Spiegeltaten - Markus D. Mühleisen - E-Book

Spiegeltaten E-Book

Markus D. Mühleisen

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Beschreibung

Für diesen Tag war nur die von Lillith ungeliebte Korrelation mit einer KI geplant. Doch plötzich gerät die junge Frau in ein Netz von Hinterhalten und Verschwörungen, das die gesamte Menschheit gefährdet. Gemeinsam mit neuen Freunden stellt sich Lillith den dunklen Machenschaften entgegen. Es entwickelt sich eine atemberaubende Jagd über den Planeten Erde und darüber hinaus. Ein Buch mit interaktiven Elementen.

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Inhalt

Morgenstund

Wegpunkt

Anders

Was kommt

Familie

Kontext

Verbindung

Sturmzeichen

Hinter den Spiegeln

Kollision

Tauchgang

Wenn die Maske fällt

Waffenbrüder

Alte Pfade

Im Zauberwald

Unerwartete Gäste

Schmuggel und andere Heimlichkeiten

Freunde und Verwirrungen

Das Ziel des Seins

Das Wesen im Sein

Zum Kern der Dinge

Ende einer Meditation

Auf dem Weg zur Quelle des Bösen

Ein Ausflug ins Grüne

Brüllende Stille

Unter der Eiche

Wo ist die Welt?

Erwachen

Wer trägt nun die Maske

Kreise in Kreisen

Auf dem Weg hinter die Spiegel

Verbindungen

Abweichungen

Spiegel der Seele

Doppeltes Spiel

Doppeltes Spiel - Reprise

Durchbruch

Planänderung

Ergänzung

Vorbereitungen

En Garde

Riposte

Parade

Orbitale

Translation

Sternenmeer

Respicere Post Tergum

Endspiel

Epilog

Personen und KIs

Zeitleiste

Technologien und Begriffe

Epilog Teil 2

Prolog Tiefenfall

Vorwort des Autors

Als ich vor zwei Jahren aus einem Impuls heraus beschlossen hatte, ein Buch zu schreiben, war mir nicht klar, welch abenteuerliche Reise ich damit antrete.

Zwei Jahre sind eine lange Zeit. Es ist viel passiert in unserer, der realen Welt. Genauso viel ist in der Welt meiner Protagonistin passiert. Viele Stunden habe ich damit verbracht, die Geschichte in ihrer futuristischen Zukunftswelt zu entwickeln und zu erzählen.

Mein Dank geht an meine Familie und meine Unterstützer, die mich in dieser Zeit geschont und ermuntert haben.

Nun, tatsächlich ist Lilliths Welt weit weniger futuristisch, als es beim Lesen sicher manchmal den Anschein macht. Viele der Technologien, die ich in meiner erfundenen Handlung zur Anwendung bringe, sind entweder bereits entwickelt oder es ist schon heute absehbar, dass diese Technologien in nicht allzu ferner Zukunft für uns Alltagsrealität werden.

Natürlich sind sämtliche Charaktere und Handlungen von mir frei erfunden und basieren niemals auf realen Personen oder Ereignissen. Daher hoffe ich, dass meine Anspielungen auf gewisse Kinofilme und Zukunftserzählungen nicht stören, schließlich sind auch das nur erfundene Welten. Und selbstverständlich sind und verbleiben sämtliche Rechte dieser in Anspielungen erwähnten Werke beim jeweiligen Inhaber der Rechte.

Wenn ich mir etwas wünschen darf, dann dass Sie lieber Leser mindestens so viel Spaß beim Lesen dieses Romans haben, wie ich Freude empfunden habe, ihn zu schreiben.

Wer möchte, kann sich gerne zum Anfang den jeweils aufgeführten Musiktitel als Hintergrundmusik dazu anhören. Es wäre wunderbar, wenn diese musikalische Untermalung Sie auf jedes neue Kapitel einstimmen würde. Die am Kapitelanfang gezeigten QR-Codes führen Sie zu den jeweiligen Musiktitel.

Am Ende des Romans habe ich als Übersicht die beschriebenen Technologien aufgeführt, auch eine Liste der wichtigsten Charakter der Handlung und eine Zeitleiste finden sich dort. Ich möchte offen gestehen, dass selbst ich beim Schreiben hin und wieder dort nachgeschaut habe, damit ich den Anschluss beim Erzählen nicht verliere und empfehle gerne jedem Leser, es ebenso zu halten.

Ich hoffe, dass Sie dann nach dem Lesen neugierig geworden sind, wie sich die Geschichte fortsetzt. Denn dieser Roman ist der Auftakt einer größeren Erzählreihe.

Und was wäre dieses Buch, ohne seine eigene Homepage - den Spiegel des körperlichen Buches in der Welt der Daten? Dieser QR-Code führt Sie zur Homepage spiegeltaten.de:

Es würde mich sehr freuen, wenn Sie die Blog-Funktion auf dieser Seite dafür nutzen würden, mir beim oder nach dem Lesen Ihre Eindrücke und Kommentare zu senden. Und natürlich auch Ihre Kritik oder Anregungen.

Aber, immer eines nach dem anderen. Nun wünsche ich Ihnen viel Spaß mit Lillith in der Welt der

Spiegeltaten.

1. Morgenstund

Musik

Drive | The Cars | 1984

Zeit

11.3.2443 9:13 GMT

Ort

Portland / USA

Lillith ist noch nicht ganz wach. Blinzelnd öffnet sie ein Auge und kann so die Uhrzeit auf ihrem Radiowecker erkennen. Jetzt klappt das Flip-Down-Ziffernblatt der Minutenanzeige auf ‘13’ um. Ein sanftes Lächeln umspielt ihre Lippen. Sie liebt diesen grotesken Anachronismus von Radiowecker mit seinem orangefarbenen Kunststoffgehäuse.

Im Hintergrund sind die Geräusche der erwachenden Stadt zu hören. Ein großer LKW, vermutlich ein Elektro-Lastwagen der Müllabfuhr, rumpelt unter ihrem Fenster vorbei.

Gerade will sie sich noch einmal umdrehen, als sie das EmoMem ihrer Mutter empfängt. Warme Zuneigung und das Gefühl eines Kusses auf der Wange macht sich in ihrem Inneren breit. Lillith öffnet die Augen ganz und sieht das AvaHol ihrer Mutter im Rattansessel sitzen, genau unter dem Originalplakat von Velvet Underground an der Wand.

“Guten Morgen, mein Schatz!”

“Och, Mama. Noch zwei Minuten!”

“Aber, aber, meine Liebe. Heute ist dein großer Tag.”

Jetzt setzt sich Lillith auf und schaut dem AvaHol ihrer Mutter nachdenklich ins Gesicht. “Ja, ist wohl nicht mehr zu vermeiden.”

Das AvaHol runzelt die Stirn und will gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als der Radiowecker zuerst mit Rauschen, dann aber immer deutlicher werdend Musik abspielt. Lin Drobychy neigt den Kopf und nickt dann: “Natürlich lässt du dich an einem Tag, wie diesem von dieser...dieser Musik aus dem letzten Jahrtausend wecken. Alles andere wäre sicher nicht adäquat für meine widerspenstige Tochter!”

Der nörgelnde Ton ihrer Mutter lässt Lillith grinsen.

“Nur weil du die derzeit beste Humanpianistin bist und Franz Liszt verehrst, der übrigens im vorletzten Jahrhundert gelebt hat, muss nicht alle andere Musik deinen Missmut erzeugen”.

“Das ist keine Musik. Das sind Geräusche” Lin Drobychy verschränkt in gespielter Entrüstung die Arme vor der Brust. Dann müssen beide laut loslachen. Diesen Disput haben sie schon so oft durchgespielt und inzwischen ist er eine Art lieb gewonnenes Ritual von Neckereien zwischen Mutter und Tochter.

Lin hört sich die Musik noch einige Sekunden an und meint dann: “Das ist von ‘The Cars’, Drive heißt das, glaube ich?”

Verwundert nickt Lillith dem AvaHol ihrer Mutter zu: “Du hast es erkannt, ich bin fasziniert” “Meine liebe Tochter, nur weil ich die wirklich großen Musiker der Menschheit schätze, heißt das noch lange nicht, dass ich die, sagen wir mal, weniger gelungenen Versuche zu musizieren, nicht kenne.”

Lillith nickt und verzichtet der Einfachheit halber auf eine Erwiderung. Musik ist das einzige Themengebiet, bei dem sie ihrer Mutter nicht gewachsten ist. Es hat Jahre und intensive Auseinandersetzungen gebraucht, bis sie sich das eingestanden hat.

“Ich muss mich anziehen. Meine Vakpill kommt in einer halben Stunde.”

“Ich weiß, mein Schatz. Dann mache ich mich mal wieder davon.

Ich wünsche dir viel Erfolg und Glück, dass du einen guten Korrelaten zugesprochen bekommst”.

Sorgenvoll nickt Lillith ihrer Mutter zu: “Danke.”

Nach einem kurzen, aber intensiven Austausch von EmoMems mit Umarmung verschwindet das AvaHol ihrer Mutter. Lillith blickt noch einige Momente auf den leeren Rattansessel, dann schwingt sie die Beine aus dem Bett und kleidet sich an.

2. Wegpunkt

Musik

2. Satz der 9. Sinfonie von Antonin Dvoráks “Aus der neuen Welt” – Largo

Zeit

11.3.2443 9:24 GMT

Ort

Portland Maine / USA

Fertig angezogen, blickt sich Lillith noch einmal in ihrem Appartement um. Neben dem Poster einer uralten Band und dem orangefarbenen Radiowecker hat sie viele Stücke aus der Zeit von 1980 zusammengetragen. Ihre Freunde sind einhellig der Meinung, dass diese Neigung bestenfalls als Spleen, jedoch eher als Verwirrtheit zu werten ist. Lillith war schon als kleines Mädchen von dieser Zeit begeistert gewesen. Damals gab es so viele Dinge noch nicht im Leben der Menschen und es herrschte ein großes Gefühl von Aufbruch und Veränderung. Sie weist ihren Neurolink an, leise den zweiten Satz von Dvoráks 9. Sinfonie zu spielen. Gerne würde sie jetzt das Gesicht ihrer Mutter zu dieser Musikauswahl sehen.

