Lovecrafts Schriften des Grauens 38: Hochmoor - Julia A. Jorges - E-Book

Lovecrafts Schriften des Grauens 38: Hochmoor E-Book

Julia A. Jorges

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Beschreibung

In einem von der Welt abgeschiedenen Tal im Oberharz finden zwei Außenseiter unverhofft ein Zuhause.Seltsame Bräuche prägen das Zusammenleben der Einwohner. Über dichten Wäldern, nebelverhangenen Mooren und einem Berg, der von Tunneln durchzogen ist, liegt ein Geheimnis, von dem nur die Alteingesessenen mit ihren merkwürdigen Gesichtern wissen. Ein Geheimnis, das sich den beiden Neuankömmlingen erst erschließt, als es für eine Flucht zu spät ist.

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In dieser Reihe bisher erschienen:

2101 William Meikle Das Amulett2102 Roman Sander (Hrsg.) Götter des Grauens2103 Andreas Ackermann Das Mysterium dunkler Träume2104 Jörg Kleudgen & Uwe Voehl Stolzenstein2105 Andreas Zwengel Kinder des Yig2106 W. H. Pugmire Der dunkle Fremde2107 Tobias Reckermann Gotheim an der Ur2108 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Xulhu2109 Rainer Zuch Planet des dunklen Horizonts2110 K. R. Sanders & Jörg Kleudgen Die Klinge von Umao Mo2111 Arthur Gordon Wolf Mr. Munchkin2112 Arthur Gordon Wolf Red Meadows2113 Tobias Reckermann Rückkehr nach Gotheim2114 Erik R. Andara Hinaus durch die zweite Tür2115 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo2116 Adam Hülseweh Das Vexyr von Vettseiffen2117 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 22118 Alfred Wallon Salzburger Albträume2119 Arno Thewlis Der Gott des Krieges2120 Ian Delacroix Catacomb Kittens2121 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 32122 Tobias Reckermann Gotheims Untergang2123 Michael Buttler Schatten über Hamburg2124 Andreas Zwengel Finsternacht2125 Silke Brandt (Hrsg.) Feuersignale2126 Markus K. Korb Treibgut2127 Tobias Reckermann (Hrsg.) Drommetenrot2128 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 42129 Peter Stohl Das Hexenhaus in Arkheim2130 Silke Brandt (Hrsg.) Das Kriegspferd2131 Anton Serkalow Berge des Verderbens2132 Klaus-Peter Walter Sherlock Holmes gegen Cthulhu2133 T. E. Grau Diese alten und dreckigen Götter2134 Anton Serkalow Träume im Heckenhaus2135 Michael Buttler Die Astronautenvilla2136 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 52137 Anton Serkalow Das Fest2138 Julia A. Jorges Hochmoor2139Manuela Schneider Unbekannter Feind2140 Jörg Kleudgen & Uwe Voehl Halligspuk

Hochmoor

Lovecraft’s Schriften des Grauens

Buch 38

Julia A. Jorges

Dieses Buch gehört zu unseren exklusiven Sammler-Editionen

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© 2024 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a,  51570 Windeck

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Mario Heyer unter Verwendung der KI Software Midjourney

Logo: Mark Freier

Vignette: Jörg Kleudgen

Satz: Gero Reimer

2138v1

ISBN: 978-3-7579-9525-6

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Vorwort

In einem von der Welt abgeschiedenen Tal im Oberharz finden zwei Außenseiter unverhofft ein Zuhause.

Seltsame Bräuche prägen das Zusammenleben der Einwohner. Über dichten Wäldern, nebelverhangenen Mooren und einem Berg, der von Tunneln durchzogen ist, liegt ein Geheimnis, von dem nur die Alteingesessenen mit ihren merkwürdigen Gesichtern wissen. Ein Geheimnis, das sich Neuankömmlingen erst erschließt, wenn es für eine Flucht zu spät ist.

Der vorliegende Roman ist dem Andenken des verstorbenen US-amerikanischen Autors Wilum Hopfrog Pugmire (*3. Mai 1951 - †26. März 2019) gewidmet. Ähnlich schillernd und ambivalent wie die Persönlichkeit W. H. Pugmires, der sich selbst bescheiden als „Lovecraft fan-boy“ bezeichnete, sind seine Geschichten. So liegt deren Augenmerk nicht allein darauf, kosmischen Horror heraufzubeschwören. Vielmehr zelebriert Pugmire in seinem Werk das Numinose, das Erhabene im Schrecken. Zugleich ist Pugmires Sesqua-Valley ein Ort gelebter Toleranz gegenüber dem Andersartigen.

Hochmoor nähert sich dem Mythos im Sinne W. H. Pugmires und setzt seine Protagonisten, beide auf die eine oder andere Art seelisch verwundet, kosmischem Entsetzen – und Entzücken – aus. Das zwischen den Welten gelegene Tal und die Stadt mit ihren merkwürdigen Bewohnern ist kein bloßer Ort der Finsternis, sondern zugleich eine Zuflucht für jene, die in der gewöhnlichen Welt keinen Platz finden.

Der Roman ist vorgesehen als erster Teil einer Reihe.

„Die Kräfte, die unsere Welt gestalten, sind größer als diese.“

(zugeschrieben John Dee, 1527-1608/09, englischer Mathematiker, Astronom, Astrologe, Geograf und Mystiker)

KapitelEins

In der Tasse stand eine Pfütze kalten Tees, Krümel und verschmierte Cremereste klebten an Teller und Gabel. Die Unordnung ärgerte Olve. Normalerweise räumte er sein Geschirr sofort nach Benutzung weg, aber gestern hatte er sich nicht mehr dazu durchringen können und seine Faulheit mit der Ausrede entschuldigt, es sei schließlich sein Geburtstag. Er holte das Versäumte nach und brachte aus der Küche einen Lappen mit, um die Tischplatte zu säubern. Nachdem er sie mit dem Ärmel trocken gewischt hatte, legte er den Brief vor sich hin und strich ihn glatt. Der Absender, ein Goslarer Notariat, war ihm schon unten, im Funzellicht des Treppenhauses, aufgefallen. Behutsam löste er die Umschlaglasche. Ein zweiter, kleinerer Brief kam zum Vorschein. Olve schlitzte ihn mit dem Brieföffner auf und entfaltete einen einzelnen Bogen. Die ungeduldige, nach rechts geneigte Schrift in schwarzer Tinte wirkte vertraut. Ein Gefühl überkam ihn, als öffnete er eine alte Truhe, die über Jahrzehnte vergessen und verstaubt auf dem Dachboden gestanden hatte.

