Soziologie als Handwerk - Gerhard Schulze - E-Book

Soziologie als Handwerk E-Book

Gerhard Schulze

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Beschreibung

Es ist ein Spagat: Die Soziologie soll ihrem Gegenstand, der Gesellschaft, gerecht werden, und zugleich Wissenschaft im strengen Sinne sein. Doch welchen Platz nimmt die Soziologie in der Gesellschaft ein? Und wie kann sie in der Praxis umgesetzt werden? Mit Gerhard Schulze widmet sich einer der renommiertesten Vertreter des Faches den grundlegenden Fragen der Soziologie und ihres Verhältnisses zur Gesellschaft. Denn Soziologie, so seine These, ist überall. Schulze führt in den Forschungsgegenstand ein, zeigt, was die Soziologie als Wissenschaft auszeichnet und wie sie sich von den Naturwissenschaften unterscheidet. Wie entstehen Erfahrungen und wie werden sie von Soziologen erhoben und interpretiert? Das Buch beschäftigt sich auch mit der Frage, wie sich die Soziologie öffentlich besser zur Geltung bringen kann.

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Gerhard Schulze

Soziologie als Handwerk

Eine Gebrauchsanleitung

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Es ist ein Spagat: Die Soziologie soll ihrem Gegenstand, der Gesellschaft, gerecht werden, und zugleich Wissenschaft im strengen Sinne sein. Doch welchen Platz nimmt die Soziologie in der Gesellschaft ein? Und wie kann sie in der Praxis umgesetzt werden? Mit Gerhard Schulze widmet sich einer der renommiertesten Vertreter des Faches den grundlegenden Fragen der Soziologie und ihres Verhältnisses zur Gesellschaft. Denn Soziologie, so seine These, ist überall. Schulze führt in den Forschungsgegenstand ein, zeigt, was die Soziologie als Wissenschaft auszeichnet und wie sie sich von den Naturwissenschaften unterscheidet. Wie entstehen Erfahrungen und wie werden sie von Soziologen erhoben und interpretiert? Das Buch beschäftigt sich auch mit der Frage, wie sich die Soziologie öffentlich besser zur Geltung bringen kann.

Vita

Gerhard Schulze ist emeritierter Professor für Methoden der empirischen Sozialforschung und Wissenschaftstheorie an der Universität Bamberg. Im Campus Verlag erschien von ihm unter anderem Die Erlebnisgesellschaft (1992, 2005).

Inhalt

Einleitung

Worum es in diesem Buch geht

Teil I Das Projekt Soziologie

Leitfrage: Womit beschäftigt sich die Soziologie?

1. Kapitel: Soziologie als Handwerk

Soziologie machen

Handwerkliche Standardsituationen der Soziologie

Kommunikation: Worin besteht soziologische Professionalität?

Forschung: Integration statt Ehekrach

Fortsetzung der Fachtradition: Nomaden oder Hausmeister?

Ausblick

2. Kapitel: Forschungsgegenstand Gesellschaft

Der Ursprung soziologischen Erkenntnisinteresses

Auf der Suche nach einem gemeinsamen Nenner

Der soziologische Blick in maximaler Verdichtung

Interaktionsmuster

Sinnwelten

Verteilungen

Normalität

Soziale Kollektive

3. Kapitel: Die jüngste Wirklichkeitsschicht

Eine Wissenschaft wie jede andere – und wie keine

Steckbrief der evolutionären Erkenntnistheorie

Die Evolution der Wirklichkeitsschichten

Zwei Wirkungsrichtungen

Isomorphie von objektiver Wirklichkeit und Erkenntnisvermögen

Einseitigkeiten und Scheinkonflikte

Soziologische Fortschreibung von Riedls Modell

Koppelung von Organismus, Bewusstsein und sozialem Handeln

Schwer zu fassen, aber real – die Wirklichkeit der Soziologie

Unschärfe und Ungenauigkeit

Teil II Wissenschaft

Leitfrage: Was macht Wissenschaftlichkeit aus und wie kann die Soziologie Wissenschaft sein?

4. Kapitel: Was heißt Wissenschaft – und was nicht?

Konstruierte Gewissheit – Die üblichen Verdächtigen

Wahrheit und Nützlichkeit: Die Verwandtschaft von Wissenschaft und Common Sense

Willkommen auf der Metaebene

Am Anfang war der Zweifel: Der lange Weg des Fallibilismus

Die Idee der Methodologie

Objektivität, Intersubjektivität und Wahrheit

Konzentration auf das Machbare

Wertneutralität: Ein notwendiges Prinzip und seine Grenzen

Institutionalisierte Ethik: Mertons Vortrag von 1937 bleibt aktuell

Was soll als »wissenschaftlich« gelten?

5. Kapitel: Soziologie als Kulturwissenschaft

Fakten und Sinngebilde. Zwei Klassen von Phänomenen

Die Ausdifferenzierung der Geisteswissenschaften

Zwei Wissenschaftskulturen

Zwei Formen der Wissensdynamik

Zweierlei Praxisbeziehung

Zweierlei Umgang mit Invarianzen und Einzelfällen

Naturwissenschaft Soziologie? Ein Elefant will eine Rose sein

Teil III Wirklichkeitszugang

Leitfrage: Wie informiert sich die Soziologie über ihren Forschungsgegenstand?

6. Kapitel: Daten erzeugen, beurteilen und transformieren

Was die Soziologie wissen will

Soziologische Primärinformationen

Einzelne als Zeugen sozialer Phänomene: Indirektheit

Von Symbolen zum gemeinten Sinn: Interpretationsbedürftigkeit

Wir alle spielen Theater: Reaktivität durch Interaktivität

Standardisierte oder offene Verfahren? Falsche Frage!

Zweigleisige Soziologie

Psychologie und Soziologie der Methodenwahl

Soziologische Elementarsätze und ihre Sollbruchstellen

Beobachtungstheorien

Transformation: Von Primärinformationen zu Daten und zurück

7. Kapitel: Und täglich grüßt der Stichprobenfehler

Vorsicht beim Flirten! Das Stichprobenproblem in Alltag und Wissenschaft

Soziale Normalität als Mengenlehre

Die Idee der Repräsentativität

Selektivität

Stichprobenfehler

Die Beurteilung systematischer Fehler

Was tun bei Ausfällen?

Repräsentativität bei kleinen Stichproben

Fazit: Ein weiteres Sonderproblem der Soziologie

8. Kapitel: Der Weg ins Unbekannte. Zeitmuster der Forschung

Was kommt zuerst?

Deduktion 1. Konfirmatorische Variante

Deduktion 2. Fallibilistische Variante

Induktion: Von Kindern lernen

Iteration: Wechsel zwischen Anschauung und Theorie

Teil IV Sprache

Leitfrage: Aus welchen Bausteinen bestehen soziologische Texte?

9. Kapitel: Begriffe fallen nicht vom Himmel

Elementare Bausteine der Sprache

Wissenschaft als Handwerk der Begriffskonstruktion

Das Grundschema empirischer Begriffe

Verständigung durch Zeichen

Bedeutungszuweisung: Prädikation und Definition

Vom Einzelnen zum Allgemeinen: Eigennamen, Prädikatoren und Variable

Wo kommen Bedeutungen her?

Wichtige Begriffsformen der empirischen Soziologie

Was heißt »extrovertiert«? Dispositionsbegriffe

Was heißt »bürokratische Herrschaft«? Typenbegriffe

Idealtypen: Begriffe mit Unschärfetoleranz

Zweckmäßigkeit: Wie man über Begriffe diskutieren kann

Kommunikative Zweckmäßigkeit

Wirklichkeitsbezogene Zweckmäßigkeit

Begriffe – ein vernachlässigtes Themengebiet der Metaebene

10. Kapitel: Aussagen. Was ist Wahrheit?

Was allen Aussagen gemeinsam ist

Drei Dimensionen der Wahrheit

Verschiedene Arten von Aussagen

Empirischer Informationsgehalt von Aussagen

Korrespondenztheorie der Wahrheit

Wahrheitskontinuum, Wahrheitsähnlichkeit, Wahrheitsannäherung

Konsenstheorie der Wahrheit

Kohärenztheorie der Wahrheit

Ist Gewissheit möglich?

Vom Nutzen einer differenzierten Sicht von Wahrheit

Teil V Argumentieren

Leitfrage: Was sind gute Begründungen?

11. Kapitel: Logik. Drei Fehlertypen

Was Logik mit Soziologie zu tun hat

Was heißt Logik?

Tautologien

Kontradiktionen

Falsche Schlussfolgerungen

Logische Neutralität

12. Kapitel: Empirie mittlerer Reichweite

Welchem Pfad folgt soziologische Empirie?

Erste Säule: Methoden der empirischen Sozialforschung – notwendig, nicht hinreichend

Zweite Säule: Inhaltliche Komplexität – die Verfahren hinter sich lassen

Dritte Säule: Lokales Optimum und Dialektik – Empirie mittlerer Reichweite

13. Kapitel: Werte – Normative Diskurse sind möglich

Zur Diagnose von Normativität: Auf den Subtext kommt es an

Wie kommt es zur Allgegenwart von Normativität?

Der methodologische Entwicklungsstand normativer Argumentation

Empirische Argumente im normativen Diskurs

Relativierung auf gemeinsame Oberziele

Diskursive Ausweichmanöver

Grenzen normativer Diskurse

Teil VI Heuristik

Leitfrage: Wie generiert die Soziologie neues Wissen?

14. Kapitel: Interpretieren heißt Riskieren

Riskant, aber unvermeidlich

Interpretative Soziologie ist kein Spezialgebiet

Theorien: Ein dreidimensionales Modell

Fundamentale versus diagnostische Theorien: Grade der Abstraktion

Statische versus dynamische Theorien: Drei Typen des Wandels

Verstehende versus erklärende Theorien. Komplementarität

Wozu Theorien?

Theoretischer Pluralismus

Für eine offene Wissenschaft

15. Kapitel: Voreinstellungen – Die Handschrift des Subjekts

Ohne Voreinstellungen keine Erkenntnis

Relevanzhorizont

Axiomatik

Theorien und Begriffsnetze

Forschungsverfahren

Denkmuster: Dimensionen soziologischer Intelligenz

Voreinstellungen sind diskutierbar

Ist alles »nur« eine Konstruktion?

Teil VII Wissensdynamik

Leitfrage: Welche Formen nimmt Wissensfortschritt in der Soziologie an?

16. Kapitel: Modelle des Wissensfortschritts

Die Idee des Wissensfortschritts

Kumulative Soziologie? Drei Einschränkungen

Der Pfad fundamentaler Theorien

Der Pfad diagnostischer Theorien

Der Pfad der Methoden

17. Kapitel: Paradigmen – Zwischen Stabilisierung und Blockade

Die Ambivalenz von Paradigmen

Anmerkungen zur Begriffsgeschichte

Paradigma und Methodologie: Zur Logik der Überprüfung

Paradigmen aus wissenschaftssoziologischer Sicht: Zweierlei Rationalitäten

Paradigmen in der Wissenschaftsgeschichte

Das Paradigma des Paradigmas: Ein erkenntnistheoretischer Kommentar

Teil VIII Subversion

Leitfrage: Welchen unterschwelligen Gefährdungen ist die Soziologie ausgesetzt?

