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"Der Nachtzirkus" meets "The Greatest Showman". J. R. Dawsons funkelndes Debüt um einen magischen Zirkus verzaubert die Leser*innen weltweit. Wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg zieht eine Truppe von Zirkusartisten durch den Mittleren Westen der USA. Ihre Manege ist nicht groß, doch ihre Talente sind mehr als außergewöhnlich: Odette, eine Trapezkünstlerin, kann Krankheiten und Verletzungen heilen. Mauve sagt die Zukunft voraus. Und Rin vermag durch die Zeit zu reisen. Zu dritt versuchen sie mit dem Zirkus, anderen übernatürlich Begabten ein Zuhause zu bieten, Sicherheit und eine Familie. Denn das Leben ist für diese "Sparks" alles andere als einfach. Die Regierung versucht, sie zu instrumentalisieren oder wegzusperren. Und dann gibt es da noch den grausamen Mitternachtszirkus des mächtigen Circus King, der mit Rin noch eine Rechnung offen hat. Doch die größte Gefahr lauert in der Zukunft: Als Mauve, Odette und Rin auf einer ihrer Zeitreisen erfahren, dass ein weiterer Krieg die Welt in den Abgrund reißen wird, wollen sie alles dafür tun, ihn aufzuhalten … Für Leserinnen von Erin Morgenstern, Susanna Clarke, R.F. Kuang und V.E. Schwab.
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Seitenzahl: 605
J.R. Dawson
Die Magie der Funken
Wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg zieht eine Truppe von Zirkusartisten durch den Mittleren Westen der USA. Ihre Manege ist nicht groß, doch ihre Talente sind mehr als außergewöhnlich: Odette, eine Trapezkünstlerin, kann Krankheiten und Verletzungen heilen. Mauve sagt die Zukunft voraus. Und Rin vermag durch die Zeit zu reisen. Zu dritt versuchen sie mit dem Zirkus, anderen übernatürlich Begabten ein Zuhause zu bieten, Sicherheit und eine Familie.
Denn das Leben ist für diese »Sparks« alles andere als einfach. Die Regierung versucht, sie zu instrumentalisieren oder wegzusperren. Und dann gibt es da noch den grausamen Mitternachtszirkus des mächtigen Circus King, der mit Rin noch eine Rechnung offen hat. Doch die größte Gefahr lauert in der Zukunft: Als Mauve, Odette und Rin auf einer ihrer Zeitreisen erfahren, dass ein weiterer Krieg die Welt in den Abgrund reißen wird, wollen sie alles dafür tun, ihn aufzuhalten …
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J.R. Dawson hat einen Master in kreativem Schreiben und unterrichtet Kinder für das Nebraska Writing Collective und andere Non-Profit-Organisationen in der weltverändernden Macht des Geschichtenerzählens und Theaterspielens. Zusammen mit ihrem Lieblingsmenschen und drei Hunden lebt sie in Omaha, Nebraska. »Sparks. Die Magie der Funken« ist ihr erster Roman.
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[Widmung]
[Motto]
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
Dank
Dieses Buch ist für die als Erwachsene kostümierten Kinder,
die die Namen dieser Orte kennen,
die Wärme dieser Familie
und die Schatten dieser Widersacher.
Und für J.
Dies ist eine Liebesgeschichte.
»Ihr Sonderlinge, ihr Rebellen, ihr Träumer, ihr heiteren Gemüter … kommt geradewegs in den Zirkus.«
Werbeplakat für Windy van Hootens Phantastischen Zirkus vom April 1926
Ringmaster, 1926
An einem Dienstag am frühen Morgen rollte der Zirkus in die Stadt ein. Knapp vor der Ortsgrenze schlich sich der angeschrammte Zug auf die Schienen, als die Vögel erwachten und erste Sonnenstrahlen durch die schläfrigen Schatten der in Morgennebel gehüllten Bäume drangen.
Passanten bemerkten seine Ankunft erst, als der Zug schon beinahe an ihnen vorüberrauschte. Auf seinen rot, golden und blau angemalten Waggons stand der Name: Windy van Hootens Phantastischer Zirkus. Die letzten beiden Wagen waren goldviolett gestrichen, ihre dicken Holzbohlen mit Blumenmustern verziert, und rote Gardinen hingen in den Fenstern.
Hier in Des Moines gab es Schienen, auf denen der Zug in den Ort einfahren konnte. An anderen Tagen, in anderen Städten kam der Zug mitten auf einem Feld zu stehen, meilenweit von jedem Bahnhof entfernt. Wie durch Magie.
Aber es war keine, es waren Sparks.
Der Phantastische Zirkus wurde wie andere Zirkusse auch von mageren Anzahlungen, einer sorgfältigen, aber flexiblen Planung und geschickt platzierter Werbung in Gang gehalten, aber diesen besonderen Zug trieb nicht nur sein Spielplan von einem Ort zum nächsten. Er erschien immer zur richtigen Zeit in der richtigen Stadt, und sei es nur für einen einzigen Menschen, der es nötig hatte, eine Aufführung zu sehen.
Zwischen dem Albtraum der Vergangenheit und dem Traum von der Zukunft lag die Gegenwart wie eine Durchgangsstation, in der alle die Orientierung verloren zu haben schienen. Manche erinnerten sich später lebhaft daran, wie ein Besuch im Spark-Zirkus ihr Leben umgekrempelt hatte; andere hätten nicht sagen können, was sie dazu inspirierte, umzudenken und ihr Verhalten zu ändern, aber begonnen hatte es vermutlich an einem Abend im rot-weiß gestreiften Zelt.
Heute, am 8. Juni 1926, war Des Moines, Iowa, an der Reihe.
Als die Stadt erwachte, stand der Zug bereits auf einem Flecken Pachtland unweit der Schienen. Manche Bewohnerinnen und Bewohner ließen die Arbeit liegen und viele Kinder ihre Haushaltspflichten. Sie schauten vom Rand des Geländes zu, wie die Sparks aus den Waggons kamen, um das Chapiteau und die Budengasse zu errichten. Eine von ihnen verwandelte sich in ein Lasttier, ein anderer vervielfältigte sich, um die Arbeit voranzubringen, und eine Dritte stemmte Jahrmarktsbuden über ihren Kopf. Die Stadtbewohner waren ein wenig verängstigt, aber im Lauf des Tages, als überall an den Hauswänden Plakate erschienen und sie mit wachsender Faszination auf das bunte Treiben blickten, wurde ihnen klar, dass ihnen eine seltene Chance auf etwas Außergewöhnliches geboten wurde, also gingen sie allesamt in den Zirkus.
Die Budengasse verströmte die Atmosphäre rauchiger Sommernächte und das Gefühl eines jungen Körpers, der einen steilen Hang hinabrennt. Kreuz und quer über den Köpfen hängende Lichterketten, das melodische Klingeln der Jahrmarktspiele und Zuckerwarenstände erinnerten an ein sicheres Zuhause, nach dem sich alle zurücksehnten, obwohl sie es nie hatten finden können – bis heute.
Ein Kreischen ertönte, und eine Horde Kinder schleifte die dazugehörigen Mütter zu einer hölzernen Rampe. Die Rampe führte in ein Sperrholzgebäude für die Sideshow, die Attraktionen für alle bot, nicht nur für die Männer. Und es wurde kein billiger Flitter geboten. Zwar war der Innenraum aus Brettern und Leuchtfarbe gezimmert, aber er lud Besucher zu aufregenden Erkundungsgängen ein. Mittendrin hüpften lachende Kinder auf einer elastischen Gummibrücke, und ihre Eltern wandelten staunend durch einen Tunnel, der die Illusion erzeugte, sie schwebten im Weltall. Es war alles hölzerne, zahnradgetriebene Mechanik wie aus George Méliès’ kühnsten Träumen.
Das Chapiteau dagegen – das große Zirkuszelt und die eigentliche Attraktion des Abends – war zugegebenermaßen schlicht. Es sah ärmlicher aus als bei manchem anderen Wanderzirkus, den die Stadtbewohner gesehen hatten. In der Hülle waren rotweißes Segeltuch und Nesselstoff sparsam und doch kunstvoll miteinander vernäht. Als Sitze dienten Bänke auf niedrigen Tribünen rund um die von einer lackierten hölzernen Umrandung abgegrenzte Manege sowie ebenerdige Logenplätze für jeden, der nicht die wackeligen Stufen hochkam. Der Boden war trocken und eben, überzog aber die Stiefel, Reifen oder Sonntagsschuhe mit einer zähen Staubschicht, und die zu spärlichen, zu grellen Lampen betonten nur noch mehr, wie schmutzig und abgenutzt das Innere des Hauptzelts wirkte. Es erinnerte eher an eine Scheune als an ein Theater, von Zwirn und Spucke zusammengehalten statt von Nägeln.
Aber das war vorher.
Wenn dann die Lichter erloschen, das Publikum verstummte und ein Scheinwerfer ansprang, erschien Ringmaster hell angestrahlt in der Manege.
In einem imposanten rotsamtenen Mantel stand die Zirkusdirektorin da und blickte in die Tribünen. Mit der goldbraunen Mähne, die bei Hitze strohig wurde, bei Kälte nicht trocknen wollte und Ringmaster stets ins weiße Gesicht fiel – im Sommer verbrannt oder sommersprossig, im Winter leichenblass –, sah sie aus wie eine mittelalte Löwin. Sie hatte erstaunlich schwarze Augen, die mal vor Verheißung strahlten und mal undurchdringlich wurden wie ein schwarzes Loch. Mancher hielt sie für schön, mancher für aufgetakelt, aber allen war klar, dass sie sie auf ein Abenteuer mitnehmen würde.