Hallo Olve,

schau nicht so überrascht, du weißt, ich bin unberechenbar. Deine Worte.

Aber du hast schon recht, es muss dich erstaunen, dieses unerwartete Lebenszeichen von mir. Wie alle anderen hast du natürlich angenommen, ich sei entweder durchgedreht, so ohne jede Erklärung alle Brücken hinter mir abzubrechen, oder man hätte mich verschleppt und mein verfaulender Körper läge auf dem Grund irgendeines Sees oder im Wald verscharrt. Stattdessen erfreue ich mich bester Gesundheit, physisch wie psychisch (soweit man Letzteres selbst beurteilen kann, wie du wohl anmerken würdest). Ich hätte schon früher Kontakt zu dir aufgenommen – als einzigem! –, aber meine Versuche, dich telefonisch zu erreichen, schlugen fehl. Also schreibe ich dir diesen Brief und hinterlege ihn beim Notar mit der Anweisung, dich ausfindig zu machen und ihn dir zum gegebenen Zeitpunkt zu übersenden. Hoffentlich ist nicht dein plötzlicher Tod der Grund dafür, dass ich dich unter der Telefonnummer, die deine Mutter mir gab (ich rief unter falschem Namen an), nicht erreichte! Aber ein durch und durch vernünftiger Mensch wie du wird keine unnötigen Risiken eingehen und Sachen wie (il-)legale Drogen, teure Autos und billige Tussis meiden. Optimistisch, wie ich bin, gehe ich einfach mal davon aus, dass es den guten alten Olve auch 2023 noch gibt. Alles Gute zum Geburtstag übrigens! Irgendwann Mitte Oktober, richtig oder?

Erinnerst du dich an die Sache auf dem Petersberg? Du hast dich geweigert, darüber zu reden, und wolltest alles vergessen, im Gegensatz zu mir. Ich bin in derselben Nacht noch mal hingegangen, allein. Es hat sich gelohnt, du glaubst nicht, wie sehr!

Was das alles bedeutet, willst du wissen? Das ist nichts, was sich in ein paar Zeilen erklären lässt. Ich habe nicht die Geduld zum Schreiben, und außerdem läuft mir die Zeit davon. Wenn du Antworten willst, dann komm Ende Oktober nach Goslar. Such das Notariat Brinkmeier in der Bäringerstraße auf oder, falls es wider Erwarten nicht mehr existieren sollte, seinen Nachfolger. Du musst dich ausweisen, dann händigt man dir die Schlüssel zu meiner Wohnung aus. Ich werde später hinzukommen.

Alles Weitere vor Ort. Ich freue mich auf unser Wiedersehen.

Eins noch: Du musst UNBEDINGT spätestens am 31. Oktober in Goslar sein. Falls du immer noch so überpünktlich bist wie früher, sollte dir das nicht schwerfallen.

Es grüßt dich herzlich

Nihil

Der Brief datierte auf den 31.10.2011, Briefstempel und Anschreiben des Notariats hingegen waren aktuell. Nihil lebte also, zumindest hatte sie vor zwölf Jahren noch gelebt. Wo steckte sie? Ihr plötzliches Verschwinden hatte Verwandte und Freunde in Verzweiflung gestürzt und die Polizei vor ein Rätsel gestellt. Er selbst war wenig später nach Helmstedt gezogen. Dafür hatte es mehrere Gründe gegeben, doch vor allem der Verlust seiner besten und einzigen Freundin hatte bewirkt, dass er sich in seiner Heimatstadt nicht mehr wohlfühlte. Warum nahm sie nach all der Zeit Kontakt zu ihm auf? Warum ein Notar, um ihm einen zwölf Jahre alten Brief auszuhändigen? Nihil war immer schon speziell gewesen, impulsiv, ständig unter Strom, sprühend vor verrückten, manchmal gefährlichen Ideen. Sie waren beide so unterschiedlich gewesen, aber dennoch waren sie Freunde geworden – auch wenn er nicht alle ihre Geheimnisse kannte. Längst nicht alle, wie ihm jetzt klar wurde. Sie hingegen hatte in ihm lesen können wie in einem aufgeschlagenen Buch.

Nihil hieß natürlich nicht wirklich so. Aber Nihil hatte besser zu ihrer Persönlichkeit gepasst als der Name, den ihre Eltern für sie gewählt hatten, Nathalie. Aber woher sollten Eltern wissen, wie sich ihre Kinder später entwickelten? Du solltest dich glücklich schätzen, dass deine Eltern mehr Phantasie besaßen als meine, hatte sie erwidert, als er sagte, ihm gefalle ihr richtiger Name. Im Gegensatz zu seinem eigenen, der alle Welt fälschlicherweise vermuten ließ, er hieße eigentlich Oliver. Im Herbst 1999 hatte er Nihil zuletzt gesehen, einige Monate nach dem Abitur, das lag vierundzwanzig Jahre zurück.

Er wusste, ihr Brief würde ihm schlaflose Nächte bereiten. Er wusste auch, dass er ihre Einladung annehmen würde. Das Telefon läutete, er erkannte die Nummer und stellte das Rufzeichen auf lautlos. Iris war nett und sah passabel aus, aber sie redete zu viel. Manchmal kam ihm ihr Mitteilungsdrang gelegen – er glich seine Schweigsamkeit aus –, aber meist empfand er ihn als anstrengend. Gestern hatte sie ihn gelöchert, wie er seinen Geburtstag feiere. Sie hatte ihm nicht glauben können oder wollen, als er ihr mitteilte, er hielte nichts von derartigen Feiern, und ihn zu überreden versucht, in irgendeiner angesagten Bar einen Drink mit ihr zu nehmen. Natürlich hatte er abgelehnt. Seit er allein darüber bestimmte, war sein Geburtsdatum ein gewöhnlicher Tag für ihn, an dem er sich als einzige Besonderheit alljährlich ein Stück Sahnetorte gönnte. Ein bisschen freute er sich dennoch darüber, dass Nihil in ihrem Schreiben daran gedacht hatte.

