Bauvoranfrage - Markus D. Mühleisen - E-Book

Bauvoranfrage E-Book

Markus D. Mühleisen

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Beschreibung

Der junge Architekt Franz von Brrand erbt überraschend das Häuschen seiner Tante. Dies liegt in einer verträumten Kleinstadt, so macht es jedenfalls zuerst den Anschein. Völlig unvermittelt findet er sich plötzlich in eben jenem verschlafenen Städtchen als freier Architekt mit eigenem Büro wieder, das er vom ebenfalls verstorbenen, ehemaligen Lebensgefährten der Tante übernommen hat. Er freut sich auf eine geruhsame und friedliche Zukunft, aber die Niederungen der Architektentätigkeiten und der kleinstädtischen Bürokratien warten hinter jeder Ecke auf ihn. Band 1 des Architekten-Zyklus (2. verbesserte Auflage)

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Markus D. Mühleisen

Architekten-Zyklus

Gewerk 1:

Bauvoranfrage

Gewerk 2:

Genehmigung

Gewerk 3:

Ausführung

Umschlagbild

Adobe Stock Photo stock.adobe.com

Product No. 263938201 lizenziert

Inhalt

0

Vorwort

1

Wie alles begann

2

Noch ein Todesfall

3

Ein spontaner Entschluss

4

Ein Ausschuss tagt

5

Ein Gutachten wird verhindert

6

Der Kompromiss

7

Die Alma Mater ruft

8

Vor-Ort-Termin

9

Statik ist Verhandlungssache

10

Ein Gutachter und ein Zimmermann

11

Pasta mit Einsicht

12

Von Flächen und Nutzungen

13

Die Spiele sind eröffnet

14

Mit Honig fängt man Fliegen

15

Sachen gibt's

16

Ein Sturm zieht auf

17

Wenn die Vögel zwitschern

18

Der Drache hebt den Kopf

19

Planarbeit

20

Abgabetermin

21

Personen

22

Zeitleiste

23

Technologien und Begriffe

0 Vorwort

Das Leben spielt uns doch manchmal Streiche. Jeder kennt das. Manche dieser Streiche sind lustig und können in geselliger Runde als Einschub zur Erheiterung besagter Runde erzählt werden. Andere treffen uns ins Mark, ob ihrer vielleicht schlimmen Auswirkungen auf unsere Existenz oder zumindest auf unserer Wahrnehmung derselben.

Und dann gibt es da noch die Momente, in denen uns vollkommen unerwartet etwas passiert, das uns auf ganz neue Wege führt. Zum Beispiel, man beobachtet etwas und beschließt aus der Beobachtung eine Änderung der eigenen Sicht oder sogar Vorgehensweise. Mich persönlich beeindruckt immer wieder, wie sich aus banalen Gesprächen heraus plötzlich Gedanken, ja sogar Ideen entwickeln können. Natürlich zerplatzen diese Gedanken oder Ideen meist, schließlich sind wir ja oft mit ganz anderen, notwendigen und ganz dringenden Dingen beschäftigt und die Idee wird zuerst beiseitegeschoben und dann der Bequemlichkeit halber einfach vergessen. Die Fähigkeit zum Vergessen ist eine der am meisten zu bewundernden Fähigkeiten des Menschen, wie ich meine. Lässt sie uns doch schlimme Erinnerungen vergessen und sorgt damit nicht unwesentlich für unsere geistige Gesundheit. Ich liebe diese Erklärung, kann ich doch damit meine Vergesslichkeit aufgrund von Faulheit oder innerer Trägheit hervorragend verargumentieren. Aber ich schweife ab. Manchmal ist es aber auch so, dass diese Gedanken und Ideen, die unseren Geist gleich einem grinsenden Kobold überfallen, sich nicht so einfach beiseiteschieben und vergessen lassen. Dann verfolgen wir diese Gedanken tatsächlich weiter. Nun möge unsere Um- und Nachwelt im Einzelfall darüber entscheiden, ob dieses Weiterverfolgen wirklich eine so gute Sache ist oder war, so auch im vorliegenden Fall.