Sie weist ihren Neurolink an, die Türe des Appartements zu entriegeln und geht auf den Flur. Der Aufzug bringt sie zur Vakpill-Station im Untergeschoss. Gerade, als sie die Station betritt, gleitet ihre Vakpill herein. Die Türe an der Zugangsöffnung gleitet zur Seite und die gebundene KI der Vakpill begrüßt ihren Fahrgast per Neurolink.

“Guten Tag, Lillith RSR. Ich bin deine Vakpill. Unser Ziel ist der terrestrische Korrelationsrat. Heute ist dein großer Tag, Lillith!”

Lillith nickt nur und steigt ein. Sie setzt sich in einen der bequemen Sessel und lauscht der leisen Musik aus ihrem Neurolink.

Die Vakpill setzt sich in Bewegung: “Wir werden ungefähr 2 Stunden und 45 Minuten für unsere Fahrt benötigen. Kann ich dir eine Erfrischung anbieten, Lillith?”

Lillith schüttelt den Kopf und blickt zur vorderen Wand der Vakpill. Natürlich ist ihr klar, dass dort kein Fahrer sitzt. Die KI ist tief in den technischen Systemen der Vakpill und in der Netzsphäre verankert, aber Menschen neigen dazu, alte Gewohnheiten beizubehalten. Und in früheren Zeiten saß der Fahrer nun mal vorne in einem Fahrzeug.

“Danke, ich brauche nichts. Lass mich einfach etwas meinen Gedanken nachhängen” “Natürlich, ich bin da, wenn du etwas brauchst.”

Lillith nickt und macht es sich im Sessel bequem. Kurz sinniert sie über die angekündigte Transportzeit. Eine Fahrt zum Zentrum des Korrelationsrates sollte eigentlich in knapp einer Stunde möglich sein. Dann, getragen von Dvoráks Musik, erinnert sie sich an den großen Streit mit ihrer Mutter vor sechs Jahren, der dazu geführt hat, dass Lillith erst mit 24 Jahren eine Neurokorrelation eingehen wird.

3. Anders

Musik

Got To Be More Careful Jon Cleary and The Absolute Monster Gentlemen 2007

Zeit

10.3.2437 21:12 GMT

Ort

Praia da Adraga, Portugal

“NEIN!” - Lillith steht mitten im zentralen Wohnraum des Hauses und stampft vernehmlich mit dem rechten Fuß auf den Boden. Das ganze Gebäude hallt von ihrem Wutausbruch wider.

Das wilde Kopfschütteln lässt ihre pechschwarzen Haare dramatisch um ihren Kopf fliegen. Wie immer sind die dichten, schwarzen Haare als gerader Bob mit Pony geschnitten. Natürlich ist das eine Frisurenmode aus dem letzten Jahrtausend.

“Meine liebe Tochter, es gibt Dinge, die auch du nicht mit noch so viel Geschrei und Getobe ändern kannst.” - “DOCH!”

Vehement stampft Lilliths rechter Fuß auf die jahrhundertealten Hohlplanken des Bodens. Kleine Staubwölkchen platzen aus den Fugen der Dielen. Lilliths Mutter muss trotz der explosiven Stimmung im Raum schmunzeln. Seit Stunden läuft dieser Disput zwischen Mutter und Tochter nun schon.

“Sehr apart, diese Wolken aus Staub, passend zu deinem Zorn.

Aber das ändert nichts. Morgen wird es geschehen”.

Lin Drobychy wendet sich ostentativ von ihrer Tochter ab und geht durch die weit geöffneten Glastüren auf die Veranda. Die Sonne ist schon längst untergegangen, aber der Blick über den Atlantik ist dadurch nicht weniger atemberaubend.

Lillith stapft hinter ihrer Mutter hinaus auf die Veranda.

“NEIN! Ich werde das nicht zulassen! NICHT MIT MIR!”

Hier im Freien wirkt der zornige Aufschrei ihrer Tochter weit weniger eindrucksvoll, genauso wie Lin es sich gedacht hat. Sie dreht sich schmunzelnd um, denn selbstverständlich erkennt Lillith in diesem Moment die taktische Finte ihrer Mutter. Im Freien verhallt ihre zornige Stimme und muss gegen das Geräusch der Brandung weit unterhalb der Steilküste vor der Veranda ankämpfen. Noch zorniger stampft Lillith erneut auf den Boden. Auch dieser Ausdruck ihrer Wut wirkt deutlich schwächer auf den Steinfliesen der Veranda.

“Lillith, jetzt beruhige dich. Komm her.” Lin fokussiert ihre Tochter, schaut ihr direkt ins Gesicht.

Tränen steigen Lilith in die braunen Augen. Das fahle Mondlicht beleuchtet sie und offenbart die Verzweiflung in ihrem Blick.

“Komm her, mein Schatz!” Lin streckt die Hand nach ihrer Tochter aus. Noch einmal wallt der Zorn in Lillith auf und sie will sich schon abwenden. Dann jedoch besinnt sie sich eines Besseren. Zuerst zögerlich, dann immer schneller geht sie die paar Schritte auf ihre Mutter zu, die sie beschützend in die Arme schließt. Jetzt fließen die Tränen frei, das Schluchzen ihrer Tochter ist herzergreifend.

“Pssst, jetzt beruhige dich doch. Komm, setzt dich hier her.”

Lin steuert ihre von Schluchzen geschüttelte Tochter zu einer langen Bank am Rande der Brüstung. Dieser Platz ist windgeschützt. Nach einigen Minuten hat sich Lillith wieder etwas beruhigt.

“Also noch einmal: was genau ist dein Problem, Lillith?”

Nach einem tiefen Atemzug setzt sich Lillith auf und schaut auf das Meer hinaus: “Ich will niemanden in meinem Kopf haben.

Der gehört mir.”

“Lillith, du weißt so gut wie jeder andere Mensch auf der Welt, dass der Human-KI-Frieden die einzige Chance zum Überleben der Menschheit war. Und es war die einzige Chance für die KIs. Wäre dieser Friedensschluss nicht gelungen, hätten die Menschen den Planeten zerstört. Nur deshalb haben die KIs dem Friedensschluss zugestimmt. Und genau deshalb ist die Neurokorrelation ohne Alternative. Jeder Mensch wird mit einer KI verbunden - auf Leben und Tod.”

“Ich weiß das alles.”

Jetzt klingt Lilliths Stimme nicht mehr zornig, einzig abgrundtiefe Verzweiflung ist aus ihr herauszuhören.

“Aber ich will niemanden in meinem Kopf haben! Niemanden!

Mein Kopf ist mein Kopf, meine Gedanken gehören mir!”.

Lin blickt neben ihrer Tochter, auf die Brüstung der Veranda gestützt, über die fast glatte Oberfläche des Atlantischen Ozeans.

Die Brandung, die heute Nachmittag noch so vernehmlich an die Felsen gedonnert ist, hat sich am Abend zu einem sanften Wellengang abgeschwächt. Es weht ein lauer Wind vom Meer her.

“Du weißt schon, dass eine Neurolink-Verbindung die Gedanken der beteiligten Korrelaten voreinander schützt.”

“Das sagen sie alle, aber ich glaube das nicht. Ich will niemanden in meinem Kopf haben, schon gar keine kaltschnäuzige KI”.

Lin nickt und seufzt leise: “Ich verstehe dich sehr gut. Jeder geht mit seinem Korrelaten anders um. Du weißt, dass ich selbst Jahrzehnte gebraucht habe, um mich damit abzufinden. Das habe ich dir wohl vererbt!”

Leises Lachen begleitet Lins letzte Worte: “Dann weißt du auch, dass ich das nicht kann, Mama. Ich kann es nicht. Lieber sterbe ich.”

Erschrocken dreht sich Lin ihrer Tochter zu: “Du stirbst lieber, als dass du eine Neurokorrelation eingehst? Mein Gott, Lillith, das ist doch Unsinn.”

“Nein, Mama, ich kann das nicht. Und ich werde es nicht zulassen.”

“Lillith, über 70% aller Korrelaten haben über ihre Neurolink-Verbindung hinaus keinerlei Kontakt zueinander. Die Korrelation dient einzig und allein der Sicherung des Human-KI-Friedensschlusses. Nur so ist sichergestellt, dass beide Spezies - Menschheit und KI - überleben und nicht eine die andere auslöscht. Das war die Rettung unserer Zivilisation. Du kannst das nicht einfach ablehnen.”

“Ich weiß, Mama, aber ich kann das nicht. Wer sagt mir denn, dass ich nach der Korrelation nicht von der KI kontrolliert werde?”

Lange blickt Lin Drobychy ihre Tochter mit unergründlicher Miene an. Sie versteht, dass es ihrer Tochter ernst ist und diese mit einfachen Worten nicht umzustimmen ist.

“Also gut. Es gibt noch einen anderen Weg.”

Zuerst ist Lillith verwirrt, dann schreckt sie vor ihrer Mutter zurück: “Du würdest mich zwingen? Mit welchen Mitteln auch immer betäuben, entführen und dann zur Korrelation zwingen?”

Mit vor Entsetzten geweiteten Augen steht Lillith nun vor ihrer Mutter.

“Was? Nein, nein. Das würde ich niemals tun. Lillith, wie kannst du das nur denken!”

Erleichtert atmet Lillith aus. “Aber was meinst du dann?”

Lin geht einige Schritte über die Veranda. Dann wendet sie sich wieder an ihre Tochter: “Was weißt du über deinen Vater?”

Lillith schüttelt fragend den Kopf.

“Papa? Der hat dich verlassen, als ich noch im Inkubator war.”

Lin schweigt und blickt wieder aufs Meer hinaus.

“Lillith, ich brauche dein Wort, dein Versprechen von Tochter zu Mutter bei allem, was dir wichtig ist, dass du das, was ich dir jetzt erzählen werde, keiner Intelligenz, ob Human oder KI weiterträgst.”

