SPAZIERGANG AM ABEND - J. L. Rousseau - E-Book

SPAZIERGANG AM ABEND E-Book

J. L. Rousseau

0,0
5,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der alte Tourneur macht seinen gewohnten Abendspaziergang durch die Straßen des Pariser Vororts Herblay. Plötzlich taucht ein Auto auf, das in rasendem Tempo auf ihn zu schießt. Er wird zu Boden gerissen und bleibt tot liegen. Der Fahrer des Wagens ist auf unerklärliche Weise verschwunden. Die seltsamen Umstände stellen Polizei und Versicherung vor die Frage: War es ein Unfall – oder wurde Tourneur vorsätzlich getötet?

 

Spaziergang am Abend von J. L. Rousseau (* 21. Januar 1932; † 10. November 1998) erschien erstmals im Jahr 1963; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1967.

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

 

J. L. ROUSSEAU

 

 

Spaziergang am Abend

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Signum-Verlag

 

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

SPAZIERGANG AM ABEND 

Die Hauptpersonen dieses Romans 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigstes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Der alte Tourneur macht seinen gewohnten Abendspaziergang durch die Straßen des Pariser Vororts Herblay. Plötzlich taucht ein Auto auf, das in rasendem Tempo auf ihn zu schießt. Er wird zu Boden gerissen und bleibt tot liegen, Der Fahrer des Wagens ist auf unerklärliche Weise verschwunden. Die seltsamen Umstände stellen Polizei und Versicherung vor die Frage: War es ein Unfall – oder wurde Tourneur vorsätzlich getötet?

 

Spaziergang am Abend von J. L. Rousseau (* 21. Januar 1932; † 10. November 1998) erschien erstmals im Jahr 1963; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1967. 

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

  SPAZIERGANG AM ABEND

 

 

 

 

 

 

  Die Hauptpersonen dieses Romans

 

 

Joseph Tourneur: Rentner. 

Pierre Lemarchat: Arbeiter. 

Yvette Lemarchat: seine Frau. 

Harry Hurter: ein amerikanischer Sergeant. 

Gerd Kegel: Versicherungsinspektor. 

Johannes Kern: Versicherungsdirektor. 

Phenn-Siu: ein Koreaner. 

 

Dieser Roman spielt in Paris und Umgebung.

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Quietschend drehte sich das schmiedeeiserne Gartentor in den Angeln. Der Mann blieb einen Augenblick stehen und blickte die Straße entlang;

Kein Stern blitzte am nächtlichen Himmel, der ganz von dunklen Wolken bedeckt war. Nur der schwache Schein der weit auseinanderstehenden Laternen malte gelblich schimmernde Lichtreflexe auf den Boden. Sonst war alles in tiefe, beunruhigende Finsternis gehüllt.

Der Mann zog die Tür hinter sich zu und trat auf die Rue Carnot hinaus. In den Häusern an dieser Straße des Pariser Vorortes Herblay sagte man sich: Aha! Vater Tourneur ist wieder unterwegs zu seinem Stammlokal.

Es konnte sich gar nicht um eine andere Person handeln. Der alte Mann hatte im Ersten Weltkrieg ein Bein verloren, und bei jedem seiner Schritte hallte das Aufsetzen seines Holzbeines auf dem harten Asphalt wider. Aber trotz der schweren körperlichen Behinderung ließ er es sich nicht nehmen, Abend für Abend den fast zwei Kilometer langen Weg zu dem kleinen Bistro einzuschlagen, das in der Nähe des Gemeindehauses lag. Es entsprach seiner Gewohnheit, dort in aller Ruhe ein Gläschen Cognac zu trinken.

Plötzlich wurde die Straße in eine Lichtflut getaucht. Der Mann mit dem Holzbein sah, wie sein Schatten sich vor ihm grotesk in die Länge zog, ins Riesenhafte verzerrt. Ein Wagen mit aufgeblendeten Scheinwerfern war hinter ihm aufgetaucht.

Trotzdem marschierte er seelenruhig in der Mitte der Fahrbahn weiter.