Im persönlichen Gespräch mit einer Freundin, einer Architektin, haben wir uns über diese Welt im Ganzen und das gelegentlich albtraumhafte Wirken von Verwaltungsstrukturen im Zusammenhang mit Bauvorhaben unterhalten. Tja, und was soll ich sagen, dabei ist die Idee zu dieser Buchreihe entstanden. Einmal geboren hat sich diese Idee, sehr hinterhältig muss ich gestehen, in meine Gedanken eingenistet. Und was macht der mutige, aufgeklärte Mensch, wenn ihn Gedanken beschäftigen? Richtig. Er teilt diese mit all den Freunden, Kontakten und anderen Interessierten seiner Präsenz in sozialen Medien. Dort wird diskutiert, abgewogen, geliked, gebashed, mit Sternchen und Herzen gelobt, was die jeweilige Plattform eben so ermöglicht und erlaubt. Und nun möchte ich ein Geständnis machen. Ich bin so gar nicht daran interessiert, die Welt mithilfe von sozialen Medien über meine misslichen Lagen zu informieren. Muss wohl so eine Art genetische Fehlprogrammierung sein, denke ich mir.

Also, was tut man, wenn einen etwas, also ein Gedanke oder eine Idee, nicht loslässt, aber das Überdruckventil soziale Medien nicht verfügbar ist?

Richtig. Eine Möglichkeit ist, man blickt in den Abgrund hinab, konfrontiert sich selbst mit seinem Gedanken oder seiner Idee. Solange, bis der Gedanke erlegt ist, also ähnlich wie einst Sigurd den Drachen Fafnir erlegt hat. Problem gelöst. Ihr wisst schon, Wagners Ring der Nibelungen und Völsunga-Saga und so.

Ich jedoch sehe mich nicht als drachentötenden Held. Schwerter sind schließlich richtig schwer zu schwingen, glaubt mir. Ich halte mich da lieber an Stift und Papier. Oder dem heutzutage üblichen Analogon Tastatur und Textverarbeitungsprogramm. Also, was tut man in diesem Fall, also ich?

Man schreibt ein Buch darüber. Und wie passend: Der Gedanke, der mich nicht losließ, war tatsächlich, die Erlebnisse dieser Freundin in eine Romanhandlung zu verpacken.

Man stelle sich nun vor, wie der alte Mann am Feuer sitzt: es ist eine sternenklare Nacht, die Kinder und Enkel hören den Geschichten zu, die der alte Mann mit leiser und gemütlich klingender Stimme erzählt. Und am Ende seiner Erzählungen sagt der alte Mann, nicht ohne vorher mit weisem, mildem Lächeln in die Runde zu blicken: "Nun, genauso ist es gewesen"

Nach einem Moment des andächtigen Schweigens nicken seine Zuhörer fasziniert.

In Ordnung. Das ist das Ende der Szene.

Damit will ich sagen: so ist es gewesen. Ich habe mit einer Freundin telefoniert und ihre Erzählung hat in mir die Idee zu diesem Buch - mhm, wahrscheinlich wird es eher eine Buchreihe, ist bei mir irgendwie so üblich -

wachsen lassen. Kurz gesagt und rasch ans Werk. Nun ich wünsche allen viel Vergnügen beim Lesen der Geschichte, einem Eikosilog (ja, ja, immer diese erfundenen Fremdwörter), die

"Leiden des jungen Architekten B. Gewerk 1: Bauvoranfrage"

P.S.

Ach ja, eines noch vorab. Natürlich sind sämtliche Personen, Zusammenhänge, Örtlichkeiten und sonstiges von mir frei erfunden und haben so gar keinen realen Bezug.

Das wäre ja noch schöner, wenn ein Autor in seinen Texten Dinge verarbeitet, die er selbst erlebt oder erzählt bekommen hat! Also wirklich.

P.P.S.

Ich entschuldige mich aufrichtig bei allen Menschen, die selbst in amtlichen oder sonstigen Aufgabenfeldern arbeiten und falls diese ihre Arbeit oder Aufgabe in der vorliegenden Erzählung falsch oder in schlechtem Licht dargestellt finden. Es ist natürlich niemals meine Absicht gewesen, die wunderbare, deutsche Welt von Gesetzen, Verordnungen, Verwaltungsstrukturen und Vorschriften auch nur im Ansatz zu kritisieren. Wirklich nicht. Wo kämen wir denn hin, wenn so etwas um sich greift?

P.P.P.S.

