitet sind, in dem einen oder anderen Grad ebenfalls differieren müssen. Es gibt keine Sozialtheorie, die absolut und immer wahr ist oder gegen jede Veränderung immun wäre.

Ich habe die Ansichten von Sozialwissenschaftlern des 19. Jahrhunderts aus zwei Gründen erwähnt. Der erste dieser Gründe hat einen negativen wie einen positiven Aspekt. Auf der negativen Seite wollte ich erklären, dass sich Gesellschaft immer noch entwickelt, und die Geschichte, die eine menschliche Schöpfung ist, immer noch im Fortschreiten begriffen ist. Wir müssen die Philosophie auf unsere gegenwärtige Situation anwenden. Die Naturwissenschaft operiert von einem rein objektiven Gesichtspunkt aus. Sie kann natürliche Phänomene beschreiben und aufzeichnen, aber sie kann sie nicht lenken oder nach menschlichen Idealen verändern. Aber Sozialphilosophie kann sich nicht mit dem bloßen Aufzeichnen oder Beschreiben begnügen; sie muss die Schlussfolgerungen und Empfehlungen, die sich aus den Berichten und Beschreibungen einer Wissenschaft ergeben, mit teilnahmsvollem Verständnis lenken. Deshalb ist in der Sozialphilosophie notwendig immer ein gewisses Maß an Spekulation vorhanden.

Auf der positiven Seite steht der ungeheure Wandel in der seelischen Einstellung der Menschen in Folge der Entwicklung der Sozialwissenschaften. Wir betrachten jetzt menschliche Aktivitäten als etwas, von dem auch Gesetze und Prinzipien formuliert werden können, statt als etwas Erratisches und Unvorhersagbares. Die Sozialwissenschaften haben den wissenschaftlichen Geist in die Sozialphilosophie eingeführt. Philosophie, die früher rein spekulativ gewesen ist, ist aus den Wolken auf den Boden der Tatsachen geholt worden.

Zu den bedeutsamen Resultaten dieser Veränderung zählt, dass Menschen ihre Urteile auf der Basis von Tatsachen statt einer Lehnstuhlspekulation fällen, auf der Basis von Beweisen statt eines angeblichen »Naturgesetzes«, dass sie in ihrer Einstellung eher experimentell werden, statt sich gegen neue Erfahrungen zu verschließen, und dass sie wissenschaftliche Gesetze als Hypothesen statt als universale Wahrheiten ansehen. Mit der Entwicklung der Sozialwissenschaften ist die Sozialphilosophie zunehmend von wissenschaftlichem Geist durchdrungen worden.

30Zum Zweiten habe ich die Entwicklung der Sozialwissenschaften erwähnt, weil ich zeigen wollte, wie die dritte Schule der Sozialphilosophie erst entstand, nachdem der wissenschaftliche Geist in Letztere eingedrungen war. Diese dritte Schule der Sozialphilosophie ist durch drei wichtige Eigenschaften charakterisiert:

1. Betonung von Experimenten. Klassische Philosophien neigten dazu, sich auf Ideen zu verlassen, im Allgemeinen konservativ und von den kalten, harten Tatsachen der menschlichen Erfahrung isoliert zu sein. Die dritte Philosophie ist der Auffassung, dass Ideen und Theorien durch praktische Anwendung überprüft werden müssen. Die Wahrheit oder Falschheit einer Idee muss durch Experimente bestimmt werden. Wenn Experimente zeigen, dass eine Idee gültig ist, kann sie menschlichem Verhalten zur Führung dienen.

2. Betonung der Untersuchung individueller Ereignisse. Klassische Philosophen haben entweder die Ersetzung bestehender Institutionen befürwortet oder versucht, sie in ihrer Gänze zu bewahren. Die dritte Philosophie nimmt keine Zuflucht zu derartig pauschalen Verallgemeinerungen. Sie befasst sich mit individuellen Fällen in besonderen Situationen. Sie formuliert keine Allheilmittel oder universalen Gesetze.

3. Betonung der Anwendung von Erkenntnis und Intelligenz auf sozialen Wandel. Die dritte Philosophie befürwortet weder den totalen Umbau noch die absolute Erhaltung bestehender Institutionen. Ihre Absicht ist es, Erkenntnis und Intelligenz zu kultivieren, durch deren Nutzung Menschen möglicherweise bestimmte Störungen beseitigen und besondere Probleme lösen können.