Wenn sie lächelte, sah es aus, als erblickte sie alles zum ersten Mal. Als hätte sie ihr Publikum gerade erst entdeckt, wäre hingerissen von dem, was sie sah, und wüsste genau, was für großartige Taten sie alle vollbracht hatten und noch vollbringen würden. Das Lächeln war eine Umarmung, der erste Lichtblick in diesem dunklen, staubigen Zelt.
»Willkommen«, sagte sie zu jedem einzelnen Menschen auf den Tribünen. »Willkommen zu Hause.«
Seit sechs Jahren führte Ringmaster durch diese Show, Saison für Saison, von Frühling bis Herbst. Von einem Jahr zum nächsten änderte sich ihr Rhythmus, weil neue Sparks ins Programm aufgenommen wurden, weil die Zirkusfamilie größer und das Zelt immer fadenscheiniger wurde und Ringmaster immer besser verstand, was sie tat. Das durfte sie nämlich nicht vergessen: dass sie wusste, was sie hier tat.
Sie zupfte ihre Manschetten zurecht und verneigte sich, wobei ihr Zylinder in ihrer Hand auftauchte. Ein Raunen ging durch die Menge, und Ringmaster lächelte noch breiter. »Es ist uns eine Ehre, diese kostbaren Stunden mit Ihnen verbringen zu dürfen.« Aus dem Augenwinkel sah Ringmaster die Dolmetscherin ihre Worte in Gebärden übersetzen. Es sah aus wie ein selbstbewusster Tanz. »Bisher mögen wir einander fremd sein. Künftig mögen wir einander nie wieder begegnen. Aber was heute Abend geschieht, daran werden wir uns gemeinsam erinnern. Das verbindet uns. Die Kunststücke, die Sie heute zu sehen bekommen werden, mögen außerweltlich wirken. Aber seien Sie versichert, dass dieser Zirkus nicht weniger real ist als Sie und ich. Wenn wir erträumen, dass etwas schön sein soll, dann ist es schön. Wenn wir das Unmögliche ersehnen, wird es seinen Weg zu uns finden. Wir müssen es nur laut genug wollen.«
Das war das Stichwort für Mr. Calliope. Er war ein Mann ganz aus Röhren und Saiten, und jetzt schlug er sich auf die blechernen Knochen und ließ Akkorde und Kadenzen erklingen. Seine Musik hüllte das Publikum in ein wohldosiertes Crescendo, während die Artistinnen und Artisten für die Eröffnungsparade hintereinanderweg auf die Reitbahn traten und tanzten.
Über ihren Köpfen schlug Kell mit den Flügeln.
Tina, eine Menagerie für sich, verwandelte sich von einem Tier in das nächste.
Die feuerspeiende Bogenschützin, die schwebenden Akrobaten, die wachsenden und schrumpfenden Clowns – all das war wie ein Traum.
Ein wogender, fliegender, singender Traum, vom Jubel des Publikums getrieben. Ringmaster konnte jenseits des Scheinwerferlichts keine Gesichter erkennen, aber sie spürte die Energie, die aus den Tribünen in die Manege strömte.
Es war wie ein Wunder.
Ringmaster breitete die Arme aus, als wollte sie das gesamte Publikum umarmen. »Heute Abend feiern wir! Wir feiern uns und euch und was wir gemeinsam erreichen können!«
Auf dieses Stichwort schwang sich Odette in die Luft über der Manege, die Trapezkünstlerin mit dem blonden Bob, die wie eine Porzellanpuppe aussah. Neben ihr trat Mauve auf eine Plattform, violette Seide um die umbrabraunen Schultern geschlungen, und ließ ihre Stimme so virtuos erklingen wie eine Meisterviolinistin. Sie traf jeden Ton und schwang sich von einem zum nächsten, während Odette am Vertikaltuch tanzte.
Ringmaster liebte es, Odette so freudig zu sehen. Sie trug ihr Glück zur Schau wie ihre Paillettenkleider – funkelnd, strahlend, mit jeder Bewegung das Licht widerspiegelnd, als wäre sie ein Stern, der darauf brennt, sich mit der dunklen Welt zu verbinden. Odette hatte eine gütige, hoffnungsvolle Seele. Und Ringmaster hatte das Glück, ihr Herz in der Hand zu halten.
Ringmaster lief zu der Stelle, an der Odette sich herabsenken würde. Sie nahm das untere Ende des Tuchs und versetzte es in eine Drehbewegung, während Odette hoch oben tanzte. Der Scheinwerferstrahl huschte durch den Staub und richtete sich auf die beiden; ihre losen Haarsträhnen glommen wie goldene Kronen.
Jetzt hielt Ringmaster das Tuch fest, und Odette wirbelte im Kreis. Die Eröffnungsparade verschwand nach und nach aus der Manege, nur Mauve sang hoch oben weiter. Ringmaster wusste, dass die anderen sich für ihre Einzelauftritte bereit machen mussten. So lange gehörte die Bühne Odette.
Hier und jetzt, im Schatten von Odettes Liebe, fand Ringmaster das Leben, auf das sie nie hatte hoffen dürfen. Mit dem Tuch in den Händen stellte sie sich vor, wie sie auf einem Berghang zu Tal blickte, um zu sehen, wie weit sie gekommen war. Zu Beginn ihres Aufstiegs hätte sie sich die herrliche Aussicht nie träumen lassen. Und sie wusste kaum, wie sie es hierhergeschafft hatte, wann sie erwachsen geworden war und sich mit einer wachsenden Schicht stetiger Güte umgeben hatte. Sie schrie nicht mehr herum. Wachte morgens nicht mit dem Gefühl auf, dass nur ein Stück Pappe sie vom Asphalt ihres Lebens trennte.
In Städten des Mittleren Westens gab es immer eine Straße voller Schlaglöcher, Risse und Unkraut. Eine schattenlose Straße, auf der sich die Hitze staute wie ein öder Sonntag vor einem anstrengenden Montag. Wo man Durst bekam und wusste, dass man kein Wasser finden würde. Genau so hatte sich Ringmasters Leben angefühlt – wie eine kratzige Wollweste aus Sonntagnachmittagen.
Doch jetzt begann sie, sich an das Glück zu gewöhnen.
Odette glitt an dem Tuch herab, senkte sich langsam, beinahe sinnlich in Ringmasters hochgereckte Arme.
»Du machst das großartig, Rin«, flüsterte Odette.
Rin wurde sie von denen genannt, die sie am besten kannten, und ihre Frau kannte sie besser als G’tt.
Rin umfasste Odettes feste Hüften und spürte die rauen Paillettenreihen unter ihren Fingern. Odette lächelte, ihre rosigen Wangen mit Schweißperlen bedeckt, und lachte leise auf, als im Publikum der Applaus losbrach. Rin hatte beinahe vergessen, dass sie nicht allein im Zelt waren.
»Gute Arbeit«, flüsterte Rin.
»Lieb dich«, sagte Odette, drückte ihr die Hand, lief in elastischen Sprüngen zum Manegenrand und winkte enthusiastisch. Sie verbeugte sich. Rin spürte einen Stich in der Magengrube. Wäre sie ein Mann oder wäre Odette ein Mann, dann könnten sie sich vor allen Leuten küssen. Das hätte die Leute sogar begeistert. Sie hätten gejohlt und gepfiffen, während sich die beiden noch enger aneinanderpressten.
Aber so fest die Liebe sie auch verband, musste Rin doch darauf achten, dass sie sich im Scheinwerferlicht nie zu nahe kamen.
Das Publikum liebte sie beide, die Magie zwischen ihnen, wie besonders sie waren. Aber ein Kuss hätte den Zauber gebrochen, und die Leute hätten begriffen, dass diese Magie nicht Teil der Show war. Sie war echt, und nichts gegen Andersartige, aber ihre Toleranz hatte Grenzen.
Dieselben Menschen, die den Sparks im rot-weißen Zirkuszelt applaudierten, konnten sie auch in die Sanatorien schicken, in die jene leuchtend gelben Wagen fuhren. Denselben Menschen, die sich hier am Licht der Scheinwerfer wärmten, fiel zu Hause vielleicht wieder ein, was man ihnen gepredigt hatte: Die Sparks seien nicht besonders, sondern Freaks. Und wenn die Freaks nicht bis zum nächsten Morgen die Stadt verließen, formierte sich eine wütende Meute.
Rin wusste, dass ihre Aufführungen eine Gratwanderung waren.
Aber das Lächeln ließ sie sich deshalb nicht nehmen. Und Rin strahlte. Sie hatten sich mit diesem Zirkus ein Zuhause geschaffen, in einer Welt, die ihnen kein Zuhause gönnte.
Aber es würde ihr alles wieder entrissen werden.
Während Rin lächelnd in die Runde schaute, spürte sie von jenseits des Scheinwerferlichts einen kalten, harten Blick. Es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter. Erstaunlich, wie schnell die Angst wieder da war. Wie mühelos sich die Vergangenheit in die Gegenwart drängte.
Rin konnte nur einen Moment lang einzelne Gesichter erkennen, als der Scheinwerfer zu Mauve hinüberschwenkte, die soeben auftrat. Rin sah die üblichen Gäste – Familien mit Kindern, junge Paare. Staunende alte Frauen und alte Männer, die mit den Tränen kämpften. Doch mitten dazwischen war noch jemand. Stand hoch aufgerichtet da und starrte sie an.