Ich habe mir den Spaß erlaubt, zusätzlich zu den natürlich wirklich notwendigen, wichtigen und unheimlich bedeutungsvollen Vorschriften - also den existierenden Vorschriften - noch zusätzlich Neue zu erfinden. Und die Mission, lieber Leser, ist, wenn Sie die Mission annehmen, ganz einfach: welche der geschilderten Vorschriften gibt es wirklich und welche sind eine Ausgeburt meiner humorvollen oder eher seltsamen, das ist sicher Ansichtssache, Phantasie.

P.P.P.P.S.

Also jetzt geht es wirklich los! Ende der Vorrede, versprochen.

1 Wie alles begann

Das Städtchen Kleinberghain liegt fast malerisch am Fuße eines Hügelzuges irgendwo in der süddeutschen Provinz. Durch glückliche Fügung der Geschichte hat sich Kleinberghain über die Jahrzehnte des industriellen Wiederaufbaus in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zum prosperierenden Lebensraum für eine Standbevölkerung von fast einundzwanzig tausend Menschen entwickeln können. Durch die geografische Lage, die nächste, größere Stadt ist nur über die holperige Landstraße zu erreichen und bietet daher wenig Attraktivität für einen Einkauf des alltäglich Benötigten, hat sich eine gesunde Stadtkultur erhalten. Am Hang über Kleinberghain thront ein schmuckes Jagdschloss. Durch die Erwähnung dieses architektonischen Kleinods in den entsprechenden Reiseführern und Wanderratgebern erfreut sich Kleinberghain sogar eines gewissen, touristischen Gästeverkehrs. Dies führt dazu, dass sowohl das inhabergeführte Hotel samt Gaststätte in der Innenstadt als auch die eher einfach anmutende Pension Garni im Gewerbegebiet am Stadtrand einen ansehnlichen Anteil zur wirtschaftlichen Tätigkeit der Stadtgemeinschaft beitragen. Der Stadtkern, geprägt durch einige Gebäude mit sichtbarem Fachwerk, hinterlässt auf den ersten Blick bei dem Besucher von Kleinberghain einen angenehmen, fast mittelalterlichen Gesamteindruck.

Hinter dieser idyllischen Kleinstadtwelt findet sich naturgemäß das von Stadtpolitik und leider auch der einen oder anderen Intrige einflussreicher Persönlichkeiten der Stadtgemeinschaft geprägtes Getriebe des Alltags. Für Alteingesessene sind derlei Dinge so normal wie die Luft zum Atmen. Neu Hinzugezogene, auch wenn sie aufgrund ihrer Lebensgeschichte mit Kleinberghain verbunden sind, müssen sich erst mühsam in die Verhältnisse der Kleinstadt einleben.

So geht es auch dem noch jungen Architekten Franz von Brrand, den die Stromschnellen des Lebens wieder zurück nach Kleinberghain gespült haben. Hier hat er die letzten beiden Jahre seiner Schulzeit am Gymnasium verbracht. Da seine Eltern zu dieser Zeit beruflich im Ausland waren, wohnte Franz von Brrand bei seiner Tante väterlicherseits. Das Häuschen, fast im Stadtzentrum gelegen, war besonders. Es war eines der wenigen Objekte mit einer echten Gartenfläche rundherum. Franz von Brrand kann sich noch gut an die heißen Sommernachmittage erinnern, wenn er seiner Tante den Rasen gemäht hat.