18. Kapitel: Komplexitätszunahme und Desintegration

Vermehrung des Wissens als Problem

Das Ideal des Fachwissens ist in Gefahr

Zweifelhafte Versuche der Komplexitätsbewältigung

Die Segmentierung von Theorie, Forschung und Methodologie

Fazit: Wo sind die Allrounder?

Gegenmaßnahmen

Wider die Segmentierung des Fachwissens in der Soziologie

19. Kapitel: Die wissenschaftliche Hinterbühne

Das akademische Milieu und seine offizielle Moral

Formen akademischer Camouflage

Wissenschaft als Gratwanderung

Warum Intersubjektivität in der Soziologie immer gefährdet ist

Wissenschaftliche Rationalität ist prekär: Resümee

Teil IX Herausforderungen

Leitfrage: Welche Aufgaben stellen sich der Soziologie heute?

20. Kapitel: Soziologie heute. Bestellt und nicht abgeholt

Gesellschaftsgespräche. Provinzen kollektiver Selbstdeutung

Wachsender Deutungsbedarf

Steigerung und Ankunft

Sollbruchstellen der Protosoziologie

Die unsichtbare Leitwissenschaft der fortgeschrittenen Moderne

Ein schwierige Wissenschaft oder keine Wissenschaft?

21. Kapitel: Lernziel soziologische Kommunikation

Abstraktion als Tugend

Kollektivdiagnostisches Monitoring

Verstehen – Das Implizite explizit machen

Soziologische Praxisbeziehung – diskursiv statt technologisch

Soziologische Kommunikation braucht gemeinsame Grundlagen

Bringschuld der Soziologie, Holschuld der Öffentlichkeit

Epistemische Intelligenz – Eine kommunikative Utopie?

Schluss

Der Beitrag der Soziologie zum Wandel der Moderne: Statt einer Zusammenfassung

Hat dieses Buch sein Ziel erreicht?

Anmerkungen

Einleitung

Worum es in diesem Buch geht

Was zwischen uns Menschen abläuft, ist einerseits unser eigenes Werk, andererseits verselbständigt es sich und wird zu einer Macht, die tief in unser Leben eingreift. Meist finden wir uns in Routinen verstrickt, als würden wir einem immer wieder durchgespielten gemeinsamen Drehbuch folgen, ohne uns dessen ständig bewusst zu sein. Im Normalfall bewegen wir uns sozusagen per Autopilot durch den Alltag, gesteuert durch intuitiv gespürte Regeln, die durch Ausnahmen und Improvisationen nur bestätigt werden.

Diesem Bauchgefühl will die Soziologie fundierte Beschreibungen und Erklärungen entgegensetzen. Sie will explizit machen, was sonst weitgehend implizit und unerkannt bleibt. Sie will gesellschaftliche Phänomene aus wissenschaftlicher Distanz beobachten und deuten. Und sie will darüber mit den Menschen ins Gespräch kommen. Warum? Nur wenn man halbwegs über die Spiele Bescheid weiß, in die man verwickelt ist, kann man sie mitbestimmen, statt von ihnen beherrscht zu werden.

Braucht man dazu die Soziologie? In den anschwellenden Diskursen über Gesellschaftliches – etwa in Talkshows, Blogs, Shitstorms, Parlamentsdebatten, politischen Kommentaren und Alltagsgesprächen – dominiert der Brustton der Überzeugung. Dass sich hinter solcher vermeintlicher Sicherheit oft blanke Ungewissheit verbirgt, tritt zwar in der Gegensätzlichkeit der Meinungen deutlich zutage, gerade dies lässt viele aber umso entschiedener an die Wahrheit des eigenen Standpunkts glauben.

Mehr und mehr drehen sich öffentliche Diskurse um genuin soziologische Themen, allerdings meist unter Abwesenheit der Soziologie. Einerseits drängt die weit vorangeschrittene Moderne den Menschen weltweit die soziologische Perspektive förmlich auf. Andererseits führen die darauf antwortenden Deutungsanstrengungen oft zu mehr Verwirrung als Klarheit.

Doch der kollektive Selbstreflexionsbedarf wird im Lauf des 21. Jahrhunderts weiter steigen. Ludger Pries nennt eine ganze Reihe neuer Themen, auf die er die Soziologie »nur halbwegs vorbereitet« sieht, unter anderem: Gen-Schere, Künstliche Intelligenz, neuronale Netze, Grenzauflösung im Verhältnis von Mensch, Natur und Artefakten, Re-Nationalisierung und Transnationalisierung sozialer Ungleichheiten und Identitäten, Sozialbeziehungen zwischen Digitalisierung und neuer Erdung in der analogen Welt, zwischen Verdinglichung und Versinnlichung.1 Soweit ein Ausschnitt aus dem Panorama des Jahres 2018 – Fortsetzung folgt.

Unter diesen Umständen wäre es nur konsequent, würde sich der kollektive Selbstreflexionsbedarf schließlich auch auf sich selbst richten: Warum ändert sich nichts an unserer babylonischen Situation fruchtloser Deutungskonkurrenz, die immer wieder auch in der Soziologie selbst aufbricht, zuletzt im Jahr 2017 mit der Gründung der »Akademie für Soziologie«? In dieser Frage könnte der Keim einer geistigen Entwicklung liegen, die mit zwei Aufgaben beginnt: erstens mit einer klaren Ortsbestimmung der Soziologie als empirischer Wissenschaft, zweitens mit der Integration ihrer grundlegenden Denkformen in den Kanon der Allgemeinbildung.

(1) Ortsbestimmung der Soziologie als empirische Wissenschaft: Wenn diese Aufgabe liegen bleibt, droht die Chance verspielt zu werden, die in der Soziologie steckt. Paradoxerweise ist dies genau dann zu befürchten, wenn Soziologie so zu werden versucht wie andere etablierte Wissenschaften auch, etwa Physik, Chemie oder Biologie. Doch als verstehende Wissenschaft muss die Soziologie Mut zur Unschärfe, zur Interpretation und zur Ungewissheit aufbringen, sonst erreicht sie ihren Forschungsgegenstand nicht. Dies ist jedoch keineswegs als Einladung zur Willkür gemeint. Wissenschaftlichkeit entsteht durch Intersubjektivität, das heißt durch nachvollziehbareres, an gemeinsamen Regeln ausgerichtetes Argumentieren, worauf es gerade dann besonders ankommt, wenn die höchste Stufe von Objektivität (im Sinn völliger Ent-Subjektivierung) nicht erreichbar ist, sondern »nur« Plausibilität und vorläufiger Konsens.

Den Initiatoren der »Akademie für Soziologie« kommt das Verdienst zu, die Debatte über die Wissenschaftlichkeit der Soziologie neu belebt zu haben. Immerhin geht es dabei um den Kern soziologischer Professionalität, um den eigenen Standort. Seit der letzten großen innersoziologischen Debatte, dem Positivismusstreit in den 60er Jahren, war die Erörterung dieser Grundsatzfrage vom Zentrum an die Peripherie der Soziologie gerückt. Die Wissenschaftlichkeit der Soziologie war kein leidenschaftlich diskutiertes Thema der soziologischen Öffentlichkeit mehr. Nicht in großen Diskursen, sondern in vielen unverbundenen Episoden trat eher implizit zutage, was man für »wissenschaftliche Soziologie« hielt. Die jeweilige persönliche Position äußerte sich als Gefühl von Nähe oder Distanz in der Kollegenschaft, als Bevorzugung oder Ablehnung bestimmter Klassen von Methoden, als Kooperation oder Abgrenzung im Forschungsbetrieb, als Entscheidung für oder gegen bestimmte Inhalte in Studien- und Prüfungsordnungen. In dieser Situation kam die Gründung der »Akademie für Soziologie« im Jahr 2017 zur rechten Zeit. Endlich wurde die Frage der Wissenschaftlichkeit in der Soziologie wieder zu einem die ganze Disziplin erfassenden Kristallisationskern von Auseinandersetzung und Selbstbefragung: Wo genau stehe ich eigentlich?

Wie wichtig und produktiv dieser Impuls zu grundsätzlicher soziologischer Selbstreflexion war und ist, zeigt sich gerade auch in den kritischen Stellungahmen.2 In der Dialektik der Debatte gewann das scheinbar Selbstverständliche wieder Profil. Der Titel dieses Buchs, Soziologie als Handwerk, zielt explizit auf Professionalität ab. Wie macht man gute Soziologie? Wie kann man sich einerseits auf die zahlreichen Sonderprobleme einlassen, die der Forschungsgegenstand Gesellschaft nun einmal unweigerlich mit sich bringt, und andererseits den Anspruch erheben, Wissenschaft im strengen Sinn zu sein?

Genau darum ging es auch den Gründungsmitgliedern der »Akademie für Soziologie«. Sie fordern eine »empirisch-analytische« Soziologie, deren Programmatik an die Naturwissenschaften erinnert: Suche nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, theorieorientierte Forschung, standarisierte Messung, maximale Objektivität, kumulativer Wissensfortschritt. Meine eigene Position dazu wird an vielen Stellen in diesem Buch deutlich werden: Einerseits gehört diese Forschungslogik durchaus zum Handwerk der Soziologie dazu, andererseits darf sie nicht zum Käfig werden. Der Forschungsgegenstand Gesellschaft in seiner Gesamtheit ist allein damit keinesfalls zu erreichen. Wie aber kann dann Soziologie noch beanspruchen, eine empirische Wissenschaft zu sein? Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch meine folgenden Überlegungen.

(2) Soziologische Allgemeinbildung: Dieses Vorhaben klingt zunächst utopisch. Wie aber soll soziologische Aufklärung jemals gelingen, wenn Soziologie und Öffentlichkeit aneinander vorbeireden? Ohne populäres soziologisches Allgemeinwissen wird sich am weitgehenden Fehlen eines Dialogs zwischen Soziologie und Öffentlichkeit nichts ändern.3 Aber ist das nicht normal? Die meisten Wissenschaften sind nur studierten Experten zugänglich. Spezialisierte Vermittler und akademische Berufe übersetzen neue Forschungsergebnisse in die Praxis, und alle sind zufrieden. Sollte sich nicht auch die Soziologie an diesem Modell orientieren? Nein: Hier gilt das genaue Gegenteil. Die Soziologie verfehlt ihren Daseinszweck, wenn sie für sich bleibt, statt den Diskurs mit der Öffentlichkeit zu suchen.