Für ihn war das eine Sache des Prinzips, und er war nicht geneigt, sich in dieser Hinsicht jemals belehren zu lassen. Wenn man das stattliche Alter von siebzig Jahren erreicht hatte, wenn das Haar weiß geworden war, und wenn man zu der drückenden Last des Alters auch noch Invalidität in Kauf nehmen musste, dann hatte man es nicht nötig, wie ein verängstigtes Tier zur Seite zu springen, um den jungen Taugenichtsen Platz zu machen, die, hinter das Steuer ihres Autos geklemmt, glaubten, alle Privilegien für sich in Anspruch nehmen zu können.

Die beiden Lichter kamen rasch näher. Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, bis der Fahrer gezwungen sein würde, jäh und heftig zu bremsen, um einen Unfall zu vermeiden. Bei diesem Gedanken breitete sich ein schadenfrohes Lächeln auf den Zügen des Invaliden aus. Es bereitete ihm ein diebisches Vergnügen ganz eigener Art, hinter sich das Knirschen der Bremsen und das Kreischen der blockierten Räder zu vernehmen. Und wenn sich dann der Fahrer gar noch aus dem Wagen beugte, um ihn zornig zu beschimpfen, dann erreichte seine Freude ihren Höhepunkt.

Gerade an diesem Abend befand er sich in ausgesprochen angriffslustiger Stimmung. Dieser eingebildete Geck würde sein blaues Wunder erleben! Er würde ihm ganz gehörig die Meinung sagen.

Mit allem Nachdruck würde er ihm erklären, dass die junge Generation den Veteranen des Großen Krieges Respekt und Achtung schuldete, dass...

Das Lächeln des alten Mannes machte plötzlich einem Ausdruck verständnisloser Überraschung Platz. Bevor er wusste, wie ihm geschah, spürte er einen furchtbaren Schlag im Rücken. Der alte Mann wurde nach vorn geschleudert und schlug dann hart auf die Straße.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Das Knattern des Mopeds wurde lauter und brach dann unvermittelt ab. Das Ächzen der schweren Tür des Mietshauses klang herauf. Die junge Frau, die über das Spülbecken gebeugt stand, drehte sich um, strich sich mit der feuchten Hand eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn und rief den beiden Kindern - einem Jungen und einem Mädchen die gerade anfangen wollten, sich zu balgen, zu:

»Seid brav jetzt, ihr beiden. Papa kommt.«

Draußen knarrten die Stufen der Holztreppe. Gleich darauf öffnete sich die Wohnungstür, und ein noch junger Mann, mit einer braunen Lederjacke bekleidet, die an einigen Stellen schon abgewetzt war, trat über die Schwelle.

Er schien müde und erschöpft. Langsam ließ er seinen Blick durch die Wohnung streifen, die seit fünf Jahren sein Zuhause war: ein einziges Mansardenzimmer. Durch das schmale Dachfenster drang ein letzter Schimmer des Tageslichts. Der Raum war überfüllt mit den Möbelstücken, die für eine fünfköpfige Familie unentbehrlich sind. Ja, seit vor drei Monaten Josette geboren worden war, zählte die Familie fünf Mitglieder. Die beiden Geschwister des Neugeborenen waren Catherine, die vor kurzem sechs Jahre alt geworden war, und Daniel, der dreizehn Monate nach seiner älteren Schwester geboren worden war.

»Na, kommst du rein oder nicht? Was ist denn mit dir los?«, fragte die junge Frau.

Er schien wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden. Knallend schlug er die Tür hinter sich zu.

»Was machst du nur für ein komisches Gesicht! Hast du in der Fabrik Krach gehabt?«

»Ach, hör auf, Yvette! Lass mich in Frieden.«

Sie beugte ihren blonden Kopf zu ihrem Mann hinunter, der sich in einen Sessel hatte fallen lassen.

»Jetzt hör mir einmal zu, Pierrot! Du legst wirklich ein höchst eigenartiges Benehmen an den Tag. Immerhin bin ich deine Frau und habe ein Recht, zu wissen, was für eine Laus dir über die Leber gelaufen ist. Hast du vielleicht mit eurem Vorarbeiter, diesem Cro... na, wie heißt er denn schnell, einen Streit gehabt?«

»Mit Cornorin? Du kommst auf die abwegigsten Gedanken! Wir verstehen uns jetzt ausgezeichnet.«

Mit einer hastigen Bewegung schenkte er sich ein Glas Wein ein und trank es mit einem Zug leer.

