Späterland - Julia A. Jorges - E-Book

Späterland E-Book

Julia A. Jorges

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Beschreibung

Tarjas geliebter Kater Pluto ist gestorben. Sie tröstet sich mit dem Gedanken, dass er in dem einst von ihr erfundenen Späterland weiterlebt. Aber warum klingelt das Glöckchen seines alten Halsbands? Und weshalb träumt Tarja, Pluto würde in Gefahr schweben? Gibt es Späterland wirklich? Tarja beschließt es herauszufinden und begibt sich auf die Suche nach der Regenbogenbrücke. Aus Versehen gelangt ihr nerviger Klassenkamerad Milo mit hinüber und wird zu ihrem unfreiwilligen Begleiter auf einer abenteuerlichen Reise durch den Tierhimmel, denn nicht nur Pluto ist in Gefahr. Ganz Späterland wird von unheimlichen Schattenwesen bedroht. Wird es Tarja gelingen, die Welt hinter der Regenbogenbrücke und damit Pluto und alle anderen Tiere dort zu retten?

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SPÄTERLAND

Die Welt hinter

der Regenbogenbrücke

von

Julia A. Jorges

Alle Rechte, insbesondere auf digitale Vervielfältigung,

vorbehalten. Keine Übernahme des Buchblocks in digitale Verzeichnisse, keine analoge Kopie ohne Zustimmung des Verlags. Das Buchcover darf zur Darstellung des Buches unter Hinweis auf den Verlag jederzeit frei verwendet werden. Eine anderweitige Vervielfältigung des Coverbilds ist nur mit Zustimmung des Verlags möglich.

Die Handlungen sind frei erfunden.

Evtl. Handlungsähnlichkeiten sind zufällig.

www.verlag-der-schatten.de

2. (leicht veränderte) Auflage 2024

© Julia A. Jorges

© Coverbilder: Depositphotos WDGPhoto, elaelo,

Marinka, erinvilar, mtmmarek

Shadodex – Verlag der Schatten

Covergestaltung: © Shadodex – Verlag der Schatten

© Bilder Innenteil: Depositphotos elaelo (Pfotenabdrücke), erinvilar (Silhouetten Katze), Marinka (Regenbogen), camilabo (Wasserfall), Deebs(Baum), teotarras (Wald), klyaksun (Canyon), interactimages(Fluss), jeneva86 (Moor), Wampa76 (Wilderland), svetas (Puma), PantherMediaSeller – bearbeitet – (Schattenflügler),SundryPhotography – bearbeitet – (S. Riss), algolonline(Drache), [email protected] – bearbeitet – (Greif)Shadodex – Verlag der Schatten (Weltenschema)

Julia A. Jorges (Katzenbilder, Autorenfoto)

Lektorat: Shadodex – Verlag der Schatten

© Shadodex – Verlag der Schatten, Bettina Ickelsheimer-Förster, Ruhefeld 16/1, 74594 Kreßberg-Mariäkappel

printed in Germany (www.wir-machen-druck.de)

ISBN: 978-3-98528-037-7

Gewidmet all unseren tierischen Freunden, die über die Regenbogenbrücke gingen, ganz besonders

Lucy, Jerry, Jango und Pluto.

Inhalt

I. Aufbruch

1. Tarja und die Regenwürmer

2. Allein

3. Beppo, der Clown

4. Der Eindringling

5. Katzen und Hunde

6. Bau endlich diesen Altar ab!

7. Am Grausteinfall

II. Späterland

1. Über die Regenbogenbrücke

2. Lucky

3. Hunger und Durst

4. Im Wald der Flüsterstimmen

5. Die Zauberquelle

6. Die Armee der Winzlinge

7. Max

8. Feindliches Gebiet

9. Steintal

10. Von Nussschalen und geflügelten Schatten

11. Nächtlicher Besuch

12. Pluto

13. Ein flügellahmer Helfer

14. Seltene Gangarten

15. Umwege

16. Pfade im Mondlicht

17. Der alte Papagei

18. Die Verbotene Brücke

19. Ein schlimmer Verlust

III. Wilderland

1. Das öde Land

2. Milos Entscheidung

3. Plutos Zweifel

4. Tarjas Prüfung

5. Bestanden!

6. Raubtiere?

7. Ein Schritt zu weit

8. Rußpfotes Abenteuer

9. Bei der Felsen-Sippe

10. Frühsport

11. Ein Riss in der Welt

12. Am Großen See

13. Milos Geheimnis

14. Übers Wasser

15. Auf der Euleninsel

16. In der Klemme

17. Nebelschwinge

18. Die Prophezeiung

19. Auf sich gestellt

IV. Mirakima

1. Zuckerwatte

2. Ein Kampf der Giganten

3. Im Eilflug über die Fabelwelt

4. Zwischen Licht und Schatten

5. Ein unerwarteter Anblick

6. Lug und Trug

7. Die Weltenachse

V. Rückkehr nach Späterland

1. Die Flucht der Schattenflügler

2. Eselsgalopp

3. Am Thing-Baum

4. Ziskas Rache

5. Ein Wiedersehen

6. Killer bekommt einen neuen Namen

VI. Der Weg nach Hause

1. Abschied

2. Freunde

3. Zurück

Autorenvorstellung

Tarjas geliebter Kater Pluto ist gestorben. Sie tröstet sich mit dem Gedanken, dass er in dem einst von ihr erfundenen Späterland weiterlebt. Aber warum klingelt das Glöckchen seines alten Halsbands? Und weshalb träumt Tarja, Pluto würde in Gefahr schweben? Gibt es Späterland wirklich?

Tarja beschließt es herauszufinden und begibt sich auf die Suche nach der Regenbogenbrücke. Aus Versehen gelangt ihr nerviger Klassenkamerad Milo mit hinüber und wird zu ihrem unfreiwilligen Begleiter auf einer abenteuerlichen Reise durch den Tierhimmel, denn nicht nur Pluto ist in Gefahr. Ganz Späterland wird von unheimlichen Schattenwesen bedroht.