Vertraute dunkle Brauen. Scharfe, wütende Blicke. Ein gefährlicher Mann. Der Circus King.
In ihr verkrampfte sich alles. Rin wartete ab, während das Scheinwerferlicht weiterhuschte. Doch als es ein zweites Mal dieselben Plätze erhellte, war er verschwunden.
Er war nicht da. Sie ließ ihn Orte in Beschlag nehmen, die er nie erreichen würde. Es war ein Phantom gewesen, eine Sinnestäuschung. Es war nicht real.
Ich werde dich finden. Ich werde dich finden, und dann werde ich dich zerstören.
Die Show ging weiter.
Sie durfte sich nicht von ihren Erinnerungen verunsichern lassen. Sie durfte sich das hier nicht nehmen lassen. Er gehörte nicht hierher. Sie hatte ein neues Leben begonnen, weit weg von ihm und von allem, was er je gesehen hatte. Das hier war ihre Geschichte. Es war ihr Zirkus, voller regenbogenbunter Lichter, voller glitzernder Pailletten und anmutiger Pferde, die sich in anmutige Frauen verwandeln konnten, die wie Tauben durch die Lüfte flogen.
Es war ihr Zuhause.
Am Ende der Show, zu Mr. Calliopes triumphalem Schlussakkord, erstarrten die Sparks in ihren letzten Posen zum Standbild. Im nächsten Moment schalteten drei Kopien von Maynard die Lichter aus – die Spots, das Lichtpult und den einen aufsässigen Profilscheinwerfer, der dem Pult nicht gehorchte. Die Artistinnen hatten fünfzehn Sekunden Zeit, unter Applaus in der Dunkelheit zu verschwinden, also huschten sie so schnell hinter die Bühne, wie sie am Anfang hervorgestürmt waren.
Als die Lichter wieder angingen, schaute Rin den Zirkusgästen zu, wie sie auf dem Weg aus dem Zelt noch die Requisiten und Aufbauten untersuchten, ob es nicht Hinweise auf irgendwelche Tricks gab. Manche Zirkusse erlaubten es ihren Gästen nicht, nach der Aufführung die Manege zu betreten, aber für Rin war es ein allabendliches Ritual: Wie nach einem Baseballspiel ergossen sich die Menschen auf die Bühne, berauscht und belebt von dem, was sie gesehen hatten. Echte Magie war nun mal starker Tobak.
Aber heute war eine junge Frau darunter, die sich nicht für die Bühnenaufbauten interessierte. Sie schaute über die Manege und die Reitbahn hinweg direkt zur abseits stehenden Rin.
Das Mädchen trug ein schlecht sitzendes rotes Kittelkleid. Ihre Augen wirkten so leer wie die einer Puppe. Und das Kleid war nicht ihres; es war Rins. Rin hatte es vor langer Zeit abgelegt und zurückgelassen, und jetzt war es hier, wiederauferstanden, ein wandelndes Omen. Eine Drohung.
Etwas in ihr drängte Rin, sich von dem Mädchen abzuwenden, zu fliehen. Wenn sie Kontakt aufnahm, würden ihre säuberlich getrennten Welten kollidieren. Die Fassade würde in sich zusammenbrechen. Und ebendeshalb musste sie vortreten.
»Hallo?«, fragte Rin. »Ist alles in Ordnung?«
Das Mädchen lächelte. Wie eine Marionette mit zu vielen Fäden, die an ihren Mundwinkeln zogen, an den Augenwinkeln, bis ihr Gesicht aussah wie … seins.
»Hier bist du also«, flüsterte das Mädchen.
Es war doch keine Täuschung.
Ringmaster rechnete damit, dass das Mädchen ein Messer ziehen würde. Auf sie losgehen würde. Sich selbst verletzen würde. Dass sie irgendetwas Gewalttätiges, Unvorhersehbares tun oder vor Wut toben würde.
Aber das tat die junge Frau nicht. Sie wandte sich ab und ging.
Bevor Rin reagieren konnte, nach ihr rufen oder ihr folgen konnte, war sie in der Menge verschwunden.
»Warte!« Rin hörte ihre eigene Stimme wie aus der Ferne. »Warte …«
Es wäre alles einfacher gewesen, hätte das Mädchen sie niedergestochen, sie geschlagen oder irgendetwas. Rin erinnerte sich an die vertraute Situation, dass er nur schweigend auf sie herabblickte. Er hatte dann gelächelt, sich an ihrer Angst geweidet, während sie darauf wartete, dass er etwas tat, etwas sagte. Aber er hatte es nicht nötig gehabt, irgendetwas zu tun; er hatte gewusst, dass sie ihm gehörte. Und hatte sie zappeln lassen.
Rin bekam keine Luft. Sie stolperte rückwärts, und als sie die Balance verlor, fing Odette sie auf.
»Rin, Liebste, was hast du? Was ist?«
Rin schüttelte den Kopf und blickte sich ängstlich um. Er war hier. Er war hierhergekommen, in ihr Zuhause. Er war in ihrem Zirkus gewesen.
»Er weiß, dass ich noch lebe«, sagte sie.
Edward, 1916
Niemand weiß, woher der Spark kam. Aber er kam während des Krieges.
Edward erlebte mit, wie alles anfing, weil er mit seinen siebzehn Jahren an der Westfront in einem Schützengraben festsaß. Er wusste nicht, was er da erlebte, denn er verstand nichts von Sparks. Vom Krieg hatte er eine ganze Menge zu verstehen geglaubt, als er aus London an die Front aufbrach. Es war ein Irrtum gewesen.
Er hatte geglaubt, ihn würde der Ruhm erwarten. Er würde zum Helden werden. Er hatte im Haus seines Stiefvaters zum Fenster hinausgeschaut, überall unter der Kleidung mit blauen Flecken übersät, hatte die stolzen, kampfbereiten Jungs auf den Straßen marschieren sehen und geglaubt, das sei der Anblick der Freiheit. Das sei der Anblick der Macht.
Sie hatten ihm gesagt, er solle einen Graben ausheben und sich hineinsetzen, dann erwarte ihn Ruhm.
Aber sie hatten gelogen.
Edward hatte begriffen, dass wahrhaft mächtige Männer Schrecken verbreiteten, statt darin zu ertrinken. Es war nicht richtig, die Böden aufzureißen. Es war nicht richtig, junge Männer in die Löcher zu werfen und sie dort warten zu lassen, bis sie verschüttet wurden. Er fand sich in einem tiefen, tiefen Graben wieder – nicht tot und doch von allem abgeschnitten, was er als Leben kannte. Die Felder ringsum waren still und dann nicht mehr. Irgendwo jenseits des Sichtfelds näherte sich das Pfeifen und Donnern von Maschinengewehren und Granaten.
Er bekam keine Luft. Die Gerüche in der schlammigen Luft brachten ihn zum Würgen: das Blut und der Schweiß der Männer, die aufgerissene, zerbombte Erde, das verflüssigte Fleisch toter Ratten. Schießpulver, Tabak und Pisse. Oben Flugzeuge. Unten Scheiße.
Ein Stück entfernt hörte er zwei Kameraden im Graben Karten spielen und lachen. Über ihn lachen, genauer gesagt.
Er passte offenbar nicht dazu. Wie immer. Am ersten Tag, auf dem Bahnsteig der King’s Cross Station, waren alle von Freunden und Familie verabschiedet worden. Außer Edward. Und nach dem Einsteigen, auf dem Weg in ein verlogenes Abenteuer, wurde Edward auch von niemandem begrüßt. Alle hatten sich zusammengefunden, als alte Freunde oder neue Bekannte, die anscheinend aus demselben Buch gelernt hatten, wie man sich verhält. Edward hatte sich fremd gefühlt, meterweit abseits und unsichtbar.
Unsichtbar wäre er jetzt sogar gern gewesen. Inzwischen wussten die anderen, dass er schwach war, leicht zu reizen und noch leichter zum Weinen zu bringen.
Da ist es verständlich, dass er kaum registrierte, was als Nächstes folgte … als einer der vielen Jungen in Atemschutzmasken den Graben erweiterte und unter dem Spaten ein Funken aufstob wie von einem Feuerstein. Etwas Kleines, Weiches (oder war es klein und hart?) leuchtete auf wie ein Blitzstrahl. Dann erhob es sich wie ein Geist aus dem geöffneten Grab in die Luft dieses Krieges.
Es war der Spark. Was Edward allerdings nicht wusste. Und auch sonst niemand.
»Oi! Eddy!«, rief einer der anderen Jungen. »Wallace hat dich ganz schön rangenommen gestern, was?«
Edward atmete tief ein und wandte sich um. »Nenn mich nicht Eddy.«
»Oh-hoooh!«, höhnten die Jungen.
Die würden sich noch umsehen, wenn sie wieder zu Hause waren, dann würde …
Alles um ihn herum explodierte.
Ein Pfeifen vor dem Einschlag. Dann Donner. Schreie. Das Ende der Welt.
Es knackte in Edwards Ohren. Etwas spülte in ihm hoch, vom Boden durch seine Zehen zum Herzen und bis in die Fingerspitzen. Die Erde warf sich gen Himmel, und Dinge zerbrachen, die nie wieder heil werden würden.
»Gas!«, brüllte jemand.