Gedankenverloren starrte er weiter auf den Brief, dessen Inhalt er längst auswendig kannte. Kurzfristig Urlaub genehmigt zu bekommen, würde schwierig werden. Notfalls musste er krankfeiern, obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte. Auch wenn der Job lachhaft war. Was Nihil wohl dazu sagen würde, sähe sie ihn im Rewe-Markt an der Kasse sitzen. Er, der sein Abitur mit 1,2 bestanden hatte, als Jahrgangsbester. Es wäre ein glatter Einserschnitt gewesen, hätte der Baustellenlärm von draußen nicht seine Konzentration beeinträchtigt.

Die Sache auf dem Petersberg. Selbstverständlich erinnerte er sich daran, wie hätte er je ihr seltsames Verhalten an diesem letzten Abend vergessen können? Monate-, ach was, jahrelang hatte es ihn verfolgt und immer wieder nach einem Zusammenhang suchen lassen, ohne Erfolg. Bilder stiegen in ihm auf. Szenen, von seinem Gehirn akkurat gespeichert und in einem speziellen Zimmer abgelegt. Staub hatte sich auf Fußboden und Möbeln gesammelt, aber wenn er ihn beiseite wischte, war alles da, exakt und vollständig, und es erschreckte ihn mehr, als er geahnt hätte, weil es tief in ihm etwas aufwühlte.

KapitelZwei

Am Vormittag des 30. Oktobers stieg Olve aus dem Regionalzug und machte sich vom Goslarer Bahnhof aus auf in Richtung Bäringerstraße. Die Jacke hatte er oben auf seinen Rucksack geschnallt, die Hemdsärmel hochgeschoben. Sollte die Sonne sich herauswagen, könnte es unangenehm warm werden, wie bereits im September, der sich eher wie Hochsommer angefühlt hatte, aber im Augenblick stand das nicht zu befürchten. Die Wolken hingen tief und verhüllten die Hänge von Rammels- und Steinberg.

Beschwingt schritt Olve aus, endlich hatte das Warten ein Ende: Die Zeit schien sich in den vergangenen knapp vier Wochen enorm ausgedehnt zu haben. Er hatte für den heutigen Montag sowie den 1. November freibekommen, Letzteren dank Iris, die ihren freien Tag mit ihm getauscht hatte. Du schuldest mir was, hatte sie gesagt und ihm zugezwinkert. Ja, das tat er, bestätigte er, ohne ihr Zwinkern so recht deuten zu können.

Bereits an dem Abend, als er Nihils Brief las, hatte er sich vergewissert, dass das Notariat Brinkmeier noch existierte. Er fand es auf Anhieb. Das Prozedere der Schlüsselübergabe nahm erfreulich wenig Zeit in Anspruch, und so stand Olve fünfzehn Minuten, nachdem er die Kanzlei betreten hatte, schon wieder auf der Straße. Er schlug den Weg zum Marktplatz ein, seine Finger spielten mit den zwei Schlüsseln in der Jackentasche, die an einem Anhänger in Form eines Miniaturgolfballs hingen. Während er durch die schmalen Straßen schritt, nahm er begierig die Umgebung in sich auf. Einiges hatte sich verändert, aber das Meiste sah noch genauso aus wie bei seinem letzten Besuch und vieles noch wie zu der Zeit, als er gemeinsam mit Nihil die Schulbank des Ratsgymnasiums drückte.

Er ließ die Marktkirche linker Hand liegen und bog vor dem ehrwürdigen Patrizierhaus Brusttuch, dessen Name auf den ungewöhnlichen trapezförmigen Grundriss zurückging, ein in die Bergstraße. Je mehr er sich seinem Ziel näherte, desto stärker machte sich das Gefühl bemerkbar, eine Zeitreise zu unternehmen. Wie oft war er in den ausgehenden Neunzigern diesen Weg gegangen, auf dem schmalen, stellenweise abschüssigen Bürgersteig, der das holperige Kopfsteinpflaster säumte. Zwischen schön restaurierten Fachwerkhäusern mit floralen Schnitzereien einerseits und dem krassen Gegenstück andererseits – der ehemaligen Szenekneipe Himmelblaue Trichterwinde. Nun prangte ein anderer Name an der nachlässig erneuerten Eingangstür, das große Fenster war graffitiverschmiert und gesprungen. Schon damals ein schäbiges Gebäude, machte es heute einen verlorenen, baufälligen Eindruck.

Olve stellte sich auf die Zehenspitzen, um durch das trübe Glas einen Blick ins Innere zu werfen. Sein Spiegelbild zeigte einen Mann mittleren Alters, leidlich schlank, wenn auch nicht sportlich, das lange, allmählich dünn werdende dunkelblonde Haar zum Pferdeschwanz gebunden, auf der Nase eine Brille mit schwarzem Metallgestell. Viele seiner Geschlechtsgenossen kämpften in diesem Alter mit einer Midlife-Crisis, er nicht. Es gab nichts, was er hätte infrage stellen können. Keine Frau, keine Kinder, nicht mal eine Freundin. Keine berufliche Karriere, kein Eigenheim, spektakuläre Reisen oder Hobbys. Von der Einrichtung des Trichters, damals ein Treff für Punks, Gruftis und anderes alternatives Volk, waren nur ein paar ramponierte Stühle geblieben und die Theke. Ein klägliches Bild. Hier wurden keine Nächte mehr durchgefeiert, und ob sich das noch einmal ändern würde, stand in den Sternen. Die Corona-Pandemie der letzten Jahre hatte dem Gaststätten- und Clubgewerbe übel mitgespielt. Vielleicht war auch das Interesse der Jugendlichen an kleinen Szene-Lokalen erloschen. Olve wippte zurück auf die Fersen. Warum deprimierte ihn der Anblick der aufgegebenen Kneipe? Lag es an dem Eindruck, etwas verpasst zu haben, was er nicht mehr nachholen konnte? Für manche Dinge musste man jung sein.