Wird es Tarja gelingen, die Welt hinter der Regenbogenbrücke und damit Pluto und alle anderen Tiere dort zu retten?

I. Aufbruch

1. Tarja und die Regenwürmer

Können Regenwürmer ertrinken?Wahrscheinlich schon, sonst würden sie ihre unterirdischen Gänge bei Regen ja nicht verlassenen, oder?

Über diese Fragen dachte Tarja angestrengt nach, während sie zum Schulteich rannte. Pascal und seine Bande mal wieder! Mussten die vier dauernd so gemeine Sachen machen? Insekten und andere Tiere quälen oder Kinder wie Tian und Nell verspotten, die nicht wie sie auf cool machten und Schule blöd fanden.

»Sieh dir das an, Tarja! Echt bescheuert.« Linda wies auf die Jungen am Ufer des Weihers. Alle waren eifrig damit beschäftigt, Regenwürmer, die nach dem Gewitterguss aus der Erde gekrochen kamen, ins Wasser zu schleudern. Zuckend versanken die Tiere in der grünlichen Tiefe. Jedes Mal, wenn einem von ihnen ein besonders weiter Wurf gelang, johlten die anderen. Ein paar weitere Schüler schauten zu, manche fasziniert, manche angeekelt. Keiner hinderte Pascal, Milo, Arkan und Lukas an ihrem Treiben. Gerade liefen sie auf die Wiese, um noch mehr Würmer zu sammeln.

»Hört sofort damit auf!«, rief Tarja und stemmte die Fäuste in die Seiten. Die Jungen fuhren herum.

Als Pascal sie sah, machte er ein Gesicht, als müsse er sich gleich übergeben. Dazu stieß er Würgelaute aus. »Du hast hier nichts zu bestimmen, Tarja. Hau ab!« Drohend kam er auf sie zu. Seine Freunde stellten sich hinter ihn und grinsten.

Linda zupfte Tarja am Ärmel. »Lass uns besser zur Pausenaufsicht gehen.«

Tarja blieb stur. Es war nicht das erste Mal, dass sie der Clique in die Quere kam. Letzte Woche hatte sich ein Schmetterling ins Klassenzimmer verirrt. Pascal versuchte den Falter mit Papierkügelchen abzuschießen, aber Tarja kam ihm und seinen Freunden zuvor und ließ das Tier aus dem Fenster fliegen, bevor es eins der spuckefeuchten Geschosse treffen konnte. Daraufhin schwor Pascal, Tarja den verdorbenen Spaß heimzuzahlen.

Pascal öffnete die Finger. Ein großer Regenwurm kringelte sich in seiner Hand. Die helle Verdickung in der Körpermitte war fast einen Zentimeter breit.

»Was ihr da macht, ist Tierquälerei.« Tarja ärgerte sich, dass ihre Stimme so piepsig klang. Linda und ein paar andere hielten sie für mutig, weil sie sich gegen Pascal stellte. Tarja fand nicht, dass sie mutig war. Sie musste einfach handeln, wenn jemand Tieren Schaden zufügte. Sie hatte Angst, na klar, besonders vor Pascal, der schon mal fast von der Schule geflogen wäre, weil er einen Mitschüler schlimm verprügelt hatte. Zudem war er einen Kopf größer als sie und wog bestimmt das Doppelte. Es wäre schlauer gewesen, gleich Frau Jannicke, ihre Biolehrerin, zu informieren, die vorn auf dem Pausenhof beim Klettergerüst stand.

Vielleicht wäre es außerdem ganz schlau, wegzurennen, ging Tarja durch den Kopf, während Pascals Gesicht vor ihr größer und sein Grinsen breiter wurde. Warum musste sie sich immer einmischen? Warum konnte sie nicht einfach mal die Klappe halten?

Pascal warf ihr den Regenwurm entgegen. Geistesgegenwärtig fing Tarja ihn auf, trat einen Schritt beiseite und setzte das Tier behutsam unter einen Busch. Als sie sich wieder aufrichten wollte, fühlte sie einen Stoß im Rücken und landete mit dem Gesicht im Matsch. Die Bande grölte vor Lachen. Tarja rappelte sich hoch und hob das Vokabelheft auf, das aus ihrer Tasche gefallen und ebenfalls schmutzig geworden war. Scham und Ärgerschnürten ihr die Kehle zu.

Pascal betrachtete sie mit schadenfroher Miene. »Vielleicht solltest du auch ein Bad nehmen, so, wie du aussiehst!« Er packte Tarja am Arm.

In diesem Moment kam Linda mit Frau Jannicke im Schlepptau um die Ecke, und die verlangte zu erfahren, was los sei.

»Nichts«, sagte Pascal. Seine Freunde schwiegen.

»Die Jungs finden es witzig, Regenwürmer zu ertränken«, erklärte Tarja. Als sie den Blick der Lehrerin auf ihrer schmutzigen Kleidung ruhen sah, fügte sie leise hinzu: »Ich bin ausgerutscht.«

Frau Jannicke musterte sie zweifelnd, fragte aber nicht weiter, sondern widmete sich den Übeltätern. »Das gibt einen Eintrag«, stellte sie fest. »Ihr wisst, dass ihr mit den Tieren und Pflanzen unseres Biotops sorgsam umgehen sollt.« Dann drehte sie sich noch einmal zu Tarja um. »Übrigens können Regenwürmer nicht ertrinken. Sie atmen über die Haut und nehmen Sauerstoff auch aus dem Wasser auf. Trotzdem haben sie im Teich wirklich nichts zu suchen.«

Mit gesenktem Kopf verzog sich Tarja in Richtung Toilette, um sich, so gut es ging, zu säubern. Linda begleitete sie.

Das war knapp …

Hoffentlich merkte sich Pascal, dass sie ihn, was seinen Angriff auf sie betraf, nicht verpetzt hatte.

2. Allein

Schon als sie zur Wohnungstür hereinkam, fiel Tarja auf, dass etwas nicht stimmte. Zuerst konnte sie sich das komische Gefühl nicht erklären.