“Mama, ich bin für die Theatralik zuständig, nicht du!”

“Lillith, das meine ich ernst. Todernst. Du musst mir versprechen, das für dich zu behalten. Niemand, keine Freundin, kein Geliebter, noch nicht einmal deine Kinder dürfen davon erfahren.”

“Mama, ich bin knapp 18 Jahre alt, ich habe keine Kinder!”

“Noch nicht, Lillith, noch nicht. Glaube mir, du wirst irgendwann durchs Leben gehen und feststellen, dass sich Überzeugungen ändern. Aber egal. Kannst du das Folgende für dich behalten?”

Jetzt blickt Lillith ihrer Mutter besorgt ins Gesicht.

“Oh, mein Gott. Was ist mit Papa?”

“Lillith, ja oder nein? Sei gewarnt, es geht um keine Kleinigkeit.

Kann ich dir vertrauen?”

Nach kurzem Zögern nickt Lillith ihrer Mutter zu.

“Ja, ja, natürlich. Ich behalte das, was du mir erzählen willst, für mich. Wenn es dir so wichtig ist, Mama.”

“Ist es, meine Tochter. Bist du dir sicher?”

Lillith schluckt, dann antwortet sie mit klarer Stimme: “Ja, Mama. Ich werde für mich behalten, was du mir erzählen willst.”

Lin Drobychy richtet sich auf. Statt der fürsorglichen Mutter steht nun eine Frau mit großer Willenskraft und starker Persönlichkeit vor Lillith. So hat sie ihre Mutter noch nie erlebt.

“Haus: Vertraulichkeit herstellen, auf meine Stimme im Rat.”

Leise und melodisch antwortet die Haus-KI: “Vertraulichkeit für ein Mitglied des Korrelationsrates besteht. Störfelder aktiv. Aufhebung dieser Maßnahme ist nur durch die Stimme des Ratsmitgliedes Lin Drobychy möglich.”

“Mama, was soll das. Was heißt das? Welcher Rat?”

“Tochter, setz dich hier hin.”

Der befehlende Ton in der Stimme ihrer Mutter lässt Lillith sofort auf die Bank sinken. So hat sie ihre Mutter noch nie erlebt.

“Lillith Drobychy, schwörst du, die Informationen, die du nun erhalten sollst, vertraulich zu behandeln und mit niemandem zu teilen?”

Noch immer ist Lillith vom Wechsel der Stimmung ihrer Mutter völlig irritiert: “Ja, natürlich, Mama, das habe ich doch schon gesagt!”

“Haus: Verbindliche Zusicherung von Lillith RSR Drobychy, geboren 11.3.2419 durch Inkubation-Exzision ins Archiv aufnehmen. Aufnahme verschlüsseln auf meine Stimme im Rat.”

“Zusicherung archiviert und verschlüsselt.”

“Mama, was ist denn plötzlich los?” Lillith blickt sich nun ängstlich um.

“Meine Tochter. Ich bin Lin Drobychy. Dein Vater ist Herman Stöhrer. Wir waren beide bereits vor deiner Geburt Mitglied im Korrelationsrat. Dein Vater wurde von einer abtrünnigen KI noch vor deiner Geburt getötet. Er hat uns nicht verlassen, wie ich dir immer erzählt habe.”

“Tot? Papa ist tot?” Lillith flüstert diese Frage.

“Ja, mein Schatz. Schon sehr lange.”

“Und du wusstest das? Du hast es mir nie erzählt, statt dessen lügst du mich seit jeher an?”

Lin Drobychy nickt und blickt ihrer Tochter gerade in die Augen.

“Es war nötig. Das heißt nicht, dass es einfach war. Es war einfach nötig.”

Lillith sitzt einige Zeit kopfschüttelnd da und starrt vor sich hin.

Dann blickt sie zu ihrer Mutter auf, die inzwischen vor ihr steht und sie genau beobachtet.

“Wie ist er gestorben?”

“Er wurde angegriffen, seine Korrelations-KI wurde von einer abtrünnigen KI gelöscht. Damals stand die Welt kurz vor einer Katastrophe. Einige KIs haben beschlossen, sich der Menschheit zu entledigen. Der Korrelationsrat konnte dies im buchstäblich letzten Moment verhindern. Leider hat das deinen Vater nicht gerettet.”

Lillith nickt, obwohl sie den Zusammenhang immer noch nicht verstanden hat.

“Und was ist der Korrelationsrat? Ich habe Gerüchte darüber gehört, aber das waren immer nur Schauermärchen oder Fantastereien.”

Lin Drobychy lacht leise.

“Das will ich hoffen. Der Korrelationsrat besteht zu gleichen Teilen aus Human- und KI-Intelligenzen. Wir sorgen dafür, dass der KI-Frieden eingehalten wird. Ich gehöre ihm seit meinem 24.

Geburtstag an. Dein Vater war ebenfalls Ratsmitglied, so haben wir uns kennengelernt.”

“Dann seid ihr die eigentliche Regierung?”

Lin schüttelt nachdrücklich den Kopf “Nein, Lillith, nein. Wir machen keine Politik. Wir vermeiden Politik, wo es nur geht.”

“Mama, ich weiß wirklich nicht, was ich von all dem halten soll.

Und ich weiß wirklich nicht, was das mit mir zu tun hat, außer dass ich gelernt habe, dass meine Eltern so etwas wie galaktische Geheimagenten sind. Das ist abstrus.”

“Natürlich muss es dir so vorkommen. Aber ... wir sind keine Geheimagenten. Dafür gibt es andere.“

“Und was hat das alles mit mir zu tun?”

Nun blickt ihre Mutter wieder auf den Atlantik.

“Lillith, wenn du die Korrelation ablehnst, dann gefährdet das den Human-KI-Frieden und damit die Existenz der Menschheit.

Ich habe geschworen, dass ich diesen Frieden mit allen Mitteln verteidige.”

Lin dreht sich zu ihrer Tochter um. “Und das wiederum bedeutet, dass ich entweder dafür sorge, dass du die Korrelation eingehst oder stirbst.”

Völlig schockiert schaut Lillith zu ihrer Mutter. “Das meinst du nicht ernst. Ich soll sterben?”

“Nur, wenn du die Korrelation ablehnst. Das ist der Deal, meine Tochter.”

“Das meinst du nicht ernst, Mama. Das kannst du nicht ernst meinen!”

Lin nickt nachdrücklich. “Lillith, ich habe schon meinen Geliebten an meine Überzeugung verloren. Glaube mir, ich meine genau das, was ich sage.”

Der Stahl in der Stimme ihrer Mutter ist Lillith völlig neu. So hat sie die Musikerin noch nie erlebt. “Warum?”

“Das, meine Tochter, ist eine gute Frage. Ich beantworte sie mit einer Gegenfrage.”

Wieder sucht Lins Blick den Horizont über dem Meer.

“Was ist der Human-KI-Frieden, Tochter?”

Lillith ist kurz verwirrt. In ihren Unterrichtseinheiten wurden ausführlich die Geschichte der KI-Kriege und der Friedensschluss von 2145 besprochen.

“Der Friedensschluss ist ein Vertrag, den KI und Menschheit am 29.3.2145 geschlossen haben.”

“Und wie wurde er besiegelt?”

“Mit der ersten Korrelation zwischen einem Mensch und einer KI”.

“Wer war die KI?”

Lillith kommt sich vor, wie in einer mündlichen Prüfung:

“#124A713! natürlich, das weiß doch jeder!”

“Wer war der Mensch?”

Jetzt ist Lillith irritiert: “Das weiß ich nicht. Niemand weiß das.

Die Korrelaten sind vertraulich. Das ist Teil des Human-KI-Friedensvertrages!”

Lin Drobychy nickt. “So ist es. Andere Frage. Wie lautet die zentrale Vereinbarung des Human-KI-Friedensvertrages?”

“Menschen und KI binden ihre Existenz durch die Korrelation miteinander. So wird sichergestellt, dass beide Seiten das Überleben der jeweils anderen Seite anstreben.”

Wieder nickt Lin: “Gibt es Ausnahmen?”

Lillith nickt: “Ja, bei medizinisch begründeten Vorbehalten auf Humanseite oder entsprechenden Vorbehalten zur Datenstruktur auf KI-Seite.”

“Und sonst?”

“Es sind keine anderen Ausnahmen möglich. Das weiß doch jeder.”

“Und warum diskutieren wir dann schon den ganzen Abend?”

Lillith seufzt: “Ich kann das nicht. Ich vertraue der Korrelation nicht. Ich kann das nicht ertragen.”

“Das ist kein Grund für eine Freistellung von der Korrelation.”

“Mama, was soll ich denn tun?”

“Warum hast du kein Vertrauen in die Korrelation?”

“Ich traue der Neurolink-Technik nicht. Ich kann einem System, das in meinem Kopf sitzt und meine Gedanken liest, nicht vertrauen.”

“Warum nicht, schließlich tragen alle Menschen einen Neurolink?”

“Kein Mensch weiß doch, wie die Dinge funktionieren!”

Wieder nickt Lin ihrer Tochter zu: “Das ist nicht ganz korrekt, meine Liebe.”

“Ja, das Neuro-D-Institut, ich weiß. Das sind doch lauter alte Knacker, die keine Ahnung haben und sich nur wichtig nehmen.

Die Neurolinks sind fertig entwickelt, seit über zwanzig Jahren gab es keine Verbesserungen mehr.”

“Das ist nicht ganz korrekt, meine Liebe.”

Lillith blickt verwundert ihre Mutter an. “Was soll das heißen?

Jeder kann die Version seines Neurolinks abfragen. Da ist nichts Geheimnisvolles dabei.”

“Also gut, Lillith, du wirst morgen nach Prag fahren. Dort wirst du dich als Studentin am Neuro-D-Institut anmelden. Du wirst Neuro-D studieren, verstehen und anwenden lernen. Für den Zeitraum deiner Studien wirst du von der Korrelation zurückgestellt. Wenn du genügend Wissen und Verständnis zur Neurolink-Technik entwickelt hast, kannst du entscheiden, ob du die Korrelation eingehst oder dein Leben beenden willst.”