Von der Bergstraße bog er in eine Seitenstraße ab. Nihils Straße. Als er an der schlichten Fassade des schmalen Hauses, das sich zwischen zwei Fachwerkhäuser drückte, emporblickte, hatte er ein Déjà-vu. Genauso hatte er vor acht Jahren hier gestanden, bei seinem letzten Besuch in der Kaiserstadt. Hatte zu den zwei Fenstern im zweiten Stock hochgeschaut, von denen er wusste, dass dahinter Nihils kleine Wohnung lag. Wie heute war er die Klingelschilder durchgegangen und hatte an der entsprechenden Stelle nur ein weißes Feld gefunden. Wann war sie zurückgekehrt? Er hatte überlegt, ihre Eltern anzurufen, aber ein unbestimmtes Gefühl hatte ihn davon abgehalten. Er zog den Schlüsselbund aus der Tasche, die anhängende Kugel war warm und ein wenig feucht, und schloss auf. Das dämmrige, enge Treppenhaus mit den durchgetretenen Holzstufen sah genau so aus, wie er es in Erinnerung hatte. Auch der Geruch hatte sich nicht verändert, nach Holz, Bohnerwachs und Staub. Pro Etage gab es nur eine Wohneinheit. Im Erdgeschoss residierten noch immer Förstermanns. Das Ehepaar, damals schon kurz vor dem Rentenalter, musste heute um die achtzig sein.

Der erste Stock beendete Olves Eindruck, eine Zeitkapsel aufgetan zu haben. Bunte Aufklebeblumen an der Tür, daneben ein Schild aus Modelliermasse mit der Aufschrift Hier lebt und liebt Familie Marten. Davor standen drei Paar Kinderschuhe in verschiedenen Größen. Aus der Wohnung ertönte Babygeschrei und es roch nach gebratenen Zwiebeln. Damals hatte eine alleinstehende Frau hier gewohnt, etwa so alt wie er und Nihil heute. Die neuen Nachbarn mussten für Nihil ein Albtraum sein. Sie hatte Kinder gehasst und sich vehement dagegen ausgesprochen, je welche zu bekommen.

Vor der obersten Wohnung lag keine Fußmatte, und auch hier kein Name. Olve legte das Ohr an die Tür. Halb rechnete er damit, gleich würde sie aufgerissen von Nihil, die die Nummer mit der Kanzlei und dem Schlüssel nur abgezogen hatte, um das Wiedersehen dramatischer zu gestalten. Sie wusste genau, wie sehr er solche Spielchen hasste, aber ihm blieb nichts anderes übrig, als sich darauf einzulassen. Wie früher. Nihil war stets die Tonangebende in ihrer Freundschaft gewesen.

Er schloss auf und trat ein. Durch die offen stehenden Türen fiel Licht in den kleinen Flur, der durch den düsteren Rotton noch winziger erschien. Olve hatte damals beim Streichen geholfen, 1998 musste das gewesen sein, kurz vor Weihnachten. Heute wie damals fragte er sich, wie sie die Miete hatte aufbringen können als Schülerin der zwölften Klasse. Sie war viel unterwegs gewesen, erschien oft zu spät zu Verabredungen; komplett versetzt hatte sie ihn jedoch nie. Ab einem bestimmten Zeitpunkt rechnete er mit ihrer Unpünktlichkeit und hatte immer ein Buch dabei, um sich die Wartezeit, auf der Treppe zum Dachboden sitzend, zu verkürzen. Jemand anderem hätte er spätestens die zweite Verspätung nicht verziehen, aber Nihil konnte er nichts länger als ein paar Minuten übelnehmen.

Links lag das Bad, daneben die Küche und am Ende des Flurs Schlaf- und Wohnzimmer, an die rechte Wand grenzte bereits das Nachbarhaus. Olve rätselte, wie die Familie in der Wohnung darunter, die denselben Schnitt besaß, in so beengten Verhältnissen leben konnte. Aber das sollte nicht sein Problem sein, ihn trieb die Frage um, was ihn hier erwartete. Seine alte Freundin jedenfalls nicht, aber eine seit vierundzwanzig Jahren nahezu unveränderte Einrichtung. Dieselben rot, grün und schwarz gestrichenen Raufasertapeten, dieselben dunkelgrauen Teppichböden, dieselben Möbel. Musikanlage, CDs und ein Großteil der Bücher fehlten, und auch die Stellen, an denen Nihils Kohlezeichnungen gehangen hatten, waren leer. Das Bett im Schlafzimmer fand Olve ordentlich hergerichtet, aber wie alles in der Wohnung von einer dicken Staubschicht überzogen, die durch sein Vorbeigehen hochwirbelte. Es roch dumpf. Er öffnete das Fenster und blickte auf mehrere Hinterhöfe, an deren Mauern die leuchtend roten Blätter von Efeu und wildem Wein emporrankten. Über den schindelgedeckten Dächern erhob sich die Kaiserpfalz und weiter im Hintergrund der Rammelsberg, dessen baumlose Kuppe sich in der diesigen Luft verbarg.

Mit dem Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, schaute Olve in den Kleiderschrank, gähnende Leere schaute zurück. Er ging hinüber in die Küche, wo er sich ein Glas aus dem Hängeschrank nahm. In der kleinen Vorratskammer lagerten ein paar abgelaufene Dosen und Nudelpackungen, der Kühlschrank lief nicht und enthielt lediglich muffige Luft. Als Olve den Wasserhahn über der Küchenspüle aufdrehte, entstand ein gurgelndes Geräusch. Das anfangs schubweise herausfließende Wasser war rotbraun. Er wartete, bis es klar aus der Leitung kam, bevor er das Glas darunter hielt. In kleinen Schlucken trinkend, ging er herum, öffnete sämtliche Fenster und schaltete probehalber das Licht ein. Entgegen seiner aufkommenden Befürchtung war der Strom nicht abgestellt.

Würde Nihil kommen? Über ihren Aufenthaltsort hatte man ihm in der Kanzlei keine Auskunft geben können oder wollen. Alles Mögliche konnte ihr in den vergangenen zwölf Jahren zugestoßen sein. Um sich abzulenken, befasste er sich mit pragmatischen Überlegungen. Falls Nihil bis zum Abend nicht erschien, würde er in ihrem Bett schlafen; das Sofa war zu klein und der Fußboden zu hart. Auch musste er angesichts des morgigen Feiertags noch Einkäufe erledigen, um nicht zu verhungern.