»Trink nicht so viel vor dem Essen!«

Ohne ein Wort der Erwiderung warf er wütend das Glas an die Wand, wo es in tausend Scherben zersprang.

»Aber was ist denn nur mit dir los, Pierrot?«, stammelte die junge Frau verständnislos, den Tränen nahe. »Bist du plötzlich wahnsinnig geworden? Da, jetzt hast du’s erreicht, die Kleine weint!«

»Die Kleine weint«, echote er. Er schien auf einmal ruhig geworden zu sein, als habe ihn dieses Argument seiner Frau besiegt. »Gut, sprechen wir einmal von der Kleinen.«

Die Mutter, die sich über den Stubenwagen gebeugt hatte, um ihr Jüngstes zu beruhigen, hob den Kopf.

»Was willst du damit sagen?«, fragte sie überrascht.

»Ja«, brüllte er plötzlich wieder aufgebracht. »Sprechen wir von der Kleinen... und von ihren beiden Geschwistern. Du findest wohl, sie sind hier bestens aufgehoben, was? Und ich? Abends komme ich todmüde von der Arbeit heim... Heim! Dass ich nicht lache! Nennst du das ein Heim?«, schrie er. Mit einer weit ausholenden Armbewegung umschloss er den ganzen Raum.

»Wunderbar ist das! Seit fünf Jahren hausen wir in einem einzigen Zimmer. Und du schreist mich an, weil die Kleine weint. Sie wird noch öfter weinen.«

»Das ist es also. Das ist also der Grund«, murmelte die junge Frau, die plötzlich verstand.

»Jawohl, genau das ist es. Ich habe jetzt restlos- genug, verstehst du! Genug, genug, genug«, brüllte er, während er seine Worte mit heftigen Faustschlägen auf den Tisch unterstrich. »Und wenn ich in meiner eigenen Wohnung nicht einmal mehr einen Schluck Wein trinken kann, wenn mir danach zumute ist, dann...«

»Bitte, Pierrot, beruhige dich«, flehte die junge Frau. »Sei doch vernünftig! Mit Ungeduld kommst du nicht weiter. Du weißt genauso gut wie ich, dass wir früher oder später das Haus haben werden.«

Mit einem nervösen Auflachen schnitt er ihr das Wort ab.

»Früher oder später... Wann? Wann denn? In zwanzig Jahren vielleicht? Ich habe den Vater Tourneur erst vor kurzem getroffen. Der alte Knacker hat es nicht im geringsten eilig. So wie er gebaut ist, kann er hundert Jahre alt werden. Mit Leichtigkeit! Und wir haben das Nachsehen!«

»Sprich nicht so, Pierrot! Das wird sich eines Tages rächen.«

»Ich bin jetzt an einem Punkt angelangt, wo mir alles egal ist«, gab er zurück.

»Aber hör mich doch einmal an! Als du damals mit ihm vereinbart hast, das Haus von ihm auf Leibrente zu kaufen, da wusstest du genau, dass...«

»Was wusste ich genau? Ich weiß nur eines: dass ich nämlich damals die größte Dummheit meines Lebens begangen habe. Aber zu der Zeit sahen wir ja alles durch die rosarote Brille, wir waren jung und optimistisch. Ich war zweiundzwanzig, du hast Catherine erwartet, wir wollten heiraten, die ganze Welt schien uns offenzustehen. Der Alte muss damals ungefähr fünfundsechzig Jahre alt gewesen sein. Für mich war das etwa das gleiche, als wenn er schon tot gewesen wäre. Ohne zu zögern, habe ich die Gelegenheit beim Schopf ergriffen; sie schien mir einmalig. Wir sollten ihm bis zum Ende seiner Tage eine kleine Rente zahlen und dafür nach seinem Tode das Haus erben.«

Er unterbrach sich und schlug krachend mit der Faust auf den kleinen Tisch, der unter dem Schlag zusammenzubrechen drohte. Dann fuhr er mit zornbebender Stimme fort:

