Sport und Bewegung im Förderschwerpunkt Sehen - Christopher Mihajlovic - E-Book

Sport und Bewegung im Förderschwerpunkt Sehen E-Book

Christopher Mihajlovic

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Beschreibung

Sport und Bewegung wirken gesundheitsfördernd und ermöglichen positive Erlebnisse in der Gemeinschaft. Allerdings werden Kinder und Jugendliche mit einer Sehbeeinträchtigung von Sportlehrkräften immer wieder als herausfordernd wahrgenommen - besonders wenn es um das gemeinsame Lernen in inklusiven Settings geht. Dieses Buch unterstützt Lehrkräfte bei der Gestaltung und Durchführung adaptiver und inklusiver Sport- und Bewegungsangebote. Neben grundlegenden Informationen zu Sehbeeinträchtigungen werden methodische und organisatorische Besonderheiten sowie curriculare Rahmenbedingungen des Unterrichts erläutert. Der Schwerpunkt liegt auf der Vorstellung ausgewählter Spielformen und Bewegungsangebote, die sich mit wenig Aufwand in der schulischen Praxis umsetzen lassen.

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Christopher Mihajlovic

Sport und Bewegung im Förderschwerpunkt Sehen

Mit 22 Abbildungen und 16 Tabellen

Mit Online-Materialien

Ernst Reinhardt Verlag München

Dr. Christopher Mihajlovic, Sonderpädagoge, arbeitet als Lehrer seit mehreren Jahren im inklusiven Unterricht in Esslingen und lehrte an der PH Heidelberg im Bereich Sportpädagogik.

Hinweis: Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03267-9 (Print)

ISBN 978-3-497-61929-0 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61930-6 (EPUB)

© 2024 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG einschließlich Einspeisung/Nutzung in KI-Systemen ausdrücklich vor.

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Printed in EU

Covermotiv gestaltet auf Grundlage von iStock.com/hudiemm und iStock.com/photographybyrobbie

Satz: m4p Kommunikationsagentur GmbH, www.m4pk.de

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Hinweise zur Arbeit mit diesem Buch

1Einleitung

2Grundlagen und methodische Aspekte im Förderschwerpunkt „Sehen“

2.1Beeinträchtigung des Sehens – Was ist das?

2.2Bedeutung von Sport und Bewegung

2.3Organisatorische Aspekte und grundlegende Prinzipien

2.4Unterrichtsprinzipien

2.5Ausgewählte methodische Konzepte für den (inklusiven) Unterricht

2.6Nachteilsausgleich

3Ein kurzer Überblick über die weiteren Förderschwerpunkte

3.1Lernen

3.2Geistige Entwicklung

3.3Emotionale und soziale Entwicklung

3.4Sprache

3.5Körperliche und motorische Entwicklung

3.6Hören

3.7Krankheit

4Curricularer Rahmen: Leitideen und Inhaltsfelder des Sportunterrichts

4.1Leitideen des Sportunterrichts

Soziale Interaktion

Körperwahrnehmung

Leisten

Gesundheit

Ausdruck

Wagnis

4.2Inhaltsfelder

5Praxisideen

5.1Inhaltsfeld „Spielen“

Praxisidee: Golf

Praxisidee: Goalball

Praxisidee: Blindenfußball

Praxisidee: Boccia

Praxisidee: Tchoukball

Praxisidee: Pelota

5.2Inhaltsfeld „Bewegen an und mit Geräten“

Praxisidee: Bewegungslandschaft „Eine Reise durch das Weltall“

Praxisidee: „Le Parkour“

5.3Inhaltsfeld „Bewegung gymnastisch, rhythmisch und tänzerisch gestalten“

Praxisidee: Akrobatik – Wir bauen eine Pyramide!

5.4Inhaltsfeld „Laufen, Springen, Werfen“

Praxisidee: Der Orientierungslauf

5.5Inhaltsfeld „Bewegen im Wasser“

Praxisidee: Das Antriebsproblem

5.6Inhaltsfeld „Fahren, Rollen, Gleiten“

Praxisidee: Tandem-Fahren

5.7Inhaltsfeld „Mit und gegen Partner kämpfen“

Praxisbeispiel: Judo

Literatur

Sachregister

Hinweise zur Arbeit mit diesem Buch

Zur schnellen Orientierung werden in den Randspalten Piktogramme benutzt, die folgende Bedeutung haben:

  Tipps zum Weiterlesen

  Websiteempfehlungen

  Die Online-Materialien zum Buch können Sie auf der Homepage des Ernst Reinhardt Verlags unter https://www.reinhardt-verlag.de herunterladen. Auf der Homepage geben Sie den Buchtitel oder die ISBN in der Suchleiste ein. Hier finden Sie das passwortgeschützte Online-Material unter den Produktanhängen.

Das Passwort zum Öffnen der Dateien finden Sie im Buch vor dem Literaturverzeichnis.

1Einleitung

Wenn man Kinder und Jugendliche fragt, warum sie sich sportlich betätigen, werden die unterschiedlichsten Motive aufgeführt: „Davon werde ich stark und fit“ wird genauso genannt wie „das Zusammensein mit Freunden“ oder einfach „weil Sport Spaß macht“. Ob die befragten Kinder und Jugendlichen eine Behinderung haben oder nicht, ist für die Antworten dabei kaum von Bedeutung. Auch wenn die Begründung für das Sporttreiben für alle ähnlich relevant ist, unterscheiden sich die individuellen (motorischen) Voraussetzungen in Bezug auf das gemeinsame Sporttreiben häufig extrem voneinander. Dies trifft insbesondere auf Kinder und Jugendliche mit dem Förderschwerpunkt „Sehen“ zu, die aufgrund ihrer Sehbeeinträchtigung oft nicht über die gleichen Bewegungserfahrungen verfügen wie ihre sehenden Peers.

Die vorhandene Heterogenität der Sporttreibenden erfordert spezielle Angebote und Modifikationen, damit trotz unterschiedlicher Voraussetzungen ein gemeinsames sportliches Miteinander ermöglicht werden kann. Insbesondere im Zuge der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (in Deutschland im Jahr 2009, in Österreich 2008, in der Schweiz 2014) stellt sich die dringende Frage nach möglichen Lösungsansätzen für die Gestaltung eines inklusiven (Sport-)Unterrichts, um die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen im schulischen Kontext sowie an Erholungs-, Freizeit- und Sportaktivitäten umzusetzen (United Nations 2006).

Anwendung: Diese Publikation unterstützt Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen und sonderpädagogische Lehrkräfte bei der Gestaltung und Durchführung adaptiver und inklusiver Sport- und Bewegungsangebote für Schüler und Schülerinnen des Förderschwerpunkts „Sehen“. Zwar liegt der Fokus auf dem schulischen Bereich, dennoch sind explizit auch Übungsleiter und Übungsleiterinnen in Vereinen bzw. dem außerschulischen Sport angesprochen, die einen Sporttreibenden mit einer Sehbeeinträchtigung in ihrer Sportgruppe haben.

Aufbau/Inhalt: Dieses Buch unterteilt sich in einen Theorie- und einen Praxisteil: Im theoretischen Teil erfolgt zunächst ein Überblick über den Begriff der Sehbeeinträchtigung und die möglichen Auswirkungen von Blindheit und Sehbeeinträchtigung auf das Sporttreiben. Anschließend werden die und organisatorischen Besonderheiten des Unterrichts mit Schülern und Schülerinnen mit einer Sehbeeinträchtigung vorgestellt. Der Fokus liegt dabei auf der konzeptuellen Umsetzung eines inklusiven Unterrichts für Kinder und Jugendliche mit und ohne Sehbehinderung. In einem gesonderten Kapitel werden curriculare Rahmenbedingungen zur Planung und Durchführung der Sport- und Bewe-gungsangebote vorgestellt.

Der Schwerpunkt liegt dann auf der praxisbezogenen Vorstellung ausgewählter adaptierter Spielformen und Bewegungsangebote, die sich mit wenig Aufwand in der schulischen Praxis umsetzen lassen. Die systematische Eintei-lung der Praxisideen dieses Buchs nach den Inhaltsfeldern des Kerncurriculums Hessen (Hessisches Kultusministerium (HKM) 2011) bietet dabei eine sinnvolle Strukturierungshilfe für Sportlehrkräfte, Übungsleiter und Übungsleiterinnen. Im Sinne eines zeitgemäßen, mehrperspektivischen Sportunterrichts werden unter den jeweiligen Inhaltsfeldern thematisch passende Praxisideen aufgeführt, die mit den jeweiligen pädagogischen Perspektiven (bzw. „Leitideen“) ver-knüpft werden.

Zur Zielgruppe gehören insbesondere Kinder der Primarstufe sowie der Sekundarstufe I. Zusätzlich zu den in dieser Publikation aufgeführten Praxisbeispielen gibt es zusätzlich umfangreiche Online-Materialien, welche auf der Homepage des Ernst Reinhardt Verlages heruntergeladen werden können.

2Grundlagen und methodische Aspekte im Förderschwerpunkt „Sehen“

2.1Beeinträchtigung des Sehens – Was ist das?

Sehbeeinträchtigungen sind vielfältig und ihre Ausprägungen und Folgen können individuell sehr unterschiedlich sein. So können Menschen mit der gleichen Augenerkrankung im Alltag unterschiedlich gut mit ihrer Seheinschränkung umgehen, was u. a. von den jeweiligen Kompensations- und Bewältigungsstrategien abhängt. Im Rahmen dieser Publikation werden die Begriffe Sehbeeinträchtigung und Sehbehinderung synonym verwendet. Der Begriff „Förderschwerpunkt Sehen“ wird dabei im schulischen Kontext als Oberbegriff für Sehbehinderung und Blindheit verwendet. Der Begriff „Sehschädigung“ wird vornehmlich in medizinisch-sozialrechtlichen Kontexten genutzt (Lang/Thiele 2020).

Sehbehinderung und Blindheit werden in der Regel definiert über

■die Sehschärfe (wie scharf ein Bild auf der Netzhaut abgebildet wird)

■oder das Gesichtsfeld (der Bereich, der auf einen Blick ohne Kopfbewegung wahrgenommen werden kann).

Allerdings gibt es im internationalen Raum – je nach Land und Organisation – unterschiedliche Definitionen für Blindheit oder Sehbehinderung, da die Klassifikationen von Sehschädigungen nicht einheitlich sind. Wie in Tabelle 1 dargestellt, wird im deutschsprachigen Raum sozialrechtlich zwischen Sehbehinderung, hochgradiger Sehbehinderung und Blindheit unterschieden. Als wichtigstes Kennzeichen zur Feststellung einer Sehbehinderung wird hier die Messung der Sehschärfe (Visus) hinzugezogen.

Tab. 1: Grade der Sehbeeinträchtigung (Schnell/Bolsinger 2010, 84)

Sehschärfe (Visus)

Bezeichnung

Visus ≤ 0,3 bis ausschließlich 0,05

Sehbehinderung

Visus ≤ 0,05 bis ausschließlich 0,02

hochgradige Sehbehinderung

Visus ≤ 0,02

Blindheit

Die Ursachen für eine Beeinträchtigung des Sehens können sehr unterschiedlich sein und sind in der Regel auf genetische Faktoren (z. B. Vererbung von Augenerkrankungen) und umweltbedingte Gründe (z. B. Unfälle) zurückzuführen (Lang/Thiele 2020).

Laut Statistiken des Statistischen Bundesamts (2021) sind in Deutschland 71.260 Menschen blind und 46.820 hochgradig sehbehindert, 440.645 Menschen gelten als sehbehindert. Wie Thiele und Lang (2020) allerdings zu bedenken geben, liegen keine genauen Zahlen über die Häufigkeit von Blindheit und Sehbehinderung in Deutschland vor, da sich die Zahlen des Statistischen Bundesamts lediglich auf die bewilligten Anträge zur Ausstellung eines entsprechenden Schwerbehindertenausweises beziehen. Die tatsächlichen Zahlen dürften aber deutlich höher sein, da nicht alle Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung einen Antrag auf Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises stellen. Zudem werden Menschen mit zusätzlichen Beeinträchtigungen (z. B. kognitiven Beeinträchtigungen) häufig nicht in den Statistiken berücksichtigt. Abgesehen davon können sich Sehbehinderungen höchst unterschiedlich auswirken, was im (schulischen) Alltag häufig zu Missverständnissen und Vorurteilen führt. Vielmehr muss es darum gehen, zusammen mit den entsprechenden Schülern und Schülerinnen zu klären, wie das noch vorhandene Sehvermögen im Unterrichtsalltag optimal genutzt werden kann.

Abb. 1: Einflussfaktoren auf das Sehvermögen (in Anlehnung an Corn 1983)

Das Sehvermögen ist nicht allein abhängig von der Sehschärfe, sondern von vielen anderen Faktoren (Abb. 1). Dazu gehören weitere visuelle Fähigkeiten wie die Licht- und Farbaufnahme und visuelle Außenreize wie die Beleuchtung und Kontraste. Zudem wird das Sehvermögen von individuellen Voraussetzungen, z. B. dem körperlichen und seelischen Zustand der Person, beeinflusst. Das Sehen ist also ein sehr individueller und komplexer Prozess, der allerdings durch bestimmte Maßnahmen unterstützt werden kann.

Mithilfe der folgenden Simulation unterschiedlicher Augenerkrankungen (Abb. 2) soll exemplarisch deutlich gemacht werden, dass es sich bei Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung nicht um eine homogene Gruppe handelt.

Abb. 2: Simulation unterschiedlicher Augenerkrankungen am Beispiel Judo (Foto: Christopher Mihajlovic, Special Olympics 2012)

  Hinweis: Die Simulation (Abb. 2) ist in farbiger Großdarstellung als Online-Material verfügbar.

Eine Sehbehinderung kann sehr verschiedene Ausprägungen haben und auch eine Person mit Blindheit ist nicht immer vollblind. Von Bedeutung ist eine Unterscheidung hinsichtlich des Schädigungsorts: So können unterschiedliche Bereiche des Auges (z. B. Linse, Netzhaut) betroffen sein oder die Sehbeeinträchtigung kann durch eine Störung bei der Verarbeitung visueller Reize im Gehirn (Cerebral Visual Impairment, kurz: CVI) verursacht werden (Lang/Thiele 2020).

Zudem können die Einschränkungen im Sehvermögen je nach Krankheitsstadium stärker oder weniger stark ausgeprägt sein. Bei einer Erkrankung im frühen Stadium sind Einschränkungen häufig noch weniger stark ausgeprägt, beispielsweise verengt sich das Gesichtsfeld bei der Augenerkrankung „Retinitis pigmentosa“ im Laufe der Zeit immer mehr, das Kontrastsehvermögen nimmt gleichzeitig ab. Die in Abbildung 2 gezeigten Simulationen stellen ein spätes Krankheitsstadium dar.

  Auf der Homepage von PRO RETINA gibt es zudem eine Simulation ausgewählter Augenerkrankungen, in denen die verschiedenen Krankheitsverläufe differenziert dargestellt werden: www.pro-retina.de/netzhauterkrankungen/simulation.

2.2Bedeutung von Sport und Bewegung

Die Sinnhaftigkeit von Sport und Bewegung im Allgemeinen und deren positive Effekte auf die Gesundheit und das Wohlbefinden des Menschen stehen außer Frage und sollen in diesem Kapitel nicht vertiefend erläutert werden. Aus einer gesundheitlichen Perspektive sind die positiven Auswirkungen durch regelmäßiges Ausdauertraining und die damit verbundenen Anpassungen des Herz-Kreislaufsystems und der Muskelzellen in der entsprechenden Fachlitera-tur detailliert beschrieben worden. Übergewicht und Adipositas werden dabei häufig mit fehlenden bzw. geringen sportlichen Aktivitäten in Verbindung gebracht. Körperliche Inaktivität gilt folglich als eine der größten gesundheit-lichen Risikofaktoren. Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt, dass Kinder und Jugendliche sich täglich 60 Minuten bei einer moderaten bis starken Belastung bewegen sollten (WHO 2010). Moderate bis starke Belastungen werden beispielsweise durch regelmäßige Ausdauerbelastungen wie Joggen und Fahrradfahren bei mittlerem Tempo erreicht, die Intensität hängt dabei aber auch vom individuellen Fitnesszustand ab. Diese Werte werden laut den Ergeb-nissen der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) des Robert Koch Instituts allerdings nur von 29,4 % der Jungen und 22,4 % der Mädchen im Alter von 3–17 Jahren erreicht (Finger et al. 2018). Der Schulsport und der außerschulische Sport stehen somit in der Verantwortung, Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung dazu zu ermutigen und zu befähigen, möglichst selbstbestimmt an der Bewegungskultur zu partizipieren.

Zu den Zielen des Sport- und Bewegungsunterrichts gehört es auch, den Schülern und Schülerinnen einen möglichst vielfältigen Zugang zur Bewegungskultur zu ermöglichen. Genauso wie ihre sehenden Peers, profitieren auch Kinder und Jugendliche mit einer Sehbeeinträchtigung von geeigneten Sport- und Bewegungsangeboten. Aufgrund der häufig sehr unterschiedlichen Voraussetzungen und Bewegungserfahrungen von Schülerinnen und Schülern mit einer Sehbeeinträchtigung müssen Sport- und Bewegungsangebote zwangsläufig zielgruppenspezifisch ausgerichtet werden. Bei vielen Menschen mit Blindheit oder einer hochgradigen Sehbehinderung muss durch gezielte sportliche Angebote Entwicklungsverzögerungen im motorischen Bereich entgegengewirkt werden (Giese et al. 2020). Durch das Schaffen vielfältiger Material- und Bewegungserfahrungen können zudem „Zugangsbarrieren“ wie Bewegungsängste und -hemmungen abgebaut werden. Positive Effekte lassen sich häufig durch offen angelegte, psychomotorisch orientierte Bewegungs- und Materialangebote erzielen. Gerade Menschen mit Sehbehinderung und weiteren Beeinträchtigungen stoßen bei einfachen Bewegungsformen wie Hüpfen, Galoppieren etc. bereits an ihre Grenzen. Die Entwicklung dieser elementaren Bewegungsformen muss also häufig erst angebahnt werden.

Das Sammeln von möglichst vielfältigen Bewegungserfahrungen nimmt für Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung somit einen sehr wichtigen Stellenwert ein. Allerdings zeigen bisherige Studien aus der Perspektive von Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung ambivalente Sichtweisen auf den Sportunterricht auf. Die befragten Erwachsenen mit einer Sehbeeinträchtigung in der Studie von Yessick und Haegele (2019) weisen darauf hin, dass frühere problematische Erfahrungen im Sportunterricht einen negativen Einfluss auf die körperliche Aktivität von Menschen mit Sehbeeinträchtigungen haben können. Die Ergebnisse der Interviewstudie von Ruin et al. (2021) zeigen im Einklang damit auf, dass Schülerinnen und Schüler mit einer Sehbeeinträchtigung im Rahmen des Sportunterrichts mit individuell wahrgenommenen motorischen Herausforderungen konfrontiert sind, die teilweise mit Ängsten verbunden sind (z. B. Balancieren).

Zusammenfassend zeigt der Forschungsüberblick von Holland und Haegele (2021) auf, dass Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung noch häufig von der Teilhabe am gemeinsamen Sportunterricht ausgeschlossen werden, was u. a. auf das Fehlen adäquater Sport- und Bewegungsangebote zurückgeführt wird. Dies bezieht sich insbesondere auf den (inklusiven) Sportunterricht mit Schülern und Schülerinnen mit Sehbeeinträchtigungen, da diese Schülerschaft von Sportlehrkräften als besonders herausfordernd wahrgenommen wird (Lieberman et al. 2019). Meier et al. (2023) konnten im Einklang mit den vorliegenden Erkenntnissen aufzeigen, dass Sportlehrkräfte einen wichtigen Stellenwert dabei einnehmen, ob Schüler und Schülerinnen mit Blindheit und Sehbehinderung die selbstbestimmte Teilhabe am Sportunterricht ermöglicht wird. In dieser Interviewstudien mit insgesamt 19 Schüler und Schülerinnen mit Blindheit und Sehbehinderung an einer sonderpädagogischen Bildungseinrichtung in Österreich wurde zudem deutlich, dass Teilhabebarrieren im Sportunterricht aufgrund von materiellen Rahmenbedingungen vorliegen, andererseits digitale Hilfsmittel ein großes Potenzial zur Überwindung dieser Barrieren haben (Meier et al. 2023).

Auch im außerschulischen Bereich nimmt die Teilhabe an der Sportkultur, z. B. dem Vereinsleben, für Sporttreibende mit einer Sehbeeinträchtigung einen großen Stellenwert ein. Allerdings liegen in diesem Bereich bisher sehr wenige Forschungsergebnisse vor. Haegele (2018) konnte in seiner Interviewstudie mit zehn Erwachsenen mit einer Sehbehinderung aufzeigen, dass die Eltern und andere (familiäre) Bezugspersonen eine wichtige Rolle dabei einnehmen, ob die Teilnehmenden Zugang zu außerschulischen Sport- und Bewegungsangeboten haben. Das folgende Zitat eines befragten Teilnehmers mit Blindheit (Nate, 27 Jahre) aus dieser Studie macht dies deutlich:

„Bei uns zu Hause gab es kein ‚Du bist blind, du schaffst das nicht‘. Mein Großvater würde vielmehr sagen: ‚Wenn du etwas machen willst, lass uns herausfinden, wie wir es erfolgreich umsetzen können‘“ (Haegele 2018, 8, Übersetzung des Autors aus dem Engl.).

Die Verlagerung der Sportausübung von schulischer Seite in den außerschulischen Bereich stellt eine große Herausforderung für viele Schüler und Schülerinnen mit einer Sehbeeinträchtigung dar. Die Schule kann einen Beitrag dazu leisten, durch entsprechende Kooperationen auch lokale Angebote zu erschließen, die für die Betroffenen infrage kommen.

Aufgrund ihrer Sehbeeinträchtigung sind viele Schüler und Schülerinnen in ihrer Mobilität eingeschränkt, was die Wahrnehmung von Freizeitangeboten ohne fremde Unterstützung (z. B. durch persönliche Assistenz) erschwert. Die frühe Unterstützung durch Eltern und andere Bezugspersonen ist somit von großer Bedeutung, damit die Teilhabe an Sport- und Bewegungsaktivitäten auch nach der Schulzeit gelingen kann. Es erfordert zudem eine kontinuierliche Rücksprache mit den Sporttreibenden, da ihre Perspektive wichtig ist, um beurteilen zu können, ob die angestrebte Teilhabe tatsächlich erreicht worden ist (Schoo/Mihajlovic 2022).

Somit ist eine verstärkte Berücksichtigung der Sichtweisen von Menschen mit Sehbeeinträchtigungen und anderen Behinderungsformen in der Unterrichtspraxis wichtig, um relevante Fragen im Umgang mit dem Personenkreis zu identifizieren. Eine Sensibilisierung für die individuellen Bedürfnisse der Schüler und Schülerinnen ist besonders für Lehrkräfte hinsichtlich der diversitätssensiblen Gestaltung ihres Unterrichts von Bedeutung (Holland/Haegele 2021; Ruin et al. 2023). Zudem bietet die verstärkte Berücksichtigung der Sichtweise der Lernenden die Chance, die von Lehrkräften häufig implizit transportierten Normalitätsanforderungen, z. B. in Bezug auf die Leistungsbewertung, zu hinterfragen (Ruin/Meier 2018). Somit könnten Sportlehrkräfte dazu ermuntert werden, unhinterfragte Fähigkeitsimperative zu reflektieren und bei der eigenen Unterrichtsplanung konstruktiv zu beachten, um Exklusion zu verhindern (Giese/Buchner 2019).

2.3Organisatorische Aspekte und grundlegende Prinzipien

Die aktuellen Empfehlungen zum Tragen einer Sport (Schutz-)Brille (Katlun et al. 2017) und die Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft Bewegung und Sport des Verbands für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik (VBS) für den inklusiven Sport (-unterricht) mit Schülern und Schülerinnen mit Blindheit oder Sehbehinderung (Giese et al. 2017) bieten wichtige Orientierungshilfen bei der Planung des Unterrichts. Im Vorfeld ist darauf zu achten, dass einige grundsätzliche Vereinbarungen innerhalb der Sportfachschaft geklärt sind. Dazu gehört die einheitliche Bezeichnung für unterschiedliche Seitenwände und Eingänge in der Sporthalle, damit die Kinder auch nach einem Wechsel der Lehrkraft einen sprachlich verlässlichen Orientierungsrahmen haben (Giese et al. 2017). Zudem sollte grundsätzlich geklärt werden, ob Sportschutzbrillen von allen Schülerinnen und Schülern getragen werden sollten.

Durch die Beachtung von grundlegenden Prinzipien können Lehrkräfte einen positiven Einfluss auf das Sehvermögen von Kindern nehmen und damit auch ihre Teilhabemöglichkeiten im Sportunterricht erhöhen. Folgende organisatorische Aspekte und grundlegende Prinzipien (Lang 2011; Giese et al. 2017; Henriksen/Laemers 2016) sollten in Absprache mit den Schülerinnen und Schülern berücksichtigt werden:

■Erschließung des Raumes: Die Lerngruppe sollte die Sporthalle bzw. das Sportfeld zunächst systematisch erschließen, um Barrieren und Ängste beim Bewegen im Raum abzubauen (besonders bei einem neuen Geräteaufbau). Dazu gehören das gemeinsame Abtasten und Abgehen des Raumes (z. B. Wände abtasten, Halle durchqueren).

■Beleuchtung: Im Idealfall sollte mit den Schülerinnen und Schülern individuell abgeklärt werden, was sie sehen und wie viel Licht in der Sporthalle nötig ist. Eine ausreichende und gleichmäßige Beleuchtung gehört zu den wesentlichen Aspekten zur Verbesserung des Sehvermögens (Henriksen/Laemers 2016).

■Direktes Führen: Je nach Sehbeeinträchtigung sind Formen des direkten Führens (durch einen sehenden Partner bzw. eine sehende Partnerin) hilfreich. Das direkte Führen kann zum Beispiel durch Handfassung, einen Staffelstab oder ein kurzes Seil erfolgen.

■Vergrößerung: Bei Bild- und Textmaterial (z. B. Stationskarten, Piktogrammen, Anweisungen zum Geräteaufbau) ist darauf zu achten, dass dieses von den Schülern und Schülerinnen erkannt und ggf. erlesen werden kann. Die entsprechenden Materialien sollten in vergrößerter Form (mind. DIN A3) und in einer vergrößerten Schrift vorliegen (Henriksen/Laemers 2016). Zudem sollten die Materialien mobil sein, d. h. eine Annäherung ans Auge sollte bei Bedarf ermöglicht werden.

■Gemeinsamer Geräteaufbau: Wenn möglich (abhängig vom Grad der Sehbehinderung und der motorischen Mobilität) sollte der Geräteaufbau sowie die anschließende Besprechung bzw. Erkundung der Geräte gemeinsam erfolgen. In manchen Fällen kann es wichtig sein, auf die Platzierung und Anordnung von Materialien zu achten (z. B. wenn bestimmte Teile des Ge-sichtsfeldes nicht vorhanden sind).

■Kontrastreiches Lernumfeld: Bei der Verwendung von Materialien (z. B. Bälle) sollte in Absprache mit dem Schüler bzw. der Schülerin auf einen möglichst hohen Kontrast zum Hallenboden geachtet werden. Die Berücksichtigung des Prinzips der Kontrastierung erleichtert die Orientierungsfähigkeit und die selbstständige Bewegung im Raum (Henriksen/Laemers 2016).

Bedeutung des Augenschutzes und Sicherheitsaspekte: Eine besondere Bedeutung im Sport mit Menschen mit Sehbeeinträchtigungen hat der Augenschutz bzw. der Erhalt der Sehfähigkeit und die Sporttauglichkeit in den einzelnen Disziplinen (Schnell/Bolsinger 2010). Bei jedem Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung muss individuell entschieden werden, welche Sportarten bzw. Belastungsarten geeignet sind. Dabei sollte stets das ärztliche Augengutachten berücksichtigt werden und ggf. Rücksprache mit dem Augenarzt bzw. der Augenärztin gehalten werden. Abhängig von den jeweiligen Augenerkrankungen der Schülerinnen und Schüler, ist das Tragen einer Sport-(Schutz-)Brille erforderlich (Katlun et al. 2017). Nur bei sehr wenigen Augenerkrankungen sollte gar kein Sport gemacht werden (z. B. bei Entzündungen der Augen). Es gibt zudem Augenerkrankungen (z. B. diabetisch bedingte Augenerkrankungen), bei denen keine anaeroben Belastungen (z. B. Kraft- oder Sprinttraining) durchgeführt werden sollten. Auch Sportarten, bei denen Erschütterungen vorkommen (z. B. Judo, Ballsportarten), können je nach Art der Erkrankung ein Risiko darstellen. Bei erhöhter Kurzsichtigkeit (Myopie), Linsenlosigkeit und Netzhautschäden sollten Erschütterungen sogar ganz vermieden werden. Die Empfehlungen von Schnell und Bolsinger (2010) bzw. die überarbeitete Version in kompakter Form von Katlun et al. (2017) können als Orientierungshilfe bei der Auswahl geeigneter Bewegungsaktivitäten dienen, sollten allerdings im Einzelfall differenziert und ggf. angepasst werden. Grundsätzlich sollte allen Schülern und Schülerinnen ein breites Sportangebot ermöglicht werden.

In Bezug auf die Planung des Sportunterrichts sind zudem verschiedene Sicherheitsaspekte (Lang 2011, Giese et al. 2017