Als er an der Wohnung im Erdgeschoss vorbeiging, wurde die Tür aufgezogen. Herr Förstermann – es konnte nur er sein – stand im Türrahmen, gestützt auf einen Gehbock. Er hatte fast die Hälfte seiner früheren Körpermasse eingebüßt, der Bierbauch war kränklicher Hagerkeit gewichen, seine Augen blickten misstrauisch aus tiefen Höhlen.

„Ich kenn Sie doch!“, sagte er mit kratziger Altmännerstimme. Es klang wie ein Vorwurf.

Ungehalten über die Verzögerung seiner Einkaufspläne, blieb Olve stehen. „Dann haben Sie ein gutes Gedächtnis“, sagte er. Nihil hatte Förstermann immer den Blockwart genannt, fiel ihm ein und er musste grinsen.

„Sie sind der Freund von der Halbstetter. Sind jeden Tag hoch zu ihrer Wohnung.“

„Nicht jeden Tag“, korrigierte Olve ihn.

Der Alte ging nicht darauf ein. „Waren der einzige, der nen halbwegs vernünftigen Eindruck machte. Die anderen Typen, die hier ein- und ausgingen … Aber sie war ja selbst so eine. Was wollen Sie hier? Die Halbstetter ist nicht da.“

„Wann war sie denn das letzte Mal hier?“

Förstermanns kahles Haupt wackelte nachdenklich. „Kann mich nicht dran erinnern, sie in den letzten Jahren gesehen zu haben.“

„Oh … Dann noch einen schönen Tag.“ Dass der Nachbar Nihil lange nicht zu Gesicht bekommen hatte, bestätigte nur das, was ihm der Zustand der Wohnung bereits mitgeteilt hatte. Seiner Hoffnung auf ein Wiedersehen verpasste es dennoch einen zusätzlichen Dämpfer.

„Sie waren ziemlich da lange oben“, rief der Alte ihm hinterher. „Was haben Sie da gemacht? Haben Sie nen Schlüssel für die Wohnung der Halbstetter? Eine Schande, Wohnraum so lange leer stehen zu lassen.“

„Ich muss los“, rief Olve über die Schulter. Typen, die bei Nihil ein- und ausgegangen waren. Der Satz ärgerte ihn. Natürlich hatte er von ihren oft wechselnden Beziehungen gewusst. Voller Lebenslust war sie gewesen, hungrig nach Erfahrungen und geradezu unverschämt selbstbewusst. Obwohl er die Gewissheit genossen hatte, eine Konstante in ihrem Leben zu sein, nicht austauschbar wie die, mit denen sie zeitweilig das Bett teilte, hatte er sich heimlich danach gesehnt, mehr für sie zu sein als nur der gute Freund. Doch das hätte unweigerlich das Ende ihrer Freundschaft bedeutet, und so hatte er ihr nie seine wahren Gefühle gestanden.

Nach dem dämmrigen Treppenhaus blendete ihn das helle Licht vor der Tür, und er war froh, dass seine Brille ein selbsttönendes Modell war und sich den Lichtverhältnissen anpasste. Wider Erwarten hatten sich die Wolken verzogen und die Altstadt badete im warmen Licht eines goldenen Oktobertages. Er beschloss, einen Rundgang zu machen, bevor er sich mit der Notwendigkeit des Lebensmitteleinkaufs befasste. An der Marktkirche wich er der Goslarer Bimmelbahn aus, die mit aggressivem Klingeln auf sich aufmerksam machte. Die Rückseite des Rathauses hatte einen modernen verglasten Anbau bekommen. In dem vollständig sanierten historischen Gebäude befanden sich nun der Sitzungssaal des Stadtrats, ein Informationszentrum zum UNESCO-Welterbe, die Touristeninformation und öffentliche Toiletten.

Er überquerte die Straße und betrat den Schuhhof, der auf drei Seiten von Häuserzeilen, viele mit prächtigem Fachwerk verziert, gesäumt wurde. Die Stühle vor der Eisdiele waren voll besetzt. Zwischen Touristengruppen hindurch schlängelte er sich zur Stirnseite des kopfsteingepflasterten Platzes. Da war der China-Laden, in dem er als Jugendlicher häufig Schwarztee in allen Variationen gekauft hatte, um ihn in seinem Zimmer säuberlich in beschriftete Dosen abzufüllen, aus denen er täglich die Sorte für sein nachmittägliches Teeritual auswählte. Aus der Eingangstür wehte der Duft von Gewürzen, Räucherwerk und Erinnerungen. Die Tür schwang auf und ein Rentnerpaar kam heraus, er trat beiseite.

„Passen Sie doch auf!“

Er wandte den Kopf und erkannte, dass er um ein Haar mit einer Frau kollidiert wäre, die ihn kopfschüttelnd anblickte. Ihm stieg das Blut ins Gesicht und er machte, dass er fortkam. Abseits der Einkaufsmeile hoffte er auf weniger Trubel und schlug den Weg in Richtung Abzucht ein, dem Flüsschen, das die Altstadt durchströmte und seinen Namen daher hatte, dass es früher die beim Bergbau entstandenen Abwässer abgezogen hatte. Kaum zu glauben, dass der harmlose Bach in seinem hohen gemauerten Bett vor sechs Jahren, im Juli 2017, zum reißenden Strom angeschwollen war, der die anliegenden Straßen überflutet und zahlreiche Häuser verwüstet hatte. Nachdem er, der Stadtmauer folgend, bis zum Breiten Tor gewandert war, machte er sich auf den Rückweg entlang der alten Wallanlagen, in deren Senken mehrere Teiche lagen. Wie eh und je ragte der imposante Zwinger über dem Kahnteich auf. Von dem Gewässer ging ein fauliger Geruch aus. Ein kleiner toter Fisch dümpelte am Rand des schaumbedeckten Ufers.

In gedrückter Stimmung erledigte Olve seinen Einkauf in einem Discounter. Dass sich die Kunden am späten Nachmittag vor dem arbeitsfreien Reformationstag darin drängten, machte es nicht besser. Olve setzte die Ohrenstöpsel, die er stets bei sich trug, ein, um den schlimmsten Lärm auszublenden. Eine Stunde später kehrte er, erschöpft, aber mit ausreichend Essen und Getränken für zwei Tage, zurück in Nihils Wohnhaus. Zu seiner Erleichterung fing ihn Herr Förstermann diesmal nicht am Treppenaufgang ab.