Nach bestandenem Abitur hat ihn sein Studium der Architektur dann in der Landeshauptstadt verschlagen. Eigentlich hat Franz von Brrand eine Karriere als angestellter Architekt eines internationalen Architekturbüros geplant. Er träumte von der Errichtung großartiger Gebäude in fremden Ländern. Das Leben hält jedoch für uns alle die eine oder andere Überraschung bereit. Auch Franz von Brrand wurde von einer solchen eingeholt. Gerade hatte er die halbjährige Probezeit bei seinem ersten Arbeitgeber, wie von ihm erträumt, eines der großen Unternehmen der Architekturbranche, durchgestanden, als ihn die Nachricht vom Tode seiner Tante erreichte. Seine Eltern waren nach wie vor im Ausland und dort unabkömmlich. So blieb es an ihm, die Formalitäten der Beerdigung seiner Tante und die Regelung des Nachlasses der kinderlos gebliebenen, unverheirateten Frau zu regeln. Für ihn gänzlich unerwartet hat ihm seine Tante ihr Häuschen in Kleinberghain vererbt. Durch die besondere Lage des Häuschens war noch auf der Beerdigung seiner Tante jemand an ihn herangetreten und hat sein Interesse am Kauf des Häuschens wortreich bekundet. Der Kaufinteressent, ein stadtbekannter und politisch sehr aktiver Makler, hat Franz von Brrand förmlich bedrängt. Er malte ihm in dunklen Farben die zu erwartenden Kosten, wenn nicht nur für Renovierung, so dann doch für die Instandhaltung des inzwischen in die Jahre gekommenen Anwesens seiner Tante aus. Selbst ein gutmütiger Mensch, solch einer ist Franz von Brrand nach Bekunden seiner Freunde mit Sicherheit, musste bei dieser Nachdrücklichkeit des Maklers misstrauisch werden. Die immer größer werdende Menschenmenge, die Franz von Brrand zu seinem Verlust kondolieren wollte, hat ihn dann schließlich aus den Fängen des Maklers gerettet. Mit einem letzten, nachdrücklichen Blick aus wässrigen Augen hinter der modischen Hornbrille hat der Makler ihm seine Visitenkarte in die Hand gedrückt und schließlich von ihm abgelassen. Irgendwann war dieses gesellschaftlich so geforderte wie geübte Ritual der Beileidsbekundungen am Grab seiner Tante fast abgeschlossen. Nur ein letzter Trauergast stand noch mit trauriger Miene vor ihm. Er stellte sich als der langjährige Lebensgefährte seiner Tante vor, der trotz einer Trennung vor einigen Monaten noch tief bewegt vom plötzlichen Tod der Tante ist.

In diesem Moment spielte das Schicksal wieder einmal seine Karten aus. Der ehemalige Lebensgefährte seiner Tante war selbst Architekt und hatte ein kleines Architekturbüro in Kleinberghain. Froh, endlich mit einem Menschen reden zu können, dessen Lebenswelt sich wenigstens ungefähr mit seiner eigenen deckt, beschlossen beide gemeinsam einen Kaffee zu trinken. In der kleinen Bäckerei, ein familiengeführtes Unternehmen im Besitz einer der großen Namen von Kleinberghain, gab es im hinteren Bereich einige Tischchen. Jetzt, am Freitagnachmittag, war die Filiale gut besucht, aber sie hatten Glück und konnten noch einen Zweiertisch ergattern. So erfuhr Franz von Brrand schließlich, wie es seiner Tante in der Zeit, die er an der Universität in der Landeshauptstadt verbracht hatte, ergangen war. Und obwohl er sich in der für ihn vollkommen ungewohnten Rolle des Trösters eines älteren Mannes wiederfand, war Franz von Brrand fasziniert von dessen Erzählungen. Schließlich haben die beiden so ungleichen Männer sich verabschiedet, nicht ohne vorher noch gegenseitig ihre Visitenkarten ausgetauscht zu haben, verbunden mit dem Versprechen, in Kontakt zu bleiben. Franz von Brrand verbrachte die nächsten Tage in der Pension im Gewerbegebiet. So hatte er Zeit, sich um den Nachlass seiner Tante zu kümmern. Entgegen den unheilvoll klingenden Beschreibungen des Maklers war das Häuschen seiner Tante gut in Schuss. Natürlich gab es dem Alter des Objektes entsprechend stellenweise die Notwendigkeit für kleinere Reparaturen und Instandhaltungsmaßnahmen. Aber seine Tante hatte die Immobilie stets gepflegt. In den vergangenen Jahren waren sowohl das Bad als auch die Küche renoviert worden. Er war angenehm überrascht vom modernen Design der beiden Räume. Die Küche war zusätzlich mit hochpreisigen Geräten eines der großen Hersteller für Küchengeräte ausgestattet. Einem spontanen Entschluss folgend zog er aus der Pension aus und richtete sich im Gästezimmer des Häuschens ein. Immer wieder ertappte er sich dabei, dass er vom Haus seiner Tante spricht oder denkt, dabei war es doch nun sein Haus. Knapp eine Woche nach der Beerdigung hat ihn gänzlich unerwartet der Anruf des Notars erreicht. Durch wundersames, in diesem Fall sehr positives, Zusammenspiel der Dinge war die Testamentseröffnung in absoluter Rekordzeit möglich geworden. Kurzentschlossen meldete sich Franz von Brrand bei seinem Arbeitgeber und bat um die Verlängerung seines Urlaubs, die ihm nach einigem Hin und Her dann auch gewährt wurde.