»Und jetzt warte ich seit fünf Jahren. Seit fünf Jahren schufte ich wie der niedrigste Sklave, damit dieser gerissene alte Kerl einen angenehmen Lebensabend verbringen kann, und jeden Abend sehe ich dich hier mit den Kindern. Ja meinst du denn, ich könnte diesen menschenunwürdigen Zustand noch lange ertragen? Hast du dir schon einmal überlegt, dass es mir möglicherweise blüht, dreißig Jahre meines Lebens Abend für Abend Überstunden zu machen, um dem alten Schmarotzer seine Rente bezahlen zu können? Angenommen, er wird fünfundneunzig Jahre alt, dann bedeutet das für mich dreißig Jahre, Yvette. Stell dir das doch einmal vor, dreißig Jahre! Bis dahin sind die Kinder längst erwachsen und brauchen uns nicht mehr. Vielleicht sind sie sogar schon verheiratet.«

»Das Haus ist dann eben für die Kinder...«

»Das Haus? Ja, natürlich! Nur werden sie dann drei Häuser brauchen.«

»Ach, Pierrot, nimm doch endlich Vernunft an! Was kannst du denn daran ändern? Wir müssen uns eben gedulden. Man kann ja schließlich nie wissen. Vielleicht passiert ihm plötzlich etwas!«

»Für mich ist jetzt der Zeitpunkt gekommen«, murmelte er mit düsterer Miene, »wo ich es so einrichten werde, dass ihm etwas passiert.«

»Pierrot«, rief sie entsetzt aus. »Ich bitte dich! Du sprichst doch nicht im Ernst!«

»Doch, das ist mein völliger Ernst. Die Lust zum Scherzen ist mir vergangen. Sag doch einmal selbst, glaubst du denn nicht, dass es für alle Beteiligten am besten wäre, wenn ihm etwas zustößt?«

»Du bist ja wahnsinnig geworden. Du hast vollkommen den Kopf verloren. Man wird dich ins Gefängnis stecken, wenn...«

»Es genügt, sich nicht erwischen zu lassen...«

»Sei ruhig. Ich will das nicht mehr hören. Wenn die Nachbarn dich hören...«

»Na und? Meinetwegen gern, mir ist das absolut gleichgültig. Was können denn die lieben Nachbarn schon an der Sache ändern? Was können sie tun?«

»Sie werden sagen, dass du ihn umgebracht hast, dass sie dich gehört haben...«

»Ich habe ihn ja noch gar nicht getötet«, erwiderte er, ruhiger geworden. »Ich habe das alles nur so dahingesagt, um meinem Ärger Luft zu machen.«

»Das will ich auch hoffen«, gab die junge Frau beruhigt zurück.

Sie kannte die plötzlichen Wutausbrüche ihres Mannes, und einen Augenblick lang hatte sie tatsächlich befürchtet, dass er den Worten die Tat folgen lassen würde. Aber nein, das war ja lächerlich, im Grunde genommen war Pierrot doch ein vernünftiger Mensch. Er würde niemals...

»Wohin gehst du?«, rief sie ängstlich, als sie ihn auf die Wohnungstür zugehen sah.

»Ich habe keine Zigaretten mehr«, beruhigte er sie. »Ich will nur schnell zum Tabakgeschäft um die Ecke.«

»Du wirst doch nicht...«

»Was werde ich nicht?«

»Nun, was du eben gesagt hast. Wegen Vater Tourneur... ein Unfall...«

Anstelle einer Erwiderung zuckte er nur gleichgültig mit den Schultern.

»Du brauchst das doch nicht alles gleich für bare Münze zu nehmen! Wie soll ich denn so einen Unfall herbeizaubern? Soll ich den Mann in die Seine werfen? Ich habe dir doch gesagt, dass ich mir einmal meinen Ärger von der Seele reden musste.«

Ohne ein weiteres Wort schlug er die Tür hinter sich zu. Sie legte schweigend die Tischdecke auf, um den Tisch für das Abendessen zu decken.

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

»Kommen Sie herein«, rief Yvette, als sie das Klopfen an der Tür vernahm.

Ein junger Mann mit Brille und einem kleinen Bärtchen, der einen weiten Dufflecoat trug, trat über die Schwelle.

»Guten Tag«, sagte er voller Wärme und Herzlichkeit. »Nun, wo fehlt es denn?«

»Ich mache mir Sorgen um Daniel, Herr Doktor«, erklärte die junge Frau. »Er hat erhöhte Temperatur und hat die ganze Nacht gehustet.«

Der Arzt stellte sein Köfferchen auf dem Tisch ab und öffnete es, während er mit nachdenklicher Miene den kleinen Jungen betrachtete, der in seinem Bett lag.