»Mama?«

Keine Antwort. Nach ihrem Vater brauchte sie nicht zu rufen – der war um diese Zeit noch auf der Arbeit. Bei Mama dagegen konnte man nie wissen, ob man sie nachmittags zu Hause antraf. Das hing davon ab, wie viele Patienten sie hatte. Monika Wilbert war Fußpflegerin, keine Ärztin, weshalb Tarja die Bezeichnung »Patienten« irgendwie übertrieben fand. Aber auch wenn ihre Eltern nicht da waren, hatte sie normalerweise nie das Gefühl, in eine leere Wohnung zu kommen.

»Pluto?«

Sonst kam der Kater angelaufen, sobald die Tür aufging. Meist wartete er bereits, weil er Tarjas Schritte im Treppenhaus erkannte. Wenn er dann schnurrend um ihre Beine strich, um sich seine Streicheleinheiten abzuholen, vergaß sie jeden Ärger, den es in der Schule gegeben hatte.

Seit ungefähr zwei Wochen allerdings fraß Pluto wenig. Sie hatten gehofft, es sei nur vorübergehend, aber es wurde immer schlimmer statt besser. Er schlief viel, und Tarja machte sich große Sorgen um ihn.

Der Korb neben der Garderobe, in dem er während der letzten Tage gelegen hatte, war leer. Mama hatte versprochen, sie würden am Freitagnachmittag zum Tierarzt fahren, falls es Pluto nicht besser ginge. Heute war erst Mittwoch, außerdem hatte Tarja darauf bestanden, mitzukommen.

Tarja spürte, wie das komische Gefühl in ihr wuchs. Sie kickte ihre Schuhe beiseite, schmiss den Rucksack in die Ecke und lief von einem Raum in den nächsten, ob Pluto sich irgendwo versteckt hielt.

Sie fand ihn nicht. Weder in ihrem Zimmer noch auf oder unter dem Bett ihrer Eltern, nicht in der Kratzbaumhöhle im Wohnzimmer, nicht auf seinem Lieblingsplatz – der Küchenfensterbank.

Die Katzentoilette war unbenutzt.

Mit klopfendem Herzen griff Tarja zum Telefon. Die Mailbox ihrer Mutter meldete sich.

»Mist«, murmelte das Mädchen. Sie wollte es gerade auf dem Diensthandy ihres Vaters versuchen, als der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde.

Ihre Mutter stand in der Tür, das Gesicht blass und wie versteinert. Über den Flur hinweg blickten sie einander an. Der Boden unter Tarjas Füßen schien zu schwanken, als sie die leere Transportbox in der Hand ihrer Mama sah. Diese setzte das Ding ab und klappte die Tür zu. Noch bevor sie etwas sagen konnte, wusste Tarja Bescheid.

»Du musst jetzt tapfer sein.« Sie kam auf ihre Tochter zu und nahm sie in die Arme. »Der Arzt hat festgestellt, dass Pluto Krebs hat.« Sie legte ihrer Tochter die Hände auf die Schultern und sah ihr in die Augen. »Die Krankheit hatte sich schon im ganzen Körper ausgebreitet. Ich musste ihn einschläfern lassen. Es tut mir so leid …« Sie schniefte, zog ein Taschentuch heraus und putzte sich die Nase.

Ein Kälteschauer durchrieselte Tarja. Es war eine innere Kälte, denn in der Wohnung herrschte eine sommerliche Temperatur.

Wenn jemand Geliebtes stirbt, dann stirbt auch ein Teil von einem selbst, hatte sie gehört. Genau das spürte sie jetzt: wie ein Teil von ihr starb. Pluto war fort, und sie würde ihn nie wiedersehen. Nicht in zehn, nicht in hundert Jahren. Egal wie alt sie würde, ihre gemeinsame Zeit war abgelaufen.

»Warum hast du nicht auf mich gewartet?«, fragte sie, und jedes Wort kostete unglaubliche Kraft. »Du hast versprochen, mich mitzunehmen. Ich konnte mich nicht mal von ihm verabschieden.« Die letzten Worte brachte sie nur mehr unter Schluchzern hervor.

Ihre Mutter strich ihr sanft über die Wange. »Ich weiß, wie schlimm das für dich ist, Tarja. Aber es war besser so, es hätte dich zu sehr mitgenommen.«

»Ich hätte es ausgehalten«, beharrte Tarja. Und plötzlich fiel ihr etwas anderes ein, etwas, das so wichtig war, dass man sich bei aller Trauer darum kümmern musste. »Wo wird Pluto begraben?« Vor einigen Monaten hatte sie einen Bericht über Tierfriedhöfe gesehen. In jeder größeren Stadt gab es welche.

Ihre Mutter lächelte gequält. »Ich habe ihn dort gelassen, Tarja.«

In der Tierarztpraxis? Es gibt nicht mal eine ordentliche Beerdigung für ihn?

Tarja spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Ein Teil ihrer Trauer verwandelte sich in Wut. »Du hast erlaubt, dass man Seife aus ihm macht?«

Ihre Mutter schüttelte entsetzt den Kopf. »Wo hast du das aufgeschnappt? Aus Tieren wird keine Seife gemacht, das war vielleicht früher mal so.« Sie seufzte. Das Thema war ihr unangenehm, aber das geschah ihr ganz recht. »Sie werden verbrannt, genauso wie es bei vielen Menschen nach dem Tod gemacht wird. Du weißt doch, dass Oma Petra in einer Urne bestattet wurde.« Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Bei Tieren gibt es natürlich kein Urnenbegräbnis.«

»Doch, das gibt es«, widersprach Tarja. »Es gibt Tierfriedhöfe. Da kann man auch die Asche begraben.«

»So was ist sehr teuer, Tarja. Du weißt doch, wie wir sparen müssen. Und schau mal, wenn ein Tier gestorben ist, dann ist der Körper nur noch eine Hülle, nichts weiter. Pluto bleibt in unserer Erinnerung lebendig.«

Das waren doch bloß Ausreden! Sie hätte die Hälfte ihres gesparten Geldes zugeschossen, ach was, notfalls alles! Aber es war zu spät, darüber nachzudenken.