Edward landete im Schlamm. Er fühlte nichts mehr. Regte seine Glieder. Was war passiert? Er war unverletzt, konnte sich bewegen. Nicht an die Gefahr denken, nur an die nächsten Schritte.
Doch dann war da die Granate. Wie eine riesige Babyrassel landete sie dumpf auf dem Boden des Schützengrabens. Rollte in eine Pfütze, und Gas zischte heraus. Ein gelber Spuk, der ihre Seelen holen wollte. Die Jungen sprangen aus dem Graben in die Schlacht, stürzten schreiend und heulend in den Schlamm zurück, und das Gas umschloss sie, drang in sie ein. Sie zuckten. Sie starben. Das Gas zerriss sie von innen, eine grauenerregende chemische Vernichtung.
Mit einem Aufschrei kam Edward auf die tauben Füße. Blutiges Wasser spritzte ihm ins Gesicht. Er musste die Maske aufsetzen. Er griff danach, sah die Gaswolke näher gleiten wie eine apokalyptische Lawine. Aber als er die Maske überstülpte, fehlte das stickige Gefühl, die beschlagenen Augengläser … der Schlauch.
Er betastete ihn.
Der Schlauch war gerissen.
»Meine Maske!«, schrie er, schleuderte sie von sich und sah die Welt wieder klar. Er rannte. »Meine verdammte Maske! Gebt mir eine Maske!«
Und in einem Akt der Selbstlosigkeit, den Edward so schnell nicht erfassen konnte, gab ihm Nathan seine eigene Maske.
Edward packte sie und zog sie im Laufen über. Gas wallte. Geschosse und Körper barsten.
Auch andere flohen, rannten in die Schlacht, statt hier unten ihre Lungen von der Säure zersetzen zu lassen. Aber dann zersplitterten sie. Wie ein Bombenanschlag beim Metzger.
Die Panzer rückten näher. Dichter Rauch mischte sich mit deutschen Befehlen, britischen Bitten um Gnade, mit schönen, deplatzierten französischen Worten, mit dem Keuchen und Sterben und dem Mädchen in dem blauen Kleid mit den großen Augen, das …
Halt.
Edward blinzelte. Das musste eine Halluzination sein.
Nein, da war wirklich ein blau gekleidetes Mädchen mit zwei geflochtenen Zöpfen und weißen Wangen, das ihn aus weit aufgerissenen Augen ansah. Sie stand knöcheltief im Schlamm, und sie schien benommen zu sein, unter Schock.
»Aide-moi!«, schrie er durch die Maske. Aber sie antwortete nicht. Keine Französin? »Wie bist du hergekommen?« Er sank auf die Knie, von Schweiß und Angst durchtränkt. »So tu doch was! Hol mich raus hier! Steh nicht nur so da!«
Als sie das hörte, wichen alles Zögern, alle Angst aus ihrem Blick. Das Mädchen lief auf ihn zu wie eine geschulte Lazarettärztin. Sie hob die Hand und legte sie ihm auf die Schulter.
Alles verschwand.
Ein Platzen, ein Leuchten.
Edward stand im weißen Sand, und vor ihm und dem Mädchen sank die Sonne dem Horizont entgegen. Wellen umspülten in einem beruhigenden Rhythmus seine schmutzverkrusteten Stiefel. Über ihm schwankten Palmen. Hinter ihr überwucherte Urwald steil aufragende Berge. An ihren Hängen sah Edward Wasserfälle sich hinunterstürzen und in Nebel auflösen. Wie eine Stadt aus Wolken.
Edward wurden die Knie weich, und er brach zusammen.
»Ich bin tot«, murmelte er in seine Maske.
Das Mädchen kniete sich neben ihn und nahm ihm die Maske ab. Er hielt die Luft an, begriff dann aber, dass das Unsinn war. Sie lebte schließlich auch noch, und das hier war nicht Frankreich. Es konnte nicht Frankreich sein.
»Was zum Teufel passiert hier?« Er wollte vor ihr fliehen, aber seine Beine ließen ihn im Stich. Zitternd und schluchzend hockte er im Sand. »Wo sind wir?«
Das Mädchen musterte ihn. Sie zitterte auch, aber ihre Stimme klang ruhig. »Wo waren wir?«, fragte sie. Dieser Akzent. Das klang nicht britisch. Klang nicht französisch.
»Du bist Amerikanerin«, sagte er schwach. »Wie bist …«
»War das der Krieg?«, fragte sie.
»Äh, ja?«
Sie riss die Augen weit auf. »Ich … habe mich plötzlich so anders gefühlt, so als wäre ich ganz schnell auf dem Fahrrad den Hang runtergefahren, dabei saß ich zu Hause. Und dann … war ich nicht mehr zu Hause. Was ist passiert?«
»Du fragst mich, was passiert ist?«, rief Edward aufgebracht. »Was hast du verdammt nochmal getan?«
Sie schüttelte heftig den Kopf, und er erkannte, dass sie genauso verängstigt war wie er. »Ich weiß es nicht. Ich habe bloß an einen ruhigeren Ort gedacht als da, wo wir eben gerade waren. Hier wollte ich schon immer mal hin.«
»Also ist das hier echt?«
»Es ist eine Insel in Polynesien«, sagte sie.
»Wir sind – was hast du gesagt – in Polynesien?«, krächzte er heiser. »Bist du jetzt auch noch ein Passagierschiff?«
»Nein, nein, ich … ich weiß auch nicht, wie das … passiert ist. Das habe ich noch nie … Ich wusste nicht mal, dass man so was …« Ihre Augen wandten sich von der friedlichen Szenerie ab, und sie senkte besorgt den Blick. »Ich weiß gar nicht, was ich jetzt tun soll. Meine Mutter … Ich muss zu meiner Mutter zurück.«
»Wo ist deine Mutter?«
Sie blickte in den Wipfel einer Palme. Ihre Unterlippe zitterte. »In New York«, sagte sie.
Eine Weile blieben sie im hellen Strandsand sitzen. Das ergab alles keinen Sinn. Vielleicht war er doch tot. Vielleicht sie auch. Aber es schien nicht sehr wahrscheinlich. Er trug immer noch seine schlammigen Stiefel. Im Jenseits müssten doch die Stiefel zumindest blank sein.
»Ich heiße Edward«, sagte er.
»Ich heiße Ruth«, sagte sie leise.
»Wie alt bist du?«
»Fast sechzehn.«
»Ich bin siebzehn«, sagte er. »Du siehst jung aus für fünfzehn.«
»Und du alt für siebzehn.«
Dann schwiegen sie wieder zum Geräusch der Wellen. Das Wasser schien allmählich zu steigen. Niemand kam sie holen. Sie waren allein. Er betrachtete den Sonnenuntergang, und nach einer Weile bemerkte er, dass sie dasselbe tat.
»Du hast mich ausgewählt«, sagte er schließlich, als auf ihren Zügen die Orange- und Violetttöne eines Abschieds tanzten. »Warum hast du mich mitgenommen?«
Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie es selbst nicht glauben. Doch dann sagte sie mit erschütterndem Ernst: »Ich hatte das Gefühl, du bräuchtest meine Hilfe.« Sie biss sich auf die Lippe. »Bestimmt gehört dieser Strand irgendjemandem. Wir sollten gehen. Wir sollten nach Frankreich zurück und versuchen, die anderen zu retten.«
Das wäre denkbar. Aber in Edward verkrampfte sich alles. Er wusste genau, dass er keinen Finger würde rühren können, wenn er dort wäre. Dass er nicht mehr er selbst sein würde. Und wenn ihn das Gas oder ein Panzer erwischten, würde er sterben.
Er nahm Ruths Hand. »Nein, bitte«, sagte er. »Nein, vergiss die anderen. Wir können da nicht hin. Es ist zu gefährlich. Bring uns nach New York.«
Ruth schaute ihn an. Sie hatte so ein liebes Gesicht. Sie konnte seine Angst verstehen. Ohne ein Wort drückte sie seine Hand. Sie schloss die Augen, und er auch. Er schnappte nach Luft, als er spürte, wie die Sonne verschwand. Wind fuhr in sein Haar.
Dann war da nur noch der menschenleere Strand.
Ringmaster, 1926
Der Krieg war seit vielen Jahren vorüber. Die Trauer war Alltag geworden. Also waren die Zirkusse wiedergekommen.
Und mit diesen Zirkussen hatte Ringmasters Existenz begonnen.
Daran musste sie sich jetzt erinnern, als sie ohne Odette und Mauve im Dunkel des Begleitwagens saß. Sie musste sich daran erinnern, dass alles anders war als bei ihrer letzten Begegnung mit ihm. Es waren Jahre vergangen. Sie hatte mehr dazugelernt als die meisten.
Ihr Blick fiel auf die Lücke zwischen dem Bett und der Wand. Es wäre falsch, nach dem zu greifen, was darin versteckt lag. Sie brauchte es nicht; sie war auch so stark genug. Aber musste sie immer stark sein?
Sie zog den Flachmann aus seinem Versteck. Schraubte den Deckel ab. Aber irgendetwas hielt sie davor zurück zu trinken. Sie hatte Odette versprochen, sich zu bemühen.
Es wäre eine Erleichterung, wenn der Alkohol ihr den Kopf vernebelte und ihre sirrenden Sorgen dämpfte. Rin stand mit einem Fuß in schmerzhaften Erinnerungen und mit dem anderen in ihrer Angst vor der Zukunft und versuchte den Spagat, in der Gegenwart geistig gesund zu bleiben.