So sitzt er schließlich am Sonntagvormittag auf der sonnenbeschienenen Terrasse und lässt seine Gedanken in Erinnerungen und seinen Blick über den schön gepflegten Garten schweifen. Er lässt es zu, dass sich seine innere Sehnsucht nach Ausgeglichenheit und Harmonie in den Vordergrund drängt. Gedankenverloren versucht Franz von Brrand sich vorzustellen, wie angenehm es doch wäre, sein Leben in bescheidener Aufgeräumtheit in dieser Kleinstadt zu verbringen in diesem Häuschen mit Garten. Diesen Moment der Ruhe genießt er mit tiefem Seufzen, als ihn erneut die Stromschnellen des Schicksals in neue, fremde und wilde Gewässer entführen sollte.

2 Noch ein Todesfall

Die sonntägliche Ruhe wird vom schrillen Klingelton seines Mobiltelefons unterbrochen. Er schreckt auf und ärgert sich wieder einmal, dass er es bislang nicht geschafft hat, den Klingelton auf ein Geräusch mit geringerem Herzinfarktrisiko umzustellen. Mit gerunzelter Stirn blickt Franz von Brrand auf das Display und sieht eine unbekannte Nummer. Es versucht ihn also keiner seiner Freunde oder Bekannten zu erreichen. Die Nummer zeigt eine Vorwahl aus Kleinberghain. Es handelt sich auch nicht um einen der seltenen Anrufe seiner Eltern von der arabischen Halbinsel, dem derzeitigen Arbeitsort seines Vaters. Als inzwischen pensionierter Buchhalter arbeitet dieser gerade, beauftragt von einer der großen Wirtschaftsprüfungskanzleien, an der Vorortprüfung der Bücher eines Handelshauses. Mit einem Seufzen nimmt Franz von Brrand das Gespräch an.

Nachdem er sich gemeldet hat, hört er schweigend der tränenerstickten Stimme einer Frau zu. Angesichts der emotionalen Aufgewühltheit seiner Gesprächspartnerin streut er beim Zuhören gelegentlich mitfühlende Laute ein. Zuerst ist ihm nicht wirklich klar, wer ihm da telefonisch an seinem Leid und seiner abgrundtiefen Verzweiflung teilhaben lässt. Als er schließlich erkennt, dass die Anruferin die Schwester des Architekten ist, mit dem er noch vor einer Woche nach der Beerdigung seiner Tante Kaffee getrunken hat, wird er selbst traurig. Wie zynisch das Leben doch sein kann, denkt er bei sich. Als die Schwester ihn schließlich bittet, bei ihr vorbeizuschauen, sagt er sofort zu. Seine gutmütige Wesensart lässt ihm da schließlich nahezu keine andere Wahl. Schließlich ist das Telefonat beendet und Franz von Brrand lässt seinen Blick wieder über den gepflegten Garten vor der Terrasse schweifen. Ein völlig unerwartet auftretender Herzinfarkt hat den Architekten am Freitagabend ereilt. Und obwohl der Rettungsdienst in rekordverdächtigen 40 Minuten in der Notaufnahme des Kreiskrankenhauses einliefern konnte, war der angerichtete Schaden wohl doch zu groß. Noch in der Nacht zum Samstag gab sich der gequälte Körper des Architekten geschlagen. Er hat das Bewusstsein nicht wiedererlangt. Franz von Brrand sinniert darüber nach, wie ein gesunder Mensch so von jetzt auf gleich mitten aus dem Leben gerissen wird. Seine Gedanken sind bei der Erzählung der Schwester.

Das kleine Architekturbüro hat in den vergangenen Jahren wohl eine Durststrecke zu erdulden gehabt. Und gerade jetzt, als nach dieser qualvollen Zeit der Unsicherheit wieder einige Bauvorhaben anstehen, wird der Architekt so unvermittelt aus dem Leben gerissen. Mit einem bedauernden Seufzen wirft er noch einen letzten Blick in den friedlich in der Sonntagssonne liegenden Garten.

