Spektakel und Möglichkeitsraum - Nanna Heidenreich - kostenlos E-Book

Spektakel und Möglichkeitsraum E-Book

Nanna Heidenreich

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Beschreibung

Was sich 2015 ereignete, war kein voraussetzungsloses, plötzliches Erscheinen und keine Krise der Migration, sondern eine Krise des europäischen Grenzregimes. Neben den eigensinnigen und widerständigen Bewegungen der Migration war diese Zeit gekennzeichnet von zivilem Engagement und von zahlreichen Kunst- und Kulturproduktionen mit, für und über Geflüchtete. Nanna Heidenreich fragt ausgehend vom ›langen Sommer der Migration‹ nach dem Verhältnis von Hype zu Möglichkeitsraum: Wann wird Kunst mit Migration zum Spektakel? Wie stehen ästhetische Schwellenerfahrungen zum Anspruch auf politische Transformation? Auf welche Weise sind Klimawandel und Migration miteinander verschaltet, von wessen Zukunft reden wir? Und welche Farbe hat das Meer?

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Diese Publikation wurde im Rahmen des Fördervorhabens 16TOA002 mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung sowie mit Mitteln der Open Library Community Medienwissenschaft 2022 im Open Access bereitgestellt. Die Open Library Community Medienwissenschaft 2022 ist ein Netzwerk wissenschaftlicher Bibliotheken zur Förderung von Open Access in den Sozial- und Geisteswissenschaften:

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Nanna Heidenreich (Dr. phil.)

ist Medienkulturwissenschaftlerin & Kuratorin für Film/Video/Theorie/Interventionen. Seit Oktober 2020 ist sie Professorin für Transkulturelle Studien an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Als Kuratorin hat sie u. a. für das HKW Berlin, für Forum Expanded bei der Berlinale und für die AdKdW Köln gearbeitet, zuletzt hat sie dort das Symposium ›Hotspots. Migration und Meer‹ (November 2019) realisiert und im Juli 2021 hat sie zusammen mit Marcus Held die Film- und Exkursionsreihe ›Auslaufende Umwelten‹ beim Kunstverein D21 in Leipzig organisiert. Sie lebt in Berlin und in Wien.

Nanna Heidenreich

Spektakel und Möglichkeitsraum

Kunst und der lange Sommer der Migration

Mit freundlicher Unterstützung der Universität für Angewandte Kunst Wien.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 Lizenz (BY-SA). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell, sofern der neu entstandene Text unter derselben Lizenz wie das Original verbreitet wird. (Lizenz-Text: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de)

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Erschienen 2022 im transcript Verlag, Bielefeld

© Nanna Heidenreich

Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Umschlaggestaltung: Felix Link

Umschlagabbildungen: Stills aus Amel Alzakouts und Khaled Abdulwaheds Film Purple Sea (D 2020)

Korrektorat: Melanie Konrad

Satz & Layout: Felix Link

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-4808-9

PDF-ISBN 978-3-8394-4808-3

EPUB-ISBN 978-3-7328-4808-9

https://doi.org/10.14361/9783839448083

Buchreihen-ISSN: 2703-1209

Buchreihen-eISSN: 2703-1217

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

 

 

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

0.ANFANG

Konversion der Weltsicht

Anders sehen

Im falschen Film

Danke

1.DIE KUNST DER MIGRATION

Migration Macht Kunst

Bilder formen Migration

Aufmerksamkeitsökonomien

2.FUTURE WAVES

Klima/Flucht und Bilder fischen: .tv

Im Film wie in der Realität

This makes me want to predict the past: Er/Zählweisen

Futures: Klimatisierung, Wetter und Szenarien

Die Bewegungen der Migration

Mauern, Menschen und andere Arten

Invasive Arten?

3.DIE FARBEN DES MEERES

Das Blau, das über das Meer kam

Rot ist eine un/natürliche Farbe

Das Purpurrote Meer

Was du mit Farben anstellst, ist mir unerklärlich.

4.(ENDE)

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

QUELLENVERZEICHNIS

Print-Quellen

Quellen online

Künstlerische Arbeiten, Filme, Digitale Projekte, Aktionen

Anfang

Konversion der Weltsicht1

Diese Schrift fängt da an, wo mein erstes Buch V/Erkennungsdienste, das Kino und die Perspektive der Migration 2 aufgehört hat und nimmt das Spannungsverhältnis zwischen Kunst als Möglichkeitsraum der Migration und Kunst als Profiteurin der Krise des europäischen Grenzregimes in den Blick. Der Band reflektiert damit auch meine eigene Praxis zwischen Theorie (das meint hier auch meine Arbeit als Hochschullehrende), aktivistischen Interventionen und kuratorischer Arbeit.

Wenn ich hier von Kunst und Migration spreche, rufe ich vermeintlich klar definierte Felder auf. Gegen diese Definitionen schreibe ich immer auch an. So erscheint Migration zunächst als ein Begriff der Politik, als eine Sache von Regierung, Verwaltung und Recht, von Grenzkontrolle, von Erfassung, Aufenthaltsrecht und Statistiken. Damit verbunden sind Anrufungs- und Subjektivierungsprozesse, vergleichbar zu dem, was ich zum Begriff des ‚Ausländers‘ geschrieben habe,3 der als soziale Kategorie ‚missverstanden‘ wird. Aus Migration werden Migrant*innen, scheinbar klar benennbare Personengruppen, deren Erbschaft in sogenannten Migrationshintergründen diskursiv fortgeschrieben wird. Dabei ist klar, dass die Sache, um die es eigentlich geht, Rassismus heißt. Migration zu thematisieren, bedeutet für mich daher stets, über Rassismus zu sprechen.4 Aber wie auch die Kategorie ‚Rasse‘ erzeugt die Regierung von und mit Migration Realitäten. Nicht zuletzt deshalb bietet sich der Einsatz von post_migrantisch (als heuristische Kategorie) vergleichbar zu post_kolonialer Kritik und Theorie an. Dabei geht es immer auch um die gezielte Verknüpfung von Migration und Post-/Kolonialität, wie Juliane Karakayali und Vassilis Tsianos formulieren:

Mit der Chiffre ‚postmigrantische Gesellschaft‘ verweisen wir auf die politischen, kulturellen und sozialen Transformationen von Gesellschaften mit einer Geschichte der postkolonialen und der Gastarbeiter-Migration. Für die Geschichte und Gegenwart von Einwanderungsgesellschaften wie die Deutschlands sind diesbezüglich insbesondere die Transformationen durch die Kämpfe um ein Recht auf Einbürgerung bedeutsam, das viele der ehemaligen Migrantinnen und Migranten inzwischen zu Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern macht. Der Begriff postmigrantisch versucht nicht, die Tatsache der Migration zu historisieren, sondern beschreibt eine Gesellschaft, die durch die Erfahrung der Migration strukturiert ist, was auch für alle aktuellen Formen der Einwanderung (wie Flucht, temporäre Migration) politisch, rechtlich und sozial bedeutsam ist.5

Auch deshalb ist eine der üblichen Herangehensweisen, dem gegenwärtigen Migrationsregime zu widersprechen, problematisch. Darin wird Migration als überhistorische Gegebenheit verstanden, mit der wiederum unterschiedlichste Formen menschlicher Wanderungsbewegungen erfasst werden. Dieser vor allen Dingen in der historischen Migrationsforschung entwickelten Perspektive wohnt die Tendenz zur Fixierung und Naturalisierung politischer Kategorien inne, und damit auch die Übernahme der Logiken des Zählens, der empirischen Erfassung und der Idee von territorialer Nicht-/Zugehörigkeit. Mir geht es hier aber darum, Migration als Politikum zu thematisieren. Von Migration zu sprechen macht eben nur Sinn als Teil einer bestimmten Weise staatlicher Organisation, im Zusammenhang mit Territorialisierungen und geopolitischen Ungleichheiten. Diese Gefüge, die Migration bedingen, Migration allererst formatieren, gilt es politisch zu fassen, was immer auch heißt, auf deren Veränderung hinzuarbeiten. Migration ist dabei auch als Bewegung zu verstehen, die genau an dieser Veränderung von Politik arbeitet: Migration fordert Repräsentation heraus, wie ich immer wieder formuliert habe.6