Soziologie ist eine Wissenschaft, die verstehen, aber auch verstanden werden will. Darin gleicht sie der Psychotherapie. Diese ist heute so fest in der Gesellschaft verankert, dass sie zu einem der größten Etatposten im Budget der Krankenkassen wurde. Im Lauf des 20. Jahrhunderts konnte die Psychotherapie den Menschen begreiflich machen, worin ihr Beitrag zum Gelingen des Lebens besteht: in mehr Klarheit über sich selbst. Der Fokus der Psychotherapie liegt auf dem Innenleben, derjenige der Soziologie auf dem Zusammenleben. Der Soziologie ist es jedoch bis heute nicht gelungen, ihr Potenzial den Menschen nahezubringen. Man weiß zwar, dass es die Soziologie gibt, was sie aber konkret will und nützt, wird auch innerhalb der Disziplin kaum einmal auf den Punkt gebracht.

Dieses Buch soll Soziologie als ein Handwerk vermitteln, das auf mehr Klarheit und Explizitheit abzielt. Klarheit im Zusammenleben kann sich im Blick auf weithin geleugnete Konflikte zeigen. Sie kann im Bezweifeln dessen zutage treten, was so gut wie alle für unumstößlich wahr halten. Sie kann auch die sokratische Form des Eingeständnisses von Ungewissheit und Unschärfe annehmen, wo Sicherheit und Exaktheit auf Selbsttäuschung hinauslaufen würden. Soziologie ist ein unbequemes Projekt.

Aber kann man sich auf soziologische Erkenntnisse verlassen? Ein Arzt, der sich seiner Diagnose nicht sicher war, verblüffte mich einmal mit einem Vergleich: »Wenn das potenzielle medizinische Wissen das Universum darstellt, dann sind wir gerade erst beim Mond angekommen.« So alltäglich Ungewissheit ist, so rar bleibt ihr Eingeständnis, nicht nur in der Medizin. Welche Therapie ist die richtige? Was wäre gegenwärtig die beste Geldanlage? Wie soll es mit Europa weitergehen? Was macht einen guten Unterricht, eine gute Schule, ein gutes Bildungssystem aus?

Andererseits sind wir immerhin »bis zum Mond« gekommen – in der Medizin. Wie aber steht es im Vergleich dazu in der Soziologie? Hat sie, ihrem Image einer »weichen«, ihrer selbst unsicheren Wissenschaft entsprechend, vielleicht noch nicht einmal die Wolkendecke durchstoßen? Dann wundert es umso weniger, dass sich in den allgegenwärtigen Streitgesprächen über die Gesellschaft, in der wir leben, so viel Rechthaberei und illusionäre Gewissheit findet.

Vielleicht gäbe es mehr Konsens, und dies auf besserer Grundlage, wenn es der Soziologie gelänge, zu einer Instanz zu werden, die gefragt, gehört und verstanden wird. Mit diesem Buch versuche ich, dazu einen Beitrag zu leisten. Die neun Hauptteile mit jeweils zwei bis drei Kapiteln schreiten einen Themenhorizont ab, dem man üblicherweise nur in getrennten Publikationen und Lehrveranstaltungen begegnet. In diesem Buch dagegen kommt es auf die Zusammenschau aller Anforderungen des Denk-Handwerks der Soziologie an. Um eine Gebrauchsanleitung, wie der Untertitel besagt, handelt es sich insofern, als es vor allem um die operative Umsetzung der Leitideen der Soziologie geht. Diese scheinen nach mehr als 150 Jahren Geschichte der Soziologie als akademischer Disziplin4 weitgehend ausbuchstabiert – wie aber »macht« man Soziologie?

Welche Teilfragen ich hier aus dieser Hauptfrage ableite und bearbeite, zeigt der folgende Überblick über die neun Hauptteile dieses Buchs:

I.

Das Projekt Soziologie: Womit beschäftigt sich die Soziologie?

II.

Wissenschaft: Was macht Wissenschaftlichkeit aus und wie kann die Soziologie Wissenschaft sein?

III.

Wirklichkeitszugang: Wie informiert sich die Soziologie über ihren Forschungsgegenstand?

IV.

Sprache: Aus welchen Bausteinen bestehen soziologische Texte?

V.

Argumentieren: Was sind gute Begründungen?

VI.

Heuristik: Wie generiert die Soziologie neues Wissen?

VII.

Wissensdynamik: Welche Formen nimmt Wissensfortschritt in der Soziologie an?

VIII.

Subversion: Welchen unterschwelligen Gefährdungen ist die Soziologie ausgesetzt?

IX.

Herausforderungen: Welche Aufgaben stellen sich der Soziologie heute?

Weil der Begriff der Erkenntnis in diesem Buch hervorgehobene Bedeutung hat, will ich gleich zu Beginn klarstellen, wie ich ihn im Kontext der Soziologie nicht meine: Er soll nicht etwa das Offenbarwerden einer absoluten und unbestreitbaren Wahrheit bedeuten. Wie könnte man auch hoffen, diesen Anspruch verbindlich zu begründen? Der Begriff der Erkenntnis bezeichnet im Folgenden lediglich ein vorläufiges, hypothetisches Für-Wahr-Halten, begründet durch anerkannte Methoden und plausible Argumente. Sie sind nachvollziehbar, aber ohne Ermessensentscheidungen geht es dabei nicht zu. Mehr als ein begrenzter und vorläufiger Konsens ist meist nicht zu haben (es sei denn, es geht um logische oder mathematische Richtigkeit). Im Begriff der Erkenntnis, so wie ich ihn hier in Anlehnung vor allem an Karl Popper verwende,5 wie er aber auch schon im Skeptizismus der griechischen Philosophie aufscheint,6 schwingt immer das Eingeständnis von Ungewissheit, Zweifel und Revisionsbedürftigkeit mit. Das Handwerk der Soziologie kann immer nur Vorläufiges zustande bringen.

Hätte ich das Talent, Cartoons zu zeichnen, würde ich diese Einleitung mit zwei Bildern abschließen. Das erste Bild würde ein Kind auf einem Dreirad zeigen, das in die Pedale tritt und mit dem Lenker steuert – aber nur vermeintlich, denn hinter dem Dreirad gehen Mutter und Vater einher, die über eine mit dem Dreirad verbundene Stange abwechselnd den Kurs bestimmen. Beide symbolisieren die zwei schweigenden Mächte, mit denen sich dieses Buch durchgängig beschäftigt: zum einen soziale Normalität, zum anderen Voreinstellungen des Denkens und der Wahrnehmung. Diese »Eltern« steuern uns unbemerkt, ob im Alltag oder in der Wissenschaft, bis wir uns dies bewusst machen und selbst die Herrschaft übernehmen.

Auf dem zweiten Cartoon würde das Kind immer noch auf dem Dreirad sitzen, aber es würde selbst steuern; die Eltern hätten die Stange losgelassen.

Teil I Das Projekt Soziologie

Leitfrage: Womit beschäftigt sich die Soziologie?

Wie jede andere Wissenschaft will auch die Soziologie einen bestimmten Bereich der Wirklichkeit erschließen, dessen Besonderheit ihr Vorgehen prägt. Sie ist ein Handwerk, ein Bündel von Fähigkeiten und gedanklichen Werkzeugen, vergleichbar den Leitbegriffen, Methoden und Messgeräten von Physik, Chemie, Medizin und anderen empirischen Wissenschaften. Im Unterschied zu diesen Disziplinen hat das Projekt Soziologie jedoch einen physisch ungreifbaren, wenn auch ständig präsenten und fühlbaren Gegenstand im Auge.

Was »ist« der Forschungsgegenstand Gesellschaft? Wer so fragt, befindet sich bereits auf dem Holzweg. Der Forschungsgegenstand Gesellschaft wird erst im Rahmen einer selbst konstruierten Perspektive sichtbar, einer Art Optik, über die zu reflektieren bereits zum Handwerk dazugehört: Worum geht es konkret? Was genau meinen Begriffe wie Struktur, System, Feld usw. im jeweiligen Kontext von Studien, Texten, Forschungsprojekten eigentlich? In anderen Wissenschaften, etwa Physik, Chemie oder Medizin, kann man über solche Vorfragen pragmatisch hinweggehen, in der Soziologie nicht.

Im 1. Kapitel geht es zunächst um den spezifischen Zugang dieses Buchs zur Soziologie: um den Aspekt des Handwerks. Soziologie als Handwerk lässt sich nicht, wie es oft geschieht, auf die Methoden der empirischen Sozialforschung reduzieren, als wäre es genug, sich darauf zu verstehen, Daten zu erheben und auszuwerten; die Interpretation wäre dann eine Art Kunst. Nein: Soziologie ist als Denk-Handwerk zu sehen, das mit dem Nachdenken über die Perspektive beginnt und am Ende einer Studie Überlegungen einschließt, was diese für den Fortschritt soziologischen Wissens bedeutet und wie sie sich zur Praxis verhält.

Das 2. Kapitel begibt sich auf die Suche nach einem Konsens über den Forschungsgegenstand Gesellschaft, allen Dissonanzen und Richtungskämpfen in der Soziologie zum Trotz. Um mehr als einen gemeinsamen Nenner kann es dabei nicht gehen. Soziologie ist die Wissenschaft von Menschen in Mehrzahl, von sozialen Kollektiven. Drei Hauptaspekte haben sich als immer wieder aufscheinende Bezugspunkte wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Interesses herauskristallisiert: Interaktionsmuster, Sinnwelten und Verteilungen. Um nicht essentialistisch missverstanden zu werden: Dies »ist« nicht der Forschungsgegenstand Gesellschaft, vielmehr handelt es sich lediglich um immer wieder als relevant empfundene Sichtweisen. Über mehr kann man in den empirischen Wissenschaften auch gar nicht sprechen.

Das 3. Kapitel schlägt dann einen im Rahmen soziologischer Grundlagenliteratur ungewöhnlichen Kurs ein. Es verortet den Forschungsgegenstand Gesellschaft in einem evolutionstheoretischen Modell von Wirklichkeitsschichten, die sukzessiv im Verlauf der Geschichte des Universums entstanden. Worauf es dabei ankommt, ist die Verbindung dieses Modells mit wissenschaftssystematischen Überlegungen: Jede dieser Wirklichkeitsschichten steht in besonderen kausalen Beziehungen zu den angrenzenden Schichten, und in jeder Schicht gelten bestimmte Eigengesetzlichkeiten, auf die sich die jeweils zuständigen Wissenschaften einstellen müssen. Mit welchen Wirklichkeitsschichten hat es die Soziologie zu tun und auf welche Eigengesetzlichkeiten muss sie sich einlassen?

1. Kapitel: Soziologie als Handwerk

»The great aim of education is not knowledge but action.«

Herbert Spencer

Soziologie machen

Soziologie als Handwerk zu betrachten, ist ein ungewohnter Zugang. Wer schon einmal mit Soziologie als akademischer Disziplin in Berührung gekommen ist, mag als erstes an Methoden der empirischen Sozialforschung denken, an Fragebogenkonstruktion, Stichprobentechnik, Statistik und Forschungsorganisation. Gewiss: Diese Verfahren sind Handwerk im Sinn regelgeleiteter Arbeit. Es kostet Zeit und Anstrengung, dieses Handwerk zu erlernen; ohne Ausbildung entsteht unweigerlich Pfusch. Deshalb nimmt die empirische Sozialforschung in soziologischen Studiengängen weltweit einen wichtigen Platz ein. Doch Soziologie zu machen geht weit über die empirische Arbeit hinaus. Das Handwerk der Soziologie beginnt mit der oft unterschätzten Frage, was genau eigentlich jeweils Gegenstand der Analyse sein soll, und es hört mit der Auswertung von Daten und Beobachtungen noch lange nicht auf.