KapitelDrei

In der Nacht schlug das Wetter um, Windböen peitschten Regentropfen gegen die Fenster. Als ihn sein Handywecker um acht aus unruhigen Träumen riss, hatte Olve das Gefühl, kaum geschlafen zu haben. Nicht nur das Prasseln des Regens und das fremde Bett hatten ihn wachgehalten. Was, wenn Nihil heute nicht auftauchte? Wenn er am Mittwoch zurück nach Helmstedt fahren würde, in seine einsame Wohnung, zu seinem trostlosen Job. Die Aussicht, Nihil wiederzusehen, hatte einen bunten Farbfleck in seinen grauen Alltag gezaubert und die Ahnung, etwas würde sich ändern durch ihr erneutes Zusammentreffen. Das schien ihm kindisch, dennoch wollte er sich nicht um die Möglichkeit betrogen sehen. Gähnend stand er auf, duschte und frühstückte. Nachdem er eine Stunde lang auf und ab durch die Zimmer getigert war, packte er Proviant für einen ausgedehnten Spaziergang in seinen Rucksack. Vielleicht würde ihm Bewegung helfen, den Kopf freizubekommen. Bevor er aufbrach, legte er eine Nachricht mit seiner Mobilnummer gut sichtbar auf den Küchentisch.

Der Regen hatte Straßen, Plätze und die Luft vom Staub reingewaschen und damit die letzten Überbleibsel des Sommers getilgt. In den Parkanlagen längs des Walls roch es nach Herbstlaub und feuchter Erde. Den Ort, auf den er im sanften Nieselregen zustrebte, hatte er sich einst geschworen, nie wieder aufzusuchen. Heute hatte er sich dennoch dazu entschieden. Er überquerte die Bundesstraße und ließ das Osterfeld rechter Hand hinter sich, auf dem im Juli das große Schützenfest stattfand, etwas, das ihn so sehr anzog wie ein spinnwebverhangener Keller einen Arachnophobiker. Vorbei an Einfamilienhäusern und einer Seniorenwohnanlage wanderte er weiter zu dem freien, grasbewachsenen Areal am Fuß des Petersbergs. Vor ihm ragte die markante Sandsteinformation des Klusfelsens auf. Natürliche Höhlen im Gestein, die von Menschen bearbeitet und erweitert worden waren, hatten im Mittelalter Einsiedlern als Klause, mittelhochdeutsch Kluse, gedient. Vertiefungen und Scharten, eingeritzte Symbole und bankähnliche Strukturen, viel älter als die mittelalterlichen Veränderungen, deuteten auf eine Funktion als Kultstätte hin.

In den Felsen gehauene Stufen, ausgetreten und unregelmäßig, führten im Bogen aufwärts. Während er sie erklomm, stellte Olve sich vor, wie Nihil in der lange vergangenen, verhängnisvollen Nacht allein hier hinaufgestiegen sein musste. Aufgewühlt, enttäuscht, nachdem sie beide kurz zuvor an ebendieser Stelle im Streit auseinandergegangen waren. Engstirnigkeit hatte sie ihm vorgeworfen, und Feigheit. Ja, er hatte sich gefürchtet. Aber heute wie damals war er davon überzeugt, dass sein Verhalten und seine Ansichten über die Sache auf dem Petersberg nicht auf Borniertheit, sondern auf Vernunft fußten. Was er ihr an den Kopf geworfen hatte, war allerdings auch nicht fair gewesen. Indes hatte er ihre Begeisterung für Mythologie und Übersinnliches stets als rein theoretisches Interesse wahrgenommen – bis zu jenem Abend.

Über eine Brücke schritt er zu dem kleinen Plateau auf mittlerer Höhe der Felsrippe, von dem aus man durch ein massives Türgitter einen Blick in die Marien- oder Kluskapelle werfen konnte. An einer Wand lehnten Klappbänke, offenbar wurden auch heute noch Andachten abgehalten. Die Marienfigur mit dem Jesus-Säugling erwiderte Olves Blick nicht.

Sein Smartphone zeigte keine eingegangenen Nachrichten an. Er setzte sich auf eine der Holzbänke auf dem Vorplatz und wollte soeben seinen Rucksack öffnen, um sich eine Brotzeit zu gönnen, als von unten Stimmen heraufschallten. Eine Gruppe Wanderer schickte sich an, die Steintreppe zu erklimmen. Seufzend erhob Olve sich. Gegenüber der als Kapelle genutzten Höhle führte ein Weg weiter den Berg hinauf. Mit etwas Glück fand er oben an den Ruinen der Stiftskirche St. Peter die erhoffte Ruhe.

Hohe, knorrige Bäume umstanden die Lichtung, auf der sich die Überreste der Kirche erhoben. Olves Appetit hatte sich mit der Annäherung an diesen Ort verflüchtigt. Er lauschte dem steten Tröpfeln und dem Wind, der rauschend durch die Wipfel fuhr, während er den Blick über die Grundmauern des Gotteshauses schweifen ließ, das 1527 im Zuge der Fehde zwischen der Stadt Goslar und Herzog Heinrich dem Jüngeren von Braunschweig von den Goslarer Bürgern zerstört worden war, um den Belagerern keine Rückzugsmöglichkeiten zu geben.

Ein neuerlicher Wolkenbruch rauschte hernieder, der Wind schleuderte Olve Tropfen ins Gesicht. Fast schien es, als wollte ihn etwas von seinem Vorhaben abhalten. Er mochte nicht länger als nötig verweilen, aber er brauchte Gewissheit, also durchquerte er das ehemalige Kirchenschiff und kletterte über die südliche Mauer. Dürres, verfilztes Gras, Herbstlaub auf matschigem Boden. Sonst nichts. Er nickte, wie um sich selbst etwas zu bestätigen, dann drehte er sich um, bereit, den Rückweg anzutreten. Windböen trieben Regenschleier über die Freifläche. Olve stieg über die bröcklige Mauer, dabei riss ihm eine heftige Böe die Kapuze vom Kopf. Er blieb stehen, um sie erneut tief in die Stirn zu ziehen. Das Prasseln der Tropfen auf der dünnen Haut seiner Regenjacke enervierte ihn. Der Ort enervierte ihn, und das, obwohl er sich gerade erst davon überzeugt hatte, dass seine damalige Beobachtung richtig gewesen war. Unwillkürlich drehte er sich noch einmal um, und da sah er sie.