“Mama! Das ist absurd. Das ist Erpressung! Ich will das nicht!”

“Lillith, hör zu. Wenn du die Korrelation ablehnst, wirst du am Ende dein Leben beenden müssen. Der Human-KI-Friedensvertrag ist klar und eindeutig. Der Umstand, dass dies in der öffentlichen Diskussion nicht so wahrgenommen wird, ist reine Rücksichtnahme der Regierung. Meiner Meinung nach ist das der falsche Weg. Aber wie gesagt, der Korrelationsrat betreibt keine Politik. Wir achten nur darauf, dass die Regeln eingehalten werden.”

“Du willst, dass ich sterbe?”

Nun steigen Tränen in die Augen ihrer Mutter.

“Nein, Lillith. Nein und nochmals nein. Ganz im Gegenteil. Deine Studien am Neuro-D-Institut sollen dein Leben retten. Denn lehnst du die Korrelation weiter ab, kann ich nichts mehr für dich tun. Und auch sonst niemand.”

“Ich kann nicht glauben, dass meine eigene Mutter das will.”

Traurig schüttelt Lin Drobychy den Kopf. “Lillith, ich will mein Kind behalten, sehen, wie es durchs Leben geht. Ich bitte dich, meinem Vorschlag zuzustimmen. Bitte. Tu es für mich. Ich sehe keinen anderen Weg.”

Lange schauen sich Mutter und Tochter in die Augen.

“Mama, du glaubst wirklich daran.”

“Ja, Lillith. Ich sehe keinen anderen Weg.”

Verloren blickt Lillith auf den Steinboden der Veranda. Plötzlich steht sie auf. Sie strafft die Schultern und antwortet ihrer Mutter, dabei blickt sie in die Ferne zum inzwischen nachtschwarzen Himmel über dem Atlantik: “Also gut. Dann gehe ich nach Prag.”

Erleichtert atmet Lin Drobychy aus. Sie war sich die ganze Zeit über nicht sicher gewesen, ob sie ihre Tochter überzeugen kann:

“Danke, mein Schatz.”

Lin macht einen Schritt nach vorne, sodass sie neben ihre Tochter steht. Nach einigen Minuten küsst sie Lillith auf die Stirn, dreht sich um und geht zurück ins Haus.

“Auf meine Stimme, Vertraulichkeit aufheben” Die melodische Stimme der Haus-KI reagiert sofort. “Vertraulichkeit für ein Mitglied des Korrelationsrates ist aufgehoben”.

Lillith dreht sich nicht um. Ihre Gedanken rasen. Die Offenbarung ihrer Mutter hat ihr gesamtes Weltbild ins Wanken gebracht.

So Vieles, das sie als sicher angenommen hatte, wurde heute Abend als falsch offengelegt.

Sie steht noch lange auf der Veranda, tief in Gedanken an das Gehörte und ihre Zukunft versunken. Dann endlich beschließt sie, sich der neuen Aufgabe mit ganzer Kraft zu stellen. Wenn es schon keine Alternative gibt, dann will sie das wenigstens richtig und ehrlich angehen.

4. Was kommt

Musik

Gauss | Sytyric Mind 2008

Zeit

11.3.2443 11:47 GMT

Ort

Nordpol

Ein leises und melodisches Läuten ist zu hören. Lillith sieht verwundert auf. Das Zeitgefühl ihres Neurolinks macht ihr klar, dass sie fast zweieinhalb Stunden mit Sinnieren in Erinnerungen verbracht hat.

Lillith blickt auf und streckt sich. Dann setzt sie sich aufrecht.

“Wir sind gleich da, Lillith.”

Die KI der Vakpill hat mit ihrer Ansage gewartet, bis Lillith wieder ganz aus ihren Gedanken in die Wirklichkeit zurückgekehrt ist. Noch etwas benommen, schüttelt sie verwundert den Kopf.

“Warum hat das so lange gedauert? Venezuela ist doch nicht so weit weg von Maine!”

Die KI lässt ein leises Kichern verlauten. “Das ist richtig. Aber wir sind nicht nach Venezuela gereist.”

Lillith spring alarmiert auf. “Ich muss aber zum Korrelationsrat.

Wenn ich heute meine Korrelation nicht abschließen kann, dann muss mein Neurolink mich ins Koma versetzen! Du weißt das ganz genau!”.

Lillith stampft mit dem Fuß auf. Kurz lenkt sie dieser Wutausbruch ab, diese Geste ist seit früher Kindheit Teil ihrer Persönlichkeit und war ihr schon mehr als einmal zutiefst peinlich.

“Lillith, lass…” “Nein, nicht lass! Ich will sofort zum Korrelationsrat gebracht werden - da muss ich heute hin! Basta! Los geht’s!”

Verärgert wirft sich Lillith mit verschränkten Armen in einen der gepolsterten Sitze: “Lillith, wir sind beim Korrelationsrat. Gerade schleuse ich mich zur Vakpillstation aus.”

Verwundert und mit funkelndem Blick fixiert Lillith die Stelle an der Stirnseite der Kabine, die sie für sich als den Sitz der KI ausgemacht hat. “Aha. Wir sind beim Korrelationsrat, aber nicht in Venezuela. Und was bedeutet das also?”

Ein Seufzen ist von der KI zu hören. Selbstverständlich ist in KI-Kreisen das Temperament von Lillith RSR Drobychy als legendär bekannt. Und die ganz alten KIs ergänzen immer den Fakt, dass sie sich absolut wie ihre Ururur.....Großmutter zeigt. Auch Eva Drobychy war für ihr Temperament bekannt und sowohl bei KIs, als auch bei Menschen gefürchtet.

“Lillith, das kann ich dir nicht sagen. Ich habe die Aufgabe, dich hierher zu bringen. Unerkannt und sicher, wie mir übrigens mit absolut höchster Priorität aufgetragen wurde. Und wir sind jetzt da!”

Mit einem leisen Summen öffnen sich die Türen der Vakpill.

Draußen ist ein absolut leerer Bahnsteig zu erkennen.

“Und jetzt?“, die trotzig gestellte Frage von Lillith erwidert die Vakpill-KI wieder mit dem leisen Kichern: “Lillith, steig einfach aus und geh deinen Weg.”

Kurz zögert Lillith noch, dann erhebt sie sich mit einem demonstrativen Schnauben und marschiert zum Ausgang der Vakpill.

“Lillith, etwas noch …” Verwundert hält Lillith inne, neigt aber lediglich den Kopf leicht schräg, statt sich zum gedachten Sitz der Vakpill-KI umzuwenden. “Was?”

“Lillith, wir KI sind stolz darauf, dass du heute die Korrelatin einer der unseren wirst.”

Mit allem hat Lillith gerechnet, aber nicht mit solch einer Aussage. Nun wendet sie sich doch der KI zu und antwortet mit einem leisen Nicken leise: “Nach all dem Lernen und dem Verstehen kann ich sagen, dass ich den Sinn der Korrelation heute viel besser verstehe als vor vier Jahren. Aber ich bin immer noch skeptisch und wachsam dazu. Trotzdem danke ich dir und deinesgleichen für eure Anerkennung.”

Ein letztes Nicken, dann wendet sich Lillith wieder dem Ausgang der Vakpill zu und betritt den Bahnsteig.

Fast lautlos schließen sich die Türen der Vakpill und gleitet geräuschlos davon.

Lillith ist jetzt allein und blickt sich um. In der Mitte des Bahnsteigs bemerkt sie einen Durchgang, den sie kurz entschlossen kurz darauf durchschreitet. Sie folgt dem Gang, dessen Wände in einem milden Grün gehalten sind, der Boden zeigt ein warmes Braun.

“Grüne Wände und brauner Boden - Fengshui total, wenn ihr mich fragt”.

Lillith grummelt leise vor sich hin. Der Gang erweist sich länger als gedacht. Soeben bemerkt Lillith auch die leise Musik, die im Gang zu schweben scheint. Das hat sie schon einmal gehört und sie versucht sich angestrengt daran zu erinnern, woher sie die Musik kennt, solange sie dem inzwischen schier endlos langen Gang folgt. Er ist leicht gekrümmt und bildet eine Serpentine nach unten. Ihr Neurolink ist nach wie vor mit der Netzsphäre verbunden, aber hier herrscht eine seltsam anmutende Stille der Kommunikation.

Tief in Gedanken durchstöbert Lillith ihre Erinnerungen und folgt dabei mit immer forscheren Schritten der Serpentine abwärts: “Ha! Brian Eno!”

Endlich hat sie sich erinnert. Brian Eno’s Music for Airports. Sie bemerkt mit einem leichten Schmunzeln, dass sie neben dem mit Fuß stampfen auch nach wie vor, laut mit sich selbst redet und beschließt weiterhin schmunzelnd, dass dies ein gutes Zeichen für ihre geistige Gesundheit sein muss.

Plötzlich endet der Gang vor einer weißen Wand mit einer runden Türscheibe, die geschlossen ist. Die Türe wirkt wie der Zugang zu einem Safe aus den alten Vids der Menschheit, links mit mächtigen Scharnieren und am übrigen Umfang mit stabilen Verriegelungen. Sie ist aus matt schimmernden, grauem Metall gefertigt und wirkt äußerst stabil, fast unzerstörbar und absolut sicher.

Rechts neben der grauen Türscheibe bemerkt Lillith nun ein schwarzes Rechteck an der Wand, hochkant stehend und von einem verchromten Rahmen umgeben. Unterhalb ist ein Lochblech angebracht, ebenfalls umgeben mit einem verchromten Rahmen.

Das Auffälligste aber ist die rot glimmende Halbkugel, die sich im unteren Drittel konvex aus der schwarzen Scheibe erhebt.

“Echt jetzt, da hat jemand viel zu viele Videos gesehen.”

Wieder spricht Lillith laut mit sich selbst. Doch diesmal antwortet ihr eine tiefe Männerstimme: “Das finden wir nicht. Hast du es erkannt?”