Eine Welle aus Verzweiflung schlug über Tarja zusammen. Sie mochte ihre Mutter nicht länger ansehen, weil sie nicht wollte, dass die Wut auf sie weiterwuchs.

Sie lief in ihr Zimmer, stellte das Schild an der Klinke auf »ICH WILL MEINE RUHE!« und knallte die Tür zu.

3. Beppo, der Clown

Frau Wilbert ließ ihre Tochter gewähren und verlangte auch keine Erklärung für die verschmutzten Sachen, was ihr gar nicht ähnlichsah.

Als Tarja hörte, wie ihr Vater nach Hause kam und sie zum Essen gerufen wurde, blieb sie auf dem Bett liegen. Wieder und wieder schaute sie sich die Fotos an, die sie mit ihrem Smartphone von Pluto gemacht hatte. Danach die Aufnahmen in ihrem Fotoalbum, das sie von vorn nach hinten durchblätterte. Dann noch einmal, diesmal von hinten nach vorn. Manche Bilder – wie das, als Pluto quer über ihrem Bauch liegend eingedöst war, während sie selbst schlief – brachten sie zum Lächeln. Dann fiel ihr ein, dass es keine weiteren Fotos geben würde, und erneut rannen Tränen über ihre Wangen.

Es klopfte.

»Herein«, sagte Tarja trübsinnig.

Ihr Vater steckte den Kopf durch den Spalt. »Darf ich?«

Tarja nickte stumm.

Er setzte sich zu ihr aufs Bett und räusperte sich.

»Es tut mir sehr leid, dass der Tierarzt Pluto nicht helfen konnte«, sagte er schließlich.

»Wenn ihr früher hingegangen wärt …«, begann Tarja, aber ihr Vater schüttelte müde den Kopf.

»Ach, Tarja.« Er seufzte. »Ein paar Tage hätten keinen Unterschied gemacht. Mama sagt, der Arzt war erstaunt, dass Pluto nicht viel früher Symptome gezeigt hat. Es ging einfach zu schnell. Niemand trägt Schuld daran. So schwer es uns fällt – wir müssen uns damit abfinden und uns mit dem Gedanken trösten, dass er sich nicht lange quälen musste und vorher ein richtig schönes Leben hatte. Immerhin ist er fünfzehn Jahre alt geworden. Das ist kein schlechtes Alter für eine Katze.«

»Wirklich alt aber auch nicht«, rief Tarja. »Und ich finde es unfair, dass Mama allein bestimmt hat, was gemacht wird.«

Clemens Wilbert legte einen Arm um seine Tochter. »Mama und ich haben Pluto doch auch gerngehabt. Und Mama wollte uns zusätzlichen Kummer ersparen.« Er seufzte erneut. »Ehrlich gesagt bin ich ganz froh darüber. Ich weiß genau, wie das ist, ein Haustier zu verlieren.«

»Ja?« Tarja schluckte die Tränen hinunter.

»Als Kind hatte ich einen Hund. Da war ich ein bisschen älter als du, dreizehn oder vierzehn. Eigentlich gehörte er Oma Petra und Opa Gregor, aber das spielt keine Rolle. Er war ein Collie und sah fast aus wie Lassie, hieß aber Beppo.«

»Beppo, der Clown.« Gegen ihren Willen musste Tarja grinsen. Sie erinnerte sich an eine Zeichnung von Clown Beppo in einem ihrer alten Kinderbücher, und prompt stellte sie sich einen Collie mit roter Pappnase vor.

»Stimmt, ein Clown war er. Wir hatten viel Spaß miteinander. Ganze Wochenenden haben wir im Wald hinter dem Haus verbracht. … Bis er von einem Fuchs gebissen wurde.« Ihr Vater verzog das Gesicht. »Tollwut. Der Fuchs war infiziert. Beppo ist gerade mal sechs geworden. Der Veterinärdienst kam und erschoss ihn auf unserem Hof. Dort, wo Opa ihn angeleint hatte. Anders wären sie nicht an ihn rangekommen, zu gefährlich. Ich habe es vom Fenster aus beobachtet. Das Bild hatte ich noch jahrelang im Kopf.« Er tippte sich an die Schläfe. »Ich konnte von Glück sagen, mich nicht bei Beppo angesteckt zu haben. Oder jemand anderes aus der Familie. Wir mussten alle vorsorglich geimpft werden, sogar mehrfach. Ich kann deine Trauer also gut nachvollziehen. Aber wenn du es hättest mit ansehen müssen, wäre es noch schmerzhafter gewesen. Es braucht Zeit, aber nach und nach vergeht das Gefühl.«

»Ist gut, Papa«, sagte Tarja, aber nichts war gut. Im Augenblick gab es keinen Trost für sie. »Ich möchte jetzt schlafen.«

Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Gute Nacht, Tarja. Schlaf die Traurigkeit weg. Morgen sieht die Welt schon ein klein wenig besser aus.«

4. Der Eindringling

Der Morgen kam, und die Welt sah nicht besser aus, kein bisschen. Am liebsten hätte Tarja sich umgedreht und einfach weitergeschlafen, aber sie musste zur Schule. Ihre Eltern hatten noch am vorigen Abend Katzentoilette, Korb und Kratzbaum abgebaut. Die Wohnung erweckte den Anschein, als habe hier nie eine Katze gelebt.

Ihre Mutter empfing sie mit Pfannkuchen statt des üblichen Frühstückstoasts, wahrscheinlich um sich mit ihr zu versöhnen. Dabei war das nicht nötig, Tarjas Zorn war längst verraucht. Was blieb, war die schmerzende Leere in ihrem Herzen.

Frau Wilbert legte Tarja ein blaues Halsband neben den Teller. »Das habe ich gestern vergessen. Vielleicht möchtest du es ja behalten.«

Plutos Halsband. Das silberne Glöckchen daran hatte die Singvögel warnen sollen, wenn er seine Streifzüge in die Gärten hinter dem Wohnblock unternahm. Ins Freie war er über den Balkon der Wilberts im ersten Stock und den dicht am Haus wachsenden Ahorn gelangt, an dessen Stamm er immer hinabkletterte.