»So, kleiner Mann«, forderte er den Jungen freundlich auf, um ihm seine Angst vor der Untersuchung zu nehmen. »Jetzt beuge dich einmal schön nach vorn, damit ich dich abhorchen kann.«

»Zieh deine Pyjamajacke aus. Komm, beeil dich«, sagte die Mutter. »Weißt du, der Onkel Doktor hat nicht so viel Zeit. Er muss auch noch andere kleine Jungen besuchen.«

»Das ist aber kalt«, meinte der Junge fröstelnd, als das Stethoskop mit seinem Rücken in Berührung kam.

»Sei still jetzt und atme schön tief ein und aus. Tu, was der Doktor dir sagt.«

Der Arzt untersuchte das Kind mit aller Gründlichkeit. Als er sich wieder vom Bett aufrichtete, sah er nachdenklich aus.

»Nun, Herr Doktor?«, fragte die junge Frau, in deren Stimme ein leiser Unterton der Angst mitschwang.

»Er hat sich ganz einfach eine Bronchitis geholt. Ich werde ihm etwas verschreiben.«

Bevor er zu schreiben begann, ließ er seinen Blick aufmerksam durch das Zimmer wandern.

»Kommt der Kleine viel an die frische Luft?«, fragte er die Mutter.

»Nur auf seinem Schulweg«, erklärte sie.

»Aber das Haus hat doch einen Hof, nicht wahr?«

»Ja, das schon. Aber dort dürfen die Kinder nicht spielen. Der Hausbesitzer hält es für praktischer, dort die Autos parken zu lassen. Wissen Sie, was er dafür verlangt?«

Da der Arzt darauf nichts erwiderte, sondern mit der Miene eines Menschen, der der Ansicht ist, dass dies alles ihn reichlich wenig angehe, schweigend vor sich hin blickte, fuhr sie fort:

»Vierzig Francs im Monat.«

Sie blieb neben dem Arzt stehen, der sich über den Tisch beugte und zu schreiben begann.

»Früher konnten die Kinder dort unten spielen. Aber eines Tages war bei einem der Autos die Windschutzscheibe zerbrochen. Sie hätten den Eigentümer des Wagens hören sollen! Er beschwerte sich in den höchsten Tönen darüber, dass er so viel Geld dafür bezahle, seinen Wagen da unten abzustellen, und dass es eine Schande sei, dass man dann die Kinder dort spielen lasse. Er ist natürlich auch gleich zum Hausbesitzer gelaufen. Und jetzt dürfen sich die Kinder im Hof nicht mehr blicken lassen. Aber entschuldigen Sie, Herr Doktor, ich langweile Sie mit meinen Geschichten.«

»Nein, keineswegs, Madame!«

Er hob den Kopf und betrachtete die Frau, die vor ihm stand. Noch war sie jung, aber schon jetzt war ihr Gesicht gezeichnet von einer tiefen Müdigkeit und Resignation.

»Natürlich wäre es für die Gesundheit der Kinder viel besser... Aber ich weiß ja selbst nur zu gut, dass man im Leben nicht immer das haben kann, was man sich wünscht.«

»Wem sagen Sie das, Herr Doktor«, rief sie beipflichtend. »Sie können mir glauben, dass ich es lieber sehen würde, wenn sie sich in einem großen Garten austoben könnten, anstatt hier eingesperrt zu sein.«

Der Arzt schien nachzudenken. Dann beugte er sich wieder über den kleinen Tisch, um das Rezept fertigzuschreiben.

»Ich habe gehört, dass Sie ein Haus auf Leibrente gekauft haben«, bemerkte er leicht zerstreut.

»Ja.«

Die junge Frau schien nicht geneigt, dem Arzt Näheres darüber mitzuteilen.

Er hatte aufgehört zu schreiben. Mit bedachtsamen Bewegungen steckte er den Füllfederhalter in sein Etui und schwenkte das Rezept hin und her, damit die Tinte schneller trocknete. Dann gab er es der Mutter.

»Ich würde Ihnen raten, den Jungen röntgen zu lassen, sobald er wieder gesund ist«, bemerkte er, während er sich zum Gehen fertigmachte.