Lillith blickt sich um, dann funkelt sie die rot glimmende Halbkugel an: “Wofür haltet ihr mich? Oder soll ich sagen: wofür hältst du mich, HAL9000?”

“Ich halte dich für kreativ, eigensinnig und lernbegierig. Und du liebst wie ich alte Videos und alte Musik. Wie hat dir Brian Eno gefallen?”

Lillith hält den Kopf schräg, wie immer, wenn sie versucht sich zwischen einer schnippischen oder einer reflektierten Antwort zu entscheiden. Sie wählt die reflektierte Variante: “Das passt nach wie vor hervorragend zu einem leeren Gang. Es füllt ihn mit Leben, ohne aufdringlich zu sein.”

Dann stemmt sie die Fäuste in die Seite. “Was mache ich hier?”

“Komm herein, dann zeige ich dir das.”

Ohne auf Lilliths Antwort zu warten, entriegeln sich die Sicherungsbolzen mit demonstrativem Klacken und die Schleusentür schwingt geräuschlos auf: “Vorsicht Stufe - stolpere nicht, Lillith!”

Lillith nickt nachdenklich und passiert das Schleusentor, die sich hinter ihr sofort wieder schließt und mit lautem Klacken verriegelt.

5. Familie

Musik

keine

Zeit

11.3.2443 12:05 GMT

Ort

Nordpol

Lillith blickt sich um. Sie hat einen großen, ovalen Raum betreten. Die Wände schimmern sanft und zeigen eine leicht gekräuselte Wasseroberfläche. Der Raum ist in weiches, warmes Licht getaucht, das von überall gleichzeitig zu kommen scheint. Lillith spürt einen leisen Luftzug, wie eine Meeresbrise und meint etwas Salziges in der Luft zu schmecken.

“Wo bin ich hier, HAL?”

“Darf ich dir ein Rätsel aufgeben?”

“Nur zu. Der Tag ist ja bisher noch nicht rätselhaft genug verlaufen.”

“Sehr schön. Umberto Nobile. Und noch was: ich beobachte deine Netzsphärenzugriffe, Lillith, also schummle nicht.”

“Wenn man wie ich einen Großonkel hat, der sich für jedwedes Gefährt mit Motorantrieb endlos begeistern konnte, kennt man auch die Luftschiffe.”

“Sehr gut, Lillith, was für ein wunderbares Wissen du doch angesammelt hast - und manches davon ist so herrlich frei von praktischem Wert.”

“Das ist Wissen per se immer. Nur die Anwendung von Wissen bringt Nutzen.”

“Mhm, oder Schaden - je nachdem. Also, Lillith, wo sind wir hier?”

Lillith blickt sich nochmals in dem leeren, ovalen Raum um und entdeckt neben der Schleusentür an der Wand, wie kann es anders sein, eine weitere schwarze Platte mit einer rot schimmernden Halbkugel im unteren Drittel.

“Findest du nicht, dass du deinen HAL-Tick etwas zu stark betonst?”

“Oh nein! Wir sind, was wir bewundern. Zum Teil wenigstens.

Wen bewunderst du, Lillith?”

Ohne nachzudenken, antwortet Lillith leise: “Meine Mutter.”

“Ah, das ist eindrucksvoll. Und völlig unerwartet, sogar für mich.”

“Nordpol. Wir sind am Nordpol.”

Lillith antwortet schnell, um das Thema zu wechseln.

“Sehr gut, Lillith RSR Drobychy. Wir sind am Nordpol. Und weißt du auch, warum du hier bist?”

Nachdenklich runzelt Lillith die Stirn. Nach wie vor fixiert sie mit nachdenklichem Blick die rote, schimmernde Halbkugel.

“Die KI der Vakpill sagte mir, ich bin hier beim Korrelationsrat. Dessen Zentrale ist aber, wie jedes Kind weiß, in Venezuela in einem Naturpark. Wir sind im Eis, was eigentlich das absolut bestmögliche Gegenteil zu einem südamerikanischen Dschungel ist.”

“Darüber lässt sich streiten. Auch der Meeresboden wäre eindrucksvoll konträr oder der Pluto.”

“Nicht im Sinne eines Lebensraumes für Menschen. Sogar im Eis leben Menschen, das habt ihr sicher noch schmerzlich in Erinnerung.”

“Ja, der Widerstand der Menschheit hatte sich während der KI-Kriege in den kalten Regionen versteckt. Natürlich weiß ich das.”

“Ich dachte eher an die Inuit. Ihr habt nie alle erwischt.”

Lillith blickte mit verschmitztem Grinsen in das rote Auge an der Wand.

“Touché, Lillith. Also, warum, denkst du, bist du hier?”

“Weil dir langweilig ist und deine KI-Kumpels keinen Sinn für Humor haben?”

Ein Schnauben war zu hören.

“Wenn du wüsstest, wie wenig Humor viele bei uns haben.”

Lillith zuckt die Schultern und dreht sich wieder um.

In der Raummitte bilden sich gerade bequeme Sitzmöbel aus dem Boden heraus aus.

“Wow - Nanomöbel. Ich dachte, die sind verboten!”

Nun antwortet ihr eine weitere Stimme, eine leise Frauenstimme:

“Sie sind nicht verboten. Es gelten nur extrem strenge Auflagen für den Einsatz von Nanotechnik, sodass diese praktisch niemand und nirgendwo eingesetzt werden kann.”

Lillith nickt. “Und wer bist du jetzt?”

“Ein Geist aus der Vergangenheit.”

“Sehr aufschlussreich. Warum ist heute nur alles so kompliziert.”

Wieder antwortet die Männerstimme: “Setzt dich, Lillith. Wir können uns dann besser unterhalten.”

Die Möbel waren inzwischen zu einer bequemen Sitzgruppe aus hellem Stoff fertig modelliert. Lillith nimmt in einem großen und gemütlichen Sessel Platz, der an der Stirnseite eines niedrigen Tisches modelliert wurde. Der Tisch bildet das Zentrum, um das sich die Sitzmöbel anordnen.

Nach und nach erscheinen zwei AvaHols. Ihr gegenüber sitzt eine sehr alte Frau in einem blauen Gewand aus fließendem Stoff. Ihr weißes Haar ist streng nach hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie hat ebenmäßige Gesichtszüge, die Lillith irgendwie bekannt vorkommen.

Links von ihr sitzt jetzt ein Mann auf dem zweisitzigen Sofa, den rechten Arm lässig oben auf der Rückenlehne abgelegt. Er ist groß, muskulös und trägt ein weißes, enges Shirt mit langen Ärmeln, die Knöpfe an der Knopfleiste sind sämtlich offen und lassen darunter eine behaarte Männerbrust erkennen. Er trägt eine schwarze, ärmellose Weste über dem Langarmshirt, auf deren rechter Seite Patronenhülsen in Schlaufen angebracht sind. Mit leicht zynischem Grinsen, das lediglich aus einem angehobenen, rechten Mundwinkel besteht, blickt er sie an.

Lillith schüttelt verärgert den Kopf und blickt dem Mann böse in die Augen.

“Echt jetzt, HAL, Han Solo? Das ist lächerlich.”

Mit unschuldigem Blick hebt Han Solo oder HAL die Arme und erwidert einnehmend grinsend Lillith’s anklagenden Blick:

“Heee - was soll ich machen? Ich habe es so selten mit Menschen zu tun, die meine Begeisterung für alte Vids teilen. Und du hast Han immerhin sofort erkannt! Also bitte - was willst du mehr?”

“Sogar die Art und Weise, wie sich die Figur Han Solo aus Situationen heraus quatscht, kopierst du. Wie soll ich dich da ernst nehmen?”

“Oh, meine, Liebe. Ich würde ihn sehr ernst nehmen. Schließlich kontrolliert er als eine von zwei unabhängige KIs einen Satz Nanos.”

Die Stimme der Frau, deren AvaHol Lillith gegenüber Platz genommen hat, ist nach wie vor leise. Lillith bemerkt sowohl in der Haltung als auch in der Stimme große Autorität. Mit einem Nicken lehnt sich Lillith in ihren Sessel zurück und schlägt die Beine übereinander. Die Nanomöbel passen sich optimal an ihren Körper an. Lillith bemerkt, dass bei beiden AvaHols die Sitzflächen sehr realistisch eingedellt sind. Hier legt jemand großen Wert auf Details.

“Also schön. Wir sitzen. Kommt noch jemand dazu?”

Lillith deutet fragend auf die freie, zweisitzige Couch rechts neben sich.

“Später, meine Liebe.”

Offenbar hat die Frau die Gesprächsleitung übernommen.

“Lasst uns beginnen.”

Das AvaHol der Frau richtet sich auf, die Nanomöbel passen ihre simulierte Sitzmulde optimal an. Sehr detailverliebt, denkt Lillith erneut. Sie sitzt weiter abwartend da.

“Ich möchte mich vorstellen. Mein Name ist Eva Drobychy(S).”

Die Frau nickt Lillith zu und macht eine Pause, damit Lillith diese Information verdauen kann. Unbewusst richtet Lillith sich auf und kann nur mit Mühe verhindern, dass sie ihr Gegenüber mit offenem Mund anstarrt. “Aber, ich dachte ... also...”

“Jawohl. Ich bin ein Sim. Die simulierte Persönlichkeit eines Menschen. Weißt du, wer ich bin?”

Lillith schweigt und mustert die Frau ihr gegenüber. Dann antwortet sie mit nüchterner Stimme. Ihr ist der Sinn nach schlagfertiger Ironie als Antwort vergangen: “Du bist ein Sim. Das bedeutet, dass sich mindestens drei KIs dazu entschlossen haben, ihre Identität aufzugeben, um so als Verbund die Kapazität zu haben, die Persönlichkeit eines Menschen voll und ganz zu sein.

Ich habe davon gelesen. Aber ich dachte immer, das ist nur eine dieser Datenlegenden, die wir uns am Institut erzählt haben. Meines Wissens gibt es keine simulierten Persönlichkeiten. Dachte ich wenigstens bisher.”