»Danke.« Tarja schluckte und packte das Halsband in ihren Schulrucksack.

Ihre Mutter lächelte und strich ihr übers Haar.

Als Tarja am Nachmittag nach Hause kam, suchte sie ein passendes Lederbändchen aus ihrer Schmuckkiste, befestigte die kleine Glocke daran und hängte sie sich um den Hals. In einer mit Glanzpapier und bunten Steinchen beklebten Schachtel verstaute sie das Halsband sowie alle Spielzeugmäuse und -bälle, die ihre Eltern übersehen hatten, außerdem jedes Schnurrhaar, jede verlorene Kralle, die sie beim Durchforsten der Wohnung fand. Anschließend ging sie noch einmal los, um im Drogeriemarkt um die Ecke die schönsten Handyfotos auszudrucken und auch gleich Rahmen dafür zu kaufen. Wieder daheim funktionierte Tarja ihren Nachttisch zur Gedenkstelle um. Wenn es schon kein Grab gab, auf das sie Blumen legen konnte, besaß sie auf diese Weise wenigstens einen besonderen Platz, der nur ihr und Pluto gehörte.

In den folgenden Tagen und Wochen betrachtete Frau Wilbert die Schachtel auf dem mit allerlei Blumen, Zweigen und Steinchen dekorierten Tisch mit zunehmender Missbilligung, jedenfalls kam es Tarja so vor. Wahrscheinlich hätte ihre Mutter es am liebsten gesehen, wenn sie Pluto einfach vergessen hätte. Tarja schien das unvorstellbar. Es gab Momente, in denen sie abgelenkt war, aber darunter nagte weiter die Trauer an ihr, während für ihre Eltern das Leben normal weiterging. Als ob es Pluto nie gegeben hätte.

Eines Tages nach der Schule wartete ihr Vater im Treppenhaus auf sie. Mit verschwörerischer Miene öffnete er die Tür langsam einen Spaltbreit und forderte sie auf, hineinzugehen.

Weshalb war er so früh daheim?

Tarja staunte: Die Katzenutensilien, von denen sie geglaubt hatte, ihre Eltern hätten sie weggeworfen, standen wieder an ihrem Platz.

Bevor sie darüber nachdenken konnte, was das zu bedeuten hatte, huschte etwas über den Flur. Klein, mit weißen, braunen und schwarzen Flecken.

Eine junge Katze!

Tarjas Herz verkrampfte sich. Immerhin hatten sie nicht versucht, Pluto allzu plump zu ersetzen, indem sie eine Katze mit demselben tiefschwarzen Fell kauften, aber trotzdem – sie wollte kein neues Haustier!

Tarja betrat das Wohnzimmer. Die Katze hockte auf Plutos Kratzbaum und schaute Tarja aus runden grünen Augen an. Dann sprang sie hinab, sauste an ihr vorbei, über den Flur und kurz darauf wieder zurück, um einen Zwischenstopp auf dem Sofa einzulegen.

»Schsch«, machte ihr Vater und wedelte mit einem Kissen, als der Wildfang begann, seine Krallen an der Lehne zu wetzen. »Na, wie findest du sie, Tarja?«, fragte er. »Sie hat noch keinen Namen. Mama und ich wollten, dass du einen aussuchst.«

»Mir egal«, murmelte Tarja, machte auf dem Absatz kehrt und verzog sich in ihr Zimmer.

»Sie haben mich schon wieder nicht gefragt«, berichtete sie Pluto, während sie ihr Lieblingsfoto von ihm in der Hand hielt. Sorgfältig wischte sie den wenigen Staub ab, der sich darauf angesammelt hatte, bevor sie es neben die Schachtel auf den geschmückten Nachttisch stellte. »Nie fragen sie mich, wenn sie eine wichtige Entscheidung treffen. Ich will keine neue Katze. Ich will dich zurück, auch wenn ich weiß, dass es nicht geht.« Eine Träne tropfte auf den roten Samt, den Tarja über das Tischchen gebreitet hatte. Weitere folgten und ihr Blick auf das Foto verschwamm.

5. Katzen und Hunde

Sommerwind fächerte ihr braunes Haar. Er strich über die Halme der Wiese und verwandelte sie in ein grün wogendes Meer mit bunten Blüten-Fischen darin. Eine knorrige Eiche ragte daraus hervor, umwuchert von einem Dickicht aus Sträuchern. Tarja lief darauf zu. Im und um den Baum bewegte sich etwas. Schemen huschten zwischen den Ästen, geschmeidig, wie es nur eine Tierart vermag. Schon hörte Tarja die dazugehörigen Laute, das mal durchdringende, mal leise Miauen, hin und wieder ein Fauchen. Eine dreifarbig gescheckte Glückskatzekauerte vor dem Dickicht und musterte Tarja. Dann sprang sie auf, rannte zu Tarja und strich ihr um die Beine, dabei maunzte sie auffordernd. Gleich darauf verschwand sie zwischen den Büschen, um kurze Zeit später auf einem der unteren Äste der Eiche aufzutauchen.

Tarjas Herz machte einen Sprung – neben der Glückskatze saß ein weiteres Tier. Drahtig, hochbeinig und nachtschwarz.

Pluto!

Sie rief seinen Namen. Der Kater blinzelte ihr zu, rührte sich aber nicht. Fieberhaft versuchte Tarja, zu ihm zu gelangen, doch das dornige Gestrüpp wies keine Lücke auf.

Sie zuckte zusammen, als sie fernes Gebell hörte, unter das sich wolfsähnliches Heulen mischte. Es klang nach einem ganzen Rudel! Eine Gänsehaut überlief Tarja.

Im Unterholz raschelte es. Blitzschnell erklommen ein Dutzend Katzen die Eiche. Auch Pluto und die Glückskatze kletterten höher hinauf, um sich im dichten Laubwerk zu verbergen.

Die Hunde kamen in Sichtweite. Zehn große, kräftige Tiere, vielleicht auch mehr.