Politische Repräsentation ist jedoch nur ein Aspekt. Wenn von Repräsentation die Rede ist, wird damit zuallererst Vorstellung und Darstellung aufgerufen (der Zusammenhang dieser drei Bereiche ist jedoch wesentlich). Damit komme ich zum zweiten Feld, zu dem der Kunst. Auch dieses Feld ist zunächst ganz klar über dessen Institutionen und die entsprechenden Praktiken zu verstehen. Mir geht es jedoch nicht nur um die Orte, Szenen und Protagonist*innen wie Künstler*innen, Kurator*innen, Museumsmitarbeiter*innen, Kunstwissenschaftler*innen und Sammler*innen, Ausstellungen, Kataloge und andere Publikationen, sondern auch um die Künste selbst, was ich hier als Vielzahl von kunstfertigen Praktiken und deren Wissen begreife, zu denen auch die Bewegungen und Kämpfe der Migration zählen. Die Findigkeit von Migration, die Kraft der Imagination, die Migration realisiert und die wie gesagt von mir immer wieder betonte Tatsache, dass Migration Repräsentation herausfordert, denkt den Zusammenhang von Kunst und Migration über eine reine Korrelation hinaus und vor allen Dingen andersherum. Migration ist in diesem Sinne nicht nur Thema oder Material für künstlerisches Schaffen, sondern selbst kunstvoll, im Sinne von kundig und erfindungsreich. Dass Migration so häufig in künstlerischen Arbeiten Verwendung findet, hat auch damit zu tun, dass Kunst von Migration lernt, wenn sie dies auch nicht unbedingt immer honoriert.7 Von Künsten zu sprechen meint so auch „einen genuinen Bereich der Vermittlung, Speicherung und Produktion von Wissen“, insbesondere „marginalisierte Wissensbestände“.8 Von Kunst im Plural, also von Künsten zu sprechen, ruft weiters die verschiedenen Bereiche, oder Gattungen und Genres von Kunst auf, wie Videokunst, Malerei, Tanz, Musik, oder auch Konzeptkunst, Literatur und Film, die geradezu dazu einladen, von den Medien der Kunst zu sprechen. Diese Bereiche stehen jedoch zur Verhandlung.9 Was ist mit Comics, Design, Architektur, Mode? Wo verläuft die Grenzlinie zur Populärkultur, was unterscheidet den Markt für Games von dem für Malerei? Wie funktioniert der Markt für Arbeiten, die als Kopie zirkulieren (Filme, Videos, VR und andere transmediale Arbeiten) und nur mühsam in die berühmte Form der ‚limited edition‘ gezwungen werden können? Ist Marktförmigkeit ohnehin das verbindende Element, da Kunst mittlerweile Teil von Anlagestrategien ist und ein Großteil der Sammler*innen aus dem Investmentbanking kommt?10 Die Gegenwartskunst profitiert direkt von globalen Ungleichheiten:

[I]t is clear that the contemporary art world has been a direct beneficiary of the inequality of which the outsized rewards of Wall Street are only the most visible example. A quick look at the Gini Index, which tracks inequality worldwide, reveals that the locations of the biggest art booms of the last decade have also seen the steepest rise in inequality: the United States, Britain, China, and, most recently, India. Recent economic research has linked the steep increase in art prices over the past decades directly to this growing inequality

schreibt Andrea Fraser in ihrem Beitrag zur Whitney-Biennale 201211 und erläutert zugleich den intrinsischen Zusammenhang mit der zunehmenden Prekarisierung im Feld der Kunst:

[t]he art world itself has developed into a prime example of a winner-take-all market, one of the economic models that emerged to describe the extremes of compensation that have become endemic in the financial and corporate worlds and now also extend to major museums and other large nonprofit organizations in the United States, where compensation ratios can rival those of the for-profit sector. At all levels of the art world, one finds extreme wealth breezing past grinding poverty, from the archetypal struggling artist to the often temporary and benefitless studio and gallery assistants to the low-wage staffers at non-profit organizations.12

Auch darüber sind Migration und Kunst zusammen zu denken, nicht zuletzt auch, weil sie sich das ‚Personal‘ und die Strukturen der Prekarisierung teilen und weil die Orte der Kunst auch strukturelle (nicht nur inhaltliche) Schauplätze von Migration sind (Biennalen müssen/können Visa ermöglichen, Residencies können als Beginn von Aufenthalt und Ankunft fungieren, u. a. m.).

Um die ökonomischen und politischen Aspekte von Kunst fassen zu können, wäre möglicherweise hilfreich, umfassender von kulturellen Produktionen zu sprechen. Für Pierre Bourdieu ist das künstlerische Feld beispielsweise Teil des kulturellen Feldes, welches er zwar vom sozialen und politischen Feld abgrenzt, aber stets bezogen auf diese denkt.13 Dies ist hier auch deshalb hilfreich, da dem kulturellen Feld neben den Künsten auch die Unterhaltungsindustrie, alltägliche kulturelle Praktiken und ‚die Medien‘ zuzurechnen sind14 und ich mich im Weiteren nicht nur mit künstlerischen Arbeiten, sondern auch mit Filmen und anderen audiovisuellen Medien und deren Weisen, Realität zu gestalten und zu organisieren, befasse. Dennoch bleibt ‚die Kunst‘ hier als Horizont meines Nachdenkens über/mit Migration gesetzt. Mir geht es hier aber nicht um eine genaue Bestimmung dessen was Kunst ist (oder sein sollte), entsprechend der ewigen Frage der Medienwissenschaft, was Medien sind, was sie sein könnten oder was sie nicht sind, ob sie alt oder neu sind, und ob sie überhaupt sind, sondern um die Auseinandersetzung mit einem Beziehungsgefüge, das von den Begriffen Kunst und Migration ausgeht. Mir geht es dabei auch nicht darum, herauszuarbeiten, wie eine ‚gute‘ künstlerische Auseinandersetzung mit Migration aussieht oder aussehen könnte, oder wie das Politische und die Kunst ‚gelungen‘ zueinander finden. Eine solche Festlegung vorzunehmen wäre ohnehin bereits die Austreibung jeden politischen Anliegens und jeden Anspruchs auf Widerspruch. Was mich umtreibt, ist eher eine Suchbewegung, die immer vor dem Horizont einer anderen Weltwerdung stattfindet (im Sinne des alten Mottos des Weltsozialforums, dass eine andere Welt möglich ist – und nötig). Ich verorte die Antwort aber nicht einfach nur in den Entwürfen, die in der Kunst entwickelt werden, sondern auch in der kritischen Auseinandersetzung mit diesen. Es geht nicht nur um positive Entwürfe, wie sie beispielsweise T. J. Demos in Beyond the World’s End 15 in den Mittelpunkt stellt (in Abgrenzung zu Arbeiten, die vor allen Dingen kritisch Probleme benennen). In diesem Sinne verhandelt dieses Buch die Überschneidungen von Kunst und Politik, von Aktivismus und künstlerischer Intervention aus und mit der Perspektive der Migration und fragt nach dem Verhältnis von Hype zu Möglichkeitsraum. Wo wird Kunst mit Migration zum Spektakel? Wie stehen ästhetische Schwellenerfahrungen zum Anspruch auf politische Transformation? Welche strukturellen Aufgaben kann Kunst übernehmen? Wo werden die Ökonomien des Kunstfeldes ausgeblendet? Welche Rolle spielen Bildpolitiken, die Zirkulationen und Distributionen digitaler Bilder? Diese Fragen beschäftigen mich vor allem in Kapitel 1. Eine wichtige Rolle spielt auch die Frage nach Zukünftigkeiten und Geschichte(n). Der vielzitierte Nexus von Klimawandel und Migration beispielsweise dient dem immer noch weiter getriebenen Verschrauben von Migrations- und (als) Sicherheitspolitik, indem vor dem Kommenden anhand der Kommenden gewarnt wird. Damit befasse ich mich in Kapitel 2, auch vor dem Hintergrund, dass Klimawandel Migration als ‚angesagtes‘ Thema in der Kunst einerseits ersetzt, andererseits aktualisiert und weiterschreibt.