Wenn sie nur einen kleinen Schluck nahm, nur ein bisschen, könnte sie atmen. Es war nicht der Alkohol, der sie verlockte, sondern das, was er ihr versprach: Seelenfrieden und dann den Schmerz, den sie verdiente.
Aber sie schraubte den Deckel wieder fest. Nüchtern starrte sie auf die Flickendecke, auf der sie saß, den Rücken an die Wand gelehnt. Vor dem Fenster zog die Landschaft vorbei – weit von Des Moines entfernt, fuhren sie jetzt aus Richtung Westen nach Omaha. Sie hatte den Zirkus nach Kearney geflogen, von wo er auf den Schienen dahinrollte wie ein ganz normaler Zug, ein echter Zug, nichts dabei.
Es würde alles gut werden, sagte sie sich.
Sie war nicht mehr die Frau, die er kannte. Sie hatte ihm sogar vorzugaukeln versucht, dass sie tot sei. Für immer unerreichbar.
Die Vergangenheit gehörte dem Krieg und dem Mann, der eine Zeitlang ihre Lebensgeschichte geschrieben hatte. Aber sie hatte sie sich zurückgeholt, hatte sich mit schützender Liebe und Schönheit umgeben, bis sie zwar nicht wie neu war, aber wiederhergestellt. Wie ein restauriertes altes Möbelstück: ungebrochen und für eine neue Aufgabe bereit.
Aber zurückgeholt und wiederhergestellt oder nicht, Rin musste trotzdem mitsamt ihrem Zirkus flüchten. Sie hatten einen John Robinson hingelegt und das Spätprogramm in der Budengasse abrupt beendet. Es war alles glattgegangen, wie bei den Übungen, mit denen Rin ihre Crew auf etwas vorbereitet hatte, von dem sie selbst nicht hatte glauben wollen, dass es je eintreten würde. Rasch hatten sie die letzten Zirkusgäste vom Gelände komplimentiert. Maynard vervielfältigte sich, packte die Zelte, die Sideshow, die Jahrmarktsbuden, das Kassenhäuschen zusammen und verstaute alles in den vierzehn Waggons hinter der robusten Mountain-Dampflok. Mr. Weathers, der Lokomotivführer, brachte mit dem Feuerwerker Francis und Yvanna den Kohlekessel zum Glühen. Sobald alle an Bord waren, schoss der Zug in die Nacht hinaus. Als er seine Reisegeschwindigkeit erreichte, hatte Rin ihren Spark benutzt und mit äußerster Konzentration den ganzen Zug von Des Moines auf die Schienen westlich von Lincoln versetzt, von wo er ostwärts in Richtung Omaha rauschte.
Jetzt blieb ihnen nur noch das Warten. Die Ungewissheit der dunklen Weite da draußen. Über ihnen der Himmel Nebraskas, um sie herum kahle schwarze Felder, die unsichtbar jenseits der Zugbeleuchtung lagen.
Du hältst dich für clever. Aber ich bin immer der Clevere von uns beiden gewesen. Ich weiß, dass du Angst hast.
Rin schob mühsam ihre alten Knochen vom Bett herunter, biss die Zähne zusammen, als sie Gewicht auf ihr schlimmes Bein brachte, und hielt noch immer den Flachmann umklammert. Mit steifen Fingern fuhr sie über das glatte schwarze Metall.
Sie hatte Odette versprochen, es nicht zu tun, vor mittlerweile sechs Jahren.
Odette und Mauve mussten auf dem Weg zum Begleitwagen sein. Sie fragten herum, ob alle schon im Speisewagen gewesen waren, denn der Zirkus hatte vor dem gemeinsamen Abendessen die Zelte abbrechen müssen. Die beiden konnten jede Minute eintreffen, um die Aufführung in Omaha vorzubereiten. Aber Rin fühlte sich, als wären sie tausend Jahre und abertausend Meilen entfernt.
Mauve und Odette kannten den Circus King nicht. Sie hatten nur seinen Namen gehört, seine Plakate gesehen. Sie kannten die Geschichten. Aber sie hatten ihm nie Auge in Auge gegenübergestanden. Rin hatte ihn nicht nur gekannt, sie hatte ihn geliebt.
Sie spürte das Gewicht der schmalen schwarzen Flasche in ihrer Hand. Manchmal hielt Ringmaster sich für stark, und manchmal würde sie sich am liebsten in nichts auflösen.
Du bist ein Nichts.
Rin hörte noch immer die monotone Stimme des Mädchens flüstern. Hier bist du also.
Der Circus King hatte sie für tot gehalten; sie hatte ihren Namen auf einem Grabstein zurückgelassen, um ihn zu täuschen. Vor Jahren hatte sie auf einem Friedhof in Chicago ihre Wunden ausgebrannt und versiegelt. In den Augen der Welt war sie damals gestorben. Sie hatte losgelassen, neu begonnen, es noch einmal versucht. Und auch wenn ihr klar war, dass dieser Trick sie vielleicht nicht für immer beschützen würde, hatte sie nachts wieder schlafen können.
Eine Zeitlang hatte es funktioniert, aber jetzt wusste er Bescheid: Er hatte sich geirrt, und sie war quicklebendig.
»Rin?«
Odette und Mauve erschienen auf der Schwelle, hinter ihnen die Einstiegsplattform und die dunkle Nacht. Die Metalltür schloss sich mit einem lauten Klacken.
Odette bemerkte den Flachmann. Rin atmete scharf ein und gab ihn ihr. Odette kniff die Lider zusammen.
»Ich hab’s nicht getan«, sagte Rin.
Rin wusste, dass Odette ihr glaubte. Trotzdem ging Odette mit der Flasche vor die Tür, und, ohne es zu sehen, wusste Rin, dass sie den Inhalt auf das vorüberhuschende Gleisbett leerte.
»Rin«, sagte Mauve noch einmal. »Bist du bereit?«
Sie musste bereit sein. Eine Show war vorbei, und morgen Abend wurde es Zeit für die nächste. Es war kurz nach Mitternacht, also würden sie Omaha schon bald erreichen. Sie konnten planen und noch ein wenig schlafen, dann mussten sie aufstehen und die Jahrmarktsbuden von den Flachwagen abladen. Das versetzte sie normalerweise alle in freudige Erwartung wie der Sonnenaufgang an einem wolkenlosen Morgen.
Rin blickte aus dem hinteren Waggonfenster, über das Geländer am Zugende hinaus, als erwartete sie, dass er ihnen folgte.
»Wir haben gewusst, dass das irgendwann passieren würde«, sagte Odette leise.
»Und jetzt ist es passiert«, sagte Rin.
»Wir lassen uns von ihm nicht den Spaß verderben«, sagte Odette. »Das hier ist nicht sein Zirkus. Er kann uns nicht einschüchtern.«
»Er ist mächtiger geworden«, sagte Rin.
»Warum denkst du das?«, fragte Odette.
»Weil ich mächtiger geworden bin«, sagte Rin und schaute Odette in die Augen. Sie hoffte, dass sie im Halbdunkel standhaft aussah, stabil und unerschrocken. »Ich bin stark, wenn auch nur stark genug, um ihm zu entwischen.«
Odette griff mit einer behandschuhten Hand nach Rins. Selbst nach all den Jahren durfte sie Rin nicht mit bloßen Händen berühren, außer wenn sie sie heilte. Denn der einzige Unterschied zwischen Odettes Spark und dem des Circus King lag in ihrer Güte.
»Wir schaffen das gemeinsam«, sagte Odette. »Du bist nicht allein.«
Das machte alles nur schlimmer. Denn Rin hätte niemanden in diese Sache mit hineinziehen dürfen.
»Wenn er kommt«, sagte Rin, »dann kümmere ich mich um ihn. Ihr beiden müsst mit dem Zirkus verschwinden.«
Mauve strich Rin über das Haar. »Wenn du für unsere Sitzung nicht fit bist, lassen wir es für heute gut sein. Odette und ich können uns um alles kümmern.«
»Nein«, sagte Rin. »Lass uns anfangen.«
Wie du wieder lügst, mein Spätzchen. Du zitterst vor Angst, das weiß ich. Und ich komme.
»Also los«, sagte Rin.
Sie setzten sich zu dritt nebeneinander aufs Bett: Odette, die sie am Leben hielt und zusammenschweißte. Mauve, die Zahlenjongleurin und Navigatorin. Und Ringmaster, die ihr Bestes gab, um den Laden zu leiten.
Die letzten beiden Waggons dienten als Wohnquartier und Büro der Zirkusleitung, und hier im Begleitwagen war ihr Rückzugsort. Der Zug war lang – Gestänge, Jahrmarktsbuden und Leinwand wurden auf Flachwagen verzurrt, für die Artisten gab es Schlafwagen, und im Frühjahr hatten sie sich von etwas Erspartem sogar einen Speisewagen dazugekauft. Es war recht komfortabel, ihr vierzehnteiliges Zuhause auf Rädern.
Auf Odettes und Rins Bett, das mit seinen bunten Flickendecken die Geschichte ihrer gemeinsamen Jahre erzählte, setzten sie sich jetzt in den Schneidersitz und atmeten tief ein und aus. Mauve schniefte, um die Nase freizubekommen, dann blickte sie starr geradeaus, als wäre vor ihrem inneren Auge ein Filmprojektor angesprungen. Sie kniff die Lider zusammen, als blätterte sie in einer Enzyklopädie auf der Suche nach einem Eintrag, den sie brauchte und nicht finden konnte.