Tarja sah gefletschte Zähne, gesträubtes Fell. Das wütende Knurren trieb sie zwischen die Dornen, die sie festhielten.Hinter ihr ertönte Hecheln, ganz nah.

Sie schrie …

Tarja schreckte hoch. Ihr Pyjama klebte nass geschwitzt am Körper. Sie schüttelte den Albtraum ab und bemühte sich, nur diejenigen Traumfetzen festzuhalten, die Pluto gezeigt hatten. Ihr war klar, dass man im Schlaf Dinge verarbeitete, die einen im wachen Leben beschäftigten. Bestimmt entsprang ihr Traum dem Wunsch, Pluto würde irgendwo weiterleben.

Nicht irgendwo, durchzuckte es sie, in Späterland.

Dass sie daran nicht früher gedacht hatte!

Als sie klein war, noch bevor sie in die Schule kam, hatte sie Späterland erfunden, den Tierhimmel. Tarja wusste noch genau, warum: Das Meerschweinchen von Hedda, ihrer Kindergartenfreundin, war gestorben und sie waren sich einig gewesen, es müsse in den Himmel kommen.

Damals hatte Oma Petra noch gelebt und Tarja war oft bei ihr gewesen. Als sie ihr von dem Meerschweinchen erzählte, hatte die Großmutter ihr sehr ernst erklärt, der Himmel sei den Menschen vorbehalten, weil Tiere keine unsterbliche Seele besäßen.

Tarja hatte das mit der Seele nicht ganz verstanden, vor allem nicht, warum Menschen eine haben sollten und Heddas Meerschweinchen nicht. Es schien ihr höchst ungerecht. Deshalb hatte sie sich Späterland ausgedacht, in das die Tiere nach ihrem Tod gelangten – über die Regenbogenbrücke. Dort war es schön, es herrschte immer Sommer und all die gestorbenen Haustiere lebten glücklich und in Frieden.

Im Laufe der Zeit hatten sie und Hedda sich Späterland immer detaillierter ausgemalt. Sie erschufen Landschaften sowie Fantasiewelten, die über Brücken mit Späterland verbunden waren. Auch vom Himmel der Menschen aus war Späterland zu erreichen, damit die Verstorbenen ihre Haustiere besuchen konnten und umgekehrt. Wie es sich für ein Zauberreich gehörte, besaß der Tierhimmel noch einen anderen, geheimen Namen. Dieser hatte die Macht, einen an jeden beliebigen Ort zu befördern, wenn man ihn aussprach. Aber wie lautete er? Tarja erinnerte sich nur daran, dass er irgendwie exotisch geklungen hatte. Hedda und sie hatten sich geschworen, ihn nie jemand anderem zu verraten. Schade, dass ihre Freundin schon wenig später fortgezogen und der Kontakt abgebrochen war, sonst hätte sie sie fragen können.

Tarja kuschelte sich im Bett zurecht und versuchte, wieder einzuschlafen. Der Gedanke, Pluto lebe in Späterland weiter und warte dort auf sie, gefiel ihr, auch wenn sie wusste, dass aus einer erfundenen Geschichte niemals Realität werden konnte. Höchstens im Traum.

Nur die wilden Hunde bereiteten ihr Kopfzerbrechen.

6. Bau endlich diesen Altar ab!

Seit einer geschlagenen Viertelstunde jagte die neue Katze einer Fellmaus hinterher. Einer neuen, denn Plutos Mäuse hielt Tarja unter Verschluss.

Clemens Wilbert schnappte sich das Spielzeug, um es erneut zu werfen. »Willst du nicht auch mal mit Bonnie spielen?«, forderte er Tarja auf, die auf dem Sofa saß und in der neuesten »Ein Herz für Tiere«-Zeitschrift blätterte.

Ihre Eltern hatten der Katze den Namen verpasst, weil Tarja sich hartnäckig weigerte, Interesse an dem Tier zu zeigen.

Tarja zuckte daher auch jetzt mit den Schultern und hob den Blick nicht von ihrer Lektüre.

»Wir wollten dir mit Bonnie eine Freude machen«, sagte ihr Vater leicht gekränkt. »Genau genommen war es meine Idee. Vielleicht nicht die beste, die ich hatte, denn die Kleine kann dir Pluto nicht ersetzen, ich weiß, aber gib ihr wenigstens eine Chance.«

»Mal sehen …«, sagte Tarja. »Pluto war geschickter mit der Maus.«

Niedlich war die junge Glückskatze schon. Linda war hellauf begeistert gewesen, als sie neulich zu Besuch kam. Aber sich mit ihr zu beschäftigen – sie gern zu haben –, fühlte sich wie Verrat an Pluto an.

Tarja sah sich um. Bonnie war weg. Wohin war sie auf einmal verschwunden?

In Tarjas Zimmer polterte es. Sofort eilte sie hinüber und überraschte Bonnie, wie sie auf dem Nachttisch saß und die frische Rosenblüte zerpflückte, die Tarja erst vorhin neben Plutos Porträt gelegt hatte. Das Bild lag auf dem Boden. Immerhin war der Rahmen heil geblieben.

»Verschwinde!« Tarja scheuchte die Katze hinaus und schloss die Tür, um vor weiteren Attacken geschützt zu sein. Dann gähnte sie herzhaft. Letzte Nacht hatte sie wieder schlecht geschlafen. Seit einer Woche ging das jetzt so, seit sie das erste Mal von Pluto geträumt hatte. Immer fand sie sich auf der Wiese in Späterland wieder, in der Nähe des Katzenbaums. Dann tauchte die Hundemeute auf, und Tarja schrak in heller Panik hoch. Zuletzt hatte sie festgestellt, dass die Hunde sich kein bisschen für sie interessierten. Sie waren einzig hinter den Katzen her. In dieser Hinsicht entsprach die Traumwelt überhaupt nicht dem Späterland der kleinen Tarja, wo sich alle Tiere miteinander vertrugen. Im letzten Traum waren ein paar der Hunde in das Bollwerk aus Sträuchern eingedrungen, und es entstand ein wütendes Streitgespräch zwischen den Tierarten. Das Knurren und Bellen der am Stamm hochspringenden Hunde wurde aus der Baumkrone mit Fauchen und kehligem Grollen beantwortet.