Einige Meter hinter der Mauer hockte Nihil im nassen Gras und hielt den Blick gesenkt auf etwas direkt vor ihr. Damals hatte Nacht sie eingehüllt, jetzt Regen, doch sie war unverändert. Kinnlange schwarze Haare, die zu große Lederjacke mit dem Misfits-Skull – dem Crimson Ghost – auf dem Rücken, schwarze Doc Martens. Er wollte ihr etwas zurufen, brachte aber nur ein Flüstern zuwege. Wie in einem Traum gelang es ihm nur langsam und mit Anstrengung, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Der Vorhang aus silbrig glänzenden Tropfen gaukelte seltsame Muster vor, Schemen umkreisten die zusammengekrümmte Gestalt, Regengespenster, die klamme Finger nach ihr ausstreckten. Nihil beugte sich vornüber, wie um ihnen zu entgehen – und verschwand. Dort, wo sie gekauert hatte, gähnte eine dunkle Öffnung, über der der Regen in spiralförmigen Gebilden kreiste, bevor er hineingezogen wurde.

Olves Puls hämmerte in seinen Ohren. Er fühlte, wie das Etwas im Boden an ihm zerrte, nicht länger versuchte er vorwärtszugehen, sondern stemmte sich gegen den Sog. Du bist ein Feigling, hörte er Nihil rufen. Mit einem Ruck setzte er sich in Bewegung, doch schon sein nächster Schritt endete an der Mauerkante, die er im strömenden Regen, den Blick auf das Loch gerichtet, übersehen hatte. Sekundenlang regierte heulender Schmerz im Schienbein seine Wahrnehmung und reinigte sie von den Phantomen der Vergangenheit. Als sich sein Blick klärte, erfasste er nur eine eintönige Grasfläche. Dennoch konnte sich Olve des Eindrucks nicht erwehren, diese Bedeutungslosigkeit sei vorgetäuscht. Vielleicht war er doch weniger engstirnig und unsensibel, als von Nihil behauptet … Oder seine innere Anspannung ließ ihn Gespenster sehen. Ein Gefühl von Verlust und zwecklosem Bemühen höhlte ihn aus. Ihn fröstelte. Der schwere Stoff seiner Jeans klebte in seinen Kniekehlen und an den Oberschenkeln, und selbst die Haut unter der Regenjacke fühlte sich klamm und kalt an.

Leicht humpelnd ließ er die Ruine der Stiftskirche hinter sich und folgte dem Weg bergab. An den Bänken unterhalb der Grundmauer des Stifts hielt er kurz inne und blickte hinab auf die regenverhangenen Dächer und Straßen der Stadt. Ein malerischer Anblick, aber er fror zu sehr, um ihn zu genießen, also machte er, dass er weiterkam. Auf dem Plateau vor der Kluskapelle sammelte sich das Wasser in Pfützen, Bäche rannen entlang der skurril geformten Mulden und Scharten des Felsens, und es sah aus, als weinte er.

Seine Notiz lag unverändert auf dem Tisch. Olve drehte die Heizungen in Wohnzimmer und im Bad an und ließ Wasser in die Wanne laufen. Angesichts seines Zustands war es ihm gleichgültig, ob Nihil eintraf, während er badete. Ohnehin befürchtete er mehr und mehr, sein gesamter Ausflug nach Goslar erwiese sich als Fehlschlag. Missmutig schälte er sich aus den nassen Sachen, hängte sie über die Heizung und setzte sich in die Badewanne. Eine Zeitlang genoss er die Wärme, die seine klammen Gliedmaßen belebte. Obwohl es erst kurz nach drei war, fühlte er sich zerschlagen, als hätte er eine Tageswanderung hinter sich. Er trocknete sich ab, zog sich an und machte es sich mit einer Decke und frisch gebrühtem Tee sowie dem Buch über Moose und Flechten, das er von zu Hause mitgebracht hatte, auf dem Sofa gemütlich. Nach einer Weile wurden seine Lider schwer und er schlief ein.

Als er erwachte, war es draußen dunkel. Er hätte wohl weitergeschlafen, wenn ihn nicht Kindergeschrei und lautes Poltern aus der unteren Wohnung geweckt hätten. Es klang, als würde dort Fußball gespielt. Seufzend rappelte er sich hoch. Fast acht Uhr und von Nihil noch immer keine Spur. Er stand auf, um sich eine Mahlzeit zuzubereiten und das Badezimmer zu säubern, was er vorhin aus Müdigkeit versäumt hatte. Den Abend würde er mit Lesen und ein wenig Fernsehen verbringen. Spätestens um eins würde er sich schlafen legen und morgen in der Früh nach Hause fahren, nachdem er den Wohnungsschlüssel beim Notar abgegeben hatte. Ungeachtet dieser Überlegungen klammerte er sich an die Idee, Nihil könne ihr Wiedersehen absichtlich besonders spannend gestalten wollen. Dass sie damit seine Zeit verschwendete, käme ihr vermutlich nicht in den Sinn, nicht, wenn sie immer noch die Alte war.

Um kurz vor elf rasselte ein Schlüssel im Schloss. Olve, vertieft in seine Lektüre, zuckte zusammen, dann sprang er wie elektrisiert auf und stolperte in den Flur. Die Wohnungstür wurde aufgestoßen und im Türrahmen stand eine Frau. Sie trug einen schwarzen Lodenmantel und schwarze Stiefel. Ihr dunkelblondes Haar war zerzaust und kürzer als früher. Olve starrte sie an. Lange hatte er über diesen Moment nachgedacht, aber nun wusste er weder, was er sagen sollte, noch fühlte er etwas Spezielles. „Ich habe nicht erwartet, dass du noch kommst“, sagte er schließlich.

Sie schob sich in den Flur. „Wenn ich etwas zusage, halte ich es auch“, erwiderte sie mit ihrer tiefen, leicht rauen Stimme, die gehetzt klang. Im hellen Flurlicht sah er, dass die Zeit nur wenige Spuren in ihren scharf geschnittenen Zügen hinterlassen hatte. Allenfalls die feinen Fältchen um Mundwinkel und Augen wiesen darauf hin, dass auch sie gealtert war, ungleich weniger stark als er selbst. Sie trat auf ihn zu und umarmte ihn. Er erstarrte durch die unerwartete Geste, die er normalerweise nicht tolerierte. Allein Nihil hatte er so dicht an sich herangelassen, damals. Die Umarmung ihres schlanken, sehnigen Körpers fühlte sich seltsam vertraut an.