Im Leitmotiv des Handwerks, das für dieses Buch bestimmend ist, klingt ein ständiges Hin und Her zwischen zwei Ebenen an: zwischen dem Tun einerseits und seiner Beurteilung andererseits. Dafür verwendet man in wissenschaftstheoretischen und diskursanalytischen Kontexten oft das Begriffspaar von operativer Ebene und Metaebene. Doch die Dialektik von Tun und Beurteilung ist viel älter. Sie ist allgegenwärtig, seit es Menschen gibt: als rationale Form der Selbstbeobachtung in Bezug auf das eigene Handeln.

Von der Erfindung der ersten Werkzeuge unterscheidet sich die heutige Wissenschaft nur durch das Anliegen – hier Brauchbarkeit für praktische Zwecke, dort Brauchbarkeit für Erkenntnis. Die Beobachtung der operativen Ebene von der Metaebene aus zielt auf Qualität, ob es um Werkzeuge oder Wissen geht. Was nun beispielsweise eine gute Axt ausmacht, kann sich jeder leicht vorstellen. Doch was sind gute Werkzeuge der Erkenntnis, speziell in der Soziologie?

Darüber ist weiß Gott schon viel geschrieben worden. In kaum einer anderen Wissenschaft füllen so viele Einführungen, Lehrbücher und sonstige Grundlagentexte die Regale der Universitätsbibliotheken wie in der Soziologie. So verzeichnete der Suchbegriff »Einführung« im Katalog der Universitätsbibliothek Bamberg im Jahr 2019 kombiniert mit »Volkswirtschaftslehre« 562 Treffer, kombiniert mit »Betriebswirtschaftslehre« 1.265 Treffer, aber kombiniert mit »Soziologie« 7.263 Treffer. Auf den ersten Blick scheinen die vorhandenen Titel nichts offen zu lassen. Bei einer Durchsicht der Grundlagenliteratur treten verschiedene Schwerpunkte hervor, die teils monothematisch, teils in Kombination abgehandelt werden: Grundbegriffe, Geschichte, Theorien, Paradigmen, Perspektiven, Diagnosen, Handlungsfelder, Forschungsmethoden. Für all diese Themenbereiche sind fachlich und didaktisch hervorragende Texte verfügbar.7 Droht unter diesen Umständen nicht jeder neue Titel das Problem zu vergrößern, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen zu können? Muss nicht der Grenznutzen jedes weiteren Grundlagentextes gegen Null gehen? Ja, soweit es dabei um Wissen geht, nein, soweit es um Handeln geht.

Mein folgender Versuch orientiert sich an einem Modell des Lernens, das von einem Wechselspiel zwischen Wissen und Machen ausgeht. Gewiss lässt sich beides nicht im Sinn von entweder/oder trennen. Zwischen Wissen und Machen besteht kein Gegensatz, sondern eine produktive Dialektik. Soziologisches Wissen, etwa über Idealtypen bei Max Weber, erfüllt erst dann seinen Zweck, wenn man sich davon zum eigenen Denken anregen lässt; umgekehrt kann aus jeder soziologischen Arbeit Wissen werden, das dann in die zukünftige Denk-Praxis einfließt. Meine folgenden Überlegungen sind zwar auf die eher wissensorientierte soziologische Grundlagenliteratur angewiesen. Wissen ist aber erst am Ziel, wenn es operativ umgesetzt wird: Wie kann man selbst soziologisch weiterdenken, argumentieren, urteilen und sich in der Öffentlichkeit einbringen?

In diesem Buch liegt der Akzent auf dem Machen, auf der Praxis soziologischen Denkens, auf Soziologie als Handwerk. Was damit gemeint ist, zeigt sich in zahlreichen Einführungen in die Methoden der empirischen Sozialforschung. Dort finden sich Arbeitsanleitungen: Wie redigiert man einen Fragebogen? Was ist Skalierung und wie führt man sie durch? Wie plant man eine Stichprobe so, dass man auf Repräsentativität hoffen kann? Wie wertet man Daten aus?

Solche die konkrete Forschungspraxis betreffenden Fragen haben aber nur einen von vielen Aspekten im Auge. Auf welche weiteren Aspekte von Soziologie als Handwerk es darüber hinaus ankommt, mögen ein paar Fragen andeuten, die auf nachfolgende Kapitel verweisen: Was genau tut man, wenn man soziologisch denkt? Wie betreibt man Soziologie dezidiert als Wissenschaft? Wie argumentiert man soziologisch? Wie kann Soziologie öffentlichkeitswirksam werden? Pointiert gesprochen, geht es im Folgenden nicht primär um Fundstücke des Wissens, sondern um seine Herstellung; es geht weniger um Denkergebnisse anderer als um Selbstdenken; es geht um das Hinterfragen und die Weiterentwicklung von Prämissen; es geht um Prinzipien wissenschaftlicher Moral und die typischen Verstöße dagegen.

Eine Möglichkeit, Soziologie als Handwerk in der Lehre zu vermitteln, habe ich vielfach in »Debattierseminaren« an der Universität Bamberg erprobt. Dabei kam es auf spontanes Argumentieren an: Was ist aus soziologischer Sicht zu den jeweiligen Themen der Zeit zu sagen, die täglich in den Fernsehnachrichten, in sozialen Medien, in der Zeitung anklingen? Und allgemein: Worin konkret besteht eigentlich die soziologische Sicht? Meine didaktische Konzeption entsprach der eines soziologischen Forschungspraktikums, wie es inzwischen überall in soziologischen Studiengängen etabliert ist, allerdings bezogen auf die Soziologie insgesamt: learning by doing.

Entsprechend soll dieses Buch eher einen aktivierenden als einen rezipierenden Zugang zur Soziologie eröffnen. Es schließt an einige teils weit zurückliegende Vorläufer an, unter anderem an Max Webers Vortrag Wissenschaft als Beruf, Karl Poppers Thesen zur Logik der Sozialwissenschaften, Pierre Bourdieus Soziologie als Beruf, Karl-Dieter Opps Methodologie der Sozialwissenschaften und Peter L. Bergers Einladung zur Soziologie.8 Das mit dem zuletzt genannten Titel ausgesprochene Motto, aufgefasst als Aufforderung zum Mitmachen, gilt auch für dieses Buch. Abgesehen vom gemeinsamen Anliegen der Reflexion wissenschaftlichen Handelns unterscheiden sich die eben genannten Texte bezeichnenderweise untereinander viel stärker als die Texte der oben erwähnten soziologischen Grundlagenliteratur. Soziologisches Wissen ist heute weitgehend kanonisiert, soziologisches Machen keineswegs.

Im folgenden Abschnitt konkretisiere ich soziologisches Machen zunächst anhand einiger Beispiele, um dann eine vorläufige Systematisierung zu entwerfen, die drei große Felder soziologischer Arbeit absteckt: Kommunikation, Forschung und Fortsetzung der Fachtradition. In den daran anschließenden Abschnitten greife ich diese Stichworte auf.

Handwerkliche Standardsituationen der Soziologie

Wie manifestiert sich das Machen von Soziologie, auch, aber nicht nur innerhalb des bloßen Forschungsbetriebs? Ob man sich dessen bewusst ist oder nicht, zumindest implizit ist man bereits quasi-soziologisch aktiv, bevor man sich etwa beim Formulieren eines Fragebogens auch nur die erste Interviewfrage überlegt hat, und man ist mit dem Handwerk der Soziologie keineswegs bereits am Ende, wenn die Daten eingegeben sind und statistische Ergebnisse auf dem Bildschirm erscheinen.

Soziologie als Tätigkeit beginnt mit einer präzisen und immer wieder neu zu konkretisierenden Vorstellung davon, was man überhaupt wissen will. Das sei doch klar, bekommt man zu hören – es gehe um Gesellschaft, Beziehungen, Strukturen, Systeme, Kultur und so weiter. Mag sein, aber was ist damit eigentlich genau gemeint? Wer sich der Suggestion des scheinbar Selbstverständlichen verweigert und nachfragt, wird oft sein blaues Wunder erleben, durchaus auch im Gespräch mit ausgebildeten Soziologinnen und Soziologen. Der Forschungsgegenstand der Soziologie kommt einem eben nicht als Naturtatsache entgegen wie ein Apfel oder eine Kartoffel – man sieht ihn nur, wenn man über eine gute Optik dafür verfügt. Die aber muss man sich erst einmal konstruieren.

So beginnt das Handwerk der Soziologie bereits im Vorstadium jeder empirischen Arbeit, und es setzt sich danach mit der Konstruktion der Ergebnisse fort. Wie? Werden Ergebnisse etwa konstruiert? Verhält es sich in der Wissenschaft nicht vielmehr so, dass Ergebnisse eben herauskommen, unabhängig von der Person der Forschenden? Keineswegs, auch wenn sich unser Verständnis des Begriffs »Ergebnisse« dagegen sperrt. Es handelt sich genau genommen immer um Konstruktionen.

Wie zeigt sich dies etwa bei einer statistischen Korrelation? Diese ist zwar einfach nur das Resultat eines Algorithmus und insofern ein Ergebnis, das im landläufigen Sinn »herauskommt«. Aber erstens ist auch der Algorithmus eine Konstruktion, und zweitens ist er noch kein soziologischer Befund. Zu diesem wird er erst durch Interpretation. Deutet er beispielsweise auf eine Kausalbeziehung hin, auf eine persönliche Handlungstendenz, auf ein Milieu, auf ein situatives Syndrom? Um darauf zu antworten, braucht man eine Art von soziologischem Können, das beim Korrelationskoeffizienten noch lange nicht am Ziel ist. Mit dem statistischen Ergebnis tritt das Handwerk der Soziologie in das nächste, schwierigere Stadium ein.

Auch wenn die Daten interpretiert sind, ist die Arbeit noch nicht getan. Die Anschlussfrage lautet, wie sich der soziologische Befund zur bisherigen Forschung verhält. Allgemein: Welches Modell der Wissenschaftsgeschichte passt zur Soziologie? Für jede Wissenschaft ist die Vorstellung ihres Pfades durch die Zeit eine maßgebliche Orientierungsgröße. Handelt es sich bei der Soziologie um eine kumulative Wissenschaft, wo der Berg des Wissens auf einem stabilen Sockel wächst und wächst, wie in den Naturwissenschaften? Oder ist, wie es Max Weber drastisch ausdrückte, der Gedanke »sinnlos«, dass es etwa »das Ziel der Kulturwissenschaften sein könne, ein geschlossenes System von Begriffen zu bilden, in dem die Wirklichkeit in einer endgültigen Gliederung zusammengefasst werden könnte«?9 Oder ist sie beides, wenn man sie differenziert betrachtet, wie dies im 16. Kapitel erfolgen wird: teils historisch variabel, teils kumulativ? Auch dies gehört zum Handwerk der Soziologie dazu: Forschung und Analyse von Fall zu Fall ins Verhältnis zur langfristigen Entwicklung des Wissens zu setzen und einzuordnen.