»Röntgen?«, fragte sie besorgt.

»Regen Sie sich nicht auf. Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme... Wissen Sie, Kinder, die nicht viel ins Freie kommen und den ganzen Tag Stubenluft atmen, besonders in einem so engen Raum wie hier...«

 

»Pierrot! Ich bitte dich inständig! Fang doch heute Abend nicht schon wieder an.«

Der Mann schien ihre Worte gar nicht zu hören. Wie ein wildes Tier im Käfig durchmaß er den kleinen Raum mit langen, ungeduldigen Schritten.

»...und das alles für diesen alten Schmarotzer.«

»Aber Pierrot! Du kannst ihm doch schließlich nicht zum Vorwurf machen, dass er noch nicht gestorben ist.«

Mit einer abrupten Bewegung blieb er stehen und blickte seiner Frau voll ins Gesicht.

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte er aufbrausend. »Man darf ihm keinesfalls etwas vorwerfen. Es ist vollkommen richtig und gerecht, dass der Alte, so klapprig er ist, noch immer am Leben ist. Und es ist auch ganz gerecht, dass wir unsere Jugend damit verbringen, von früh bis spät zu arbeiten, um Parasiten seiner Sorte am Leben zu erhalten. Wir zahlen Steuern, damit der Staat ihm eine Pension geben kann! Und das alles, weil er. im Ersten Weltkrieg ein Bein verloren hat. Und zu allem Überfluss zahle ich ihm auch noch eine monatliche Rente, damit ich eines Tages Eigentümer des Hauses werde, das dieser feine Herr besitzt. Dass meine Kinder in der Zwischenzeit krank werden, spielt ja gar keine Rolle. Der Junge wird wahrscheinlich sogar ins Sanatorium müssen. Und warum? Weil er mit seinen beiden Geschwistern und seinen Eltern in einer Mansarde lebt! Weil er keinen Garten hat, wo er spielen kann.«

»Pierrot, so geht das nicht weiter. Du siehst die Dinge aus einer falschen Perspektive.«

»Natürlich, was ich sage, ist falsch. Geh mir doch weg mit der Gerechtigkeit! Oder ist es denn vielleicht gerecht, dass der alte Tourneur in einem Haus mit sieben Zimmern wohnt, mit einem Riesengarten dazu? Und dass wir hier zu fünft in einer Mansarde leben, die jeder normale Mensch höchstens als Speicher benützen würde? Meinst du, das ist Gerechtigkeit?«

Die junge Frau stieß einen tiefen Seufzer der Resignation aus und murmelte:

»Was willst du denn machen?«

Einen Augenblick glaubte sie, er würde vollkommen die Nerven verlieren. Doch es gelang ihm, sich zu bezähmen. Mit den Händen in den Hosentaschen stellte er sich vor die Dachluke.

»Du fragst mich, was ich machen will? Das werde ich dir genau sagen.«

»Pierrot«, mahnte sie mit zitternder Stimme.

»Was?«

»Pierrot, denk an die Kinder. Lass dich nicht zu Unüberlegtheiten hinreißen.«

»Ja, aber jetzt wird’s mir doch zu bunt, verdammt noch einmal! Das ist ja schließlich das einzige, woran ich denke! Hast du denn das immer noch nicht begriffen? Weißt du, was ich tun werde? Und ich werde es jetzt gleich tun.«

»Pierre, sei still; du machst mir Angst.«

»Wie kann man nur so begriffsstutzig sein«, brüllte er außer sich.

Er atmete keuchend, während sie schweigend vor sich hin starrte. Dann begann er wieder:

»Ich werde jetzt zu Vater Tourneur gehen, und zwar auf der Stelle.«

»Pierrot!«

»Ja, zum Donnerwetter, jetzt lass mich doch erst einmal ausreden. Ich habe nicht die Absicht, ihn zu töten, keinesfalls. Ich werde ihm einen Vorschlag machen.«

Verständnislos blickte die junge Frau auf ihren Mann. Sie wusste nicht mehr, was sie eigentlich denken sollte.

»Was willst du ihm vorschlagen?«

»Ich werde ihm vorschlagen, mit uns zu tauschen«, antwortete er.

»Mit... mit uns zu tauschen?«, wiederholte die Frau fragend.