Wenn ich hier vom langen Sommer der Migration spreche, dann beziehe ich mich nicht nur auf die Kritik an der Ausrufung der sogenannten Flüchtlingskrise im Jahr 2015, die sich in diesem Begriff verdichtet, ich rufe auch einen anderen ‚Sommer‘ auf, den der steigenden Temperaturen des sogenannten Treibhauseffekts, der „menschengemachten Aufheizung des globalen Klimas“.16 Dieser Effekt imperialer Lebensweisen wird als Bedrohung für ein global gedachtes ‚Wir‘ vorgestellt, ein Denkfehler, wie Marcus Termeer ausführt: „Die Erzählung eines globalen ‚Wir‘, das im ‚Treibhaus‘ sitzt, in dem die zunehmende Wärme gefangen ist, überdeckt ein Geflecht von Herrschaft, Macht, (Post-)Kolonialismus und Kapitalismus“.17 Im Bild vom Treibhaus und seinen Erzählungen in Literatur, Kino und Politik werden „kolonialrassistische Konstruktionen von afrikanischem ‚Treibhausklima‘ und ‚Rasse‘“ aufgerufen und Vorstellungen von „Überfremdung und Vermischungsszenarien“ weitergeschrieben.18 Zugleich sind die realen Treibhäuser im Süden Europas, dem ‚Gewächshaus Europas‘, Orte für jene neuen Formen von Ausbeutung, die immer wieder auch als moderne Sklaverei bezeichnet19 und durch die zunehmende Illegalisierung von Migration ermöglicht, ja gezielt hervorgebracht werden. Diese Illegalisierung hat auch Auswirkungen auf die Routen der Migration. Anstatt sichere Wege zu wählen, zu fliegen, mit der Bahn, dem Auto zu fahren, führt die notwendige Klandestinität regelmäßig zu gefährlichen Passagen, wie über das Mittelmeer, auf dem unzählige Menschen deshalb sterben mussten. Die Weltmeere als Schauplätze von Migration ebenso wie als wichtiger Projektions- und Aushandlungsraum der Kunst beschäftigen mich daher in Kapitel 3.

Anders sehen

Der Rechtswissenschaftler Stefan Schlegel hat sich mit dem staatlichen Interesse an der Kategorienbildung im Umgang mit Migration befasst, mit der Flucht und Migration verwaltbar gemacht werden (sollen).20 Wie schon für die sogenannte Ausländerforschung diagnostiziert,21 kritisiert Schlegel, dass die Kategorien der institutionellen Verwaltbarkeit von Migration in der Wissenschaft zu normativen Kategorien geworden sind:

Aber wenn schon der Staat nicht anders ‚sehen‘ kann als in verwaltbaren Kategorien, wäre es umso wichtiger, dass seine Beobachter und Kritiker*innen selber nicht verlernen, in noch ganz anderer Weise zu sehen. Doch dieser Verlernprozess ist mittlerweile fast völlig abgeschlossen, auch in der politischen Theorie zu Migration.22

Die staatlichen – nun normativen – Kategorien werden anhand von stets singulär gesetzten Motiven unterschieden und binären Ordnungsvorstellungen in Gegensatzpaare einsortiert: ökonomisch vs. politisch, ökologisch vs. ökonomisch und besonders perfide persönlich vs. politisch, was besonders Geschlecht und Sexualität betrifft. Bereits 2001 hat das antirassistische Netzwerk Kanak Attak kritisch von der antirassistischen Arbeitsteilung gesprochen, die die in aufenthaltsrechtlichen Regelungen und migrationspolitischen Direktiven vorgenommenen Unterscheidungen (Flucht, Migration, Arbeitsmigration, Asylbewerber*in usw.) im aktivistischen Bereich trotz bester Absichten reproduziert (Antifa, Pro Asyl, migrantische Selbstorganisation, usw. „Diese Arbeitsteilung ist ein Spiegelbild der Hegemonie des rassistischen Regimes in den 90er Jahren“).23 Auch wissenschaftlich wird unterschieden u. a. in Migrations- und Fluchtforschung (und in Rassismusforschung).

Dieses Buch nimmt als Ausgangspunkt den langen Sommer der Migration, der für andere die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015 ist.24 Diese Umbenennung ist ein aktiver Begriffswechsel, der konstitutiv ist, obwohl oder vielmehr gerade weil es dabei nicht unbedingt um unterschiedliche Dinge geht: Flucht, Migration, Geflüchtete, Migrant*innen, postmigrantisch. Die scheinbare Ungenauigkeit der Begriffe ist hier Programm – Verlernprogramm und das Programm eines anderen Sehens. Dass dabei immer wieder auch verhandelt wird, was unter Migration überhaupt zu verstehen ist, und gegen die überhistorische Behauptung einer anthropologischen Konstante menschlicher Wanderungsbewegungen ein Verständnis von Migration als soziale und politische Bewegung stark gemacht wird, ist jedoch immer auf einen Fluchtpunkt hin gedacht: jenem Fluchtpunkt, wonach Migration als Kategorie abgedankt hat, die normativen Setzungen mürbe geworden sind und den Behauptungen von Nicht-/Zugehörigkeit der Boden entzogen wurde und so eine Situation denkbar wird, in der Migration zwar, wenn man so will, stattfindet, aber nicht mehr ist.

Im falschen Film

Im Februar 2020 ermordet ein Rechtsterrorist im hessischen Hanau neun Menschen: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Der schwer bewaffnete Mann konnte in seinem Wagen von einem zum nächsten Tatort fahren, weil Notrufe ins Leere gingen, beziehungsweise weil einem Überlebenden, der direkt nach den Schüssen am ersten Tatort, einer Shisha-Bar, mit seinem Anruf durchkam, gesagt wurde, er solle sich zur nächsten Wache begeben (die 2,5 km entfernt war), um eine Meldung aufzugeben. In dem vom Hessischen Rundfunk produzierten Film HANAU – EINENACHTUNDIHREFOLGEN (DE2021) von Marcin Wierzchowski kommen die Überlebenden und Betroffenen zu Wort. Immer wieder kommentieren sie die Unterlassungen der Polizei, die fast unglaublich erscheinenden Handlungen mit „ich glaube, ich bin im falschen Film“ – u. a. benutzten Polizisten und Rettungssanitäter den in den Hals geschossenen Said Etris Hashemi als lebenden Schutzschild, wird der blonde und blauäugige Hamza Kurtović in den Akten als ‚orientalisch aussehend‘ geführt. Rassismus, der auf Rassismus folgt: im falschen Film.

Im falschen Film sein heißt also, in das Drehbuch der falschen Verhältnisse eingeschrieben zu sein. Was heißt es also, im richtigen Film zu sein? Wann – und wie – ist ein Film richtig? Was ist das Richtige im Filmschaffen und was heißt es überhaupt, im Film zu sein? Vom falschen Film zu sprechen, heißt für mich, eine Option aufzumachen: die Option, das Bild zu verlassen, also das Drehbuch und die Kameraeinstellung nicht als gegeben hinzunehmen. Der richtige Film ist schlicht Möglichkeitsraum der Veränderbarkeit der Verhältnisse. Und das sind auch die Verhältnisse der Film/Bilder selbst – ob im Kino, im Kunstkontext, im Fernsehen oder im Netz.25

Danke

Niemand denkt alleine. Alle Unzulänglichkeiten sind jedoch meine Verantwortung. Aber es gibt immer Personen (und Institutionen), denen mein ganz besonderer Dank gilt, die mir auf die eine oder andere Weise geholfen haben, wissentlich wie unwissentlich: die ‚Angewandte‘ in Wien (insbesondere meine Kolleg*innen von der Abteilung Transkulturelle Studien, Viktoria Luisa Metschl und Zehra Barackılıç), ADKDW Köln, Alexandra Gerbaulet, Alisa Lebow, Amel Alzakout, Andreas Heidenreich, Antonia Baehr, Arsenal – Institut für Film und Videokunst, Ayse Güleç, Azin Feizabadi, Başak Ertür, Brigitta Kuster, Cana Bilir-Meier, Constanze Fischbeck, Daniel Henrickson, Dodo Heidenreich, Felix Gregor, Felix Link, Flo Sperrle, Florian Krautkrämer, Henriette Gunkel, HKW Berlin, Lisa Klinkenberg, Jan Künemund, Jiré Emine Gözen, John Akomfrah/Smoking Dogs Filmproduktion, Julia Tieke, Kathleen Hilsing, Katrin Klingan, Khaled Abdelwahed, Lena Thiele, Luc-Carolin Ziemann (DOK Leipzig), Madhusree Dutta, Maja Figge, Marc Siegel, Marcus Held, Mareike Bernien, Maren Haffke, Maya Schweizer, Melanie Konrad, Merle Kröger, Michael Annoff, Naomie Gramlich, Natalie Lettenewitsch, Natascha Frankenberg, Nicole Wolf, Nuray Demir, Ömer Alkın, Philip Scheffner, Pong Berlin, Rana Dasgupta, Rett Rossi, Salome Gersch, Sharon Mantel, Simone Dede Ayivi, Stefanie Schulte Strathaus, Stefanie von Schnurbein, Steffen Köhn, Surur Abdul-Hussain, Susanne Sachsse, Susanne Taggruber, Sybille Bauriedl, Ulrich Ziemons, Vaginal Davis, Valerie Riepe.