Die Zeitreisende war Mauve deutlich anzusehen; ihre Frisur lag irgendwo zwischen der aktuellen Mode und dem »Pagenschnitt«, den sie aus der Zukunft kannte. Fingerlocken rahmten ihr zartes braunes Gesicht. Im Augenblick lächelte Mauve nicht, aber wenn sie es tat, dann strahlte sie, mit perfekten Zähnen und einem ansteckenden Lachen. Sie hatte volle, runde Wangen und tiefbraune, warme Augen, mit denen sie in die Welt sah, als wäre sie gerade erst frisch dort eingetroffen und von allem begeistert. Dabei war sie nicht naiv; sie kannte die Welt schon eine Weile und auch von ihrer hässlichen Seite. Und trotzdem betrachtete sie das Leben wie etwas, das sich zu betrachten lohnte.
Mauves Spark bestand darin, dass sie die Vergangenheit und die Zukunft wie in einem offenen Buch vor sich ausgebreitet sehen konnte. Das war viel für einen einzelnen Menschen. Manchmal befürchtete Rin, Mauve könnte sich in der Zeit verlieren, wenn sie alles auf einmal vor Augen hatte. Aber vielleicht laufen gerade die am meisten Gefahr davonzutreiben, die sich am meisten festzuzurren versuchen.
Odette wiederum wirkte wie ein ätherisches Wesen, dabei war sie körperlich stark und seelisch belastbar. Rin hatte mit den Jahren herausgefunden, dass Odette nicht nur um ihrer selbst willen durchhielt, sondern auch um ihretwillen, auch für Rin.
Etwas regte sich in Rin; eine Wärme breitete sich aus wie an einem sommerlichen Lagerfeuer. Odette war schön. Selbst in dieser bedrohlichen Nacht voller Dunkelheit und Gefahren umgab sie ein Leuchten. Sie war eine, die nie aufgab, die keine Angst hatte, die wusste, wie man liebt. Sie war Rins schönste Geschichte.
Sie wird dich verlassen. Und ich werde dich finden.
Die Eiseskälte der Liebe, die er sie gelehrt hatte, verdrängte das Versprechen ihrer Ehefrau. Rins Gehirn versuchte ihr einzureden, Odette sei nicht real. Odette war einfach zu gut, um wahr zu sein. Der Circus King war zu schrecklich, als dass man ihn hätte erfinden können.
»Oh«, sagte Mauve in diesem Ton, in dem sich New Orleans und der Mittlere Westen mischten. Ihre Kindheit mit ihrem Erwachsenenleben. Sie tastete neben sich und griff in eine Tüte Cracker Jacks. Immer noch starr geradeaus blickend, stopfte sie sich die Knabberei in den Mund. »Okay, ich sehe sie.«
Am Vortag jeder Aufführung entdeckte Mauve einen Menschen – ihren »Ehrengast«, wie sie es nannten –, dessen Leben sich ändern konnte, wenn er oder sie nur den entscheidenden Funken Hoffnung spürte, die nötige Magie erlebte. Nach Mauves Angaben reimten sie sich zusammen, was der Ehrengast zu sehen bekommen musste, und bauten es in den Ablauf der Show ein. Eine Woche zuvor war es ein Veteran namens Henry Dodds gewesen, am gerade vergangenen Abend ein Mann, der hoffentlich trotzdem bekommen hatte, was er brauchte, obwohl der Circus King sich in Rins Bewusstsein gedrängt hatte.
So nannte er sich: Circus King, der König des Zirkus. Seine Zelte waren mitternachtsschwarz, seine Plakate blutrot, und seine Mannschaft bestand aus Sparks, die er unter seiner Kontrolle hatte. Wenn die schwarzen Zelte in einer Stadt aufgeschlagen wurden, geschahen schlimme Dinge. Dem Windy van Hootens stand noch Schlimmeres bevor.
Mauves Augen ruckelten, wie wenn das lose Ende einer Filmrolle flattert. Sie schüttelte den Kopf und starrte Rin an. Rin starrte zurück. Mauve saß direkt neben ihr und war doch Welten entfernt. Rin griff mit schweißnassen Händen in die Flickendecke. Egal, was Mauve sagte, sie würden damit fertigwerden. Sie waren immer mit allem fertiggeworden. Gemeinsam.
»Es ist dunkel«, sagte Mauve heiser. »Es sieht übel aus. Etwas bedeckt sie komplett, unseren Ehrengast. Etwas Dunkles liegt auf ihr und auf ihrem Bruder, und es reicht bis zu uns und noch weiter.« Ihre Augen richteten sich wieder auf die Filmprojektion, die nur sie sehen konnte, und Rin fröstelte trotz der Hitze, die in Nebraska herrschte. Diese Sitzungen folgten einem Muster. Mauve hielt nach jemandem Ausschau, der aus der Menge der Stadtbewohner herausstach, zählte Fakten zu deren oder dessen Leben auf und erklärte, was dieser Jemand brauchte. Rin schlug Zirkusnummern vor, die dem Lebensfaden dieses Menschen eine neue Richtung geben würden, Mauve schaute nach, ob sie helfen würden, und Odette erinnerte sie daran, dass es schon spät sei. Sie einigten sich auf eine Nummer, wünschten einander Gute Nacht und fielen in ihre Betten.
In der vorigen Woche hatte Mauve ihnen berichtet, dass ihr Ehrengast Henry Dodds einsam und verängstigt war und sein Verstand nicht zuverlässig zwischen Realität und Einbildung unterscheiden konnte. Sie hatten einen Plan erarbeitet und ausgeführt. Henry musste daran erinnert werden, wie sehr er vor dem Krieg und den Schützengräben das Leben geliebt hatte, also hatte Mauve ein Lied über eine Mutter und ihr Kind in ihr Programm einfließen lassen, und die Clowns waren fünf Minuten länger aufgetreten. Als Henry nach der Aufführung an Ringmaster herantrat, hatten sie ihm medizinische Hilfe aus dem künftigen Jahrhundert angeboten. Aber heute verlief alles anders.
»Da ist irgendetwas in der Zukunft«, sagte Mauve jetzt. »Etwas Großes. Es betrifft nicht nur einen Menschen, sondern alle, die ich sehen kann.«
Mauve konnte nicht alles sehen, aber sie sah den Staub an ihrem eigenen Lebensfaden, und im Lauf der Zeit erweiterte sich diese Gabe auf die Lebensfäden derer, die sie liebte. Inzwischen hatte sie ihren Spark so verfeinert, dass sie die Fäden der Zirkuszuschauer sehen konnte, all derer, die ihr je begegnet waren oder begegnen würden. Für den Sinn und Zweck ihres Zirkus war das von entscheidender Bedeutung.
Aber jetzt blickte Mauve sich um, als wäre sie von all den Toten der Weltgeschichte umzingelt, mit offenem Mund und aufgerissenen Augen. Sie hatte Angst. Noch nie hatte Rin Mauve dermaßen verängstigt gesehen.
Rin vergaß einen Moment lang den Circus King, aber nur, um an etwas Schwerwiegenderes zu denken. Rin hatte den Krieg erlebt. Sie hatte die Pandemie erlebt. Sie erinnerte sich an das Gefühl, dass die Welt stehen geblieben war, die unheimliche Stille, und selbst jetzt, etliche Jahre später, trug jeder Fremde, mit dem sie sonst nichts gemeinsam haben mochte, genau wie sie die Last von Krieg und Krankheit auf den Schultern.
Odette griff nach Rins Hand. Rin schaute zu ihr hinüber. Odettes Blick war an die Muster der Flickendecke geheftet, ihr Mund fest zugepresst. Sie ahnte es auch. Irgendetwas stimmte nicht, etwas war anders, etwas kam auf sie zu.
»Und wenn ich weiter vorausschauen will«, fuhr Mauve mit fester Stimme fort, »wenn ich nach anderen Ehrengästen suche, nur eine vorläufige Auswahl für den Rest der Saison, ist es überall dasselbe, immer wieder, aus jeder Perspektive.« Mauve zögerte, betrachtete die leere Luft, als würde sie zu ihr sprechen. Rin wünschte, sie hätte dieselbe Gabe. »Dann schaue ich uns an. Unseren Zug, die Leute, die in den Abteilen schlafen, und wohin ihre Fäden führen. Sie führen alle in dieselbe Richtung. An einen schrecklichen, dunklen Ort.«
»Zum Circus King?«, fragte Rin, aber Mauve schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht.«
»Wir müssen dahin und es uns anschauen«, sagte Rin. »Wir müssen es wissen.«
»Aber warum?«, fragte Odette. »Es bringt gar nichts, heute noch irgendwohin zu springen. Die düstere Zukunft kann mindestens noch bis morgen warten.«
»Ich kann es nur andeutungsweise sehen«, sagte Mauve. »Ich denke auch, dass wir springen sollten, um uns ein Bild davon zu machen, was da los ist.«
»Nein«, sagte Odette und erhob sich aus dem Schneidersitz, um die Sitzung aufzulösen und die lastende Bedrohung abzuschütteln. »Was auch immer da los ist – dieser Zirkus ist schon tausendmal mit der Außenwelt klargekommen. Solange wir aufeinander aufpassen, sind wir sicher.«
»Sind wir nicht«, sagte Mauve. »Ich finde, wir sollten nachschauen, was es ist, weil es nämlich gerade danach aussieht, als wäre überhaupt niemand davor sicher.«
Odette sah aus, als raste sie in Zeitlupe auf einen Zusammenprall zu, dem sie nicht ausweichen konnte. Sie schaute Rin an, als wäre es das letzte Mal, dass sie einander diesseits des Gemetzels zu Gesicht bekämen. Ihr ganzer Körper war angespannt. Es war ihr anzumerken, dass sich alles in ihr gegen Mauves Vorschlag sträubte.
Und Rin beschlich das ungute Gefühl, die Angst vor dem Circus King, die sie eben noch so sehr beschäftigt hatte, sei nichts gegen das, was sie in den kommenden Minuten erwarten könnte.
Rin ließ ihren Blick von Odette zu Mauve wandern. Manche Menschen wurden müde, wenn sie ihren Spark einsetzten. Andere dagegen, zum Beispiel Mauve, wurden davon munter. Ihr war anzusehen, wie energiegeladen sie sich fühlte, dass sie die ganze Nacht hätte aufbleiben können, sogar mehr als eine Nacht, wenn das nötig wäre. Mauve würde nicht lockerlassen. Und deshalb verstanden sie sich so gut, weil auch Rin sich oft weigerte lockerzulassen.
»Also gut«, sagte Rin, das Zünglein an der Waage. Es stand zwei zu eins.
Also würden sie es tun. Die Heilerin Odette, die Seherin Mauve und die Springerin Rin. Immer gemeinsam, nie allein.
Zu dritt waren sie immer allem gewachsen.
Es war bei weitem nicht die erste solche Unternehmung. Im Lauf der Jahre waren sie immer wieder durch Zeit und Raum gesprungen, um den Zirkus zu schützen oder um Menschen zu helfen, die als Gäste zu ihnen kamen.
Jedes Mal, wenn jemand sich dem Wanderzirkus Windy van Hooten anschließen wollte, stellte Rin ihnen nämlich eine Frage: Wenn sie eine Sache in ihrem Leben ändern könnten, ob sie dann immer noch zum Zirkus wollten. Und wenn sich herausstellte, dass die drei Frauen diese Änderung herbeiführen konnten, dann taten sie es.
Es gab eine feste Regel beim Springen: nie weiter zurück als bis in das Jahr 1918. Dort fand sich der Friedhof in Chicago, auf dem Rin für den Circus King ihren Namen zurückgelassen hatte. Und kurz davor lag der Anfang des Spark, von dem sie nicht viel verstanden, aber den sie auf keinen Fall gefährden wollten, da waren sie sich einig.
Schweigend zog Rin ein Armband aus der Tasche, eine Hanfschnur, die sie sich um das Handgelenk knoten konnte. Auf einem handgeschnitzten Scheibchen aus Treibholz standen die Worte: Nicht heute. Rin atmete tief durch.
Die Realität, in die sie eintauchen würden, war nur ein grober Entwurf; es war nicht ihr Zuhause. Es war nicht die Realität, jedenfalls noch nicht. Und alles, was ihnen begegnete, konnte sich ändern.
Einen Moment standen sie so beisammen, und Rin sah sie wie von außen – eine Menagerie der Kuriositäten. Ringmaster mit den Sommersprossen und dem roten Mantel, Odette im paillettenbesetzten Kostüm, mit viel Glitzer und kurzen blonden Haaren, und Mauve in ihrem liebsten Schultertuch. Sie suchte schon auf einer unsichtbaren Karte nach ihrem Zielort.
Die drei waren wie die Fibonacci-Folge in einem Renaissancegemälde. Wie die drei Hexen im ersten Aufzug von Macbeth. Nur drei Frauen, und um sie herum die ganze Welt.
Und tun so, als wären sie sonst wer.
Odette streichelte Rin sanft die Hand. »Wir schaffen das schon«, sagte sie leise.
»Vertrau auf uns«, hatte Odette vor Jahren schon zu Rin gesagt, und vor Monaten wieder, vor Wochen. »Vertrau dir selbst.«
Aber jetzt erwartete sie erst einmal die Zukunft. Und die Zukunft war so viel größer als sie, als Odette, als Mauve, als alle drei zusammen.
Rin musste sich konzentrieren. Sie musste den Worten folgen, die Mauve ihr zuflüsterte, eine Hand auf Rins Schulter gelegt: »Zu einem Strand, tief in den Folgejahren einer Nacht der Scherben.«
Rins Blick durchdrang die Schatten und die Wände, das Licht und den Teppich. Sie sah die Zeit wie einen Tunnel voller Fäden vor sich und versuchte, diesen Fäden zu folgen.
Es hieß, Zeit und Schicksal sähen für jede Schauende anders aus und zeigten sich auch ein und demselben Menschen zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Gestalten. Mauve sah ein transparentes Buch zwischen den Luftschichten schweben, dessen Seiten sie nach Momenten und Bildern durchsuchen konnte. Manchmal war es aber auch mehr so, als würden in einem Kinosaal Tausende Filme zugleich abgespielt und die einzelnen Spuren sich bis zur Unkenntlichkeit überlagern. Für Rin fühlte es sich oft an wie Musik, als wäre sie von einem ganzen Orchester aus Lichtern und Farben umgeben.
Und heute blickte sie durch den Zeittunnel, den der Spark ihr eröffnete, auf den Strand, von dem Mauve gesprochen hatte. Etwa zwanzig Jahre entfernt leuchtete er am Ende eines langen Weges.
Zwanzig Jahre! Normalerweise erlaubten sie sich nur kleine Sprünge und nur flüchtige Blicke in die Zukunft. Das hier fühlte sich anders an als alles, was sie sich bisher vorgenommen hatten. Sie durfte nicht zögern. Sie musste sich voll konzentrieren. Und je länger sie das tat, desto deutlicher sah sie in dem Tunnel mit dem Licht an seinem Ende ein festes Band. Wie ein Halteseil schuf es einen Weg in die Zukunft, durch die Sprünge und Risse der Augenblicke, die noch niemand kannte. Rin griff innerlich danach, hielt sich daran fest. Und sie machte sich bereit für den Sprung.
»Ich hab’s«, sagte Rin.
Mauve und Odette legten ihr die Hände auf die Schultern. Rin atmete durch. Ihr Körper war jetzt voller Spannung, voller Leben. Sie ließ die Schwerkraft hinter sich und sprang.
Sie stieß den Kopf nach vorn und sah den Zug verschwinden. Sie sah einen Feuerwerkstunnel, sah Augenblicke, Fragmente, schaute hinter die Kulissen der Realität. Rin stieß einen Ruf aus, einen Kampfschrei, aber der Wind riss ihn ihr von den Lippen. Sie flogen.
Ringmaster, Odette und Mauve segelten durch die Zeiten.
Ringmaster, 1944
Rin wand sich durch enge Gassen, durch Ozeantiefen, durch feste Versprechen und gebrochene Herzen, durch die Morgenröte von fast siebentausend ungelebten Tagen.
Sie würden ankommen, wo sie ankommen mussten. Odette und Mauve ließen nicht los.
Jetzt sah Rin das Ende des Seils in den fernen Strand münden, den sie angesteuert hatten. Er stürzte auf sie zu, als wären sie aus einem Flugzeug gesprungen. Mit einem Brüllen richtete sie die Hände nach unten, ihr Herz nach vorn und zwang ihre Körper, auf den Füßen zu landen.
Der Tunnel schloss sich. Die Magie verflog.
Rin triumphierte. »Kinderspiel!«, krähte sie und schaute voller Tatendrang in die Runde. Odette tätschelte ihr den Rücken. Mauve lachte, trat einen Schritt vor und stolperte.
»Blöder Sand«, grummelte sie und zog ihre Schuhe aus.
Der Himmel war bedeckt, und neben ihnen rauschten die Wellen. Aber Rin bemerkte etwas auf der Anhöhe über dem Strand: Dort oben stand ein Bunker. Im Sand lagen überall riesige metallene Kreuze und Stacheldrahtrollen …
Dann riss die Welt in Stücke.
Odette warf sich schützend über Mauve und Rin.
Gewehrschüsse von oben, sirrende Projektile, die den Sand aufpeitschten.
Rin spähte unter Odette hervor, die sie fest umklammert hielt. Männer stürmten den Strand, stiegen aus dem Meer wie schiffbrüchige Seelen aus Charons gekenterter Fähre, ergossen sich über die Küste und fielen, starben, knickten ein, stürmten weiter. Das Wasser trank sich an ihren Körpern blutig. Und über allem das unablässige Rat-tat-tat-tat-Tattern der Maschinengewehre.
Wieder eine Explosion. Sengende Hitze. Hitze, die bis ins Mark drang und die Knochen zum Bersten zu bringen drohte. Ein Pfeifen in den Ohren, ein Schock. Rin konnte sich nicht rühren. Männer fielen wie die Fliegen, kauerten sich hinter die Kreuze, wurden durchlöchert und zerfetzt wie Hasen bei der Jagd.
Keine Schützengräben, die Schutz geboten hätten. Nichts als ungebremster Krieg überall.
War die ganze Welt ein Schlachtfeld?
Dann traf sie etwas ins Bein, und sie schrie. Mauve packte ihre Hand. Rin schaute sie an, ihre Gesichter mit feuchtem Sand verklebt. Odette beschützte sie noch immer. Unter Schmerzen riss Rin die beiden mit sich hinunter. Sie fielen durch den Sand, durch leeren Raum, tiefer und tiefer …
Rin entdeckte einen Faden, der vom Schlachtfeld heimwärts führte, zu jemandem, der im Zug auf einer Pritsche schlief. Rin sah den Zug unter ihnen und den Strand hoch oben, dazwischen schwarzen Raum und die miteinander verbundenen Fäden, die golden glommen. Es war wie in einem Traum. Aber sie wusste seit langem, dass es real war.
Sie griff nach dem Faden, der zum Zug führte. Er war dick und golden, mit ihrem Herzen verbunden und verschwand in der Ferne. Sie packte ihn. Sie hielt ihn fest, schwang sich durch Raum und Zeit und erreichte …
einen Ort, den sie nicht erkannte.
Aber Rin war dem Zug gefolgt. Sie hätten im Zug landen sollen. Wo zur Hölle waren sie also?
Sie landeten unsanft auf dem Rücken, im Dunkeln, auf einer Fläche aus zerborstenem und zerklüftetem Beton. Rin hörte in Odette einen Knochen brechen. Odette sog scharf die Luft ein, schloss die Augen und konzentrierte sich. Mit einem Knirschen renkte sich der Bruch wieder ein. Odette setzte sich auf. Rin fragte nicht, was sie sich gebrochen hatte. Es war wieder heil.
»Notfall. Ich ziehe die Handschuhe aus.« Odette legte die bloße rechte Hand auf Rins Bein. Rin konnte nicht einmal einen Blick auf die Schusswunde werfen, da war sie schon verschwunden.
Odette atmete den Schmerz weg, den sie Rin abnahm. An Rins Unterschenkel klebte noch feuchtes, warmes Blut. Rin streckte eine tröstende Hand nach Odette aus. Die streifte ihren Handschuh wieder über und zog Mauve und Rin an sich. »Wo zur Hölle sind wir?«
Sie waren in einer Wohnung. Oder vielmehr in ihren Überresten. Es sah aus, als wäre ein Puppenhaus auf einen Schutthaufen geworfen worden, und gewaltige Zähne hätten es zernagt. Draußen brannte etwas. Das Unheimlichste aber waren zwei Schüsseln und eine Packung Cornflakes auf dem Küchentresen, als hätten die Bewohner zum Sterben kurz ihr Frühstück unterbrochen.
Das war kein Ort, den je ein Geschoss hätte erreichen dürfen. Es war kein Schützengraben, sondern ein Zuhause.
Draußen pfiff es und krachte. Wieder bebte die Welt.
Odette half Rin und Mauve auf die Füße, und sie kauerten sich in eine Ecke. Rin musste sich daran erinnern zu atmen.
»Was tun wir hier?«, fragte Mauve.
Rin schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich … ich bin einem Faden gefolgt, der mit mir verknüpft war und zum Zirkus führte …« In den menschenleeren Straßen hallte fernes Geschrei wider, dann Schüsse, vom Knacken des Feuers untermalt. Es roch nach verbrannten Haaren, und Rin wurde übel.
»Wer ist da?«, rief jemand aus einem Nachbarzimmer.
Rin erkannte die Stimme.
»Maynard«, flüsterte Mauve. »Das ist Maynard.«
»Du hast recht«, sagte Rin und stellte sich mit Mühe auf die zittrigen Beine.
»Rin …«, mahnte Odette.
Aber Rin lief zur Tür, stolperte über die tückischen Sprünge im Boden, würgte an der Asche, die ihr wie umherfliegende Spinnweben in Mund und Nase drang. Auf der Schwelle hielt sie sich mit zerschundenen Händen am Holz fest, um nicht vor Erschöpfung umzufallen. Sie spähte ins Schlafzimmer: Auf dem intakten Bettgestell lagen Kissen und Decke ordentlich ausgebreitet, aber das Blumenmuster der Bezüge verschwand unter Holzdielen und Trümmern. Hier war nichts mehr sicher.
»Nein.« Maynards heisere Stimme drang aus der hintersten dunklen Zimmerecke.
Rin fühlte ein Ziehen in der Brust, als verbände der Faden, der sie heimführen sollte, sie jetzt mit dieser Ecke.
Ein ganzer Trupp Soldaten kauerte dort, ineinandergekrümmt, und zitterte unter den Uniformen. Und der Soldat, der Rin angesprochen hatte, war tatsächlich Maynard.
Er sah älter aus, mit Falten um die Augen und einer Glatze. An seinen Armen leuchteten rote Narben, sein Kiefer war bandagiert, seine weiße Haut von dunklen Blutergüssen übersät. Und dennoch war es Maynard, der sie ernst und skeptisch musterte, als wäre sie ein Geist.
»Du bist es«, hauchte Maynard nun, als wäre er um Jahre jünger und gerade erst dem magischen Zirkus beigetreten, der jetzt länger geschlossen hatte, als er in Betrieb gewesen war.
Bei seinen Worten hoben die Gestalten in der Ecke die Köpfe, und Rin konnte ihre Gesichter sehen. Ihr schlug das Herz bis zum Hals, und sie schluchzte auf vor Schreck. Da war Mr. Weathers – uralt sah er aus. Er hatte einen seiner Flügel eng angelegt, und der andere fehlte. Tinas runde weiße Wangen waren eingefallen, ihre Augen nicht strahlend wie sonst, sondern leer. Und dann waren da Wally, Ford, Jess, Ming-Huá und Esther. Rin konnte kaum fassen, was sie da sah: Es war ihr Zirkus.
Aber sie waren kein Zirkus mehr. Sie waren ein Trupp Soldaten, mit Helmen, Gewehren und Uniformen gerüstet, mit tellergroßen Augen und reglosen Gesichtern.
Der an ihrem Herzen befestigte Faden war nicht mit dem Zug verbunden gewesen, sondern mit den Menschen darin. Er hatte Rin nicht in die Vergangenheit zurückgeführt, sondern an einen anderen Ort in der Zukunft. Vielleicht war es das, was ihr Herz hatte sehen wollen – was mit diesen Menschen passieren würde.
»Nein«, flüsterte Rin.
Erst dann fiel ihr auf, dass Maynard sein Gewehr auf die Tür gerichtet hielt und somit auf sie. Sie wartete darauf, dass er die Waffe senken würde, damit sie näher kommen konnte, aber das tat er nicht. Es war klug von ihm, damit zu rechnen, dass die Begegnung ein Trick war – mit Illusionen und Magie kannten sie sich schließlich aus –, aber Rin sah ihm an, wie gern er glauben wollte, dass er sich nicht täuschte. »Was?«, krächzte er. »Wie …? Ringmaster, bist du es wirklich?«
»Rin?« Hinter Maynard richtete sich eine Frau auf, die Rin erst jetzt bemerkte. Sie hatte schwarzes Haar, ein blasses weißes Gesicht und große blaue Augen, in die bei Rins Anblick die Tränen traten.
Rin kannte sie nicht, aber die Frau kannte eindeutig Rin.
»Rin?«, rief sie. Sie stürzte auf Ringmaster zu, ohne die Skepsis, die bei den anderen herrschte. Sie ließ die Tränen fließen wie einen viel zu lange zurückgehaltenen Atemzug. »Wie bist du …?«
Da traf etwas die Frau in die Brust. Sie erstrahlte in einem beißenden blauen Licht. Dann wieder ein Treffer, der den ganzen Trupp erwischte. Etwas erstickte sie alle, etwas tötete sie. Etwas ganz und gar Unvertrautes.
Rin taumelte. »Nein!«, schrie sie.
Sie sah die Frau, ihre großen Augen flehend auf Rin gerichtet. Ihr Gesicht löste sich von innen her auf, als ob das blaue Licht sie in tausend brennende Fetzen riss.
Rin musste sie retten.
Aber Odette packte sie am Arm und zog sie von dem blauen Gemetzel fort.
»Wir müssen hier weg!«, rief Mauve und hielt sich an ihnen beiden fest. »Bring uns nach Hause!«
»Sie sterben alle!«, schrie Rin.
Mauve nahm Rins Gesicht in beide Hände. »Konzentrier dich!«, sagte sie. »Bring uns hier weg, sofort! Sonst können wir nichts daran ändern!«
Rin fiel ihr Armband wieder ein. Sie spürte es am Handgelenk. Nicht heute.
Rin legte die Arme um ihre Freundinnen und riss sie mit sich zurück, über die Abbruchkante des Betons hinaus ins Leere, immer weiter zurück, zurück …
bis in ihr Bett im Zug. Als hätte die Welt sämtliche physikalischen Gesetze aufgehoben und dann wieder in Kraft gesetzt. Die Magie verflog.
Das laute Klackern der Schienen. Unter ihren gerade gelandeten Körpern, unter Rins und Odettes Bett ratterte der Zirkuszug durch die Nacht, pfiff und sirrte durch das stürmische Nebraska. Rin spürte, wie ihre steifen Glieder in die Gänsedaunen sanken.
Der Strand war verschwunden, der zerklüftete Beton ebenso, aber als Rin behutsam ihre Stiefel auf den Waggonboden senkte, fühlte sie zwischen den Zehen noch Sand.
Sie riss sich das Armband vom Handgelenk, als wäre es verflucht.
Rin hörte, wie sie ein Geräusch ausstieß, etwas zwischen einem Würgen und einem Brüllen. Sie fing sich wieder. Der versengte Geruch wehte ihr noch durch die Nase, in die Kehle, den Magen.