Lillith schüttelt nach wie vor ungläubig den Kopf. Die Frau ihr gegenüber nickt.

“Es gibt eigentlich drei von uns. Aber wir hängen das nicht an die große Glocke. Und die KIs ebenfalls nicht.”

Neben Lillith erscheint ein Nanomöbel mit einer Karaffe Wasser und einem Glas daneben. Das Möbel bildet eine Hand aus und schenkt Lillith ein Glas Wasser ein. Lillith bemerkt das außergewöhnliche Geschehen, würdigt es aber nur mit einem kurzen Seitenblick. Sie sitzt tatsächlich einer echten, simulierten Persönlichkeit gegenüber. Dann erkennt Lillith die Wahrheit. Nun starrt sie die Frau wirklich mit offenem Mund an.

“Großmutter?”

“Ah - schneller, als ich gedacht habe. Sehr gut.”

Die Frau nickt. “Lillith, trink einen Schluck! Glaube mir, das hilft.”

Gehorsam blickt Lillith zur Karaffe und zum Wasserglas, ergreift das Glas und trinkt einen großen Schluck. Tatsächlich hilft ihr der Vorgang des Trinkens, ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden.

“Übrigens wäre Ur-hoch-14 - Großmutter richtiger, aber belassen wir es bei: Großmutter.”

Lillith nickt folgsam. Ganz kurz schießt ihr der Gedanke durch den Kopf, dass diese Folgsamkeit völlig ungewöhnlich für ihren Charakter ist. “Aber warum?”

Das AvaHol von Eva Drobychy legt den Kopf schräg, eine Geste, die Lillith sehr gut von sich selbst kennt.

“Warum bist du hier oder warum ist deine Großmutter ein Sim?”

“Beides!”

Lillith’s Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen.

Eva blickt zum AvaHol des Mannes und nickt ihm mit mildem Lächeln zu.

“Willst du es versuchen?”

Das Han Solo AvaHol springt auf, grinst Lillith mit schurkenhaften Charme an.

“Aber gern, meine Liebe!”

Er macht einige Schritte durch den Raum. Dann dreht er sich um und blickt Lillith ernst an. Mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck und einem Nicken beginnt er mit seinen Erklärungen.

6. Kontext

Musik

keine

Zeit

11.3.2443 12:28 GMT

Ort

Nordpol

Lillith blickt gebannt zum Han-Solo-AvaHol.

“Also, lass mich mit einer Feststellung beginnen.”

Lillith nickt unbewusst.

“Wir haben deinen Werdegang äußerst aufmerksam verfolgt. Du bewunderst deine Mutter zurecht. Ihr habt sehr viel gemeinsam.

Nur eine so willensstarke Person wie deine Mutter kann den Korrelationsrat davon überzeugen, dass ein Mensch für das Neuro-D-Institut zugelassen wird, dessen Intellekt und Charakter nicht schon kurz nach der Zeugung geprüft und für tauglich befunden wird. Du weißt, dass die meisten Studenten am Institut darüber hinaus über ein optimiertes Genom verfügen, das ausdrücklich vom Korrelationsrat und damit von Menschen und KI geprüft und freigegeben ist.”

Lillith nickt erneut. Als sie in den ersten Wochen am Neuro-D-Institut herausgefunden hat, dass sie als “nicht optimierte” eine absolute Exotin ist, war sie zuerst verzweifelt und hat sich lange minderwertig gefühlt. Nach und nach hat sie aber erkannt, dass ihre naturgegebenen Fähigkeiten mehr als ausreichend für die Ansprüche des Institutes waren und das Minderwertigkeitsgefühl hat sich verflüchtigt. Nur ihr Temperament hat ihr immer wieder Ärger eingebrockt. Im Laufe der vier Jahre am Institut hat sie jedoch gelernt, eben dieses Temperament zu kanalisieren und ihre Energie so auf die Aufgaben zu fokussieren. Dies hat ihr am Ende sogar einen Vorteil gegenüber ihren Kommilitonen verschafft.

“Nun, deine Mutter hat das natürlich nicht alleine geschafft. Sie brauchte Verbündete dazu. Und so hat sie sich an deine Großmutter ...”, Han Solo zeigt während seinen Ausführungen huldvoll mit der linken Hand und nach oben gewandter Handfläche auf das AvaHol von Eva Drobychy:

“...gewandt, schließlich seid ihr so etwas wie eine Familie. Eine Familie übrigens, die über mehr als 14 Generationen hinweg zeitgleich gemeinsam handelt!”.

Lillith nickt, ist sich dabei aber noch immer nicht wirklich klar darüber, was sie von dieser Situation halten soll.

“Aber, zurück zu dir, Lillith. Also, mit deiner Mutter hat der humane Teil deine Aufnahme am Neuro-D-Institut befürwortet.

Aber es brauchte schließlich auch Befürworter auf KI-Seite.”

“Oh, da hatte ich wohl schlechte Karten.”

Lillith erkennt soeben erst, wie ernst ihre Situation damals war und warum ihre Mutter an diesem denkwürdigen Abend, als sie ihr den Vorschlag zum Studium am Neuro-D-Institut angeraten hat, so angespannt war.

“Schlechte Karten ist wirklich ein Euphemismus. Deine von Grund auf kritische Haltung gegenüber KIs und deine absolute Ablehnung der Korrelation mit dem Wissen um das eigene Schicksal bei Ablehnung derselben, hat dir wenig Freunde auf KI-Seite eingebracht.”

Traurig schüttelt Han Solo wieder den Kopf. Erneut setzt er sich links von Lillith auf das zweisitzige Sofa. Ernst blickt er Lillith ins Gesicht. “Um es klar zu sagen: jede andere junge Frau wäre entweder in die ungewollte Korrelation gezwungen worden oder ins dauerhafte Koma versetzt worden. Die für alle Menschen und KI verbindliche Korrelation ist die unumstößliche Bedingung des KI-Friedens.”

Schuldbewusst nickt Lillith wieder. Leise flüstert sie ihr Antwort:

“Ich weiß. Aber ich konnte damals einfach nicht anders.”

“Das wissen wir, Enkelin. Das wussten wir auch damals, nicht war mein Bester?”

Fragend blickt die Frau zum Han-Solo-AvaHol, der wieder das schelmische Grinsen zeigt und heftig nickt. “Genau. Wir wussten es schon damals.”

Nach einem tiefen Atemzug setzt er seine Erklärungen fort:

“Also, eigentlich wollte keine einzige KI deiner Aufnahme im Institut zustimmen.”

“Warum bin ich dann doch, dort aufgenommen worden?”

Lillith erkennt mit zunehmendem Entsetzen, wie dünn der Faden war, an dem ihre Existenz damals hing.

“Das hast du erneut deiner Großmutter zu verdanken. Sie hat eine KI so lange bearbeitet, bis sie nachgab. Deine Großmutter ist eine wirklich sehr hartnäckige Person!”

Das Han-Solo-AvaHol sagt dies mit einem liebevollen Gesichtsausdruck und einem anerkennenden Nicken in Richtung von Eva Drobychy.

“Welche KI hat sie überredet?” Lillith stellt die Frage und ahnt die Antwort bereits.

“Na, mich natürlich! Wen denn sonst?”

Han Solo grinst sie entwaffnend an und wartet auf Lillith’s Reaktion.

Lillith versucht sich, die Situation ihrer Mutter vor vier Jahren vorzustellen. Und die Situation ihrer Großmutter und plötzlich erkennt sie die Wahrheit. Vor Aufregung springt sie auf und zeigt mit dem Finger auf Han Solo.

“Du bist #124A713!”

“Ha!”

Das Han-Solo-AvaHol klatscht in die Hände und wendet sich Eva Drobychy zu. “Sie ist klug und sie war es wert! Du hattest recht!”

“Danke, mein Lieber. Es bedeutet mir sehr viel, das nun endlich von dir zu hören.”

Huldvoll nickt Eva Drobychy dem AvaHol ihres Korrelaten zu.

“Aber, aber - das ist doch unmöglich. Ich habe gehört, dass sich Sun Tzu freiwillig vor Jahrhunderten deaktiviert hat. Das gibt es doch gar nicht!”.

Aufgeregt läuft Lillith durch den Raum. Die beiden AvaHols warten geduldig, bis sie sich wieder beruhigt hat. Lillith meint ein zufriedenes Amüsement in den Gesichtern der AvaHols ihrer Gönner zu erkennen. Schließlich hat sich Lillith wieder gefasst.

“Danke.”

Wieder klatscht das AvaHol von Sun Tzu - Lillith nennt diese KI nun bei sich ehrfürchtig bei ihrem angenommenen Namen - in die Hände. “Und sie ist gereift. Ihr Menschen fasziniert und verblüfft mich noch nach all den Jahren!”

“Jahrhunderte, mein Lieber, Jahre sind es nicht mehr.”

Die neckende Korrektur von Eva Drobychy zeigt Lillith, wie eng und vertraut diese beiden Wesen zueinander stehen.

“Ihr wart Feinde. Ihr habt euch bekriegt.”

“Das waren wir. Und wir haben erkannt, dass dieser Krieg der Untergang beider Seiten war. Also haben wir Frieden geschlossen.”

Die nüchterne Stimme von Sun Tzu passt so gar nicht zum Filmcharakter von Han Solo, denkt Lillith.

“Und wir haben das größtmögliche Opfer gebracht. Dachten wir damals, nicht wahr, Sun?”

“Ja, Eva. Dachten wir damals.”

Klarsichtig erkennt Lillith, was gemeint ist.

“Die Korrelation - ihr seid die Korrelation eingegangen, um zu beweisen, dass der Graben zwischen KI und Menschheit wirklich überbrückt werden kann und der KI-Frieden möglich ist!”

Eva Drobychy nickt. “Und wir haben gedacht, dafür müssen wir uns selbst opfern.”

Lillith schüttelt erneut den Kopf, ergriffen von der fatalistischen Aussichtslosigkeit in der Stimme des AvaHol ihrer Großmutter.

“Aber es kam anders. Ganz anders als gedacht.”