Mein ganz besonderer Dank gilt Ulrike Bergermann, der Reihenherausgeberin, die mich auf die großzügigste Weise in allen meinen (beruflichen) Schritten begleitet hat. Ohne ihr Mentorat – und unser geteiltes Interesse für die Ränder von academia – wäre aus mir vermutlich keine Wissenschaftlerin geworden.

1„Politik beginnt eigentlich erst mit der Aufkündigung dieses für die ursprüngliche Doxa charakteristischen unausgesprochenen Vertrags über die Bejahung der bestehenden Ordnung; mit anderen Worten: Politische Subversion setzt kognitive Subversion voraus, Konversion der Weltsicht.“ (Pierre Bourdieu: Was heißt Sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches, übersetzt von Hella Beister, Wien: Braumüller 22005 [1982], S. 131.)

2Nanna Heidenreich: V/Erkennungsdienste, Kino und die Perspektive der Migration, Bielefeld: transcript 2015.

3Ebd.

4Rassistische Diskriminierung wird in Deutschland als verfassungskonforme Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit im Arbeits-, Ausländer- und Asylrecht verstanden, daher wurde das 12. Zusatzprotokoll zur europäischen Menschenrechtskonvention von 2005 bis heute nicht ratifiziert, wie Kijan Espahangizi, Sabine Hess, Juliane Karakayali, Bernd Kasparek, Simona Pagano, Mathias Rodatz, Vassilis S. Tsianos in „Rassismus in der postmigrantischen Gesellschaft. Zur Einleitung“ ausführen (in: Movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies, 2/12016). In diesem Artikel führen die Autor*innen auch aus, wie Migration und Rassismus zusammenzudenken sind, und dass und wie Migration neue Rassismusanalysen erforderlich macht.

5Vassilis S. Tsianos, Juliane Karakayali: „Rassismus und Repräsentationspolitik in der postmigrantischen Gesellschaft“, in: APuZ, 18.03.2014. Zum Begriff ‚postmigrantisch‘ siehe auch: Kijan Espahangizi et al., „Rassismus in der postmigrantischen Gesellschaft“.

6Nanna Heidenreich: „,It’s a Migration!‘ Queere Zeitlichkeiten, kritische Zählweisen und die bildpolitische Formatierung von Migration“, in: Valerie Hänsch, Johanna Rieß, Ivo Ritzer, Heike Wagner (Hg.): Medialisierungen Afrikas, Baden-Baden: Nomos 2018, S. 51 – 69; „,Do you think I could borrow some of your refugees?‘ Art, Activism, Migration“/„,Kann ich mir mal deine Flüchtlinge ausleihen?‘ Kunst, Aktivismus, Migration“, in: Anna Jehle, Artists Unlimited, Paul Buckermann (Hg.): Kinship in Solitude. Perspectives on Notions of Solidarity, Hamburg: adocs 2017, (dt./engl.) S. 24 – 60; „Die Perspektive der Migration aufzeichnen/einnehmen/ausstellen/aktivieren“, in: Doris Guth, Alexander Fleischmann (Hg.): Kunst, Theorie, Aktivismus. Emanzipatorische Perspektiven auf Ungleichheit und Diskriminierung, Bielefeld: transcript 2015, S. 113 – 146; „Die Kunst der Migrationen“, in: Annika McPherson et al. (Hg.): Wanderungen. Migrationen und Transformationen aus geschlechterwissenschaftlichen Perspektiven, Bielefeld: transcript 2013, S. 217 – 230.

7Also anerkannt beziehungsweise ganz wörtlich bezahlt. (Hilfreich ist hier auch Pierre Bourdieus Unterscheidung in ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital, wobei von anderen Autor*innen noch andere Kapitalsorten vorgeschlagen wurden). Dies geschieht meistens, indem das Mitwirken von Migrant*innen oder Geflüchteten als Protagonist*innen als etwas verstanden wird, von dem diese als Sache für sich gewinnen, dass sie also von künstlerischen Projekten allein durch Teilnahme und Sichtbarkeit profitieren. Ich komme im ersten Kapitel auf mehrere solche Beispiele zu sprechen. Siehe außerdem: Nanna Heidenreich: „,Kann ich mir mal deine Flüchtlinge ausleihen?‘“.

8So die Beschreibung des Forschungsansatzes des DFG Graduiertenkollegs „Das Wissen der Künste“, das von 2012 – 2021 an der Universität der Künste in Berlin angesiedelt war.

9Wie mit Bezug auf Adornos Begriff der ,Verfransung‘ zwischen den Kunstgattungen in seinem Text „Die Kunst und die Künste“ von 1967 vielfach diskutiert wurde, siehe dazu u. a. Christoph Menke, Juliane Rebentisch (Hg.): Kunst Fortschritt Geschichte, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2006. Siehe zum Verhältnis von Kunst und den Künsten auch Georg W. Bertram, Stefan Deines, Daniel Martin Feige (Hg.): Die Kunst und die Künste. Ein Kunstkompendium zur Kunsttheorie der Gegenwart, Berlin: Suhrkamp 2021.

10Siehe Julia Voss: Hinter weißen Wänden/Inside the White Cube, Berlin: Merve 2015.

11Andrea Fraser: „There’s No Place Like Home“, Whitney-Biennale 2012.

12Ebd.

13Siehe zu Bourdieus Auseinandersetzung mit Kunst, Jens Kastner: Die ästhetische Disposition. Eine Einführung in die Kunsttheorie Pierre Bourdieus, Wien: Turia + Kant 2009.

14Siehe Jens Kastner: Die ästhetische Disposition, S. 41f.

15T. J. Demos: Beyond the World’s End. Arts of Living at the Crossing, Durham: Duke UP2020.

16Marcus Termeer: Das Treibhaus und die sozialen Konstruktionen von Fremdheit, Münster: Westfälisches Dampfboot 2020, S. 9.

17Marcus Termeer: Das Treibhaus und die sozialen Konstruktionen von Fremdheit, S. 10.

18Marcus Termeer: Das Treibhaus und die sozialen Konstruktionen von Fremdheit, S. 192f.

19Diese Bezeichnung ausbeuterischer Arbeit von Migrant*innen in der Landwirtschaft in Europa besitzt natürlich große rhetorische Kraft, ist aber analytisch nicht unumstritten. Die Migrationsforscherin Manuela Bojadžijev, die auch zentrale Texte zur deutschsprachigen Auseinandersetzung mit Rassismus vorgelegt hat, zeichnet in einem Interview einige der Eckpunkte des Verhältnisses von Ausbeutung, Zwangsarbeit und Sklaverei in der Gegenwart sowie die historischen Zusammenhänge nach. (Siehe Kathrin Kirstein im Interview mit Manuela Bojadžijev, „Versklavte Plantagenarbeiter und europäische Fabrikarbeiter gehören zeitgeschichtlich zusammen“, Nachricht vom 30.11.2021 auf der Webseite der Humboldt-Universität zu Berlin.)

20Stefan Schlegel: „Linien ziehen? Über die unmögliche Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und Migrierenden“, in: Geschichte der Gegenwart, 28.04.2021. Schlegel hat zu Migrationsrecht promoviert und habilitiert sich zum Zeitpunkt des hier zitierten Artikels in Eigentumsrecht. Das erwähne ich auch deshalb, weil sich hier vielleicht ein Hinweis auf den Zusammenhang von Migration und IP/Copyright/Piraterie ablesen lässt, wenn auch spekulativ.