Urplötzlich mischte sich eine menschliche Stimme, die Tarja beim Namen rief, unter ihre Erinnerungen.

»Tarja? Warum antwortest du nicht?«

Mama. Tarja seufzte. Hat man hier nie Ruhe?

Als ihre Mutter ins Zimmer kam, streifte ihr Blick den Nachttisch und sie zog die Brauen zusammen. »Wird es nicht langsam Zeit, dass du diesen Altar abbaust?«

»Wieso? Mir gefällt’s. Und Pluto würde es auch gefallen.«

»Papa und ich verstehen deine Trauer, aber wir befürchten, dass du dich zu sehr hineinsteigerst. Dieser Totenkult …« Sie deutete auf den Tisch. »Und dann das Glöckchen um deinen Hals. Ich kann das dauernde Geklingel nicht mehr hören, so leid es mir tut.«

Tut dir gar nicht leid, dachte Tarja. Wobei ihre Mutter recht hatte, was das Klingeln anging. Es ertönte bei jeder noch so kleinen Bewegung, manchmal sogar, wenn sie sich nicht bewegte.

»Jedenfalls denken wir, es wäre besser, du suchst ein besonders schönes Foto aus. Das vergrößern wir und hängen es auf. Den Rest packst du in die Schachtel zu den anderen Sachen und wir stellen sie auf den Dachboden. Damit der Tisch endlich wieder frei für deine Bücher ist.«

Tarja schüttelte den Kopf. »Ihr wollt doch bloß, dass ich Pluto vergesse.«

Ihre Mutter presste die Lippen zusammen. Der Ärger war ihr anzumerken, obwohl ihre Stimme beherrscht klang. »Allmählich kann ich es nicht mehr hören. Tarja, wir machen uns Sorgen um dich! Du vergräbst dich in deinem Zimmer, du isst kaum, du sprichst nicht mit uns. Und wenn doch, geht es um den Kater. Du darfst dich ja an ihn erinnern, aber du musst endlich akzeptieren, dass er nicht mehr da ist.«

Tarja blätterte in ihrem Katzenbuch.

»Die Zeugnisse stehen an. Und die letzten beiden Arbeiten sind nicht gerade glänzend ausgefallen.«

»Was hat das damit zu tun?« Jetzt reichte es Tarja. »Als Alexejs Vater gestorben ist, hat er eine Weile nur Vieren und Fünfen geschrieben und alle hatten Verständnis.«

»Das kannst du doch nicht vergleichen«, schnappte ihre Mutter. »Sein Vater, Herrgott noch mal!«

Tarja fand, man könne das sehr wohl vergleichen, ein bisschen zumindest. Liebe war Liebe. Trauer war Trauer, ob um Mensch oder Tier. Dann dachte sie an das, was Oma Petra gesagt hatte. »Es gibt keinen Tierhimmel.« Sie schwieg. Mama war der gleichen Ansicht, das wusste sie, ohne mit ihr darüber gesprochen zu haben. Vermutlich glaubte sie an überhaupt keinen Himmel, sie ging ja nicht mal in die Kirche.

Monika Wilbert machte eine Handbewegung in Richtung Nachttisch. »Das räumst du auf jeden Fall weg«, ordnete sie an – mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Dann brauste sie aus dem Zimmer.

Mitten in der Nacht wurde Tarja durch ein leises Klingeln geweckt. Erst dachte sie, es gehöre zu ihrem Traum, aber dann merkte sie, dass sie nicht mehr schlief und das Geräusch immer noch hörte.

Plutos Glöckchen!

Das Erstaunliche daran war, dass sie das Band über Nacht abnahm und neben sich auf den Nachttisch legte. Wie konnte es dann aber klingeln?

Sie öffnete die Augen. Weil das Licht der Straßenbeleuchtung durch das Rollo schimmerte, war es im Zimmer nicht ganz dunkel. Tarja drehte den Kopf zur Seite und erblickte das matt glänzende Glöckchen. Es lag da und klingelte.

Eine Gänsehaut überlief sie. Das unheimliche Gefühl schloss nahtlos an ihren Traum an, in dem sie Pluto gesehen hatte, wie er unter einer Masse von zottigen Körpern begraben wurde. Gefletschte weiße Zähne und rot funkelnde Augen hatten aus den Fellen herausgeblitzt. Dann war die Meute fortgelaufen und hatte ihn mit sich genommen.

Tarja setzte sich kerzengerade im Bett auf. Plötzlich war alles ganz klar. Pluto brauchte ihre Hilfe! Das war die einzig logische Erklärung für das Klingeln und die Träume. Irgendwie musste sie einen Weg in diese andere Welt finden, und zwar in Wirklichkeit, nicht bloß im Traum!

Als ob ihre stumm getroffene Entscheidung gehört worden war, verstummte das Glöckchen.

In der nun wiedergekehrten nächtlichen Stille saß Tarja im Bett und grübelte.

Wenn Späterland existierte, musste es einen Weg dorthin geben, eine Brücke. In ihrer Vorstellung hatte diese Brücke aus den Strahlen des Regenbogens bestanden, aber wie half ihr das weiter?

Es sei denn …

Sie hatte stets einen bestimmten Regenbogen vor Augen gehabt, wenn sie in ihrer Fantasie nach Späterland reiste. Den über dem Grausteinfall!

Aus dem Physikunterricht wusste sie, dass der Regenbogen durch die Wassertröpfchen entstand, die das Sonnenlicht in seine einzelnen Farbbestandteile zerlegten. Sie war jedes Mal fasziniert gewesen, wenn sie mit Oma Petra und Opa Gregor, seltener mit ihren Eltern, einen Ausflug dorthin unternommen hatte.

Konnte es so einfach sein?

Morgen war Sonnabend und das Wetter sollte gut werden. Tarja beschloss, eine Radtour zu machen.