Hinzu kommt: Das Projekt der Soziologie bleibt unvollendet, wenn es seine Zielgruppe nicht erreicht – die Menschen, Institutionen und Organisationen jenseits der wissenschaftlichen Soziologie. Es verhält sich mit der Soziologie nicht anders als etwa mit der Medizin. Dass jede wissenschaftliche Anstrengung der Medizin erst am Ziel ist, wenn sie den Menschen nützt, versteht sich von selbst. Worin jedoch der Nutzen in der Soziologie bestehen könnte, ist nicht so evident wie in der Medizin, die sich mit den direkt erfahrbaren Phänomenen von Gesundheit und Krankheit beschäftigt. Im Fokus der Soziologie liegt zwar ebenfalls ein Wirklichkeitsbereich, den jeder täglich erlebt – die Wirklichkeit der Kollektive. Im Unterschied zu körperlichen Empfindungen ist diese Wirklichkeit den meisten aber nur intuitiv verfügbar. Der Hauptnutzen der Soziologie besteht darin, dieses implizite gesellschaftliche Wissen explizit zu machen und mit den sozialen Tatsachen zu konfrontieren.

Wenn in diesem Zusammenhang von soziologischer Aufklärung oder öffentlicher Soziologie die Rede ist, kann damit allerdings immer nur ein Dialog gemeint sein. Soziologie erreicht die Gesellschaft nicht als fertige Botschaft, die einfach nur zur Kenntnis zu nehmen wäre, und schon gar nicht lässt sie sich »implementieren«, als ob es um den Einbau neuer Mechanismen oder um das Justieren gesellschaftlicher Stellschrauben ginge. Der letzte Schritt im Handwerk der Soziologie besteht vielmehr in soziologischer Kommunikation zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Dabei sind beide Seiten gefordert; der Bringschuld der Soziologie entspricht eine Art Holschuld der Öffentlichkeit. Letzterer nachzukommen ist vor allem eine Aufgabe von Bildungspolitik und der Hochschulentwicklung, worauf ich im letzten Kapitel zurückkommen werde.

In diesen handwerklichen Standardsituationen lassen sich drei Felder soziologischer Arbeit erkennen, die ganz verschiedene Kompetenzen erfordern. Die Hauptteile und Kapitel dieses Buchs bearbeiten diese Felder und einzelne ihrer Teilgebiete in größerer Ausführlichkeit. Hier am Anfang geht es zunächst um einen groben Überblick, den die nun folgenden drei Abschnitte vermitteln sollen. Der erste beschäftigt sich kursorisch mit den besonderen kommunikativen Aufgaben der Soziologie, der nächste mit ihrem Bemühen um Wissenschaftlichkeit, der dritte schließlich mit dem Verhältnis der Soziologie zur eigenen Wissenstradition.

Kommunikation: Worin besteht soziologische Professionalität?

Sowohl in der Medizin als auch in der Soziologie gibt es – mehr als in den meisten anderen Wissenschaften – eine Art Kollegialitätsverhältnis zwischen Laien und Profis. Während jedoch der ärztliche Kompetenzvorsprung von den meisten durchaus anerkannt wird (mag die Medizinskepsis der Bevölkerung auch seit Jahrzehnten steigen), ist Soziologie als Beruf außerhalb der Profession so gut wie unbekannt geblieben. Wer weiß schon, was professionelle Soziologinnen und Soziologen können, worin ihr Kompetenzvorsprung besteht und was dies mit dem eigenen Leben zu tun hat?

Auch soziologische Laien beobachten soziale Phänomene, verallgemeinern, denken über Gesellschaftliches nach und reden darüber – meist im Gefühl der Gewissheit. »Ich weiß Bescheid, erzähl‘ mir doch nichts!« Worin soll da der Mehrwert der Soziologie bestehen? Kann die Soziologie etwas, das über das hinausginge, was ohnehin alle zu können glauben?

Soziologische Professionalität beginnt mit dem Gegenteil laienhafter Gewissheitsillusionen – mit dem Wissen um die Irrtumsrisiken soziologischer Aussagen. Gleichzeitig verfügt die Soziologie über Methoden, mit denen man diese Irrtumsrisiken möglichst klein halten kann. Es besteht Klarheit darüber, dass alles Wissen nicht einfach »resultiert«, sondern auf Vorentscheidungen und Voreinstellungen beruht, die immer wieder zu reflektieren und zu revidieren sind.

Zur soziologischen Professionalität gehört eine explizite Vorstellung von der Besonderheit des Forschungsgegenstands Gesellschaft – zu wissen, was die Soziologie mit den Naturwissenschaften verbindet, sich gleichzeitig aber auch des Unterschieds zu den Naturwissenschaften bewusst zu sein, bedingt durch die Besonderheit des Forschungsgegenstands Gesellschaft im Vergleich zu Naturphänomenen, mit denen sich etwa die Astrophysik, die Chemie oder die Meteorologie beschäftigen.

Eine weitere Konsequenz der Eigenart des Forschungsgegenstands ist die bereits angeführte dialogische Praxisbeziehung anstelle der technologischen, medizinischen oder ökologischen Praxisbeziehung der Naturwissenschaften. Von all dem wird noch ausführlich die Rede sein.

Zur soziologischen Professionalität gehört es schließlich auch, so paradox es scheinen mag, die spezielle Kompetenz der Laien anzuerkennen und von ihnen zu lernen, vor allem durch offene Interviews, Textanalysen und Alltagsbeobachtungen. Für die Soziologie sind Laien gleichzeitig die ersten Experten. Ihre vorwissenschaftliche Erfahrung der sozialen Wirklichkeit bedarf zwar der Deutung, der Abstraktion, der skeptischen Beurteilung und der komplexen Analyse, nichtsdestoweniger ist die Soziologie mehr als alle anderen Wissenschaften auf die Kommunikation mit Laien angewiesen. Nichts wäre in der Soziologie weniger professionell, als sich hinter Professionalität zu verstecken.

Forschung: Integration statt Ehekrach

Dass auch Wissenschaftlichkeit zum Kern soziologischer Professionalität gehört, müsste wohl kaum erwähnt werden, wenn es so selbstverständlich wie in den Naturwissenschaften wäre, was im Fall der Soziologie darunter zu verstehen ist. Einerseits macht es geradezu den Kern der modernen Wissenschaft aus, nur die Fakten zum Reden und alles Subjektive zum Schweigen zu bringen. Andererseits ist der Forschungsgegenstand der Soziologie ohne den Einsatz von Subjektivität als Forschungsressource nur partiell und oberflächlich zu erreichen – sofern man das Verstehen zwischenmenschlicher Episoden und der dahinterliegenden gemeinsamen Sinnwelten als genuin soziologisches Anliegen begreift.

Wahlergebnisse beispielsweise sind, wenn alles mit rechten Dingen zugeht, objektive Fakten wie beispielsweise die Raumtemperatur. Aber warum sind sie so und nicht anders ausgefallen? Schon in der Wahlnacht beginnt der Kampf um die Deutungshoheit. Jeder legt die Zahlen nach Belieben aus, und je nach Parteizugehörigkeit entsteht ein anderes Bild.

Eine sozialwissenschaftliche Wahlanalyse soll dagegen kein politisches oder persönliches Interesse verfolgen, vielmehr soll sie die Beweggründe der Menschen an den Tag bringen. Doch mit welchen Methoden man dabei auch vorgehen mag – man kann die Motive der Menschen nicht einfach ablesen wie die Raumtemperatur vom Thermometer. Man wird nicht darum herum kommen, zu vermuten, zu interpretieren, sich in andere hineinzuversetzen.

Objektivität im streng naturwissenschaftlichen Sinn ist dabei grundsätzlich nicht zu haben. Also schließt man entweder ausgerechnet diejenigen Sachverhalte aus der Analyse aus, an denen Politik, Medien, Wirtschaft und die Menschen im Alltagsleben am meisten interessiert sind – oder man ist dazu bereit, auch Plausibilität und Intersubjektivität als wissenschaftlich akzeptabel gelten zu lassen. Dieses Buch folgt klar der zweiten Option: Soziologie soll so objektiv wie möglich sein, aber sie soll nicht den Betrieb einstellen, wenn sich bestenfalls vorläufiger und begrenzter Konsens im wissenschaftlichen Diskurs erreichen lässt.

Gute Diskurse sind das A und O guter Wissenschaft. Dabei haben es die Naturwissenschaften leichter als die Soziologie, denn sie unterliegen der Disziplinierung durch die Natur als einer harten Lehrmeisterin: Eine falsche Theorie scheitert spätestens bei der Anwendung, sollte der vorangegangene wissenschaftliche Diskurs dabei versagt haben, ihre Defizite ausfindig zu machen – Beispiele gibt es genug.10 Doch der Soziologie steht keine vergleichbare Instanz zur Verfügung. Unter diesen Umständen muss man sich mit dem (meist nur begrenzten) Konsens der Fachwelt bescheiden, so skeptisch dieses Wahrheitskriterium auch zu beurteilen ist, wie wir noch sehen werden. Umso wichtiger ist es, Soziologie als öffentlich anerkanntes Handwerk zu professionalisieren.

Dazu gehört unter anderem die Handhabung fachspezifischer Denktechniken, etwa der holistischen Betrachtung, des Kollektivvergleichs, des Verstehens oder des Umgangs mit realer Unschärfe. Einzigartig in der Wissenschaftslandschaft und ohne Pendant im Alltagsdenken sind die Techniken multivariater Analyse von Surveys und die damit verbundenen soziologischen Interpretationsmuster.

Was den wissenschaftlichen Diskurs in der Soziologie betrifft, so sticht als erstes ein Ausmaß von Selbstkritik ins Auge, das andere Disziplinen weit in den Schatten stellt. Doch dieser Diskurs scheint die diskutierten Probleme eher zu reproduzieren als zu lösen – wie bei einem Ehekrach, der sich obendrein auch noch um einen Scheinkonflikt dreht. Mit diesem treffenden Bild ironisierte Armin Nassehi die Lage der Soziologie im Jahr 2018.11 Die Metapher des Ehekrachs passt insofern zur Soziologie, als hier wie dort immer wieder dieselben Drehbücher durchgespielt werden. Das Déjà-vu der Soziologie besteht darin, dass die eine Seite Wissenschaftlichkeit im strengen Sinn verlangt, während die Gegenseite Sensibilität für den Forschungsgegenstand fordert. Nassehi vergleicht diesen Konflikt mit dem ewigen Streit eines Paares darüber, wer den Müll runterbringen soll.