21Siehe dazu Nanna Heidenreich, V/erkennungsdienste, S. 301, Anm. 38.

22Stefan Schlegel, „Linien ziehen?“.

23Siehe „Der KANAK-AHA-EFFEKT und die Überwindung der antirassistischen Arbeitsteilung“; ebenso erhellend: „Selbstermächtigung unter Bedingungen eines rassistisch stratifizierten Elends. Kanak Attak im Gespräch mit SUBTROPEN“. Beide Texte sind von 2001 und verfügbar auf der Webseite von Kanak Attak.

24Während ich dies schreibe, führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Die zahlreichen Geflüchteten aus der Ukraine – dazu zählen auch sogenannte Drittstaatsangehörige, also Personen mit anderen als ukrainischen Pässen, u. a. die zahlreichen Studierenden aus Afrika, Asien und dem Mittleren Osten – werden diesmal nicht vom Begriff einer Krise ‚begrüßt‘. (Siehe dazu Soraya Ali: „Ukraine: Why so many African and Indian students were in the country“, BBC News vom 04.03.2022.) Da ukrainische Männer (das betrifft auch Trans* Personen, weil in der Ukraine Transsexualität geahndet wird) nicht außer Landes gelassen werden, handelt es sich v.a. um Frauen und Kinder. Dass heute nicht sofort wieder von einer Krise gesprochen wird und zudem die „Massenzustrom-Richtlinie“ der EU von 2001 Berücksichtigung findet, ist dabei nicht einfach ein ‚learning from‘ 2015, sondern gerahmt von Vorstellungen, dass hier ‚der Westen‘ angegriffen wird, dass es Europäer*innen betrifft, dass es daher eine andere Situation sei. Dass sich hier Rassifizierung, Geschlecht, Migration und Flucht (neu?) konfigurieren, scheint offensichtlich und muss Sache von weiteren kritischen Analysen sein, die auch längerfristige Entwicklungen berücksichtigen. Klar ist jedoch: An den Grenzen und in der Weise der Aufnahme findet racial profiling statt. Klar ist jedoch auch, dass die stereotype Verknüpfung von Sexarbeit und Osteuropa als wichtiger Bestandteil antislawischen Rassismus’ zum Tragen kommt, siehe Margarete Stokowskis Kolumne zu den „geifernden Projektionen“: „Finger weg von den Frauen!“, Kolumne in Spiegel Online vom 08.03.2022.

25Die veraltete englische Bezeichnung picture für Film mache ich mir hier zunutze und verwende Film hier nicht nur als Synonym für alle Formen audiovisueller Bewegtbilder, sondern auch als Platzhalter für einen anderen großen Sammelbegriff, den des Bildes.

Die Kunst der Migration

Migration Macht Kunst

Die 2015 in Europa ausgerufene „Flüchtlingskrise“ ist von der kritischen Migrationsforschung als „langer Sommer der Migration“ umgedeutet worden, denn weder handelt es sich um ein voraussetzungsloses plötzliches Erscheinen noch um eine Krise, die die Migration selbst betrifft.26 In die Krise geraten ist vielmehr das Europa der Schengen- und Dublin-Abkommen, es ist eine Krise des europäischen Grenzregimes. Grenzüberschreitungen und Momente des Sich-Entziehens gab es schon zuvor, wie die Herausgeber*innen des Sammelbandes Der lange Sommer der Migration schreiben, die Dimension ist jedoch neu: „[N]ie zuvor wurden Grenzüberschreitungen zu einer kollektiven und damit politisierten Bewegung der Migration gegen die europäische Mobilitätsordnung.“27 In diesem „langen Sommer der Migration“ waren 2015, 2016 und teils auch danach zwei Phänomene zu beobachten: großes ehrenamtliches Engagement28 (von Menschen mit und ohne ‚Migrationshintergrund‘)29 und eine große Zahl von Kunst- und Kulturproduktionen mit, für, über Geflüchtete – Migration macht Kunst. Mich interessiert hier Letzteres, der Zusammenhang von Kunst und Migration, wobei die Nennung zusammen mit der Frage des Engagements nicht zufällig ist, da Kunst- und Kulturproduktionen im Kontext von Migration nicht von deren Anspruch auf gesellschaftliche Wirkung zu trennen sind, ebenso wenig von deren Engführung mit aktivistischen Projekten sowie dem Anspruch etwas ‚mit‘ oder ‚für‘ Geflüchtete und Migrant*innen zu tun. Und beides, Engagement und Kunst haben ebenfalls zu einer Proliferation nicht nur des Tuns, sondern auch der Forschung dazu geführt.30 In beiden Fällen handelt es sich nicht um ein gänzlich neues Phänomen – genauso wenig wie bei den Grenzüberschreitungen –, aber dennoch um eine bemerkenswerte Konjunktur, die für einige Zeit zumindest in Deutschland so gut wie jede Kulturinstitution erfasst hatte.31 Diese Konjunktur ist umso bemerkenswerter als nur wenige Jahre später festzustellen ist: Wo vorher teils händeringend nach Geflüchteten gesucht wurde, die für die zahlreichen partizipatorischen und dokumentarischen Projekte mit/für/über benötigt wurden, sind größtenteils neue Themen und Fokusgruppen eingezogen. Migration bleibt zwar (tages-)aktuell und auch Teil künstlerischer Praxis und von Ausstellungsprojekten, nicht zuletzt auch aufgrund der Aktualität von Klimakrise, aktiver Dekolonisierungsarbeit (besonders von Museen) und posthumaner Aufmerksamkeit gegenüber auch nichtmenschlichen Akteuren, aber eben eher als Thema denn als Akteur*innen, die es zu adressieren und einzubinden gilt, wie problematisch diese Einbindung und Adressierung teils auch gewesen sein mag.

Abb. 1 Europawahlkampagne der Grünen 2014.