Sie ließ ihn los, sah ihn an. „Ich habe dich vermisst.“

„Ja.“ Er hatte sie ebenfalls vermisst, eine Zeitlang. Und sich dann damit abgefunden, dass sie fort war, unwiderruflich. „Wo warst du? Weshalb hast du niemandem Bescheid gesagt? Und wieso der Umweg über das Notariat? Du hättest mich auch vor zwölf Jahren kontaktieren können.“

Sie schüttelte unwirsch den Kopf. „Ich beantworte dir deine Fragen, versprochen, aber nicht jetzt. Jetzt möchte ich, dass du mich begleitest.“

„Wohin?“

„Dorthin, wo ich die vergangenen vierundzwanzig Jahre verbracht habe. Beeil dich, ich habe dem Taxifahrer gesagt, er solle unten warten.“ Sie schaute auf ihre Armbanduhr. „Wir haben nicht mehr viel Zeit.“

In aller Eile raffte Olve seine Sachen zusammen und verstaute sie im Rucksack, während Nihil ungeduldig in der Wohnung auf und ab lief. Sie eilte vor ihm die Treppe hinunter und aus der Haustür, vor der ein Taxi wartete. „Mach schon“, rief sie Olve zu und stieg auf die Rückbank. Er tat es ihr gleich und hörte, wie Nihil das Fahrziel nannte. „Zum Petersberg, schnell!“

Angekommen, bezahlte sie den Fahrer, ohne das Rückgeld abzuwarten. Sobald das Taxi sich entfernt hatte, marschierte sie schnellen Schritts auf den massiven, dunklen Schemen zu, der sich unweit von ihnen erhob. „Los, los!“

Olve verstand ihre Eile nicht, auch nicht, warum sie mitten in der Nacht diesen Ort aufsuchen mussten, wobei er sich einer dunklen Ahnung nicht erwehren konnte. Es gefiel ihm nicht, welcher Art diese Ahnung war. Im Schein einer Taschenlampe, die Nihil bei sich hatte, stiegen sie die Stufen empor, ließen die Kapelle unbeachtet hinter sich und kraxelten höher, querfeldein den Hang hinauf, um den Weg abzukürzen. Der Sturzregen hatte den Boden aufgeweicht und in eine Schlammrutsche verwandelt. Der Sturmwind fuhr durch die Zweige der Baumriesen, die die Kirchenruine in stummer Ehrerbietung umringten, zerrte besitzergreifend an den wenigen verbliebenen Blättern. Eine geschlossene Wolkendecke verbarg Mond und Sterne. Aus dem Dickicht unter den Bäumen drang ein seltsamer, klagender Laut. Ein Fuchs? Horchend blieb er stehen, aber Nihil strebte unbeirrt vorwärts. Wollte er nicht allein im Finstern zurückbleiben, musste er ihr wohl oder übel folgen.

Sie überwanden die nördliche Grundmauer und liefen in gerader Richtung weiter. Abrupt stoppte Nihil, Olve wäre fast in sie hineingelaufen. Sie legte den Zeigefinger an die Lippen. Langsam ließ sie den Lichtstrahl über den Bereich jenseits der südlichen Mauer wandern. Er enthüllte ein dunkles Etwas, das auf der feuchten Erde kauerte. Ein dürrer Körper mit langen Gliedmaßen wie Spinnenbeinen, graue Haut spannte sich über dem gekrümmten, hervortretenden Rückgrat. Es hockte am Rand eines runden Lochs, ganz so, wie Nihil in Olves Vision vom Vormittag. Das Gesicht des Wesens war abgewandt, und darüber war Olve froh. Nihil griff in die Tasche ihres Mantels und holte einen kleinen Gegenstand heraus. Sie hielt ihn in der vorgestreckten Hand, während sie auf die Kreatur zuging. Als sie über die Mauer stieg, glitt der Lichtschein kurz von dem Wesen ab, danach vermochte es der Strahl nicht mehr zu erfassen.

„Weiter“, raunte sie Olve über die Schulter zu, den Mund zu einer Grimasse verzogen. Kurz hinter der Mauer blieb sie stehen und wartete, bis er sie eingeholt hatte. Gemeinsam standen sie vor der klaffenden Öffnung. Schon einmal hatten sie so gestanden, vor auf den Tag genau vierundzwanzig Jahren, als sie den Brunnenschacht entdeckten, den es nicht geben durfte. Sämtliche Grundrisse, die von der Stiftskirche auf dem Petersberg existierten, hatte Olve überprüft. Er war erneut hergekommen, zwei Tage nach Nihils Verschwinden, aber da war kein Schacht mehr gewesen. Zögernd beugte er sich vor und spähte hinein. Der Schacht besaß einen Durchmesser von etwas weniger als einem Meter. Ins Mauerwerk waren horizontale Kerben geschlagen, groß genug, Händen und Füßen Halt zu bieten.

Nihil steckte das, was sie in der rechten Hand hielt, zurück in ihre Tasche und sah auf die Uhr. Rasch schob sie die Schlaufe, an der die Stablampe hing, übers Handgelenk, dann traf sie Anstalten, in den Brunnen zu steigen. „Ich hätte dir das gern erspart“, sagte sie, schon halb in der gähnenden Öffnung. „Aber falls du mit mir kommen willst, dann ist jetzt die letzte Gelegenheit. Bist du bereit, die Fesseln deines alten Lebens abzuwerfen?“ Sie grinste. „Entschuldige, ein bisschen Pathos muss sein. Aber ich meine es ernst.“

Olve verharrte am Rand. Sollte er Nihil blindlings folgen, in die unbekannte Tiefe, in der wahrscheinlich die grauenhafte Kreatur lauerte? Er könnte sich auch einfach umdrehen und gehen, und ganz kurz schien ihm das eine gute Option zu sein. Aber dann würde Nihil erneut verschwinden und er würde ihrem Geheimnis niemals auf die Spur kommen. Weil er feige war und zu engstirnig, um einzusehen, dass es Dinge gab, die sich jeder rationalen Erklärung entzogen.