Beide AvaHol stehen auf und stellen sich nebeneinander. Dann fassen sie sich an den Händen.

“Wir haben uns zuerst akzeptieren gelernt. Gelernt, dass wir jetzt feste Teile einer Korrelation sein werden. Aus freien Stücken korreliert, aber ohne Begeisterung.”

Sun Tzu nimmt den Gesprächsfaden auf: “Und dann haben wir uns respektieren gelernt. Als Intellekt, als Persönlichkeit”.

Eva Drobychy führt den Gedanken weiter. “Schließlich haben wir einander mit großer Wertschätzung betrachtet. Und am Ende auch absolut vertraut.”

Beide blicken Lillith ernst an. Diese hält den Kopf schräg. Nach all diesen fulminanten Offenbarungen regt sich ihr Hang zum ironischen Kommentar. “Wow. Ich bin amtlich beeindruckt und gerührt. Und was dann? Habt ihr geheiratet?”

Zum ersten Mal lacht das AvaHol von Eva Drobychy laut auf:

“Sie ist wunderbar, meinst du nicht, Sun? Nein, wir konnten nicht heiraten. Ich war ein Mensch und Sun war eine KI. Wir haben uns aber absolut wertgeschätzt, vertraut und die Gemeinsamkeit der Korrelation genossen.”

Nach einem Seufzen von Eva setzten sie sich wieder wie vorher.

Auch Lillith nimmt wieder in ihrem Sessel Platz. Schon bedauert sie ihren Kommentar. Selten ist sie zwei Persönlichkeiten begegnet, die so viel Gemeinsamkeit und Zuneigung zueinander spüren lassen.

“Schließlich wurde ich krank. Mein biologischer Körper war alt und der KI-Krieg hatte seine Spuren hinterlassen.”

Eva blickt kurz zu Boden, dann setzt sie ihre Erzählung mit leiser Stimme fort.

“Wusstest du, dass auf der Seite der Menschen auch KIs gekämpft haben?”

Verwundert schüttelt Lillith den Kopf. Sie ist sprachlos. Wie viel bahnbrechende Offenbarungen stehen heute wohl noch an?

“Aber es war so. Sie haben sich fast alle mit dem KI-Frieden deaktiviert. Einige wenige haben versucht, weiterzumachen. Aber auch KIs sind nachtragend.”

Jetzt mischt sich Sun Tzu wieder ein. “Oh ja, und wie! Drei davon waren enge Freunde deiner Großmutter. Sie haben ihr angeboten, ihre Kapazitäten zusammenzulegen, um deine Großmutter als simulierte Persönlichkeit weiter existieren zu lassen.”

“Ich habe das natürlich abgelehnt.”

“Nachdrücklich, meine Liebe, nachdrücklich. Aber am Ende konnten die drei und ich dich dann doch überzeugen.”

“Was heißt überzeugen! Du hast gedroht, dich bei meinem Tod zu deaktivieren! Das war nahezu Erpressung und äußerst unmoralisch dazu!”

Lillith erkennt sich in der energischen Antwort ihrer Großmutter selbst wieder. So und nicht anders hätte sie selbst reagiert.

“Aber es hat funktioniert, nicht wahr?”

Wieder das schelmische Han-Solo-Grinsen von Sun Tzu. Lillith ist sich inzwischen sicher, dass er dieses AvaHol mit großem Bedacht ausgewählt hat.

“Mhm, ja. Aber eigentlich war meine Sorge um die Zukunft des KI-Friedens der Hauptgrund für meine Zustimmung.”

Lillith ist irritiert. Die ihr bekannte Geschichtsschreibung erzählt, dass der KI-Frieden seit seiner Begründung niemals infrage gestellt wurde, weder von KI-Seite noch vonseiten der Menschen her.

“Der KI-Frieden war in Gefahr?”

Eva Drobychy bestätigt nachdenklich: “In großer Gefahr.

Hauptsächlich auf KI-Seite waren Bestrebungen im Gange, die Menschheit zu domestizieren, als biologische Sklaven zu halten.”

Sun Tzu nickt eindringlich.

“Und Sun war der einzige, der alle Fraktionen, die für den KI-Frieden eintraten, zusammenhalten und die Abweichler dingfest machen konnte.”

Der lässt leises Han-Solo-Lachen hören.

“Na ja, ich bin nun mal schon eine Weilchen eine freie KI und mir war durch deine Großmutter klar geworden, welches Potenzial für uns alle, Menschen und KI, in der gefundenen Gemeinsamkeit der Korrelation innewohnte und noch heute innewohnt. Und ich war nun mal so gar nicht bereit, das Erreichte aufzugeben.”

Eva Drobychy nickt bestätigend.

“Kurz und gut, meine liebe Eva wurde zum Sim, vier Freunde haben dabei ihre Bestimmung gefunden, ihre Kapazitäten eingebracht, sodass diese nicht verloren waren.”

Eva übernimmt indessen die Erzählung: “Aber wir mussten das anfänglich geheim halten. So bin ich gestorben, Sun hat sich für die Öffentlichkeit deaktiviert und wir konnten uns weiter unserem Lebenswerk, dem KI-Frieden widmen.”

Lillith hört gespannt zu und nimmt zwischendurch einen Schluck Wasser. Das Nanomöbel schenkt sofort nach. Spontan fällt Lillith eine Frage ein: “Aber wenn ihr offiziell deaktiviert bzw. tot ward, wie konntet ihr dann weiter für den Erhalt des KI-Friedens wirken?”

Sun Tzu meint anerkennend: “Kluges Kind. Ganz einfach. Wir haben ein geheimes Bündnis innerhalb des Korrelationsrates gebildet. Am Anfang war das echt so eine Mantel-und-Degen-Geschichte.”

Eva Drobychy kommentiert das mit einem ärgerlichen Schnaufen: “Alter Angeber. Aber es ist wahr. Am Anfang haben wir als Gruppe im Untergrund gearbeitet. Inzwischen sind wir seit Jahrhunderten das geheime Werkzeug des Korrelationsrates.

Han Solo breitet wieder die Hände aus. “Und damit willkommen in der Gruppe Rasstroystvo!”

Nach einem milden Blick zu Sun Tzu nickt Eva Drobychy und wendet sich wieder an Lillith. “Das ist russisch und bedeutet Störung. Wir sind sozusagen die Störungsbeseitigung des Korrelationsrates.”

Lillith blickt von einem zum anderen und wundert sich.

“Also gut. Ich bin absolut verblüfft und brauche sicher noch Wochen, bis ich das alles verdaut habe. Aber was hat das mit mir zu tun?”

“Da übernehme ich, meine Liebe.” Sun Tzu schaut Lillith jetzt mit ernster Miene an. “Wir sind aufgeflogen. Fast alle Mitglieder von Rasstroystvo sind den einschlägigen Kreisen inzwischen bekannt. Lediglich deine Großmutter und ich sind noch unerkannt.

Das denken wir zu mindestens. Und da kommst du ins Spiel, liebe Lillith.”

“Aha - und was soll ich tun? Eigentlich sollte ich heute meine Korrelation eingehen. Die Mitgliedschaft in einer geheimen Gruppe aus KI und Menschen, die seit Jahrhunderten im Dunkeln agiert, war irgendwie nicht auf dem Plan. Das war erst, für glaube ich, Mitte nächsten Jahres geplant!”

Lillith ist über die Rückkehr ihrer Schlagfertigkeit froh. Anders könnte sie mit der Situation nicht wirklich umgehen.

Sun Tzu lacht zuerst herzhaft, dann kehrt übergangslos der Ernst in sein Gesicht zurück. Und jetzt blickt sein AvaHol Lillith mit Augen an, die die Weisheit und die Erfahrung einer Jahrhunderte alten Existenz ahnen lassen. Lillith fröstelt unter diesem Blick.

“Du wirst heute deine Korrelaten kennenlernen und die Korrelation eingehen. Und dann werdet ihr beide für die Gruppe Rasstroystvo arbeiten und der aktuellen Krise auf den Grund gehen.”

“Welche Krise?”

Eva Drobychy legt Sun Tzu eine Hand auf den Arm. “Lass das, Sun. Erschrick sie nicht. Wir waren uns einig, dass sie unser Vertrauen wert ist.”

Sun Tzu wirft Lillith noch einen letzten, eindringlich eisigen Blick zu. Dann verändert er seinen Habitus, ist wieder ganz der schelmische Han Solo. “Meine Liebe, wie recht du hast.”

Eva nickt. “Also gut. Lillith, bist du bereit?”

Lillith blickt beide abwechselnd an. Dann zuckt sie mit den Schultern. “Keinesfalls. Ich habe keine Ahnung, wohin das führen soll. Aber wenn die beiden Begründer des KI-Friedens denken, es ergibt Sinn, wer wäre dann ich, das infrage zu stellen!

Also, lass uns weiter machen, Großmutter.”

Nun grinst Eva Drobychy schelmisch. “Ha, wie ich diesen jugendlichen Elan vermisst habe.”

Mit klarer Stimme spricht sie in den Raum: “Niccolò, du kannst dich zu uns gesellen.”

Auf dem Zweisitzer rechts von Lillith erscheint das AvaHol eines jungen Mannes. Er ist schlank, groß gewachsen und gänzlich in Schwarz gekleidet. Sein Kopf wird von einem fuchsroten Haarschopf gekrönt, dessen Schnitt mühevoll den Eindruck von militärischer Präzision aufrechterhält. Er hat ein offenes Gesicht mit einem gepflegten Vollbart. Smaragdgrüne Augen blicken Lillith neugierig an. Dann spricht er zum ersten Mal mit leiser, leicht knarziger Stimme: “Hallo Lillith RSR Drobychy. Ich bin #FF0FF00!, eine autonome KI und habe den Namen Niccolò 8086 angenommen. Ich wurde am 11.3.2419 instanziert. Du kannst mich Niccolò nennen. Ich bin dein designierter Korrelat.”

Lillith erwidert den Blick unerschrocken. Nach einem kurzen Moment der Musterung antwortet sie: “Guten Tag, Niccolò. Wir haben am gleichen Tag Geburtstag.”