Diese Abwesenheit von Akteur*innen zeigt sich u. a. in der Fetischisierung von Artefakten der Migration und der Ausstellung beispielsweise von Booten als Ikonen von Flucht und Migration. Wo vorher Kunst mit und für Geflüchtete proklamiert wurde, steht jetzt wieder eher die Konjunktion UND (Kunst und Migration, Kunst und Flucht) in den Programmen. Die Konjunktion ÜBER kennzeichnet hier beide Phänomene, was dem gängigen repräsentationspolitischen Fehlschluss zu verdanken ist, Kunst, Kino, Theater, Literatur sei Migration nachgängig, bilde sie ab. Dabei wird auch auf das Modell von Repräsentation, Rechten und Sichtbarkeit rekurriert,32 das einen wesentlichen Anteil an der Vorstellung von Kunst als politisch und gesellschaftlich wirksam hat: Kunst und Kultur machen Migration sichtbar und erzeugen damit Anerkennung. Die Abwendung von der zuvor ebenfalls nicht unproblematischen Akteur*innenposition, die nur zu oft eine paternalistische Situation bedienen sollte,33 muss aber auch noch weiter gedacht werden und zwar hinsichtlich der Sphäre des Rechts. Ich sehe diese Abwendung daher auch in der zunehmenden Kriminalisierung von Solidarität und humanitären Interventionen ausgedrückt,34 wie die eigentlich verpflichtende Seenotrettung oder die Aushöhlung der Vorgaben der Genfer Konvention.35 Dazu zählen die Normalisierung von illegalen Push-back-Operationen, die Repressionen gegenüber NGOs, die Seenotrettung praktizieren, die auch durch die Ermittlungen gegen Frontex-Chef Fabrice Leggeri und dessen gezielte Vertuschung von Menschenrechtsverstößen an den Grenzen der EU nicht unterbunden werden. Im Gegenteil, der Bericht der EU-Prüfgruppe verleitete Leggeri zu twittern, „dass es keine Beweise gibt, dass die Agentur in Menschenrechtsverstöße involviert ist.“36 Auch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, das sogenannte N. D. & N. T. Urteil vom 13.02.2021,37 Push-backs oder Kollektivausweisungen trotz Refoulementverbots bei ,illegalem‘ Grenzübertritt für rechtens zu erklären, verweist auf die zunehmende Qualifizierung des Rechts für solche, die, mit Hannah Arendts berühmten Worten, das „Recht auf Rechte“38 haben, und solche, die illegalisiert sind, d.h. im Wortsinn vom Recht ausgeschlossen werden (die mit Arendt ihrer juristischen Person beraubt wurden).39 Wie W. J. T. Mitchell in seiner Verknüpfung von Rechtstheorie, Migration und Ikonologie argumentiert, ist das Verhältnis von Gesetz (law) und Migration vorwiegend ein negatives.40 Ein Zusammenhang, den er auch für Bilder konstatiert: Das erste Gesetz, das sich auf Bilder bezog, war ein Verbot. Ein Verbot, das wiederum konstitutiv für liberale Rechtsvorstellungen ist: Das Gesetz ist blind – und vor dem Gesetz sind alle gleich. Nun sind aber weder alle vor dem Gesetz gleich und worauf sich das Auge des Gesetzes richtet – wer polizeilich erfasst wird – und wo ,ein Auge zugedrückt wird‘, wird unter anderem an den Grenzen des Nationalstaats (Arendt), durch die Politik von Exklusion/(partieller) Inklusion41 und durch die Logiken des Rassismus u. a. durch racial profiling festgelegt. Das Recht wird in Abschiebegefängnissen (Schubhaft, Abschiebungshaft, detention centers …) de facto suspendiert und durch bürokratische Maßnahmen – sogenanntes Verfahrensrecht – in die Schranken gewiesen. Nicht das Recht auf Asyl, oder die sogenannten Menschenrechte zählen, sondern prozedurales Recht, das von Grenzpolizei und von Agenturmitarbeiter*innen umgesetzt und ausgeübt wird. Frontex, die Grenzschutzagentur, ist die größte der zahlreichen Agenturen der EU.42 Entrechtung durch das Recht ist konstitutiv für die Illegalisierung von Migration – „they are subject to the law and excluded from it“43 – und es ist sicherlich nicht zufällig, dass Ausbürgerungen (im Englischen aussagekräftig denaturalizations) heute wenn nicht gängige Praxis, dann doch breit diskursfähig geworden sind, insbesondere im Kontext des sogenannten Kampfes gegen den Terror. In Deutschland ist Ausbürgerung aufgrund des Einsatzes dieses ,Rechtsmittels‘ als massenmordtaugliche Praxis im Nationalsozialismus eigentlich in Art. 16 Abs. 1 S. 1 des Grundgesetzes verboten, aber die regierungspolitische Aktivierung von Sanktionierungen doppelter Staatsbürgerschaft haben seit Beginn der 2000er Jahre in zahlreichen Fällen zum Verlust des deutschen Passes geführt.44

Vassilis Tsianos und Dimitris Papadopoulos führen in ihrer Auseinandersetzung mit der seit den 1990er Jahren zunehmenden Illegalisierung von Migration den Begriff des Doppel-R-Prinzips ein:

Das Doppel-R-Prinzip organisiert nicht nur das national-territoriale Korpus, sondern kennzeichnet in erster Linie die Beziehung zu außerhalb seiner verorteten Staaten und deren Bevölkerung. Auf diese Weise bestimmt das Doppel-R-Axiom zugleich die Matrix von positiven Rechten und Repräsentation innerhalb des nationalen Territoriums und die Nichtexistenz von Rechten und symbolischer Präsenz jenseits seiner Grenzen.45

Sie verbinden dies mit Fragen nach den Formen der Darstellung und den Formen politischer Organisation, und betrachten Migration als Politik des Werdens und als „paradigmatische Antriebskraft einer neuen postliberalen Souveränität“,46 die eben jene liberalen Setzungen unterlaufen, die Mitchell als kritischen Nexus von Recht, Bild und Migration ansieht.

Abb. 2MITDEMZWEITENSIEHTMANBESSER. ÇIFTPASSAPORT, MINDESTENS! Kanak-Attak-Kampagne 2005

Die Setzungen des Rechts sind, wie Arendt so eindrücklich in ihrer Kritik der Menschenrechte beziehungsweise ihrer Analyse der Aporien ausgeführt hat, keine universellen Gegebenheiten, vielmehr ist im Kontext des Nationalstaatensystems der Zugang zum Recht an die Zugehörigkeit zu einer Nation gebunden: „Staatsbürgerschaft und nationale Zugehörigkeit [sind] nicht zu trennen“ und „nur die nationale Abstammung“ kann „den Gesetzesschutz“ wirklich garantieren.47 Auch suprastaatliche Konstrukte wie die EU haben weder das Ordnungsprinzip des Nationalstaats ersetzt – auch deshalb ist die Krise, die die Flucht- und Migrationsbewegungen seit 2015 ausgelöst haben, eine der EU –, noch haben sie zu keiner zunehmenden Inrechtsetzung von Migrant*innen geführt. Wie Bettine Menke ausführt, erweist sich Arendts Diagnose als

anhaltend und (anders als einige vorhalten) bis in die aktuellsten Entwicklungen zutreffend, denn bisher und fortwährend basieren (was sich gegenwärtig mit erneuter Virulenz äußert) alle internationalen und europäischen Verbünde wie auch alle Vereinbarungen wie etwa die Genfer Flüchtlingskonvention auf dem Nationalstaatsprinzip und dem nationalen Staatsbürgerschaftsrecht.48

Das Internierungslager, das hier stellvertretend für alle aktuellen und seit Jahrzehnten bestehenden Formen von camps und Lagern, wie Abschiebehaft, Flüchtlingslager, Hotspots, Anker- und Aufnahmezentren steht, ist, so Arendt, zum praktischen Ersatz für das mangelnde nationale Territorium und zur auf Dauer gestellten Routinelösung geworden: „die einzige patria, die die Welt dem Apatriden anzubieten hat.“49 Ein auf Dauer gestellter Zwischenraum, den Cornelia Vismann als „undefinierten und außer- und vorrechtlichen Bereich der Politik“ beschreibt.50 Ein Bereich, der besonders an der Grenze realisiert wird. In der Folge der faktischen Abschaffung des Asylrechts in Deutschland 1993 stellten die Abgeordnete Ulla Jelpke und die Gruppe der PDS1996 eine kleine Anfrage zu den auch damals schon zahlreichen toten Flüchtlingen an den Grenzen der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1995.51 Auf die Frage, wie viele der Toten als Flüchtlinge angesehen wurden, lautete die Antwort:

Die Flüchtlingseigenschaft im rechtlichen Sinne liegt nur bei Personen vor, die die Voraussetzungen der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllen, was in der Regel erst in einem Prüfungsverfahren – in der Bundesrepublik Deutschland durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge – festzustellen ist.52

Was also ist jemand, der flüchtet, bevor er in ein Verfahren eintritt? Das N. D. & N. T. Urteil des EGMR bestätigt Vismanns Lesart von Arendt, auf die sich wiederum Menke bezieht: „Offenbar nicht einmal ein Mensch der Menschenrechte.“53