7. Am Grausteinfall

Kraftvoll trat Tarja in die Pedale, der Wind wehte ihr die langen Haare aus der Stirn. Auf der zwanzigminütigen Fahrt entlang der Landstraße war ihr bereits ordentlich warm geworden, doch der anstrengendste Teil lag noch vor ihr. Schon begann die Straße anzusteigen, um nach der nächsten Kurve noch ein paar Prozente zuzulegen. Bis auf zwölf, wie das Hinweisschild anzeigte, und damit genug, um im Winter Autofahrern, die ohne Schneeketten unterwegs waren, Probleme zu bereiten.

Tarja japste nach Luft, ihre Beine schmerzten. Egal. Eine Pause würde sie sich erst gönnen, wenn sie am Grausteinfall anlangte. Es war noch früh, halb neun, und weil die Sommerferien erst übernächste Woche anfingen, würden hoffentlich keine Wanderer unterwegs sein.

Endlich hatte Tarja den steilen Abschnitt bewältigt und bog auf einen Waldweg ab. Immer noch schnaufend schloss sie ihr Fahrrad an einen Baum, den dichtes Gebüsch verdeckte, sodass man es von der Straße aus nicht sehen konnte. Seit ihr letztes Rad gestohlen worden war, traf sie Vorsichtsmaßnahmen, damit dem neuen nicht dasselbe Schicksal widerfuhr. Den Helm hängte sie an den Lenker.

Den letzten Teil der Strecke würde sie zu Fuß zurücklegen. Sie war so ins Schwitzen gekommen, dass sie ihre Sommerjacke auszog und sie sich um die Taille band. Dann nahm sie einen Schluck aus der Wasserflasche, die sie vorhin in den Rucksack gepackt hatte – zusammen mit einer orange-rot karierten Picknickdecke, ihrem Smartphone und etwas Verpflegung.

Um sie herum zwitscherten Vögel, und schon hier konnte sie das donnernde Rauschen des Wasserfalls hören. Von unten war schlecht an ihn heranzukommen, dazu hätte sie über Morast und glitschige Steine klettern müssen. Also ging sie durch den Wald, über einen mit Wurzeln und Steinen gespickten Pfad, bis sie das Sprühen der Gischt durch die Baumstämme erkennen konnte.

Oben angekommen blieb Tarja an dem hölzernen Geländer stehen, das Besucher davon abhalten sollte, am Steilhang neben dem Wasserfall herumzuklettern. Eine Weile beobachtete sie, wie das Wasser über die Felsen hinabstürzte. Obwohl die Wildheit des Baches sie beeindruckte, kam es Tarja so vor, als sei der Wasserfall früher mächtiger gewesen. Ob es daran lag, dass sie lange nicht mehr hier gewesen und in dieser Zeit gewachsen war? Vielleicht war auch die anhaltende Trockenheit schuld, die den Pegel des Grausteinbachs hatte absinken lassen.

Weit und breit ließ sich niemand blicken.

Was nun? Wie sollte der Wasserfall ihr helfen, nach Späterland zu gelangen?

Auf einmal fand Tarja ihre Idee kindisch. Was hatte sie sich erhofft? Dass aus dem Nichts eine Brücke wuchs und sie einfach hinüberspazieren konnte? Späterland war ein Fantasieprodukt ihrer Kindheit. Aber jetzt war sie zwölf Jahre alt, zwölf dreiviertel, um genau zu sein.

Obwohl sie sich gern in den fantastischen Welten ihrer Bücher vergrub, in denen Tiere sprechen konnten und Magie wie selbstverständlich zum Leben dazugehörte, wusste sie, dass nichts davon real war. Da hätte sie auch wieder an den Weihnachtsmann glauben können.

Plötzlich bemerkte sie den Bogen aus buntem Licht, der sich über einen vorstehenden Felsen auf halber Höhe des Wasserfalls spannte. Im selben Moment klingelte das Glöckchen an ihrem Hals. Das genügte als Zeichen.

Tarja vergewisserte sich, dass sie allein war, dann schwang sie sich mit dem Rucksack auf dem Rücken über das Geländer und wagte den Abstieg.

Es ging einfacher als erwartet, denn überall ragten Wurzeln und fest sitzende Steine aus dem Erdreich, an denen sie Halt fand. Als sie die Stelle erreichte, über der sie den Regenbogen gesehen hatte, pfiff Tarja leise. Da war eine Höhle! Ziemlich weit seitlich und halb verborgen vom feinen Sprühnebel. Wenn der Pegel des Baches höher war, musste die Höhle komplett hinter dem Wasservorhang versteckt sein, aber jetzt könnte sie hinübergelangen.

Über ihr kollerten Kiesel. Tarja schrak zusammen. Hatte sie jemand beobachtet? Das bedeutete Ärger, denn es war verboten, über die Absperrung zu klettern. Und zusätzlichen Ärger konnte Tarja wahrhaftig nicht gebrauchen. Ihre Mutter hatte heute Morgen noch immer verstimmt gewirkt, sicher auch, weil sie schon wieder das Glöckchen trug. Als sie ihr von der geplanten Radtour erzählte, hatte sie bloß genickt, ohne die üblichen Ermahnungen, vorsichtig zu sein und ja den Helm aufzusetzen. Aber einerlei, wer da oben herumschlich, es gab kein Zurück mehr. Sobald sie die Höhle erreichte, war sie vor fremden Blicken geschützt.

Die restlichen Meter musste Tarja über algenbedeckte Steine klettern, die kaum Halt boten. Ihr Fuß glitt ab. Fast wäre sie weggerutscht und in den kleinen Teich unten am Wasserfall gestürzt. Im letzten Moment gelang es ihr, sich an dem breiten Vorsprung vor der Aushöhlung im Fels emporzuziehen. Schnell tauchte sie unter dem Vorhang aus feinem Nebel hindurch und kletterte hinein.

Ein sagenhafter Anblick bot sich ihr von dort aus. Wie luftige weiße Gardinen hingen perlende Wasserströme über dem Eingang. Dahinter lugten Baumwipfel hin