Dann steht er auf, denn er will sich wie versprochen auf den Weg zur trauernden Schwester des Architekten machen.

Trotz der Trauer ahnt Franz von Brrand, dass gerade auch sein Leben an einem Wendepunkt, einer dieser schicksalhaften Gabelungen der Wege, angekommen ist. Noch kann er nicht richtig einschätzen, ob die sich abzeichnenden Entwicklungen für ihn gut oder schlecht sind.

Wie immer in solchen Fällen versucht er nicht allzu sehr über derlei Dinge nachzugrübeln.

3 Ein spontaner Entschluss

Franz von Brrand blickt sich nachdenklich um. Das Büro ist schön gelegen: ebenerdig gleich neben der Hauptstraße von Kleinberghain. Im Hof hinter dem Haus gibt es genügend Parkplätze, eine Wohltat verglichen mit der immer nervenaufreibenden Parkplatzsuche in Großstädten. Die Einrichtung des kleinen Architekturbüros ist unerwartet modern. Drei komplett ausgestattete Computerarbeitsplätze mit jeweils drei großen Bildschirmen stehen hier. Er hat versuchsweise einen der Computer gestartet. Wie in kleinen Büros üblich war keinerlei Passwortschutz aktiviert. Die Arbeitsoberfläche zeigt das Icon einer Architektursoftware. Es handelt sich um eine der großen und damit teuren Systeme. Ein Doppelklick auf das Icon startet die Software. Nach kurzer Zeit wird die Programmoberfläche angezeigt. Offenbar hat der Architekt weder bei der Software- noch bei der Hardwareausstattung gespart, trotz der schwierigen Zeiten. Dessen Schwester hat Franz von Brrand unverblümt von der Entwicklung des Büros in den letzten Jahren erzählt. Sie wusste verblüffend gut Bescheid über den Zustand des Büros. Als sie Franz von Brrand erzählte, dass sie sich um die gesamte Buchhaltung ihres leider nun verstorbenen Bruder gekümmert hatte, wurde ihm klar, woher das detaillierte Wissen der Schwester kam. Er hatte bei ihrem Gespräch den Eindruck, dass die Schwester Trost darin fand, sich mit ihm über die Belange des Büros zu unterhalten. Und schließlich hat sie Franz von Brrand unverblümt einen Vorschlag gemacht. Er solle das Büro übernehmen, sie würde sich selbstverständlich weiter um die Buchhaltung und die Finanzen kümmern. Mit Tränen in den Augen erklärte sie ihm, dass sie unbedingt das Andenken und die Lebensleistung ihres viel zu früh gestorbenen Bruders wahren möchte. Dieser habe ihr schließlich in sehr wohlwollenden Worten von der Begegnung mit dem Sohn seiner ehemaligen Lebensgefährtin, einem Architekten, berichtet. Das sei sicher eine Fügung des Schicksals, eine unerwartete Gelegenheit und solche Gelegenheiten gälte es schließlich zu ergreifen.

Franz von Brand schließt das Programmfenster wieder und blickt sich weiter im Büro um. Hinten an der Wand steht ein großformatiger Plotter neben einem professionellen, halbhohen Serverschrank. Unbewusst nickt er vor sich hin. So kann gearbeitet werden. Allerdings verwundert ihn die Anzahl von drei Computerarbeitsplätzen. Soweit die Schwester ihm erzählt hat, haben derzeit nur ihr Bruder und ein Architekturstudent im Praktikum im Büro gearbeitet. Schulterzuckend denkt Franz von Brrand, dass mit dem dritten Arbeitsplatz die Möglichkeit für eine Expansion gegeben ist. Er steht auf und macht erneut einen Rundgang durch das Büro. An einer großen Pinnwand sind die aktuellen Projekte aufgehängt. Aktuell steht der Umbau eines Bestandsobjektes an, ein einfacher Einbau einer Dachgaube. Die beiden anderen Projekte befinden sich noch in einer frühen Planungsphase, ein kleines Einfamilienhaus und ein Bauvorhaben für ein Mehrfamilienhaus mit acht Wohneinheiten. Souverän überschlägt er den Arbeitsaufwand für diese Projekte und erkennt dann, dass hier genügend Arbeit für mehr als ein Jahr für das kleine Architekturbüro gegeben ist. Damit kann man arbeiten, denkt er sich mit einem erwartungsvollen Grinsen. Schon beginnt sein planerischer Geist, die aufgehängten, ersten Grundrissentwürfe anzuschauen. Auf Anhieb fallen ihm sowohl beim Bauvorhaben für das Einfamilienhaus als auch bei dem für das Mehrfamilienobjekt einige Verbesserungsmöglichkeiten ein. Da ist sicher noch einiges an Arbeit zu tun, bevor ein einreichbares Baugesuch zur Verfügung steht. Dann wandert sein Blick zurück zu der kleinen Dachgaube. Das muss zuerst abgearbeitet sein, denkt er sich. Schließlich dürfte es nicht allzu schwer werden, eine Dachgaube an ein Bestandsobjekt anzubauen. Ein Lächeln stiehlt sich auf sein Gesicht, als er sich dabei ertappt, wie er sich bereits als der ausführende Architekt dieser Projekte sieht. Sein Unterbewusstsein hat wohl schon für ihn entschieden, diese Gelegenheit, die die Schwester des verstorbenen Architekten ihm geboten hat, beim Schopfe zu packen.

Schließlich steht er wieder vorn am Eingang. Gegenüber der Eingangstür, die direkt auf den Gehweg vor dem Haus hinausführt, ist eine kleine Theke. Dahinter ist der Arbeitsbereich der Bürokraft. Aus leidvoller Erfahrung weiß er, wie bedeutsam eine gute Bürokraft für Bauvorhaben sein kann. Was er sieht, erfreut sein Auge. Aufgeräumter Arbeitsplatz, sauber beschriftete Mappen und Ablagen, es liegt keinerlei Büromüll, so nennt er unbearbeitete Altlasten für sich selbst, herum. Hinten im Büro sind ihm ebenfalls die sauber beschrifteten Schubladen und Ordner aufgefallen. Da hat offenbar jemand den Laden gut im Griff. Jetzt stellt er sich vor die Schaufensterscheibe, rechts neben der Eingangstür und blickt nachdenklich auf die Straße. Er spürt, dass dies der Moment ist, an dem er sich entscheiden muss. Aber eigentlich hat Franz von Brrand sich bereits entschieden, so ehrlich sollte er schon zu sich selbst sein. Er versucht, in sich hinein zu lauschen. Die Neugier und Freude über die Aufgabe, das Büro zu übernehmen, dominieren. Ein kleines Gefühl des Unwohlseins schleicht jedoch in seinen Gedanken umher. Er kann es nicht richtig packen. Dann holt er tief Luft. Sicher ist das nur die Angst vor dem Neuen, dem Aufbruch in unbekannte Gewässer. Er wendet sich um und lässt noch einmal seinen Blick über das Büro schweifen. Ja, er will es tun. Er will in Kleinberghain im gerade geerbten Häuschen wohnen und freut sich auf ein geruhsames, aber fleißiges Wirken als Architekt in seinem eigenen Büro. Das Unwohlsein schiebt er zur Seite, ohne zu ahnen, dass dies doch vielleicht die Vorwarnung vor all den Stolpersteinen ist, die seiner nun immer farbiger werdenden Vision über sein zukünftiges Leben sein könnte.

4 Ein Ausschuss tagt

Für seine Verhältnisse hat Franz von Brrand sich für den heutigen Abend herausgeputzt. Statt der üblichen Turnschuhe trägt er Lederschuhe, statt Jeans eine Stoffhose. Er möchte einen seriösen Eindruck machen, deshalb trägt er auch sein einziges Leinensakko. Das gute Stück ist zwar bereits etwas in die Jahre gekommen. Als er sich mit kritischem Blick heute Abend nach dem Umziehen für die Sitzung des technischen Ausschusses der Stadt Kleinberghain zu Hause in der Diele im großen Spiegel gemustert hat, war er mit seiner Erscheinung zufrieden. Das schüttere, blonde Haar hatte er mit sauberem Linksscheitel gekämmt. Es schaut ihm aus dem Spiegel ein aufgeweckter, junger Architekt entgegen. Seine Nickelbrille unterstützt diesen Eindruck seiner Meinung nach noch.