»Ja, genau das. Wir ziehen in sein Haus, und er kann in der Mansarde leben.«

Eine gute Weile betrachtete sie ihn mit weitaufgerissenen Augen, als glaube sie, er sei tatsächlich verrückt geworden.

»Hast du mich verstanden«, fragte er beharrlich, »oder soll ich es dir vielleicht auch noch illustrieren? Wir tauschen: Er zieht hierher, und wir ziehen in sein Haus.«

»Das wird er niemals tun.«

»Doch, das wird er schon tun. Ich werde ihm nämlich gleichzeitig vorschlagen, ihm jeden Monat einen höheren Betrag als jetzt zu zahlen.«

»Was?«

»Ihm mehr zu zahlen. Hast du mich denn noch immer nicht verstanden? Du weißt, ich bin kein Faulenzer. Ich habe keine Angst vor Überstunden. Alles, was ich will, ist, dass meine Kinder eine schöne Jugend haben, dass sie nicht noch unbegrenzte Zeit in diesem elenden Zimmer hausen müssen. Wenn er auf diesen Vorschlag eingeht, wenn er hierherzieht, dann werden wir in dem Haus wohnen, und dafür zahle ich ihm die Miete für dieses Zimmer und außerdem einen Extrabetrag, zusätzlich zu der Leibrente. Ich will, dass wir schon jetzt in das Haus einziehen, damit die Kinder etwas davon haben. Jetzt schon, verstehst du! Nicht erst in zehn Jahren oder noch später.«

»Ich will, dass sie in einem geräumigen Haus aufwachsen können«, fuhr er fort. »In einem großen Garten, wo sie sich richtig austoben können.«

Wortlos sah sie zu, wie er seine Lederjacke überstreifte und mit einer ungeduldigen Bewegung den Reißverschluss hochzog.

»Gehst du jetzt gleich hin?«, fragte sie mit einem Unterton von Besorgnis in der Stimme.

»Sofort.«

»Bitte, versprich mir... versprich mir wenigstens, dass du ruhig bleibst.«

»Keine Angst, kleine Dumme. Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich ihn umbringen will.«

Er tat einen Schritt auf seine Frau zu und küsste sie zärtlich.

»Du kennst mich doch!«

»Vergiss es nicht, Pierrot! Bleib ruhig. Denk an die Kinder.«

»Ich denke nur an sie.«

 

 

 

 

  Viertes Kapitel

 

 

Pierre Lemarchat trat aus dem Haus. Mit großen Schritten eilte er die Straße entlang, fest entschlossen, endgültig reinen Tisch zu machen. Er ging die Hauptstraße von Herblay hinunter, und nachdem er die Eisenbahnbrücke überquert hatte, bog er nach rechts ab. Schon bald gelangte er zu der Straße, in der der Mann, den alle Welt Vater Tourneur nannte, sein Haus hatte.

Sie war eine typische kleine Vorstadtstraße und sehr ruhig gelegen. Da sie eine Sackstraße war, gab es keinerlei Durchgangsverkehr. Die Häuser, die an ihr lagen, waren zu Anfang des Jahrhunderts gebaut worden. Gewiss waren sie nicht gerade besonders stilvoll, aber für Pierre Lemarchat, der schon jahrelang in einer dürftigen Mansarde wohnte, sahen sie aus wie Paläste.

Ein weißes Emaille-Schild, auf dem in blauen Buchstaben die Worte Haus Louisette standen; hier war es. Warum eigentlich Haus Louisette? War es vielleicht der Name der Frau des alten Mannes? Dann musste er Witwer sein. Wenn sie hier einzogen, würde das geändert werden müssen. Es würde heißen: Haus Yvette! Ach, was spielte das alles schon für eine Rolle! Die Hauptsache war schließlich, dass man hier wohnen konnte.

Er drückte auf die Klingel am Gartentor und wartete. Endlich wurde die Haustür geöffnet. »Sie wünschen?«

Der Mann, der steif aufgerichtet, auf sein Holzbein gestützt, in der halbgeöffneten Tür stand, trug die kühle, unwillige Miene eines Menschen zur Schau, den man soeben bei einer wichtigen Tätigkeit gestört hat.

»Monsieur Tourneur, erkennen Sie mich nicht? Ich bin’s - Pierre Lemarchat.«