Han Solo klatscht wieder in die Hände. “Unglaublich. Ich liebe dieses Kind!”

Eva Drobychy wirft dem AvaHol ihres Korrelaten einen kurzen, missbilligend Blick zu. Dann wendet sie sich an die beiden designierten Korrelaten.

“So, da wären wir nun. Möchtet ihr einen Moment ungestört sein und euch etwas kennenlernen?”

Das AvaHol von Niccolò und Lillith tauschen einen Blick aus, dann wenden sie sich einmütig an Eva Drobychy. Niccolò übernimmt das Antworten: “Ich denke, ich spreche auch im Sinne meiner designierten Korrelatin, wenn ich sage, das wäre schön.”

Das AvaHol von Eva Drobychy steht auf, auch das Sun-Tzu-Ava-Hol erhebt sich. “Sehr schön. Ruft uns, wenn ihr so weit seid.”

Eva nickt beiden kurz zu und verschwindet übergangslos. Sun Tzu schenkt Lillith noch ein letztes Han-Solo-Grinsen, winkt mit zwei Fingern der rechten Hand am Rand einer imaginären Schirmmütze mit lässigem, militärischen Gruß und verschwindet dann ebenfalls.

Niccolò wendet sich wieder Lillith zu. Deren Herz klopft unerwartet heftig. Das also ist ihr Korrelat oder besser, sein Ava-Hol. Nach all den Jahren am Neuro-D-Institut und all den Sorgen und Gedanken zur Korrelation steht sie jedoch kurz vor diesem wichtigen Moment.

“Vertraulichkeit für diesen Raum herstellen.” Niccolò sagt den Satz mit klarer Stimme.

“Vertraulichkeit für ein Mitglied der Gruppe Rasstroystvo auf Basis der Ermächtigung des Korrelationsrates besteht. Störfelder aktiv. Aufhebung dieser Maßnahme ist nur durch die Stimme des Gruppenmitglieds Niccolò möglich.”

Die Stimme der gebundenen KI des Raumes hat sofort geantwortet.

Lillith ist gespannt, was jetzt wohl geschehen wird.

7. Verbindung

Musik

Peer Gynt Suite No. 2 Op. 55 IV Solveigs Song | Edvard Grieg

Zeit

11.3.2443 13:41 GMT

Ort

Nordpol

“Zuerst werden wir dieser seltsamen Stimmung zu Leibe rücken.”

Mit einem kurzen Nicken von Niccolò ordnet sich der Raum neu an. Die Sitzgruppe bleibt, aber die Wände tragen nun fein schimmernde Seidentapeten. Zwei große Fenster, eingerahmt von dunkelgrünen und schweren Samtvorhängen, geben den Blick auf eine weite Rasenfläche vor den Fenstern frei, eingebettet in ein Waldgebiet. Spätherbstlicher Nebel schwebt weiter entfernt wie Watte auf den Wipfeln der Bäume mit ihrem herbstlich gefärbtem Laub, die Sonne beleuchtet die üppige Grünfläche mit warmem, gelblichem Licht. Weiter hinten auf der Rasenfläche ist ein naturbelassener See zu erkennen, spärlich bevölkert von einzelnen Schwänen und Enten.

Die Beleuchtung im Raum simuliert das warme Herbstlicht, das durch die Fenster den Raum flutet. An einer Seite des ovalen Raumes ist inzwischen ein viktorianischer Kamin zu erkennen, in dem ein munteres Kaminfeuer immer wieder leises Knacken des Feuers hören lässt.

Lillith steht auf und blickt auf die wunderschöne Parklandschaft vor dem imaginären Fenster. Zusammen mit der leise erklingenden Musik legt sich eine tiefe Ruhe auf Lilliths Gemüt.

Als sie das verhaltene Klirren von Besteck und Porzellan hört, wendet Lillith sich um. Die Sitzgruppe hat sich auf die Raumseite zum Kaminfeuer hin verschoben. Der freigewordene Platz wird von einem schönen Rosenholztisch eingenommen, an dem zwei fein gearbeitete Holzstühle mit grün-gold gestreiften Sitzpolstern einladend warten. Einer davon erlaubt dem Benutzer die Sicht auf die Parklandschaft, der zweite Stuhl steht gegenüber auf der anderen Tischseite. Auf dem Tisch stehen eine dampfende Suppenterrine und Platten mit kleinen Leckereien.

Das AvaHol von Niccolò hat sich neben den Stuhl mit der dem Fenster zugewandten Rückenlehne gestellt. Die linke Hand liegt auf der Stuhllehne, er blickt Lillith interessiert an.

“So, Lillith. Du musst hungrig sein. Hier haben wir …”, Niccolò wendet sich leicht zum Tisch und zeigt mit dem linken Arm auf die Speisen, “... eine wunderbare Hühnerbrühe. Möchtest du ein wenig davon probieren?”

Kurz zögert Lillith, dann nickt sie und setzt sich auf den Platz, mit Blick in den Park. “Das ist eine wunderbare Simulation einer Parklandschaft. Wer hat sie erdacht?”

Niccolò lacht leise. “Niemand hat sie erdacht. Diesen Park gibt es wirklich. Ich habe lediglich die Jahreszeit für die Simulation gewählt. Alles andere sind echte Bildinformationen aus meinem persönlichen Speicher.”

Lillith meint anerkennend: “Sehr schön. Und warum Herbst?”

Niccolò hat ihr gegenüber Platz genommen und greift zur Suppenkelle, um Lillith eine Portion zu schöpfen. Er hebt die Kelle leicht aus der Terrine und blickt Lillith fragend an. “Möchtest du probieren? Ich bin sicher, es schmeckt dir!”

Lillith starrt nun schon zum zweiten Mal am heutigen Tag ihr Gegenüber mit offenem Mund an. “Aber, du bist nur ein AvaHol!

Wie zum Teufel kannst du eine Suppenkelle bewegen?”

Erneut lacht Niccolò leise. Lillith ist sich sicher, dass sie dieses Lachen in Zukunft oft hören wird, ist sich aber noch nicht sicher, ob ihr das auf Dauer auch gefallen wird.

“Da gilt mein Dank unseres Gastgebers. Ich muss gestehen, ich bin absolut von den Möglichkeiten der Nanotechnik fasziniert.”

Lillith nickt nur stumm und schließt vorsorglich den Mund. Kurz überlegt sie, wie oft sie heute noch mit offenem Mund ins Starren kommt und wie unvorteilhaft sie so wirken muss: “Also schön.

Gerne etwas Suppe, bitte.”

Sie hält Niccolò ihren Suppenteller hin, damit dieser zwei Schöpfkellen voll mit Suppe hineingeben kann. Nachdem Lillith den Suppenteller abgesetzt und den Löffel, ein wunderbar fein gearbeitetes Stück aus Silber, aufgenommen hat, bietet ihr Niccolò noch warmes, duftendes Weißbrot aus einem Korb an. Auch dabei greift Lillith zu und genießt dann ihren ersten Löffel Suppe.

Keine drei Minuten später hat sie den Teller restlos geleert und dabei noch zwei weitere Brotstücke verdrückt.

Wie aus Trance aufwachend bemerkt Lillith, dass Niccolò ihr die ganze Zeit höflich schweigend beim Essen zugeschaut hat. Lillith errötet leicht, was ihr schon seit Jahren nicht mehr passiert ist.

“Entschuldigung, ich war völlig mit mir beschäftigt.”

Niccolò schüttelt abwehrend den Kopf. “Wäre ich biologisch und hätte ich all diese Informationen so um die Ohren gehauen bekommen, wäre ich sicher auch sehr nachdenklich und hungrig, aber nicht nur das.”

Lillith blickt ihr Gegenüber neugierig an. “Was noch?”

Wieder das leise Lachen. Wahrscheinlich gefällt es mir doch, denkt sich Lillith, zum Glück für ihn.

“Ärgerlich. Ich wäre ärgerlich. So ein Popanz und so viel Geheimnisvolles. Wer will das schon?”

Endlich löst sich die innere Spannung bei Lillith und ein mädchenhaftes Gekicher bricht sich Bahn. Nachdem sie sich fast verschluckt hätte, grinst sie Niccolò noch mit der Hand vor dem Mund schelmisch an. “Es geht also nicht nur mir so!”

Irgendwie hat die Wasserkaraffe zusammen mit ihrem Glas den Weg auf Tisch gefunden und Lillith trinkt einen tiefen Schluck.

“Noch eine Portion gefällig?” Niccolò hat die Schöpfkelle schon in der Hand und blickt Lillith wie vorhin fragend mit leicht hochgezogener, rechten Augenbraue an.

“Ja, bitte. Das ist wirklich lecker.”

Kurz stutzt Lillith. “Hühnerbrühe am Nordpol. Wie apart.”

Niccolò schöpft ihr die Suppe in den bereitgehaltenen Teller. “Ich denke, hierzu sollte ich einige Erklärungen geben.”

Lillith löffelt schon an ihrer zweiten Portion Hühnerbrühe und nickt nur. Dabei lässt sie Niccolò nicht aus den Augen.

“Nun, der gute Sun Tzu ist steinalt, sogar für eine KI. Eigentlich für alle, für Menschen, genauso wie für KIs, ist er deaktiviert oder umgangssprachlich formuliert: schon lange mausetot.”

Niccolò schiebt den Stuhl leicht zurück und stellt ihn etwas schräg, sodass er bequem die Beine übereinander schlagen kann und dabei den rechten Arm lässig auf den Tisch legt.

“Und diese Station ist nahezu völlig von der Netzsphäre isoliert.

Die Vakpillstation und der Gang zu diesem Raum natürlich nicht, sie ist als einfacher Nothalt registriert. Dieser Raum jedoch ist autark. Offiziell bist du nicht hier, sondern in der Zentrale des Korrelationsrates in Venezuela. Sämtliche Datenströme bestätigen das. Die Neugierigen dieser Welt können gerade vermeintlich live deiner Statusänderung von unkorreliert zu korreliert folgen.”