Für ihre Analyse von Menschenrechten und Flucht nimmt Menke die theatralen Aufführungen von Asylverhandlungen in den Blick, „denn das Theater gibt der Konstitution von Redesubjekten Raum, die ihren Anspruch zur Geltung bringen (wollen).“54 Sie befasst sich mit Elfriede Jelineks Neuschrift von Aischylos Hiketiden, DIESCHUTZBEFOHLENEN (2012/3) in Verbindung mit Vismanns Analyse von Menschenrechten als Instanzen des Sprechens und als Sache der Politik.55 Menschenrechte wurden, so Vismann, erstmalig deklariert. Eine Deklaration wie die der Menschenrechte von 1789 bezeichnet im französischen Staatsrecht des 18. Jahrhunderts „die rechtswirksame Interpretation eines bestehenden Rechts durch förmlichen Akt des Justizministers“.56 Eine Deklaration „ist demnach ein sich selbst überschreibender und überschreitender Text, ein Auslegungsakt, der neues Recht setzt und damit ausdrücklich das tut, was implizit permanent geschieht: die Transformation des bestehenden Rechts durch die jeweilige richterliche Interpretationspraxis.“57 Menschenrechte geben somit ein Recht zur permanenten Erklärung. Menschenrechte sind zwar, wie Arendts Kritik ja pointiert vorführt, „überhaupt keine Rechte“, sondern „der durchgestrichene Text oder die andere Seite der Rechte“,58 aber als solche verbürgen sie für Vismann „eine Praxis des Redens jenseits des Rechts“,59 sie setzen „eine rhetorische Praxis in Gang“, ein „diskursgenerierendes Projek[t]“,60 das zumindest ermöglicht, die Gewalt des Rechts sichtbar zu machen.61 Vismann endet ihren Text zwar explizit mit einer Kritik der Funktionalisierung von Menschenrechten als bequemer Legitimationsfigur und als interessenpolitischer Einsatz westlicher Länder, für die die Berufung auf Humanität ein Dispositiv geworden ist, „um weltpolitische Vorgänge in Form von rechtlichen Akten zu fassen“.62 Und in der Tat ist der Humanitarismus zu einer jener Figuren geworden, mit der die Entrechtung von Migration und ihre Illegalisierung weiter vorangetrieben wird.63 Was Vismann jedoch deutlich macht ist, dass Menschenrechte ein Diskursraum sind – und dieser Diskursraum wird, hier schließe ich mich Matthias Lehnerts Kommentar zum EGMR-Urteil an, politisch bestimmt. Rechte, auch deren Fehlen oder deren Vorenthaltung, sind Sache des politischen Willens. Der ,undefinierte und außer- und vorrechtliche Bereich der Politik‘, von dem Vismann mit Bezug auf die Grauzone des Rechts, in der sich Geflüchtete befinden, spricht, verweist nicht nur auf Ausschluss, sondern auch auf einen möglichen Aushandlungsraum: den des Politischen.64 Was wiederum mit der schon seit Jahrzehnten von der kritischen Migrationsforschung postulierten Blickverschiebung auf Migration korrespondiert. Migration ist nicht als ökonomischer oder quantifizierbarer Faktor, als Problem, Krise, oder als Ausnahme vom Normalzustand, sondern als soziale Bewegung zu verstehen,65 mit Papadopoulos/Tsianos als eine ,Politik des Werdens‘, die für das „Ende der Politik der Repräsentation“ steht.66 Wie ich mehrfach argumentiert habe, fordert Migration Repräsentation heraus, was immer meint, Darstellung, Vorstellung und die Strukturen und Formen des Politischen.67 Die politische Bestimmung des Rechts verknüpft daher nicht zufällig, sondern explizit künstlerische Praxis und Migration. Wie Menke und Vismann zeigen: Das Recht wird zur Aufführung gebracht, im Gerichtssaal, aber auch im Theater- und im Ausstellungsraum.

Die beiden französischen Künstler*innen Patrick Bernier und Olive Martin beispielsweise begannen 2007 damit, in öffentlichen Rechtsauslegungsperformances – eine Form der déclaration – zumeist im Kunstkontext das Recht auf geistiges Eigentum als Migrationsstrategie und Aufenthaltsrecht zu verhandeln.68 Bernier begann 2001 für GASPROM zu arbeiten (Groupement Accueil Service Promotion du Travailleur Immigré), einer Organisation, die für die Rechte von Migrant*innen kämpft und diese berät. Er begann dort als eine Art Ghostwriter Schreiben an Behörden für Migrant*innen zu verfassen. Aus dieser Praxis ging X. C/PRÉFETDE … , PLAIDOIRIEPOURUNEJURISPRUDENCE [X and Y v. France: The Case for a Legal Precedent, 2007-ongoing] hervor:

Zwei Anwälte wenden sich an einen imaginären Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschrechte, auf dessen Platz die Zuschauer sitzen. Sie drängen darauf, ein Gerichtsurteil aufzuheben, das vorsieht, die Migrantin X aus Frankreich auszuweisen. Dabei argumentieren sie, dass X Autorin und Trägerin eines immateriellen Kunstwerks ist, das sie in Zusammenarbeit mit dem europäischen Künstler Y geschaffen hat. Die Anwälte argumentieren, dass X folglich durch das Recht auf geistiges Eigentum geschützt ist und nicht ausgewiesen werden kann.69

An diese Praxis knüpft auch das Bureau des Dépositions: Exercice de justice spéculative an, eine Gruppe von zehn Ko-Autor*innen70 mit unterschiedlichem Aufenthaltsstatus, von denen die meisten vor ihrem Aufbruch nach Frankreich zwischen 2016 und 2017 in Guinea in Westafrika gelebt haben. Das Bureau des Dépositions verbindet seit 2019 die eigene performative Inrechtsetzung mit der Schaffung von Präzedenz, die über die zehn beteiligten Autor*innen hinauswirkt:

The Bureau, declared an immaterial work, also comprises a series of performances and ongoing research-creation processes that are signed in co-authorship. This includes the performance Exercises de justice spéculative (Exercises in Speculative Justice), through which the Bureau’s co-dependence is asserted in the face of deportation orders from France that threaten both the lives of the undocumented members and the work that is the Bureau des Dépositions. Through the strategic use of French laws that protect the integrity of art works, author’s rights (droits d’auteur) are mobilised in order to petition for the co-authors’ right to remain in France, with the gamble here being that this could potentially be more effective than appealing to rights of asylum or the sanctity of human (non-citizen) life. As such, the Bureau seeks to create (legal) precedence and participate in the processual transformation of law and life. The performance is not simply about migratory violence, but is a speculative work whose ‚transformative properties‘ are used in order to protect the lives of the artists – a work that both points to the limitations of existing (Western) justice and exceeds it, suggesting an alternative conception of justice embodied by the Bureau.71

Die Verknüpfung von Copyright/Intellectual Property mit Aufenthaltsrecht ist auch insofern signifikant, als Urheberrecht zu den dynamischsten Rechtsbereichen der Gegenwart zählt und auch Aufenthalt, Staatsbürger*innenschaft, Grenzüberschreitung, Migration werden nicht nur diskursiv, sondern auch juridisch anhaltend und global lautstark verhandelt. Was beiden darüber hinaus gemein ist, ist dass deren jeweiliger Kampf gegen vermeintliche Illegalität allererst darin hervorgebracht wird sowie die Kriminalisierung von ubiquitären Praktiken (Ramon Lobato bezeichnet piracy als „thoroughly mainstream practice, common in every nation“).72 Eine weitere Schnittstelle besteht in der Verhandlung dessen, wer oder was ein Rechtssubjekt ist (wer vom Recht anerkannt wird, wessen Rechte anerkannt werden). In beiden Diskurs- und Rechtsfeldern geht es letztlich darum, was es heißt, eine Person im kapitalistischen Weltsystem zu sein.73 Wer zählt, wer wird gezählt?

Arendt fokussiert in ihrer Kritik der Menschenrechte und des Nationalstaats insbesondere auf den Ersten Weltkrieg und dessen Folgen. Im Zuge dieses Kriegs, der zerfallenden Imperien und der Durchsetzung des Nationalstaatensystems, in dem Bevölkerung und Territorium aneinander gebunden werden, setzte sich weltweit das moderne Pass-System durch, eine Einführung, die wie Brigitta Kuster ausführt, der Grenzkontrolle und der Regulierung von Mobilität diente, aber eben auch der „Unveränderbarkeit ihrer Spuren über die Mobilisierung ihrer Identität“.74 Kuster bezieht sich hier auf die Forschung des Historikers und Soziologen John Torpey zur Erfindung des Passes, der den legendären Autor B. Traven und seinen Roman Das Totenschiff als „screed against passports and other documentary requirements for ordinary travelers“75 beschrieben hat. Das Totenschiff war B. Travens erster Roman und erschien auf deutsch 1926 bei der Büchergilde Gutenberg. Er zählt zu den meist gelesenen Autor*innen des 20. Jahrhunderts und seine Texte, die häufig eine dezidierte Kapitalismuskritik enthielten und sich mit indigenen Kämpfen in Mexiko befassten, wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, wozu u. a. der Roman, Der Schatz der Sierra Madre gehörte, der 1948 von John Huston verfilmt und mit einem Academy Award ausgezeichnet wurde.76 Bis heute ist die Identität B. Travens nicht wirklich geklärt, wobei es zahlreiche Vermutungen und ebenso viele Publikationen zu dieser Frage gibt. Sicher ist, dass er 1969 in Mexiko gestorben ist und vermutet wird, dass er in Deutschland in Schwiebus, dem heutigen Świebodzin in Polen als Otto Feige geboren wurde und dass er mit dem Anarchisten und Theaterschauspieler Ret Marut identisch sein soll. B. Traven verweigerte auch den Herausgeber*innen seiner Bücher seine Identifizierbarkeit und ließ sich von Agent*innen u. a. Esperanza López Mateos vertreten, die seine Bücher auch ins Spanische übersetzt hat. In den 1930er Jahren übertrug er seine Rechte auch zeitweise an die Exilfiliale der Büchergilde Gutenberg in Zürich. Diese Nichtidentifizierbarkeit war für ihn auch programmatisch. In Das Totenschiff geht es um Seeleute ohne Papiere, um deren Ausbeutung und den (ökonomischen und politischen) Zusammenhang von Pass und Passage. Der seiner Seemannskarte verlustig gegangene vornamenslose Ich-Erzähler, ein Seemann aus New Orleans, kommentiert eine Überprüfung seiner (fehlenden) Papiere durch die niederländische Polizei wie folgt:

Die Seemannskarte scheint der Mittelpunkt des Universums zu sein. Ich bin sicher, der Krieg ist nur geführt worden, damit man in jedem Lande nach seiner Seemannskarte oder nach seinem Paß gefragt werden kann. Vor dem Kriege fragte niemand nach der Seemannskarte oder nach dem Paß, und die Menschen waren recht glücklich. Aber Kriege, die für die Freiheit, für die Unabhängigkeit und für die Demokratie geführt werden, sind immer verdächtig. Verdächtig seit jenem Tage, wo die Preußen ihre Freiheitskriege gegen Napoleon führten. Wenn Freiheitskriege gewonnen werden, dann sind die Menschen nach dem Kriege alle Freiheit los, weil der Krieg die Freiheit gewonnen hat.77

Nach Kuster führte die Durchsetzung des Pass-Systems und der Passfotografie im Ersten Weltkrieg auch zu einer neuen Art des Sehens an der Grenze.78 Die Institutionen der Grenze fungieren dabei nicht nur als Identifikationsapparate, sondern auch als Vervielfältigungsmaschinen: „Durch Standardmaße geschleust lassen sich aus Migrant*innen mehr oder weniger machen, sie sind ebenso teilbar wie zu vervielfachen, so die Fantasie sowohl von Immigrations- als auch von Emigrationsbehörden.“79 Die/Der Migrant*in als Kopie ist nicht der einzige materielle, politische wie metaphorische Resonanzraum, der sich zwischen Migration und Piraterie auftut. So finden sich in der Rede von Urheberrechtsverletzungen Verweise aufs Schmuggeln, dem illegalen Grenzübertritt und illegalisierte Medienpraktiken werden mit migrantischen Märkten und migrantischen Medienpraktiken korreliert.

Der lange Sommer der Migration wurde auch zu einer Abmahnwelle. Medien berichteten 2016 von zahlreichen Fällen, in denen Geflüchtete ins Visier von Massenabmahnungen durch auf solche Fälle ,spezialisierte‘ Anwaltskanzleien gerieten und mit horrenden Abmahnsummen konfrontiert waren (Illegalisierung ist stets ein for profit-Unterfangen).80 Dies ist umso interessanter als, wie Lobato ausführt, Copyright/Intellectual Property eben kein universelles Recht (und keine universelle Rechtspraxis ist) und es zahlreiche Praktiken gibt, die wie (Medien-)Piraterie erscheinen mögen aber eben keine sind.81 Und wie Niklas Liebetrau von der Humboldt Law Clinic Internetrecht auf iRIGHTS info formuliert: „Die Rechtslage oder die Rechtsdurchsetzung ist in den Herkunftsländern der Geflüchteten oft eine gänzlich andere als in Deutschland.“82 Dass auch in Deutschland unterschiedliche Praktiken des Medienrechts existieren und in Internetforen ,lokale‘ Übereinkünfte zu Copyright und IP existieren, ebenso wie Vorstellungen von Un-/Rechtmäßigkeit nicht mit dem Wissen um mögliche Sanktionen identisch sind und zudem die Ahndung von Urheberrechtsverstößen ungleich verteilt ist (bzw. sich an existierenden Ungleichheiten – insbesondere Klasse – orientiert), sollte dabei ebenfalls nicht aus den Augen verloren werden. Ein weiterer Teil des Resonanzraums von Migration und Piraterie ist die Figur der/des Pirat*in selbst, die in rechten und rassistischen Diskursen zur Illegalisierung von Migrant*innen auftaucht. So hat der Lega-Parteisekretär und ehemalige italienische Innenminister Matteo Salvini seit 2018 Schiffe von Organisationen wie Sea-Watch und Lifeline als ,Piratenschiffe‘ bezeichnet, ebenso wie eine Gruppe von Migrant*innen, die im März 2019 vor der Küste Libyens ein Handelsschiff unter ihre Kontrolle gebracht hatte, als ,Piraten‘.83

Die postkoloniale Kritik am Piracy-Diskurs „fundamentally disrupts the categories of debate of property, capitalism, personhood“,84 wie Ravi Sundaram formuliert hat und verweist auf den Konflikt zwischen neuen Formen medialer Produktion, Distribution und Rezeption und einer hegemonialen Definition von Eigentum, die als moderner Standard gesetzt wird: „This standard, of course, is not in and of itself universal. It has a distinct local history that is grounded in British utilitarian legal models and German idealist notions of personal authorship.“85 Aber auch im Kontext eines europäischen Westens waren diese Standards historisch umkämpft, Kämpfe, die auch heute noch eng verbunden sind mit Klassenfragen und (Markt-)Geografien von Zentrum und Peripherie.86 Das Konzept des Copyright ist heute von „modernist ideas of creativity, innovation and progress“87 informiert. Interessanterweise gilt dies sowohl für Vertreter*innen restriktiver Maßnahmen als auch für diejenigen, die für eine Ausweitung der Public Domain eintreten. Das Konzept der Public Domain basiert jedoch auf liberalen Vorstellungen von Rechtsgleichheit: „The public domain is represented as a space in which everyone can participate as citizens bearing equal rights.“88 Genau hier setzt postkoloniale Kritik an, die aufzeigt, dass es sich bei der Kategorie der citizens, der Bürger*innen als universelle Träger*innen von Rechten „and the representative capacity of the citizen to participate in the public sphere as an unmarked individual“,89 um einen Mythos handelt. Jener Mythos, der auch in der liberalen Anrufung einer vermeintlich nicht rassistischen color blindness Ausdruck findet und der die mit Migration verbundene Einschreibung von rassisierter Differenz in den Körper90 gerade als Gewalt der Identifizierung (die auch die der Grenze ist) kenntlich macht.91

Postkoloniale Piracy und Migration, insbesondere aus medienwissenschaftlicher Perspektive genauer zusammenzudenken, sehe ich vor allen Dingen als Forschungsdesiderat. Mindestens die hier noch eher kursorisch behaupteten Resonanzen im jeweiligen Zusammenhang von medialen Praktiken, neuen Formen des Politischen und kritischer Inrechtsetzungen wären lohnend weiter zu vertiefen. Die gemeinsame Schnittstelle der Medien informiert jedoch auch dieses Buch, insbesondere da, wo es um die Frage der (digitalen) Kamera/Perspektive geht und um die damit verbundenen digitalen Distributionsnetzwerke. Migration als mediale Praxis zu begreifen ist eine der Voraussetzungen für dieses Buch und wurde auch in zahlreichen Beiträgen bereits als solche verhandelt.92 Hier steht nun jedoch die Verknüpfung von Illegalisierung (und die Herstellung digitaler Deportabilität),93 Logistifizierung von Grenze und Migration mit Medien der Erfassung und Aufzeichnung im Fokus meiner Aufmerksamkeit, ebenso wie künstlerische und aktivistische Strategien der Gegenüberwachung und der Reperspektivierung, die auch die Frage nach dem Recht am Bild bzw. nach der Autor*innenschaft beinhalten.

Bilder formen Migration

2005 schreibt Sandro Mezzadra im Katalog des Projekt Migration, dass es bei Fragen der Migration metaphorischer Redeweisen bedürfe, da in rein wissenschaftlichen Untersuchungen entlang kanonischer Disziplinen etwas fehlen würde: