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Noch immer wissen wir zu wenig über den Umgang mit «lockeren Schrauben» und «langen Leitungen» – früher wurde man weggesperrt, heute heißt es «Reiß dich mal zusammen». Wie begegnen wir Menschen mit psychischen Erkrankungen? Wie kann ihnen geholfen werden – und wie geht die Gesellschaft mit ihnen um? Sonja Koppitz, selbst an einer wiederkehrenden Depression erkrankt, spricht mit Betroffenen, schildert alle Facetten psychischer Erkrankungen und wirft einen Blick hinter die Kulissen des Universums Psychiatrie, wo Tragik und Komik oft sehr nah beieinanderliegen – ihr Ansatz, Persönliches mit Information zu verbinden, ist neu und von großer Klarheit.
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Seitenzahl: 463
Sonja Koppitz
Warum psychische Erkrankungen ganz normal sind
Noch immer wissen wir zu wenig über den Umgang mit «lockeren Schrauben» und «langen Leitungen» – früher wurde man weggesperrt, heute heißt es «Reiß dich mal zusammen». Wie begegnen wir Menschen mit psychischen Erkrankungen? Wie kann ihnen geholfen werden – und wie geht die Gesellschaft mit ihnen um? Sonja Koppitz, selbst an einer wiederkehrenden Depression erkrankt, spricht mit Betroffenen, schildert alle Facetten psychischer Erkrankungen und wirft einen Blick hinter die Kulissen des Universums Psychiatrie, wo Tragik und Komik oft sehr nah beieinander liegen – ihr Ansatz, Persönliches mit Information zu verbinden, ist neu und von großer Klarheit.
Sonja Koppitz, Jahrgang 1981, ist gebürtige Berlinerin. Nach Abitur und Volontariat moderierte sie beim SWR und arbeitet seit 2006 als Radiomoderatorin beim rbb – zunächst bei Fritz, bis sie 2014 zu radioeins wechselte. Seit 2019 ist sie außerdem Gastgeberin der Sendung «Plus Eins» bei Deutschlandfunk Kultur. Außerdem entwickelte, moderierte und produzierte Sonja Koppitz diverse Podcastformate und war als Fernsehreporterin für die rbb Abendschau und das Kulturmagazin «Stilbruch» unterwegs.
Prolog
Hallo, Depression! Warum ich?
Der Tod und was er mit den Lebenden macht
Interview mit einer Depression
Flucht nach vorn – ab in die Klapse!
Woche 1: Das erste Mal in der Psychiatrie
Seele, Geist, Psyche – WTF?!
Wie krank ist unsere Gesellschaft?
Von A wie Angst bis Z wie Zwang
Abhängigkeitserkrankungen – Nach voll kommt leer
ADHS – «Aufmerksamkeitsdefi… guck mal, ein Schmetterling!»
Angststörungen – Von der Schutzfunktion zur Lähmung
Autismus – Kein Systemfehler, sondern ein anderes Betriebssystem
Bipolare Störung – Hat nichts mit Klimawandel zu tun
Borderline – Alles oder nichts!
Burn-out – Lieber ausbrennen als verblassen?
Demenz – Ich muss gucken, ob ich da bin
Depression – Eine egoistische Krankheit, die lügt
Essstörungen – Wenn Essen kein Genuss mehr ist
PTBS – Ein Leben im Trauma
Schizophrenie – Gefangen in der eigenen Realität
Zwangsstörung – «Tu dir keinen Zwang an»
Warum ich? Ursachen und Auslöser
Psychologische Faktoren
Soziale Risikofaktoren
Biologische Faktoren
Woche 2: Psychisch Kranke/Gesunde – Menschen wie du und ich
Gott kann krass sein
Was passiert im Gehirn?
Neuronales Wunder oder Chaos im Oberstübchen?
Die Rolle des limbischen Systems
Ungleichgewicht der Botenstoffe
Kleiner Exkurs zur Stresshormonachse
Veränderte Hirnstruktur
Was nützt uns dieses Wissen?
Genetik und Epigenetik – Die Sache in und an den Genen
Sind psychische Erkrankungen vererbbar?
Epigenetik – Die Software der Gene
Gibt es Risikogene?
Was nützt uns dieses Wissen?
Insomnia – Nicht nur ein Song von Faithless
Die Funktion des Schlafes
Es ist nur eine Phase, Hase!
Zusammenhänge von Schlafstörungen und psychischen Erkrankungen
Schlafentzug bei Depression
Selbsttest
Woche 3: Reden, Korbflechten und wieder reden – bringt’s das?
PsychiaterIn, PsychologIn, PsychotherapeutIn – Wer blickt da noch durch?
Ambulante Psychotherapie auf Rezept
Nichts ist nichts – alles ist etwas: Wie Therapie funktioniert
Reden über Suizidgedanken
Eine gute Therapie – und ihre Grenzen
Die «Glückspille»: Zu Risiken und Nebenwirkungen
Zufälle gibt’s – mehr nicht
Wie Psychopharmaka wirken, wenn sie wirken
Was wirkt, hat auch Nebenwirkungen
Für und Wider
Was ist mein gutes Recht?
Termine: Tut mir leid, wir haben keinen Platz!
Unterbringung und Zwangsmaßnahmen
Maßregelvollzug und forensische Psychiatrie
Erziehungsfähigkeit psychisch kranker Mütter
Generation Psy – Psyche & Psychiatrie der Zukunft
Gesellschaftliche Individualisierung und personalisierte Medizin
Stimulationsverfahren: Technik, die begeistert?
CT, MRT, fMRT, PET … Warum wir uns ein Bild machen müssen
Von E-Mental-Health über Big Data bis KI
Woche 4: Zurück ins Leben
Teilhabe: Raus aus der Klinik, rein in die Gesellschaft
Gemeindepsychiatrie und Peer-to-Peer: Wege aus der Hospitalisierung?
Vorbeugen ist besser als Nachsorgen
Angehörige – Der Kummer der Kümmerer
Was geht, wenn nichts steht – Depression und Sex
Die Rolle der Angehörigen
Das Gegenteil von gut ist gut gemeint
Checkliste für Angehörige
Genie und Wahnsinn
Geniale Wahnsinnige und wahnsinnig Geniale
Genie und Wahnsinn – ein Zusammenhang?
Kunst als Therapie
Dreimal Depression und zurück – Mein Fazit
Kein Schlamm, kein Lotus
Dank
Verwendete Literatur
Register
Es war keine ungewohnte Szene für meine Familie. Ich sitze auf dem Zweisitzer neben meinem Vater, vor der Schrankwand, in deren Mitte der Fernseher steht. Wir gucken uns durch Papas Festplatte, durch die unzähligen Konzertmitschnitte seiner Musik-Idole. So, wie wir es oft sonntags nach dem Mittagessen taten. Wenn die Familie versammelt war und mein Vater uns ganz begeistert so lange mit Eric Clapton, Steve Winwood, George Harrison oder B.B. King quälte, bis auch wir schließlich begeistert waren, Gitarrensolos mitsangen und irgendwie das spürten, was früher war. Eine Kindheit voller Liebe, voller Geborgenheit. Das hat sich nicht geändert. Daran wird sich nie etwas ändern. Dass ich im Kreise meiner Familie sein kann. Dass ich einfach sein kann, wie ich bin – denn sie haben mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Meine Eltern waren da. Ich muss mich nicht verstellen. Ich fühle mich völlig schwerelos.
Doch am heutigen Tag ist es anders. Es ist nicht Sonntagnachmittag. Es ist mitten in der Woche. Es ist schon vier Uhr morgens. Nur mein Vater und ich sitzen auf dem Sofa und gucken Konzertmitschnitte. Wir schweigen und wiegen den Kopf im Takt der Musik. Meine Schwester ist längst nach Hause gegangen. Die Eagles singen: «On a dark desert highway, cool wind in my hair …» Ich spüre den Wind, wie ich überhaupt vieles spüre in diesem Moment. Als hätte jemand den Schalter umgelegt. Gefühl an. Chaos an. «Warm smell of colitas, rising up through the air …» Wir kiffen nicht, wir trinken Rotwein. «Up ahead in the distance, I saw a shimmering light …» Das Licht am Horizont. Vielleicht hat sie es gesehen. Vor einer Stunde kamen zwei Männer in Anzügen. Sie sagten: «Herzliches Beileid», hüllten meine Mutter schweigend in ein Tuch und legten sie dann in einen Sarg. Der ist aus Aluminium, dachte ich noch.
Head grew heavy and my sight grew dim
Had to stop for the night
There she stood in the doorway
Heard the mission bell
I was thinking to myself
This could be heaven or this could be hell.[1]
Meine Mutter starb im Frühling 2014. Da hatte ich meine erste depressive Episode längst hinter mir, und die zweite war noch in weiter Ferne. Jetzt ist 2019. Der Cursor blinkt, das Herz pumpt. Aber es passiert nichts. Weder ein Text. Noch das Leben. Ich spüre NICHTS. Ich soll ein Buch über meine Erfahrungen mit Depressionen schreiben. Blink, blink, blink, verhöhnt mich dieser Strich in meinem Word-Dokument. Genauso verlässlich und wiederkehrend pumpt mein Herz rhythmisch Blut durch meine Adern, und doch ist von Leben keine Spur. Geht es schon wieder los? Ist das noch normal, oder kommt wieder eine Depression? Ich bin ständig auf der Hut. Ich traue mir selbst nicht mehr. Ich beschatte mich. Beobachte mich misstrauisch und argwöhnisch. Gesund bleiben ist eine lebenslange Aufgabe für mich geworden.
Ich bin Sonja Koppitz, Jahrgang 1981, Radiomoderatorin aus Berlin. Ich hatte schon zwei Mal in meinem Leben Depressionen. Bei meiner ersten depressiven Episode wusste ich erst gar nicht, was mit mir los ist. Ich kam manchmal nach der Arbeit nach Hause, ließ im Flur alles fallen, legte mich auf den Boden und weinte erst einmal eine Stunde. Ich sagte Verabredungen ab, weil ich schlicht das Bett nicht mehr verlassen konnte, geschweige denn das Haus. Ich ging nicht mehr ans Telefon, aus Angst, Worte dafür finden zu müssen, was mit mir los war. Aber dafür hatte ich keine Worte – es war für mich selbst unerklärlich. Ich war nicht einfach nur traurig oder ausgelaugt, ich war handlungsunfähig. Ich konnte nicht mehr. Ich dachte aber auch nicht daran, dass ich vielleicht ernsthaft krank sein könnte. Ich dachte, ich schaffe das schon, wenn ich mich nur genug anstrenge. Es wird schon irgendwie vorbeigehen. Schließlich durchlebte ich zu diesem Zeitpunkt eine emotionale Krise nach der anderen. Ich hatte Liebeskummer, einen Autounfall, einen Fahrradunfall, mein geliebter Kater war weggelaufen, auf der Arbeit spürte ich nur Druck, und als ich dachte, es könne nicht schlimmer werden, bekam meine Mutter die Krebsdiagnose. Das alles passierte innerhalb weniger Wochen. Wer dreht da nicht durch? Eine psychische Erkrankung kam mir gar nicht in den Sinn! Das war 2011. Ich quälte mich über Monate hinweg, bis ich dann schließlich doch zum Psychiater ging – Diagnose: mittelschwere Depression. Mittelschwer. Ich will nicht wissen, wie sich eine schwere Depression anfühlt. Der Psychiater erklärte mir damals, was im Gehirn passiert, wenn man eine Depression hat. Irgendwas mit Nervenüberträgersubstanzen, irgendwelche Neurotransmitter, Synapsen … Ich verstand kein Wort.
Aber etwas sickerte doch zu mir durch: Ich bin nicht bekloppt, ich spinne nicht … Es gibt Worte und Erklärungen für das, was mit mir passiert. Mein Gehirn war offenbar aus dem Takt geraten! Es funktionierte nicht mehr richtig. Mein Hirn schlingerte wie ein Auto bei Aquaplaning. Wie konnte ich es ihm verübeln!? Aber wie sollte ich das jemandem erklären? Ich verstand es ja selbst kaum. Klar, die Krisen, die sich über mich ergossen wie ein Eimer Pech – das verstanden die Leute. Aber wie kann man davon ernsthaft körperlich krank werden? Denn nichts anderes sind psychische Erkrankungen – es sind Krankheiten. Viele denken: Man muss sich doch nur zusammenreißen! Schließlich war meine Mutter ja (noch) nicht gestorben, also Arschbacken zusammenkneifen und weitermachen! Ich fragte mich selbst, wie es sein kann, dass Krisen mein Gehirn und meinen Körper regelrecht aus dem Takt brachten. Die Krebsdiagnose meiner Mutter sollte etwas mit meinen Neurotransmittern gemacht haben, ehrlich jetzt? Mir fiel es schwer, das zu glauben. Denn bei meiner zweiten depressiven Episode gab es keine äußeren Faktoren, keine Krisen, und trotzdem wurde ich wieder krank. Dazu später mehr.
Bis zu meiner ersten depressiven Episode 2011 hatte ich mich noch nie mit psychischen Erkrankungen auseinandergesetzt. Natürlich wusste ich um die Existenz von Depressionen als solches, aber was es bedeutet, wenn ich selbst krank würde, wusste ich nicht. Als es mich erwischte, wollte ich nur so schnell wie möglich wieder gesund werden, wieder funktionieren. Ich bekam ein Antidepressivum, das ich jeden Morgen einnahm und mit dem es sehr langsam, aber stetig besser wurde. Es war eine Erlösung für mich. Nach einem halben Jahr war ich wieder auf dem Damm. Ich hatte keine Heulkrämpfe mehr, ich hatte wieder Antrieb, Dinge zu tun, Leute zu treffen – ich konnte wieder leben! Die Medikamente schlich ich langsam wieder aus, wie es im Ärzte-Sprech heißt: Ich verringerte die Dosis in Absprache mit meinem Psychiater langsam und konnte schließlich auf mein tägliches Antidepressivum verzichten. Auch ohne Psychotherapie hatte ich viel durch diese erste depressive Episode gelernt. Auch über mich. Ich wusste, ich will auf keinen Fall wieder krank werden, und ich tat alles dafür, gesund zu bleiben. Ich trieb Sport – lief meinen zweiten Marathon, nahm an Radrennen und Triathlons teil. Na ja, eigentlich war es nur ein Triathlon. Es fiel mir nicht schwer, Bewegung in mein tägliches Leben zu integrieren. Ich trank selten Alkohol und achtete auf meine Ernährung. Für Außenstehende mag das nach einem ziemlich langweiligen, nüchternen Leben voller Verzicht und ohne Spaß klingen. Aber ich wollte es meinem Körper nicht unnötig schwer machen zu funktionieren. Auf der anderen Seite genoss ich ab sofort die positiven Ereignisse in meinem Leben umso mehr, weil ich jetzt ja wusste, wie es sich anfühlt, wenn man emotional und körperlich am Boden ist – oder gefühlt schon unter der Erde. Das wollte ich nie wieder erleben.
Ich hatte sieben Jahre Ruhe. Selbst als meine Mutter starb, bekam ich keine erneute Depression. In dieser Zeit schrieb ich diesen Text:
Es war an einem Mittwoch. Es war Frühling. Und es war wie bei Rilke.
«Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf,
dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille
und hört im Herzen auf zu sein.»
Nur dass es sich nicht um Rilkes Panther handelte, eingesperrt hinter tausend Stäben ohne eine Welt dahinter. Sondern um meine Mutter. Den ganzen Tag schon saßen wir an ihrem Bett. Wir sahen uns an, und dennoch sahen wir uns nicht. Sah sie uns? Ihr Blick schien direkt durch mich hindurchzugehen, als sähe sie schon nicht mehr die Welt, wie wir sie kennen. Als sähe sie etwas uns Verborgenes. Als würde sie unsere Blicke aufsaugen, direkt durch ihre Augenhöhlen, die eine Art Abgrund bildeten – vor der fahlen Stille ihres Schädelinneren. Aus ihrem Mund sprudelten unaufhörlich Laute einer anderen Sprache. Wir verstanden nicht, was sie sagte. Ob sie uns etwas mitteilen wollte, letzte Worte? Aber es war ohnehin alles gesagt. Irgendwann wartet man nur noch. Den ganzen Tag schon saßen wir an ihrem Bett. Wir kamen uns schäbig vor. Fast dreckig. Wünscht man sich mit der Erlösung eines Menschen doch vor allem auch die eigene. Gerne hätte ich berichtet, dass es etwas Friedliches an sich hat, wenn jemand stirbt. Aber es war ihr nicht vergönnt, einfach einzuschlafen. Die starke Frau, wie ich sie kannte, die stets wie eine Löwin ihren Willen durchsetzte – war nicht mehr da. Wohl aber ihr Körper. Und dieser bäumte sich auf, hielt sich am Leben fest, als würde er seine Krallen ausfahren – auch wenn es nichts gab, woran man sich festhalten konnte. Das Schicksal glich einem blanken Schiffsbug aus Stahl. Die Krallen finden keinen Halt, sondern erzeugen nur einen quietschenden Lärm und lassen einen schließlich abgleiten. In die Fluten der Lunge, die die Atmung rasseln lassen. Die Haut beginnt, sich zu verfärben. Tiefblau und schwarz wurden die Flecken überall auf ihrem Körper. Genau wie ihr Blick. Da griff jemand nach ihr! So fest, dass er dunkle Abdrücke auf ihr hinterließ. Aber ihr Herz war noch nicht bereit. Es pochte unaufhörlich.
Den ganzen Tag saßen wir an ihrem Bett. Ihre Schwester kam ein letztes Mal mit der Nichte. Doch für den Abschied war es zu spät. Der Abschied dauerte fast drei Jahre und war – wegen der Unfähigkeit des Menschen, seine Gedanken in Worte zu fassen – trotzdem zu kurz. Immer erst fällt einem auf dem Nachhauseweg eine passende Formulierung ein, um sie gleich darauf wieder zu verwerfen. Was ist schon das eigene Leiden gegen das des anderen? Wie soll man in Worte kleiden, was man noch nie zuvor gefühlt hat, was aber so unendlich viel bedeutet im Leben? Nämlich das Ende. Das Ende von allem, wie wir es kennen. Ab sofort wird alles anders sein.
Meine Mutter starb. Ich blieb gesund. Erst 2018 – meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt schon vier Jahre unter der Erde – kam die Depression zum zweiten Mal. Diesmal ohne erkennbare äußere Auslöser. Eigentlich lief alles gut. Ich hatte inzwischen meine wunderbare Frau geheiratet und im Job nicht mehr oder weniger Stress als sonst. Ich hatte Yoga und Meditation zur Entspannung für mich entdeckt – aber trotzdem wurde ich wieder krank. Dieses Mal ging es körperlich los. Beim Joggen hatte ich das Gefühl, mich hielte jemand von hinten fest, als müsste ich Gewichte hinter mir herschleifen oder versuchen, unter Wasser zu sprinten. Ich fühlte mich wie gelähmt. Einfache Bewegungen wie vom Tisch aufstehen oder den Arm heben schienen nur in Zeitlupe zu funktionieren. Als wäre der Befehl vom Gehirn über die Nervenbahnen zum entsprechenden Körperteil Jahre unterwegs. Dazu war ich unendlich müde. Wie an einem Montagmorgen, nachdem man das ganze Wochenende durchgefeiert hat – nur hoch zehn. Doch Ausruhen oder Schlafen halfen nicht. Ich war und blieb erschöpft. Ich dachte zu diesem Zeitpunkt noch nicht daran, dass die Depression zurück sein könnte. Ein Blutbild beim Hausarzt ergab: nichts. Die Schilddrüse funktionierte, die Blutkörperchen waren auch alle Gewehr bei Fuß, ich hatte Blutfett- und Leberwerte wie ein frisch geborenes Einhorn. Zu irgendetwas muss dieser strebermäßig gesunde Lebenswandel ja gut sein! Auf dem Papier war ich gesund. Psychische Erkrankungen haben keine Biomarker, wie ich später lernen sollte. Psychische Erkrankungen sieht man nicht. Es gibt nichts Messbares. Der Hausarzt empfahl mir, mich auszuruhen, und schickte mich nach Hause. Schließlich war es ein außergewöhnlich heißes Frühjahr und ein noch heißerer Sommer. Ich schob die Erschöpfung und das bleierne Gefühl beim Sport auf das Wetter.
Im Urlaub, ein paar Wochen später, kam eine innere Leere dazu, die ich selbst bei der Hochzeit meiner besten Freundin mit nichts ausfüllen konnte. Ich wurde zunehmend teilnahmslos. Meine Gefühle waren ausgeblichen wie ein buntes T-Shirt, das zu oft mit dem falschen Waschmittel gewaschen wurde. Ich fühlte mich wie zu stark verwässerte Aquarellfarbe. Das bedeutete aber nicht, dass ich auf nichts mehr reagierte. Im Gegenteil. Kleinigkeiten konnten mich völlig aus dem Konzept bringen. Wenn die Geschirrspültabs alle waren, brach eine Welt für mich zusammen. Wenn etwas nicht sofort funktionierte oder wenn meine Frau ihren Teebeutel in der Spüle liegen ließ, hätte ich ausrasten können. Ich war über alle Maße reizbar, ich erkannte mich selbst kaum wieder. Hinzu kam eine sehr starke Geräuschempfindlichkeit. Das ist sehr unpraktisch, wenn man in einer lauten Stadt wie Berlin lebt, beim Radio arbeitet und sich den ganzen Tag mit Kopfhörern die Ohren volldröhnen lassen muss. Ich wollte einfach meine Ruhe haben, ich wollte am liebsten nur noch Stille! Mein Kopf konnte einfach keine weiteren Reize mehr verarbeitet, das Gehirn war beschäftigt mit einem inneren Rummelbesuch. Klare Gedanken zu fassen, war nicht mehr möglich. In meinem Kopf war ein Karussell, das sich wahnsinnig schnell drehte – so schnell, dass ich nicht erkennen konnte, auf welchen Tieren und Fahrzeugen man hätte Platz nehmen können. «Halt doch einfach den Arm raus und greif einen Ast, um das Karussell zu stoppen!» oder «Spring raus!», sagte irgendetwas in mir. Der Verstand kann es nicht gewesen sein. Der schien mich im Stich zu lassen. Denn es ging nicht.
Doch wer steuert meine Gedanken, wenn nicht ich? Wer hat die Kontrolle über mein Fühlen und Handeln, wenn nicht ich? Alles entglitt mir, ich entglitt mir. Das merkte ich zwar – zum Beispiel, wenn mich meine Frau in den Arm nahm und ich die Umarmung nicht erwidern konnte. Meine Arme hingen schlapp an meinem Körper herunter. Aber ich konnte es nicht ändern. Ich hing wie ein toter Fisch in ihren Armen.
Es gab aber auch witzige, spleenige Auswüchse des Chaos in meinem Kopf. Unsere Wohnung war immer tipptopp aufgeräumt. Weil ich es nicht ertragen konnte, wenn es auch außerhalb meines Kopfes chaotisch war, brauchte ich in der Wohnung klare Linien, leere Oberflächen. Es durfte nichts herumstehen, und die Kuscheldecken auf dem Sofa legte ich jeden Morgen zusammen, als würde gleich jemand von der Bundeswehr zur Stubenkontrolle vorbeikommen. Alles auf Kante, alles parallel, alles clean. Die Wohnung war das genaue Gegenteil von dem, was gerade in meinem Kopf los war. Ich brauchte Orientierung im Raum. Ordnung war für mich eine Art Geländer zum Festhalten – wie die Handläufe in einem langen Krankenhausflur. Ich kam mir vor wie nach einer beidseitigen Hüft-OP; ich brauchte dieses Geländer. Ich brauchte Ordnung im Chaos.
Jetzt, wo ich das alles hier aufschreibe, kommt es mir sehr unwirklich vor und auch wenig verständlich, dass mir nicht viel früher in den Sinn kam, dass wieder etwas nicht stimmt. Vielleicht wollte ich es mir auch nicht eingestehen, dass ich wieder krank war. Erst im Nachhinein erkannte ich: Es war die Depression, die wieder die Kontrolle übernahm.
Sonja: «Hallo, Depression! Ich hätte dich fast nicht wiedererkannt!»
Depression: «Tja, ich habe viele Gesichter.»
Sonja: «Nicht, dass ich dich vermisst hätte, aber: Wo warst du so lange?»
Depression: «Ich war im Urlaub.»
Sonja: «Sieben Jahre?»
Depression: «Wer hat, der kann!»
Sonja: «Warum bist du wiedergekommen?»
Depression: «Mir war einfach danach.»
Sonja (verärgert): «Sehr witzig. Mir passt das aber gerade gar nicht!»
Depression (schnippisch): «Wann passt es dir denn? Kann ja später noch mal wiederkommen!»
Sonja: «Mir wäre am liebsten, wenn du wegbleibst!»
Depression (triumphierend): «Aber das Leben ist kein Wunschkonzert. Ich bin nun mal da!»
Sonja: «O.k. Wie viel willst du?»
Depression: «Wie viel hast du?»
Sonja: «Eigentlich hast du mir schon alles genommen.»
Depression (verwundert): «Hast du keinen Dispo?»
Sonja (schweigt): «…»
Depression (fordernd): «Frag doch mal deinen Bankberater!»
Sonja: «Beraterin!»
Depression: «?»
Sonja (gereizt): «BankberaterIN.»
Depression (beleidigt): «Ganz schön spitzfindig. Scheinst doch nicht so krank zu sein.»
Sonja (entnervt): (Mic Drop)
Ich konnte mit meiner Depression diskutieren, wie ich wollte. Sie saß am längeren Hebel. Mit Argumenten, purem Willen oder Disziplin schafft man die Depression nicht ab. Es half nichts, mir zu sagen: Es ist doch alles gut. Du hast doch alles, du bist glücklich! Schließlich ging ich wieder zum Psychiater und nahm wieder Medikamente. Ich hatte aber Probleme, die Krankheit als Krankheit zu akzeptieren. Schon wieder! Warum ich? Es ist doch nichts passiert! Bei der ersten depressiven Episode war es für mich noch einigermaßen nachvollziehbar. Dumm gelaufen zwar, aber irgendwie eine Erfahrung der Kategorie «Habe-ich-das-jetzt-auch-mal-mitgemacht». Danke. Abgehakt. Ich wollte die Depression nicht im Abo buchen. Ich quälte mich ständig mit der Frage: Was soll das nun schon wieder, was will mir das Universum sagen? Ich bin nämlich – wenn ich gesund bin – eine Macherin. Ich gebe mich nur selten mit etwas zufrieden, was ich nicht verstehe. Ich gehe den Sachen auf den Grund. Erst wenn ich alles versucht habe, kann ich nachts ruhig schlafen. Wissen beruhigt mich ungemein. Das hat Vorteile in meinem Job als Journalistin, aber durchaus auch Nachteile im Privaten. Wenn man so tickt wie ich, sich Dinge in den Kopf setzt und erst am Ziel eine Pause macht, kann das sehr anstrengend sein. Für mich und andere. Das lerne ich immer wieder.
Aufgrund meiner mangelnden Akzeptanz der Krankheit wollte ich mehr tun, als «nur» gesund zu werden. Für mich und andere. Ich suchte nach Ursachen und Auslösern und saugte jede einzelne Information über Depressionen auf, recherchierte, sprach mit Medizinern, Therapeuten und anderen Betroffenen. Dabei stellte ich fest, wie schwer es auch anderen fällt, die Krankheit als solche anzunehmen oder zu erklären. Ich merkte auch immer wieder, wie stigmatisiert psychische Erkrankungen in der Gesellschaft sind.
Als ich im Radio bei einem Interview zum Thema Therapieplatz-Wartezeiten von meiner eigenen Depression berichtete, bekam ich eine Mail eines Hörers, die mich sehr verletzte. Der Tenor: Das interessiere doch keinen, ich solle nicht rumheulen. Was bewegte diesen Hörer, mir diese Mail zu schreiben? War es Hass oder Angst? Und was konnte ich ganz konkret gegen so viel Unwissenheit und Unverständnis tun?
Denn auch Kollegen und Kolleginnen reagierten zunächst mit Berührungsängsten. Ich hatte das Gefühl, dass das Thema gezielt ausgeklammert wurde, wie der berühmte rosa Elefant im Raum – aus Angst, ich würde gleich anfangen zu heulen oder man könne mit mir nicht mehr normal reden, was natürlich absurd war. Niemand hätte mir bei der Arbeit die Erkrankung angemerkt, hätte ich es nicht erzählt. Die Kämpfe in meinem Inneren brachen sich meist im Privaten Bahn. Die Arbeit half mir anfangs komischerweise sogar, da sie mir eine Struktur vorgab, an der ich mich entlanghangeln konnte wie an dem erwähnten Geländer. Ich hatte das Glück, dass ich in der Redaktion (noch) funktionierte. Trotzdem hörte ich manchmal Sätze wie «Nun reiß dich mal zusammen», wenn ich einräumte, dass es mir nicht guttut, in einem Raum ohne Fenster zu arbeiten. Wieder andere Kollegen gaben mir den Rat, lieber auf der Arbeit nicht über meine Erkrankung zu sprechen. Schließlich mache mich das angreifbar und verwundbar. Ich könne froh sein, bei einem öffentlich-rechtlichen Sender zu arbeiten und nicht in der freien Wirtschaft! Ja, ich müsse sogar dankbar sein, dass man es mir ermögliche, diesen Job mit meiner Erkrankung ausüben zu können!
Plötzlich verstand ich, warum sich verwundete Tiere zurückziehen: damit sie nicht zerfleischt werden. Ich war verwundet, aber niemand hatte das Recht, mich deswegen auszugrenzen, zu bemitleiden oder mir das Gefühl zu geben, eine Belastung zu sein! Mehr und mehr wuchs in mir die Haltung: NICHT MIT MIR! Das richtete sich gleichermaßen an Gesellschaft und Depression. Ich wollte das alles nicht einfach über mich ergehen lassen. Stigmatisierung psychischer Erkrankungen hat mit Unwissenheit zu tun. Und Unwissenheit ist eben nichts, womit ich mich zufriedengebe.
Ich hatte es leid, die Krankheit ständig erklären zu müssen – denn man sieht sie ja nicht. Gleichzeitig dachte ich darüber nach, wie es wohl Menschen mit anderen psychischen Erkrankungen geht, denn ich bildete mir ein, Depressionen seien längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Irgendwie ist es in unserer Leistungsgesellschaft doch hip, einen Burn-out zu haben (was nichts anderes als eine Depression im Arbeitskontext ist), gilt so ein «Ausgebrannt-Sein» doch als ein Zeichen von totaler Hingabe für den Job, Aufopferung für die Familie, was auch immer … nach dem Motto, «Hey, sie ist am Boden, aber sie hat alles fürs Team gegeben». Oder: «Sie hat keinen Burn-out? Sie hat nicht alles versucht!»
Wie mag es da wohl Menschen mit Schizophrenie ergehen? Oder Patienten mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS)? Oder Patientinnen mit einer Psychose, Leuten mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung), Suchterkrankungen, Ess- oder Persönlichkeitsstörungen? Denn psychische Erkrankungen können jeden treffen, der eine Psyche hat. In Deutschland sind nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde jedes Jahr etwa 27,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen. Das entspricht rund 17,8 Millionen Menschen. Doch der Medizinethiker Giovanni Maio sagt: «Allein nach Zahlen wird man nicht helfen können, weil man allein nach Zahlen schlichtweg den kranken Menschen nicht verstehen kann.»
Ich schon. Aber das reicht nicht.
Deswegen müssen wir reden – über Hirngespinste, lange Leitungen und lockere Schrauben. Wir müssen über psychische Erkrankungen sprechen. Aber wie? Metaphern für psychische Zustände gibt es viele: «Du tickst doch nicht mehr ganz richtig» oder «Du spinnst doch». Früher wurden «Irre» weggesperrt und spannen zur Beschäftigung am Spinnrad Wolle. «Diese Spinner!» Bilder für psychische Erkrankungen sind im Sprachgebrauch allgegenwärtig, das Sprechen über Erkrankungen der Psyche ist trotzdem oft ein Tabu. Liegt es daran, dass sich diese Krankheiten im Inneren abspielen? Das macht es für die Betroffenen nicht leichter. Sie müssen sich ständig erklären. Erkrankungen der Psyche werden von der Gesellschaft oft nicht als Krankheiten anerkannt. Sie werden auf den Lebenswandel oder eine Charakterschwäche zurückgeführt. Aber: Psychische Erkrankungen sind Krankheiten. Mein Ziel ist es, diese Krankheiten greifbarer zu machen. Denn das Nicht-Greifbare dieser Erkrankungen macht mich selbst schier «wahnsinnig». Auch wenn «wahnsinnig» an dieser Stelle vielleicht komisch klingt.
Man kann psychische Erkrankungen nicht sehen und auch nur schwer erklären. Sind Menschen mit Schizophrenie gewalttätig? Kann man mit Depressiven ‹normal› reden? Was sind die Ursachen für psychische Erkrankungen und was die Auslöser? Kann man ihnen vorbeugen? Sind unsere Gene schuld? Gibt es heute noch Zwangsjacken? Welche psychischen Erkrankungen gibt es überhaupt? Wo kommen sie her – diese Krankheiten und diese Vorurteile? Und wie wird man sie wieder los? Diese Fragen stelle ich mir und nehme Sie dabei mit. Auf der Suche nach Antworten begebe ich mich einen Monat lang in eine psychiatrische Klinik.
An Psyche
Hüllte kein geweihter Schleier
Deiner Seele Schönheit ein;
Leuchtete kein höh’res Feuer
Aus des Herzens Flammenschein:
Dann in unsern Blumenbanden,
Psyche! Psyche! Du und ich,
Bei dem Gott, den wir empfanden,
Psyche, du umarmtest mich.
Psyche, Psyche! So umschlungen,
So im heiligen Verein
Innigster Beseligungen
Du nur mein, und ich nur dein!
Zu dem Traum von Sein und Leben,
Mit dem Myrthengrün umlaubt,
Arm in Armen durchzuschweben,
Psyche, wär es uns erlaubt;
Aber Kettenglieder klirren
In der Herzen Doppelklang.
Engelwünsche selbst verwirren,
Was die Pflicht und Müh errang.
Viel zu viel hab ich zu flehen.
Könntest du nur mein Gesicht …
Doch, du kannst es wohl verstehen,
Ach! Und darfst, und darfst es nicht!
Friedrich Ludewig Bouterweck
Der Mythos um die Königstochter Psyche besagt, sie sei so schön gewesen, dass sie selbst Aphrodite, die Göttin der Schönheit, in den Schatten stellte. Wenn man aber mit dem heutigen Verständnis des Wortes «Psyche» das Liebesgedicht von Bouterweck liest, bekommt es plötzlich eine ganz andere Bedeutung. Da ist der Schleier, der die Seele verhüllt, gleichzeitig aber der Traum vom Sein und vom Leben und die klirrenden Kettenglieder, die das Glück unmöglich machen.
Um zu verstehen, warum die Psyche krank werden kann, warum da etwas ver-rücken kann, muss man sich darüber klar werden, was diese «Psyche» überhaupt ist und wie sie mit unserem Körper zusammenhängt. Aber wie vieles im Leben ist das gar nicht so einfach zu verstehen. Da ich ein Mensch bin, der zum Grübeln neigt, habe ich mir schon, solange ich denken kann, den Kopf darüber zerbrochen, was uns als Menschen eigentlich ausmacht und was uns von den Tieren unterscheidet (oder auch nicht). Unsere Seele oder das menschliche Bewusstsein ist vielleicht genauso schwierig zu greifen wie das Universum. Es verstehen zu wollen, bringt unser Streben nach Erkenntnis an die Grenze des Möglichen. Ist die Frage nach unserem Geist vielleicht sogar eines der letzten großen Rätsel? Auf jeden Fall ist es eine große theoretische Herausforderung, wenn wir uns fragen, was der Geist ist und wo im Körper er sitzt. Gott sei Dank haben sich das schon unzählige Menschen vor mir gefragt. Dieses Kapitel ist ein kleiner Abriss über das, was die Philosophie in Sachen «Seelenheil» so zu bieten hat. Oder auch nicht.
Das sogenannte Leib-Seele-Problem wurde schon von vielen Philosophen beackert. Für Platon (ca. 427–347 v. Chr.) war die Seele die unsterbliche Herrscherin über den Körper. Durch den Tod würde sie vom Körper befreit und sei dann zu wahrer Erkenntnis fähig. Für Aristoteles (384–322 v. Chr.) waren Körper und Seele gleichberechtigt. Er glaubte, die Seele leite die Bewegung des Körpers und richtete diese auf ein Ziel aus.
Viel, viel später kam der französische Philosoph René Descartes (1596–1650) um die Ecke.
Er war kein beneidenswerter Mensch. Er strebte nach völliger Gewissheit und stellte alles infrage. Seine eigene Existenz, die der Welt und sogar die Existenz von Gott. Die Kirche war not amused und Descartes am Ende vielleicht auch nicht, denn völlige Gewissheit, die wahre Antwort gibt es vielleicht gar nicht. Eine zentrale Frage, die sich Descartes stellte, war: Was ist wirklich? Existieren die Dinge um uns herum in der Realität, oder sind sie gar nicht echt? Klingt schon irre … Oder ist es vielleicht gar nicht so verrückt? Was ist schon ver-rückt? Sind psychisch Kranke am Ende die einzigen Gesunden? Vielleicht ist das alles gar nicht sicher und nur eine Frage des Blickwinkels. Nach Descartes könnte das ganze Leben auch nur ein Traum sein. Oder eine Art Truman Show, in der uns alles nur vorgegaukelt wird. René Descartes fragte sich: Gibt es uns möglicherweise gar nicht wirklich? Und was dann? Doch allein dieses Zweifeln beruhigte den Philosophen. Er sagte sich, wenn ich zweifle, dann denke ich. Und wenn ich denke, kann ich mir sicher sein, dass es mich gibt. «Ich denke, also bin ich!» Oder auf Latein: «Cogito ergo sum.»
Oder ist es vielleicht doch andersherum? Eric Kandel, Nobelpreisträger für Medizin, schreibt: «Einer der großen Fortschritte der Neuzeit war die Erkenntnis, dass Descartes das Pferd von hinten aufgezäumt hatte: In Wirklichkeit muss es heißen ‹Ich bin, also denke ich›.»[1]
Vielleicht war Descartes nie depressiv. Denn gerade in den schlimmen Phasen der Depression war ich nicht mehr fähig, klare Gedanken zu fassen. War ich deshalb nicht mehr? Verhindern psychische Erkrankungen das Sein als solches? Ist man kein Mensch mehr, wenn man nicht mehr rational wahrnehmen, fühlen und denken kann? Aber was sind Gedanken überhaupt, und warum sind sie so mächtig, wo man sie doch weder sehen noch anfassen kann? Wo kommen unsere Gedanken her? Und wer denkt sie? Ist es der Geist? Ist er der alleinige Herrscher über unser Denken, oder habe ich da noch ein Wörtchen mitzureden? Und dann ist da ja noch dieser Körper. Denkt der auch? Na dann gute Nacht!
Descartes schrieb: «Und wenngleich ich vielleicht einen Körper habe, der mit mir sehr eng verbunden ist, so ist doch – da ich ja einerseits eine klare und deutliche Idee meiner selbst habe, sofern ich nur ein denkendes, nicht ein ausgedehntes Ding bin, und andrerseits eine deutliche Idee vom Körper, sofern er nur ein ausgedehntes, nicht denkendes Ding ist – soviel gewiß, daß ich von meinem Körper wahrhaft verschieden bin und ohne ihn existieren kann.»[2]
Nach Descartes sind wir also denkende, nicht ausgedehnte Dinger mit Körpern, die zwar ausgedehnt, aber nicht denkend sind. Das soll er mal einem Vierjährigen erklären.
Aristoteles wiederum sah in der Seele den «großen Beweger». Die Seele bewegt den Körper durch etwas Feinstoffliches wie Luft, das aber keine Luft ist – Aristoteles nannte es Pneuma. Dieser quasi Lebensgeist gelange vom Gehirn über die Nerven in den Körper. Wie ein zarter Windhauch. Vielleicht daher auch der Ausdruck, «die Lebensgeister aushauchen». Ich muss zwangsläufig an aufblasbare Weihnachtsmänner auf Berliner Vorort-Hausdächern denken … Fährt unser Geist, unsere Psyche also als leiser Windhauch in unsere Glieder? Lange sah man den Körper als bloße Hülle an. Er stand nicht unter Verdacht, mit dem Geist zu interagieren. Deshalb wurde der Körper als solches lange Zeit nicht ausgiebiger untersucht oder obduziert. Man maß ihm kaum eine Bedeutung zu. Der menschliche Körper war quasi die Pelle einer Weißwurst. Ist die Seele erst einmal ausgezuzelt – was soll man noch den labbrigen Rest betrachten? Für Aristoteles war die Seele also eine Art Hauch, und auch für Descartes war sie schwer greifbar. Er glaubte, die Seele sei im Gegensatz zum Körper etwas Immaterielles. Und das ist das Problem. Zumindest für mich. Vielleicht können Sie dem noch folgen: Wie und wo kann eine immaterielle Substanz, die keine Masse besitzt, auf den Körper einwirken?
Aber tatsächlich – in der Depression kam es mir wirklich so vor, als sei meine Seele von der Welt der greifbaren Dinge fast völlig getrennt. Ich saß in meinem Gedankenkarussell fest und hatte kaum noch Bezug zu den Dingen um mich herum. Ich hatte das Gefühl, mein Körper gehöre nicht mehr richtig zu mir. Simone de Beauvoir beschreibt unseren Körper als unseren Zugriff auf die Welt. Aber dieser Zugriff schien mir abgeschnitten. Nur, was ist denn dann dieses «mir»? Und was ist dieses «Ich» wert, wenn es nicht mehr fähig ist, den Körper so zu steuern wie gewohnt? Mein Körper fühlte sich nur noch an wie eine Hülle. Eine schlaffe noch dazu – in der ein unruhiger Geist spukte. In der Depression war ich nur Zeugin der Existenz meines Körpers, konnte aber nicht eingreifen. Immer dann, wenn ich nicht mehr in der Lage war, die Umarmung meiner Frau zu erwidern, war ich bloß eine Beobachterin. Eine innere Erzählerin sagte mir: «Du liebst deine Frau, und sie liebt dich. Umarme sie!», aber ich spürte nichts dergleichen. Es war, als seien meine Gedanken die Stimme eines Reporters, der alles kommentiert. Der Wille zu handeln, war irgendwo noch da, aber es folgte keine Reaktion, keine Konsequenz aus dem Beobachteten. Zu diesem Symptom der Hilf- und Antriebslosigkeit komme ich später noch im Kapitel «Von A wie Angst bis Z wie Zwang».
Meine Glieder – nach Descartes feste Materie – waren zu nichts zu gebrauchen, wenn so etwas Immaterielles wie der Geist versuchte, sie zu steuern. Es schien, als sei die Verbindung zwischen Körper und Geist, wie auch immer die geartet sein mag, gekappt. Und damit die Verbindung zur Außenwelt. Ist eine kranke Seele damit in ihrer Hülle, in ihrem Körper gefangen? Denn was nutzt einem ein theoretisch funktionierender Körper, wenn man ihn doch nicht antreiben, den Muskeln kein Leben einhauchen kann – wenn man nur teilnahmslos im Bett liegt und das Gefühl hat, nie wieder aufstehen zu können?
Ja, in solchen Momenten glaube ich dem alten Franzosen, dass Körper und Geist getrennt sind. Descartes gilt als Vater der Leib-Seele-Theorie. Körper und Seele agierten zwar miteinander, seien aber voneinander getrennte Ebenen. Noch heute sprechen wir von physisch und psychisch. Den wechselseitigen Einfluss bezeichnen wir als «psychosomatisch».
In der Medizin bestand lange die Tendenz, psychische von somatischen Erkrankungen zu trennen. Gemütsverstimmung, Antriebs- und Schlafstörungen sowie andere depressive Symptome wurden als Folge einer zugrunde liegenden körperlichen Erkrankung aufgefasst. Man sprach von «reaktiver Depression». Das würde bedeuten, dass eine psychische Erkrankung wie die Depression eine Reaktion auf einen kranken Körper ist – so wie die Depression wiederum auch psychoreaktive Antwort auf ein belastendes Ereignis wie den Tod eines nahestehenden Menschen oder eine Trennung sein kann.
Was die Wechselbeziehungen zwischen Depressionen und somatischen Erkrankungen angeht, sieht man das heute sehr viel differenzierter. Bei einem depressiven Syndrom im Rahmen einer organischen Erkrankung spricht man von einer Begleitdepression. Diese kann zum Beispiel bei somatischen Erkrankungen wie Diabetes, Schilddrüsenfehlfunktionen, Rückenbeschwerden oder Asthma auftreten. Oft ist es schwierig, solche Begleitdepressionen von schon lange anhaltenden psychosomatischen Erkrankungen abzugrenzen.
Wie hängen Körper und Geist also zusammen? Das frage ich mich jedes Mal, wenn ich ein Déjà-vu erlebe. Sie kennen sicher dieses merkwürdige Gefühl, eine Situation genau so schon einmal erlebt zu haben. Der Neurologe Dr. Vernon Neppe definiert dieses Gefühl als einen «subjektiv unpassenden Eindruck von Vertrautheit einer gegenwärtigen Erfahrung mit unbestimmter Vergangenheit».[3] Die psychopathologische Bezeichnung für das Phänomen des Déjà-vus ist qualitative Gedächtnisstörung. Wenn es also so etwas wie Gedächtnistäuschungen gibt, wie gelingt es dem Gehirn überhaupt, ein kontinuierliches Abbild der Realität zu schaffen? Wir verstehen mithilfe des Verstandes, was wir hören, sehen, fühlen, riechen, schmecken. Doch wenn der Geist uns manchmal betrügt, wie bei einem Déjà-vu, was ist dann Wahrheit? Und wer oder was ist dafür verantwortlich, wenn dieses Wahrheitsbild gestört ist? Ist das ein Fehler in der Matrix oder etwa der Beweis für ein vorheriges Leben? Was geht beim Phänomen der geheimnisvollen Wiederkehr des Vergangenen im Körper vor? Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Erklärversuche. Eine Theorie ist, dass durch eine gestörte elektrische Aktivität des Gehirns ein Schaltkreis im parahippocampalen Areal im Temporallappen stimuliert wird. Diese Gehirnregion ist mitverantwortlich für das Gefühl von Vertrautheit[4]. Ein Déjà-vu könnte also dadurch entstehen, dass Neuronen versehentlich feuern. Das legt nahe, dass es eine körperliche Ursache für ein Déjà-vu gibt.
Das hätte sicher auch Descartes interessiert. Er ging von einer Wechselwirkung zwischen den zwei Substanzen Körper und Geist aus; dass also physische auf mentale Zustände einwirken können und umgekehrt. Seinem Dualismus von Geist und Materie steht der Monismus entgegen. Hier geht man von der Existenz von nur einer Substanz aus. Sind Körper und Seele also doch eins? Diese These vertrat unter anderem der britische Mathematiker und Philosoph Thomas Hobbes (1588–1679). Nach ihm ist unser Geist keineswegs autonom, vielmehr sei er eine Art Spielball der Interaktion materieller Komponenten. Die Vorgänge im Bewusstsein sind nach Hobbes nur Folge der Bewegung von Körpern. Auch für den deutschstämmigen französischen Adeligen Paul-Henri Thiry d’Holbach (1723–1789) gab es keinen Dualismus zwischen Körper und Geist. In seiner Schrift «Système de la Nature ou Des Loix du Monde Physique et du Monde Moral» beschrieb er, alles Denken sei nur eine spezifische Form der allgemeinen Bewegung der Materie[5]. Keine unsterbliche Seele, nichts Gottgegebenes oder Gottgelenktes. Der junge Goethe äußerte sich in «Dichtung und Wahrheit» sehr enttäuscht darüber: «(…) wie hohl und leer ward uns in dieser tristen atheistischen Halbnacht zumute, in welcher die Erde mit allen ihren Gebilden, der Himmel mit allen seinen Gestirnen verschwand.»[6] Auch dem französischen Parlament waren d’Holbachs Ansichten wohl zu atheistisch. Man ließ sein Traktat verbrennen.