Aber es muss eben sein. Weil beide Anliegen – Wissenschaftlichkeit und Gegenstandsangemessenheit – gleichermaßen unabdingbar sind, kommt es darauf an, sie zu integrieren. Es geht dabei um eine Ordnung wissenschaftlichen Voranschreitens im ständig veränderten Terrain, was ich im nächsten Abschnitt mit dem Bild eines nomadischen Projekts beschreibe. Es geht um Regeln für die Produktion von Erkenntnis über den Forschungsgegenstand Gesellschaft, ohne wichtige Aspekte der sozialen Wirklichkeit wegen angeblicher Unzugänglichkeit für die Wissenschaft auszuklammern.

Wissenschaftlichkeit steht nicht etwa im Widerspruch dazu, dass sich die soziale Wirklichkeit analytisch gesehen denkbar mühselig und unbequem darstellt – dass die Gesellschaft objektive Unschärfen aufweist; dass man sie nur erreichen kann, wenn man sich auf Interpretationsrisiken einlässt; dass sie sich oft schneller ändert, als man Replikationsstudien durchführen kann. Nein: Genau diese Eigenschaften des Forschungsgegenstands machen Wissenschaftlichkeit erst recht unerlässlich.

Zum Projekt soziologischer Integration gehört auch die Umdeutung angeblicher soziologischer Heterogenität. Aus der oft monierten, scheinbaren »Zersplitterung« der Soziologie lässt sich auch das genaue Gegenteil herauslesen, nämlich ein Zeichen umfassender Einheit angesichts eines Forschungsgegenstands, der nach so vielen Paradigmen wie sonst keiner verlangt.

Nicole Burzan hat wichtige Gründe dafür zusammengefasst,12 die allesamt auf die Besonderheit des Gegenstands zurückzuführen sind:

eine Komplexität, die sich nicht in ein »von oben nach unten oder von unten nach oben« gedachtes Schema pressen lässt;

der fortwährende Wandel des Gegenstands, der sich nur anhand immer wieder neuer Begriffsnetze fassen lässt;

die Situiertheit der Beobachtenden innerhalb der beobachteten Phänomene;

damit zusammenhängende, wechselnde Erkenntnisinteressen mit weit auseinanderliegenden räumlichen und zeitlichen Horizonten.

Das Projekt soziologischer Integration muss auch die Verbindung von quantitativen und qualitativen Verfahren einschließen, von Rechnen und Verstehen. An die Stelle des dauernd wiederholten Ehekrachs, bei dem jede Partei jeweils nur eine halbierte Soziologie proklamiert und die andere Hälfte bekämpft, tritt die Idee einer mehrgleisigen, dialektischen Soziologie.

Fortsetzung der Fachtradition: Nomaden oder Hausmeister?

Was dies bedeutet, sei in einer ersten Annäherung metaphorisch durch den Vergleich von Nomaden und Hausmeistern illustriert. Wissenschaft, egal welche, ist intellektuell gesehen zwar immer ein nomadisches Vorhaben; allerdings nimmt die Soziologie auch in dieser Hinsicht eine Sonderstellung ein – kaum eine andere Wissenschaft muss so mobil sein wie sie, um mit der sich ständig wandelenden sozialen Wirklichkeit Schritt zu halten. Wer in geistiger Sesshaftigkeit leben will, sollte sich einen anderen Beruf suchen. In der Soziologie kommt es darauf an, Komfortzonen zu verlassen, ins Unbekannte zu gehen, sich Irrwege einzugestehen, ständig über den Kurs zu streiten und mit Ungewissheit zu leben.

Ähnliche Erfahrungen machen zwar alle Menschen im Lauf ihres Lebens durch: Wechselfälle. Was die Wissenschaft jedoch vom normalen Leben unterscheidet, ist das gezielte Herbeiführen der Wechselfälle auf der Suche nach Erkenntnis. Als Gegentypus und Kontrastfolie zur nomadischen Wissenschaft kann man sich den wohlgeordneten Haushalt vorstellen, wo jedes Ding seinen Platz hat und alle Rituale eingespielt sind. Besucher, die in bester Absicht bei der Hausarbeit mithelfen und dabei alles durcheinanderbringen, lassen ungewollt die Kernidee des Haushalts als Enklave der Sesshaftigkeit hervortreten.

Viele Menschen lieben es, in ihrem Leben zwischen dem sesshaften und dem nomadischen Modus hin und her zu wechseln, beispielsweise indem sie immer wieder in Urlaub fahren. Romane und Filme legen den altgewohnten Plot des Ausbruchs aus der Sesshaftigkeit ins Ungewisse in immer wieder neuen Varianten auf. Dagegen ist die umgekehrte Sehnsucht nach Sesshaftigkeit unter nomadischen Bedingungen narrativ nicht ergiebig, auch wenn der Wunsch nach stabilen Verhältnissen im Alltagsleben ständig in Erscheinung tritt. Nicht anders ist es in der Soziologie. Die Versuchung ist groß, im Lauf der Zeit zum Hausmeister einer wohlaufgeräumten, abgeschlossenen Wissensenklave zu werden.

Was als nomadisches Projekt begann, degenerierte in der Ideengeschichte schon oft genug zur bloßen Hausmeisterei. »Es wird größerer Aufwand getrieben, die Auslegungen auszulegen als die Sache selbst, und es gibt mehr Bücher über Bücher als über irgendeinen anderen Gegenstand. Wir tun nichts, als uns gegenseitig mit Anmerkungen zu versehen. Alles wimmelt von Kommentatoren; an Autoren herrscht großer Mangel«, schrieb Montaigne Ende des 16. Jahrhunderts, zu einer Zeit, als die moderne Naturwissenschaft gerade erst auf dem Sprung stand.13 Den Begriff »Soziologie« gab es damals zwar noch nicht, wohl aber soziologische Denkweisen in Philosophie und Geschichtsschreibung, und dies seit langem. Insofern kritisiert Montaigne indirekt durchaus auch die implizite Soziologie seiner Zeit.

Hausmeisterliche Soziologie nimmt gegenwärtig viele Formen an, obwohl gerade diese Wissenschaft in Anbetracht ihres wandelbaren, unsteten Forschungsgegenstands so mobil sein müsste wie keine andere. Im Vergleich zur Soziologie erscheinen die Naturwissenschaften als weitgehend abgeschlossene Enklaven des Fachwissens. Die Soziologie dagegen lebt in einem ständigen Austausch mit der Gesellschaft, der das Aussehen einer wechselseitigen Feedbackbeziehung hat. Einerseits soll die Soziologie ein Spiegel sein, der erkennen lässt, was sonst implizit und unbeeinflussbar bleibt: zwischenmenschliche Routinen und dazugehörige Sinnwelten. Andererseits muss sie bestrebt sein, den Anschluss zu behalten und den überraschenden Entwicklungen ihres Gegenstands möglichst dicht auf den Fersen zu bleiben. Daraus folgt ein ständiges Abschiednehmen von gerade erst errungenen soziologischen Deutungen. Die Soziologie muss immer wieder neu aufbrechen.

Ausblick

Warum kam die Soziologie im Vergleich zu anderen Disziplinen von Anbeginn nicht so recht vom Fleck, wie Turner und Turner mit Blick auf die Geschichte der Soziologie in den USA feststellen – unter dem vielsagenden Titel The Impossible Science?14 Die Soziologie sei zu heterogen, heißt es, zu unwissenschaftlich, zu selbstbezüglich, zu hermetisch, zu praxisfern, zu wenig kumulativ, zu alles Mögliche. Dem kann man hinzufügen: Sie ist nicht selbstbewusst genug, um ihre Besonderheiten offensiv zu vertreten, statt sich am ungeeigneten Beispiel anderer Wissenschaften messen zu lassen.

Genau mit dieser Besonderheit beschäftigen sich die nächsten beiden Kapitel. Im 2. Kapitel frage ich zunächst: Was wird als Forschungsgegenstand Gesellschaft sichtbar, wenn man sich durch die Vielfalt der Theorien, Begriffe und Methoden nicht beirren lässt, sondern einen unausgesprochenen Konsens unterstellt?

Im anschließenden 3. Kapitel geht es um die irreduzible Eigengesetzlichkeit dieses Forschungsgegenstands. Bei dieser Annahme handelt es sich nicht lediglich um eine methodologische Setzung, sondern um eine empirische These vor dem Hintergrund einer Theorie, die zwar auf die Soziologie blickt, ihr jedoch nicht unmittelbar zugehört – um die teils in den Naturwissenschaften, teils in der Philosophie beheimatete Theorie der Evolution der gesamten Wirklichkeit von Anfang an. Der Forschungsgegenstand Gesellschaft ist dieser Theorie zufolge die jüngste, zuletzt herausgebildete Wirklichkeitsschicht.

Alle weiteren Kapitel dieses Buches beschäftigen sich teils ausschließlich, teils in wechselnden Mischungsverhältnissen mit den drei in den vorangegangenen Abschnitten skizzierten Anforderungen an Soziologie als Handwerk: Kommunikation, Forschung, Fortsetzung der Fachtradition.

2. Kapitel: Forschungsgegenstand Gesellschaft

Der Ursprung soziologischen Erkenntnisinteresses

Was nimmt man wahr, wenn man viele Menschen vor sich sieht, etwa im Fußballstadion, im Rockkonzert oder in der Fußgängerzone? »Bekleidete menschliche Körper, die sich bewegen und Geräusche von sich geben«, so könnte vielleicht ein Comedian antworten. Seine Pointe umkreist den unsichtbaren Gegenstand der Soziologie; sie besteht im ironischen Ignorieren der Hauptsache, auf die man für gewöhnlich seine ganze Aufmerksamkeit richtet. Eine Reporterin im Fußballstadion redet über Trainertaktiken, Mannschaften und die Geschehnisse auf der Fan-Meile; ein Rockfan erzählt nach dem Konzert von »der irren Atmosphäre«; ein Flaneur in der Innenstadt sieht an einem Samstag im Dezember »genervte Passanten im Weihnachtsstress«.

Bei der Beobachtung von Menschenansammlungen fokussiert man Aspekte einer Wirklichkeit, die unmittelbar einen Sinn ergeben. Das mit Augen und Ohren Erfahrbare ist nur Oberfläche, Indiz für die Gegenwart unstofflicher, flüchtiger Phänomene. Beschreibungen beziehen sich auf Sachverhalte, die jeweils nur eine Mehrzahl von Personen hervorbringen kann – wir, ihr, sie. Fußballfans zum Beispiel bedienen sich einer Semantik für kollektive Tatsachen; Ausdrücke wie »Bayern München« oder »Südkurve« haben eine Kernbedeutung, die dem persönlichen Fan-Werden vorausgeht; sie sind gesättigt von Geschichten, Konflikten, Symbolen, Ritualen, bedeutungsvollen Orten und vielen anderen Elementen einer gemeinsamen Sinnwelt. Fan-Sein bedeutet Teilnahme an einer schon gegebenen gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Solche Sinnwelten zu erforschen, ist eine der Aufgaben der empirischen Soziologie. Fragt man allerdings nach einer Präzisierung, erhält man unter Umständen Antworten, die unser Comedian als Steilvorlage für eine weitere Lachnummer nutzen könnte. Ähnliches könnte auch Ralf Dahrendorf mit seinem oft zitierten Bonmot gemeint haben: »Soziologie ist das, was Leute, die sich Soziologen nennen, tun, wenn sie sagen, dass sie Soziologie betreiben. Mehr nicht.«15

Dahrendorfs Bonmot lässt sich jedoch auch dialektisch lesen: einerseits als Widerhall der Selbstkritik, wie sie diese Wissenschaft so gerne wie keine andere pflegt; andererseits als Anerkennung von etwas Selbstverständlichem und Naheliegendem. Die erste Lesart läuft auf die Ironisierung von Beliebigkeit, kommunikativem Chaos und paradigmatischer Kleinstaaterei hinaus. Liest man Dahrendorf dagegen auf die zweite Weise, so wird klar, dass er den Leuten, die sich »Soziologen« nennen, durchaus ein gemeinsames Erkenntnisinteresse unterstellt, auch wenn er dieses nicht explizit herausarbeitet. Wenden wir uns also der Anschlussfrage zu: Was tun diese Leute denn, das sie dazu veranlasst, sich »Soziologen« zu nennen?

Zunächst: Dahrendorf sieht Soziologie nicht als Beschäftigung mit einem metaphysisch vorgegebenem »Ding an sich«, sondern als eine menschengemachte Wissenschaft. Für die platonische Vorstellung von Soziologie als Teil einer vorgefundenen metaphysischen Ordnung hat er, in Übereinstimmung mit dem philosophischen Konsens der Gegenwart, nur Ironie übrig. Allerdings: Von einem nachmetaphysischen Standpunkt aus gesehen erscheint nicht nur die Soziologie als willkürliches Erkenntnisprojekt, sondern jede Wissenschaft. Um Dahrendorf zu paraphrasieren: Auch Medizin ist das, was Leute, die sich Mediziner nennen, tun, wenn sie sagen, dass sie Medizin betreiben.

Ist das alles? Wohl kaum, sonst hätte sich weder die Soziologie etabliert noch die Medizin. Alle Wissenschaften benötigen einen Ankerpunkt im Meer der Beliebigkeit. Sie orientieren sich an einem gemeinsamen Bezugsrahmen: an dem, was Menschen in einer gegebenen Zeit als ein sinnvolles Erkenntnisinteresse ansehen. Der Ursprung unserer Erkenntnisinteressen liegt in uns selbst. Im Fall der Medizin lässt sich dieser Ursprung leicht dingfest machen; er besteht in der allgegenwärtigen menschlichen Erfahrung von Gesundheit und Krankheit. Das Erkenntnisinteresse der Medizin ist pragmatisch vorgegeben, es richtet sich auf anthropologisch universelle Ziele und Probleme.

Von da aus ist es aber, was zunächst überraschend wirken mag, kein großer Schritt zur Soziologie. So disparat die Soziologie auf den ersten Blick auch erscheint – ihr Fokus richtet sich doch auf ein allen Menschen gemeinsames Bezugsfeld: auf die allgegenwärtige Grunderfahrung zwischenmenschlicher Phänomene und gemeinsamer Sinnwelten. Deshalb kam es schon in allen frühen Kulturen zu einer Art vorsoziologischer Sozialkunde in Form von Mythen, Traditionen, intuitivem Regelverständnis, Lebenserfahrung, Rollen und Riten, vergleichbar der vormedizinische Heilkunde.16

Zwar entstanden im Lauf der Kulturgeschichte ganz verschiedene Modelle des Gesellschaftlichen, aber sie haben eine gemeinsame Perspektive. Dies gesteht Dahrendorf selbst der so zerklüftet wirkenden Soziologie als akademischer Disziplin zu, indem er zögernd von einer »historisch gewachsenen Mehr- oder Mindereinheit« redet. Meint er dabei etwa bloß eine beliebige Konvention? Wegen der Geistesverwandtschaft vorsoziologischen Denkens in allen bekannten Kulturen ist es plausibler, von einer Basis der Soziologie auszugehen, die ihre Wurzeln in der Erfahrung aller Menschen hat.

Intuitiv verfügen alle Menschen über eine soziologische Optik. Ein Beispiel: Wer ganz und gar nichts von Fußball versteht, sieht bei einer Fernsehübertragung nur Menschen auf dem grünen Rasen in ständiger Bewegung. Im Großen und Ganzen laufen die einen hinter dem Ball her, die anderen gegen ihn an, bis sich das Spiel umdreht. Hier und da auf der Welt wären vielleicht einige Kulturfremde zu finden, die sich zunächst keinen Reim auf diesen Ablauf machen könnten. Doch bald wäre ihnen zumindest klar, dass es sich um eine Art Spiel handelt. Von dieser proto-soziologischen Minimalhypothese ausgehend, wäre es nicht weit zur Entschlüsselung wenigstens der offensichtlichsten Regeln: Es gibt zwei Mannschaften, die nach vorne angreifen und nach hinten verteidigen; der Ball soll ins gegnerische Tor befördert werden; keiner außer dem Torwart darf den Ball mit der Hand berühren, sobald er von der übergeordneten Instanz, dem Schiedsrichter, freigegeben wurde.

Wer beim Betrachten der Geschehnisse auf einem Fußballplatz nicht mehr nur eine Gruppe von Menschen in Bewegung sieht, sondern auch ein Spiel vermutet, vollzieht einen Schritt, der die Wahrnehmung schlagartig verändert: Die Aktionen jedes einzelnen Spielers sind nun Teil eines alle einbeziehenden Gesamtgeschehens. Damit öffnet sich ein Fenster zu einem eigenen Wirklichkeitsbereich. Erst wer durch dieses Fenster blickt, kann überhaupt ein »Spiel« erkennen. Es handelt sich dabei nicht bloß um einen Wechsel der Perspektive, sondern auch um das Vordringen in eine andere Dimension, um eine Art Weltensprung der Wahrnehmung.

In Wissenschaft und Technik ist so etwas nicht ungewöhnlich. Nehmen wir etwa den Übergang vom Augenschein der traditionellen Erfahrungsmedizin hin zum Röntgengerät und von da zur Magnetresonanztomographie. Der Weltensprung bestand hier jeweils in einer Veränderung des Wirklichkeitszugangs, der sich in einem Wechsel der Apparate niederschlug. Im Prinzip geschieht das Gleiche bei der Verlagerung des Fokus der Wahrnehmung von Einzelnen hin zur »spielenden« Gesamtheit, nur vollzieht sich dieser Übergang nicht physisch mittels neuer Beobachtungsapparate, sondern mittels der rein gedanklichen Aktivierung eines bestimmten Wahrnehmungsschemas.

Zwar steht dieses Wahrnehmungsschema allen zur Verfügung und es kommt ständig zum Einsatz, doch bleibt es meist unbewusst. Selbst wer noch nie ein Fußballspiel gesehen hat, bringt bereits den Blick für gesellschaftliche Phänomene mit. Der Alltagsbegriff »Spiel« dokumentiert ein vorsoziologisches Verständnis für Interaktionen, Handlungsmuster, Regeln und gemeinsame Sinnwelten, zusammengefasst: für das Normale im Umgang der Menschen miteinander.17

Mehr braucht es nicht, um Soziologie als Handwerk zu konstituieren: pragmatisch fundiert und universell relevant, wenn auch immer noch unvollendet. Aber dies ist in der Medizin nicht anders. Beide Wissenschaften entspringen existenziellen Herausforderungen, die uns alle betreffen. In beiden Wissenschaften überlagern sich verschiedene Richtungen jeweils in unscharfen Schnittmengen, in der Soziologie ohnehin, aber durchaus auch in der Medizin, wo sich Psychosomatik und Alternativmedizin neben der sogenannten Schulmedizin etabliert haben. Die »historisch gewachsene Mehr- oder Mindereinheit« der Soziologie geht aus einem anthropologisch universellen Deutungsbedürfnis hervor, wie diejenige der Medizin.

Auf der Suche nach einem gemeinsamen Nenner

Im Folgenden versuche ich eine möglichst verdichtete Darstellung des Wirklichkeitsausschnitts, mit dem sich die Soziologie beschäftigt. Einerseits scheint dies gleich in mehrfacher Hinsicht ein abenteuerliches Unterfangen zu sein: Gibt es etwa »die Soziologie«? Und wenn man dies unterstellt: Wie sollte es möglich sein, »die Soziologie« in der Kürze eines Kapitels darzustellen? Die Antwort hängt davon ab, ob man nach Unterschieden oder Gemeinsamkeiten sucht. Ich gehe von der These aus, dass es Gemeinsamkeiten tatsächlich gibt, und zwar nicht nur innerhalb der Soziologie, sondern auch zwischen Soziologie und Öffentlichkeit, konstituiert durch den anthropologisch universellen Blick für das Zwischenmenschliche, von dem im vorangegangenen Abschnitt die Rede war. Die Suche nach einem gemeinsamen Nenner bezieht sich auf beide Seiten.

Warum lohnt es sich, diese Suche zu unternehmen? Dafür sprechen zwei Gründe: erstens das Projekt soziologischer Kommunikation, zweitens der Fokus auf den Aspekt des Handwerks, der dieses Buch kennzeichnet. Soziologische Kommunikation, zum einen, setzt eine grundlegende Gemeinsamkeit der Perspektive voraus, sowohl innerhalb der Wissenschaft als auch in ihrem Verhältnis zur Öffentlichkeit. Zum anderen verlangt Soziologie als Handwerk nach einem klaren, jederzeit verfügbaren Grundverständnis davon, was zu tun man gerade im Begriff ist, wenn man Soziologie betreibt. Die Kontroversen des Fachs, seine Polemiken und Kirchenspaltungen sind kein Hinderungsgrund für einen Integrationsversuch, im Gegenteil. Gute Diskurse sind überhaupt nur möglich, wenn sie auf der Basis einer grundlegenden Gemeinsamkeit geführt werden.

Meine Suche nach einem gemeinsamen Nenner zielt deshalb auch auf Einfachheit und Verständlichkeit ab. Fachchinesisch, Wichtigtuerei und inszeniertes Bescheidwissen kommen auch anderswo vor, wirken aber in der Soziologie besonders komisch, weil es um Phänomene geht, in die jeder verstrickt ist. Gewiss braucht man Fachbegriffe, um den Blick zu schärfen und um abzukürzen. Doch der Kontakt zur Wirklichkeit darf nicht verloren gehen. Zur soziologischen Professionalität zählt auch die Fähigkeit, intelligenten soziologischen Laien mit einfachen Worten innerhalb von zehn Minuten im Wesentlichen klarzumachen, was man eigentlich tut, wenn man von sich »sagt, dass man Soziologie treibt«.

Zur These, dass der gesamten Soziologie durchaus ein latenter Konsens zugrunde liege, ermutigen klassische soziologische Texte, wie sie etwa in dem 2016 erschienenen Buch Sternstunden der Soziologie versammelt sind.18 Gerade die Verschiedenartigkeit der Themen lässt ihre grundlegende Verwandtschaft schon in den Titeln hervortreten: eine gemeinsame Perspektive, die es rechtfertigt, alle Beiträge in ihrer Gesamtheit als »Soziologie« zu bezeichnen. Hier ein paar Beispiele: Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe (Georg Simmel); Locals and Cosmopolitans (Robert Merton); Das Problem der Generationen (Karl Mannheim); Prozesse der Machtbildung (Heinrich Popitz); Die Zirkulation der Eliten (Vilfredo Pareto); Das eherne Gesetz der Oligarchie (Robert Michels). Schon auf den ersten Blick zeigt sich hier eine grundlegende Verwandtschaft: Es geht immer um Menschen in Mehrzahl, die es miteinander zu tun haben – um soziale Kollektive.

Bei allem Streit versammeln sich die »Leute, die sich Soziologen nennen« (Dahrendorf) letztlich doch zumindest hinter dieser Perspektive, aus der viele weitere Gemeinsamkeiten folgen. Im Lauf der Zeit wurde diese grundlegende Orientierung der Soziologie allerdings zur unreflektierten Routine. Differenzierungen, Einseitigkeiten und Begriffsverwirrungen verdeckten den Grundkonsens. Für die Integration der Soziologie wird es wichtig sein, sich den Ausgangspunkt der Disziplin immer wieder bewusst zu machen, um das Verbindende zu betonen, zum Beispiel dann, wenn in schöner Regelmäßigkeit wieder einmal alte soziologische Scheinkonflikte auftauchen.

Die Suche nach einem impliziten Konsens bei allem offenen Dissens lässt sich im Fall der Soziologie allerdings nicht mit der Fahndung nach einem verlorenen Gegenstand vergleichen. Vielmehr ist das Ergebnis auch durch die Absichten geprägt, mit welchen man startet. Mein folgender Versuch bewegt sich im Grenzbereich zwischen objektiven Gegebenheiten und Willkür, wie alle solche Versuche: Einerseits können wir sicher sein, dass es die soziale Wirklichkeit objektiv gibt, andererseits lässt sich diese nur mit konstruierten Sichtweisen erfassen, die auf Ermessensentscheidungen beruhen.

Was dies betrifft, so sind mir zwei Ziele wichtig: Einfachheit und Anschlussfähigkeit. Die Bestimmung des Forschungsgegenstands Gesellschaft soll erstens für alle daran Interessierten leicht nachvollziehbar sein, um dem Anliegen soziologischer Kommunikation (sowohl innerhalb der Soziologie als auch zwischen Soziologie und Öffentlichkeit) entgegenzukommen. Die hier vorgeschlagene Sichtweise soll zweitens die Paradigmen und Traditionen der Soziologie weitgehend integrieren können. Damit sind auch akademische Nachbardisziplinen gemeint: etwa Demographie, Sozialpsychologie, Ethnologie, Geschichtswissenschaft und Politikwissenschaft. Angesichts der zahlreichen Fachbenennungen und Lehrstuhlwidmungen in der Universitätslandschaft muss diese Liste hier unvollständig bleiben. Es handelt sich dabei um Fächer, in denen man sich der methodologischen Sonderprobleme der Soziologie teilweise klarer bewusst ist als in der Soziologie selbst. Dies deutet sich auch in bisher vor allem quantitativ orientierten Fächern an, in der Betriebswirtschaftslehre19 und in der Volkswirtschaftslehre.20

Ausdrücklich erstreckt sich meine Suche nach einem hypothetischen Perspektivenkonsens auch auf das implizit-soziologische Denken und Reden jenseits der Wissenschaft – in Talkshows, Feuilletons, populären Sachbüchern, Politik, Alltag, Filmen und Romanen. In solchen Kontexten geht es beispielsweise um Abgrenzung und Integration, Partnerschaft und Gleichberechtigung, Arbeitsbedingungen und Ungleichheit – um Themen also, die auch in der Soziologie abgehandelt werden. Für die Soziologie ist die außersoziologische Relevanz ihrer Themen geradezu eine Existenzbedingung, denn nur wenn sich der gemeinsame Nenner innerhalb der Wissenschaft auch jenseits der akademischen Welt wiederfinden lässt, in Öffentlichkeit und Privatleben, können beide Seiten miteinander kommunizieren. Könnten sie dies nicht, wäre Soziologie sinnlos. Das Explizitmachen ist allerdings Sache der Wissenschaft.

Der soziologische Blick in maximaler Verdichtung

In keiner Wissenschaft geht es ohne Vorentscheidungen ab. Was man sieht, ist in keinem Fall bloß vorgefunden. Dass man es sieht, ist auch eine Frage der Optik, die man erst einmal selbst herstellen muss, vergleichbar einer Brille, einem Mikroskop oder einem Röntgengerät. In der Geschichte der Naturwissenschaften wurde die ständige Verfeinerung der Messinstrumente zum Motor einer unausgesetzten Serie von Innovationen. Darin spiegelt sich der Umstand, dass es in den Naturwissenschaften, etwa in Astrophysik, Pharmazie oder Biologie, hauptsächlich darauf ankommt, sich gleichbleibenden Phänomenbereichen, deren Gesetzmäßigkeiten sehr lange Bestand haben, immer mehr anzunähern.

Die Soziologie ist dagegen darauf aus, einen äußerst variablen Gegenstand immer wieder neu zu erfassen. Zwar gibt es auch in der Geschichte der Soziologie methodische Innovationen von bleibendem Wert, vergleichbar den Apparaten der Naturwissenschaften, etwa die Entwicklung von Stichprobenverfahren, Skalierungsmethoden und multivariaten Analysemodellen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Doch anders als in der Geschichte der Naturwissenschaften hätten Fortschritte der Verfahren nicht genügt, um das Potenzial der Soziologie zu entfalten.

Der Grund dafür ist die Veränderlichkeit der Forschungsgegenstands Gesellschaft. In der soziologischen Optik kommt es darauf an, immer offen für fundamental Neues zu sein. Die Heuristik der Soziologie muss darauf ausgerichtet sein, Invarianzen mit kurzer Halbwertszeit zu erfassen. Nur zu einem geringen Teil kann sich Soziologie als Projekt der Annäherung an einen Forschungsgegenstand mit gleichbleibenden Gesetzmäßigkeiten verstehen, in der Hauptsache ist sie ein Projekt des Monitorings ständigen Wandels. Dafür ist es zweckmäßig, den soziologischen Blick über die Zeit hinweg auf die gleichen Aspekte zu richten.

Im Folgenden unternehme ich den Versuch, konstante Grundeinstellungen des soziologischen Blicks auf den Begriff zu bringen. Diese bleiben invariant: sowohl im Verhältnis zur jeweiligen sozialen Wirklichkeit als auch im Verhältnis zu einzelnen soziologischen »Schulen«, »Paradigmen«, »Ansätzen«, oder welche Bezeichnungen sich sonst noch zur Etikettierung spezieller Systematisierungen soziologischen Denkens eingebürgert haben mögen. Ich nehme gewissermaßen die gleichbleibenden Moleküle sozialer Wirklichkeit in den Blick, die sich zu immer wieder neuen Substanzen verbinden. In der Gegenrichtung gedacht: Was immer einem in der Soziologie begegnet, lässt sich, sozusagen im Analysecomputer der gedanklichen Chemie, weitgehend auf diese elementaren Bausteine zurückführen.

Hinzu kommt ein zweites Argument: Die empirische Fundierung soziologischer Theorien nimmt ihren Weg immer über die im Folgenden genannten fünf Grundperspektiven (Interaktionsmuster, Sinnwelten, Verteilungen, Normalität, soziale Kollektive), welchem Paradigma diese Theorien dann in anschließenden Interpretationen des Materials auch zuzurechnen sein mögen. Der kleinste gemeinsame Nenner von wissenschaftlicher und außerwissenschaftlicher Soziologie ist identisch mit dem kleinsten empirischen Nenner.

Vor diesem Hintergrund ist mein folgender Versuch zu sehen, den Konsens der Soziologie in komprimierter Form durch einige wenige Essentials zu markieren, beginnend mit einer Gesamtsicht, an die sich kurze Charakterisierungen der wichtigsten Perspektiven anschließen, die im Anschluss weiter entwickelt werden.

Gesamtsicht: Soziologie ist die Wissenschaft von den sozialen Kollektiven. Diese bilden einen eigengesetzlichen Wirklichkeitsbereich. Die Realität der Kollektive wirkt tief in das Leben aller Menschen hinein. Ihre Macht bleibt versteckt, solange sie nicht zur Sprache gebracht wird. Empirische Analyse, kategoriale Arbeit, Explizitmachen und soziologische Kommunikation machen mehr Autonomie möglich. Für das konkrete Handwerk der Soziologie ist es notwendig und hinreichend, die wissenschaftliche Arbeit auf die im Folgenden vorgestellten fünf Hauptaspekte zu konzentrieren:

Interaktionsmuster: Was spielt sich regelmäßig zwischen den Menschen ab? Wie kooperieren sie? Welche Prozeduren der Entscheidungsfindung laufen ab? Wie gehen sie in Partnerschaften miteinander um? Wie arbeiten sie zusammen? Welche Formen von Macht und Herrschaft lassen sich erkennen?

Sinnwelten: Welche gemeinsamen Sichtweisen setzen sie dabei voraus? Was betrachten sie als angemessen, fair, normal – oder als das Gegenteil davon? Wie stellen sie sich die Wirklichkeit vor? Was bedeuten die Worte und Zeichen, mit denen sie sich verständigen? Welche Drehbücher für Interaktionsmuster haben sie im Kopf?

Verteilungen: Was ergibt sich, wenn man individuelle Merkmale aggregiert? Welche Häufigkeiten, Mittelwerte und Streuungen resultieren bei der Analyse eines gegebenen Merkmals? Wie gleich oder ungleich sind beispielsweise Ressourcen verteilt? Vor allem aber: Was ergibt sich, wenn man die gemeinsamen Verteilungen mehrerer Merkmale untersucht – welche Regelmäßigkeiten treten hervor? Was lässt sich daraus schließen – kausalanalytisch, dimensionsanalytisch, lebensweltlich, klassifikatorisch?

Normalität: Was erleben die Menschen eines Kollektivs als das Gewohnte und Selbstverständliche? Welche Interaktionsmuster, Sinnkonstruktionen und offensichtlichen Verteilungsmerkmale sind ihnen so selbstverständlich, dass sie sich kaum einmal Gedanken darüber machen?

Soziale Kollektive: Welche Beziehungsnetzwerke lassen sich in welchen räumlichen oder virtuellen Kontexten erkennen? Wer hat es wo mit wem regelmäßig zu tun? Soziale Kollektive machen einerseits den Forschungsgegenstand aus, dessen Aspekte die Soziologie untersucht, andererseits sind sie selbst Gegenstand der Analyse, denn soziale Kollektive sind veränderlich und immer wieder neu zu bestimmen. Die Analyse muss sich gewissermaßen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen; sie hat es mit einem »Münchhausenproblem« zu tun (siehe dazu den letzten Abschnitt in diesem Kapitel).