Sprache: Wege zum Verstehen - Kirsten Adamzik - E-Book

Sprache: Wege zum Verstehen E-Book

Kirsten Adamzik

3,9

Beschreibung

Diese allgemein verständliche Einführung in das Phänomen Sprache und die Wissenschaft davon setzt bei alltäglichen Erfahrungen an und führt von da zu zentralen Konzepten der Sprachwissenschaft. Eine Reihe von literarischen und journalistischen Texten über Sprache illustriert die Ausführungen und macht den Band zu einem kleinen Sprach-Lesebuch. Für Studierende ist der Darstellung ein Glossar zum Nachschlagen von Fachbegriffen, ein kommentiertes Literaturverzeichnis und eine systematische Inhaltsübersicht beigegeben. Die 3., überarbeitete Auflage bezieht Veränderungen im Sprachgebrauch und seiner Beschreibung in Wörterbüchern aus den letzten zehn Jahren und Recherchemöglichkeiten zu sprachlichen Fragen im Internetzeitalter ein.

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UTB2172
Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage
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Kirsten Adamzik Jahrgang 1955, Studium der Germanistik, Allgemeinen Sprachwissenschaft und Pädagogik in Münster. Promotion 1982. Seit 1983 Dozentin am Département de langue et de littérature allemandes der Universität Genf.
Für D. G. E.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
3., überarbeitete Auflage 2010 2., überarbeitete Auflage 2004 1. Auflage 2001
© 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG
Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen
ISBN 9783846321720
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Internet: http://www.francke.deE-Mail: [email protected]
Titelbild: René Magritte, L’usage de la parole. © VG Bild-Kunst, Bonn 2009. Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: Informationsdesign D. Fratzke, Kirchentellinsfurt
ISBN 978-3-8252-2172-0 (UTB-Bestellnummer)
Hinweis zu Zitierfähigkeit
Diese EPUB-Ausgabe ist zitierfähig. Um dies zu erreichen, ist jeweils der Beginn und das Ende jeder Seite gekennzeichnet. Bei Wörtern, die von einer zur nächsten Seite getrennt wurden, kann diese Seitenzahl mitten in einem Wort stehen. Dies sieht etwas ungewohnt aus, sichert aber die Zitierfähigkeit dieses E-Books.
Inhaltsverzeichnis
TitelImpressumHinweis zu Zitierfähigkeit1 Sprache und Sprachen – Ursprungsmythen2 Wie viele Sprachen gibt es?3 Sprache als System4 Zeichen: Von Sinneswahrnehmungen zu Interpretationen5 Was braucht man, um eine sprachliche Äußerung zu verstehen?6 Wozu man Sprache braucht – Sprachfunktionen7 Eine Landkarte der Sprachwissenschaft – die Linguistik und ihre Teildisziplinen8 Sprachzeichen als psychische Größen9 Sprachzeichen und die außersprachliche Welt10 Bedeutungsbeschreibungen im Wörterbuch11 Wortbedeutungen im Bewusstsein der Sprecher12 Sprache als Mittel des Denkens: Die Kategorisierung der Welt13 Bedeutungsverwandte Ausdrücke: Wortfelder14 Die so genannten Synonyme I: Denotation und Konnotation15 Die so genannten Synonyme II: Gebrauchsbedingungen16 Kontinua und Grauzonen17 Die grammatische Seite von Wörtern: Wortarten18 Die Bedeutung wortgrammatischer Kategorien19 Wortformen in verschiedenen Sprachtypen20 Alte und neue Blicke auf die Sprache21 Wie man eine fremde Sprache analysieren kann22 Typen elementarer Sprachzeichen23 Warum man die Wörter einer Sprache nicht zählen kann24 Wie kreiert man neue Wörter für unbenannte Dinge?25 Die Überlebenschancen von Wortkreationen26 Wortbildung zwischen Lexikon und Grammatik27 Die Struktur komplexer Wörter28 Deutsche Komposita – Wortungetüme?29 Der Satz als Drama30 Semantische Rollen31 Verdichtung von Aussagen durch komplexe Satzglieder: Attribute32 Einfache(re) Satzglieder33 Der Satz als grammatische Struktur34 Verbindung von Aussagen: Der komplexe Langue-Satz35 Parole-Sätze36 Syntax der Übersichtlichkeit37 Bäumchen, wechsle dich: Die Verbstellung im deutschen Satz38 Wie man mit Worten die Welt verändern kann39 Sprechakte40 Wie erschließt man die kommunikative Intention des Sprechers? Illokutionsindikatoren41 Gemeintes und Mitgemeintes42 Eine kommunikative Ethik?43 Sprachgebrauch – Wie Texte entstehen44 Der Text als Ausschnitt aus einem Diskurs45 Texte und Nicht-Texte?46 Der Text als Folge von Teiltexten47 Der Text als mehrdimensionale Größe48 Textum – das Gewebe49 Rückblick: Sprache – eine angeborene Fähigkeit oder ein kulturelles Erbe?AnmerkungenAnhangQuellenverzeichnisLiteraturhinweiseGlossar und RegisterSystematische Inhaltsübersicht
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Vorwort zur 3. Auflage
Seit der ersten Auflage von 2001 hat sich die Art, wie wir Sprache verwenden, dramatisch verändert. Im Jahr 2001 wurde das Projekt Wikipedia gestartet, das heute in 270 Sprachen existiert, an fünfter Stelle der meistbesuchten Internetseiten liegt und ohne Werbung auskommt.
Nun spielt die technische und kommerzielle Seite der Kommunikation in diesem Buch keine besondere Rolle, und die globale Vernetzung im ›Informationszeitalter‹ – am Beispiel des Mauerfalls in den Kapiteln 43 und 44 behandelt – konnte ihre soziale Sprengkraft auch schon vor der Banalisierung des Internets entfalten.
Wenn die ins Ungeahnte gestiegenen Möglichkeiten der Datenspeicherung, -übermittlung und -aufbereitung für die Neuauflage dennoch von Bedeutung waren, so liegt das daran, dass sie die Arbeit von Sprachwissenschaftlern entscheidend verändert haben und es heute auch für den ›normalen Sprachteilhaber‹ nützliche Ressourcen gibt, die vor zehn Jahren nicht zur Verfügung standen. Da ein Ziel dieses Buches darin besteht, Informationsquellen über die (deutsche) Sprache vorzustellen und an Beispielen möglichst konkret vor Augen zu führen, konnten die Neuerungen insbesondere bei den Wörterbucheinträgen nicht übergangen werden.
Auch an anderen Stellen wurden Aktualisierungen und Ergänzungen vorgenommen. Neu bearbeitet sind insbesondere die Literaturhinweise.
Fragen und Hinweise sind willkommen unter [email protected]
Genf, im Januar 2010
Kirsten Adamzik
Vorwort zur zweiten Auflage
Für die 2. Auflage wurden Irrtümer berichtigt und die Literaturhinweise aktualisiert. Ferner habe ich einige kleinere inhaltliche Ergänzungen und Veränderungen vorgenommen, insbesondere im Teil zur Wortbildung. Diese gehen auf Anregungen von Elke Donalies zurück, der ich ganz herzlich dafür danke. Hinzugekommen ist eine detaillierte Inhaltsübersicht am Ende des Bandes, die auch einen besseren Überblick über den Grobaufbau erlaubt. Auf die Einschaltung von Übungen (mit Lösungen) wurde weiterhin verzichtet.
Genf, im September 2003
Kirsten Adamzik
|VII◄ ►VIII|
Vorwort
Es gehört zu den Aufgaben eines Vorworts, deutlich zu machen, an wen sich das Buch wendet. In Vorwörtern zu Fachbüchern erfährt man dann zu seinem Erstaunen oft, dass der Autor eigentlich an alle gedacht hat: interessierte Laien, Schüler, Lehrer, Studenten, Kollegen aus der eigenen und aus anderen Disziplinen. Dasselbe gilt natürlich auch für dieses Buch: Es wendet sich an alle, die sich für Sprache interessieren – und wer täte das nicht (wenn er es denn schon aufschlägt)?
Aber selbstverständlich hat die Autorin doch an eine spezielle Gruppe gedacht, genauer gesagt: an zwei. Gemeint sind zunächst jene, die ein ursprüngliches Interesse an Sprache haben, an Sprache überhaupt, an ihrer eigenen und an fremden Sprachen, Menschen, die aufmerken, wenn sie hören und lesen, und sich die Frage stellen, warum es wohl so und nicht anders heißt, kurz: Personen, die keine gelehrte Kenntnis erwerben wollen (vgl. S. 46). Die zweite Gruppe stellen jene dar, die sich für Sprache interessieren sollen, von denen man erwartet, dass sie (zumindest ansatzweise) eine professionelle Neugier entwickeln, die nämlich eine Sprache studieren. Dies tun sie oft aus dem Wunsch heraus, sich mit der Literatur in dieser Sprache zu beschäftigen, und viele sind nicht wenig erstaunt, dass zu einem solchen Studium auch ein sprachwissenschaftlicher Teil gehört, besonders dann, wenn sie eine Sprache studieren, die sie schon beherrschen. Nun ist es leider so, dass die Studierenden oft den Eindruck haben, das, was sie in der Linguistik lernen sollen, habe wenig zu tun mit ihrem – ja zweifellos auch vorhandenen – ursprünglichen Interesse an Sprache. Das unerwartete Teilgebiet bleibt bei vielen ein ungeliebtes.
Die Schwierigkeit dieses Buches bestand nun darin, den Erwartungen beider Teilgruppen gerecht zu werden: Es sollte nicht zu gelehrt, zu wissenschaftlich sein, aber doch einen systematischen Einblick in die Linguistik geben, wie er in Einführungsveranstaltungen vermittelt wird. Diese unterschiedlichen Anforderungen können nicht wirklich in Einklang gebracht werden. Was für die einen vielleicht schon zu viel ist, ist für die anderen noch zu wenig. Daher kann ich nur Empfehlungen geben, wie man je nach Interessenlage mit diesem Buch umgehen kann.
Eigentlich ist es als eines gedacht, das man von vorn nach hinten lesen soll, es ist kein Arbeitsbuch. Die Randspalte gibt eine grobe Orientierung über das jeweils Behandelte, sie kann aber auch als Wegweiser benutzt werden: Stößt man auf Abschnitte, in denen es zu speziell zu werden scheint, kann man diese überspringen; sucht man gezielt nach Themen oder Begriffen, lassen sie sich leicht auf- oder wiederfinden. Ein solch gezielter Zugriff ist auch über das Glossar/Register möglich.
Speziell für das Laieninteresse sind die Textbeispiele gedacht, die man auch unabhängig vom Rest lesen kann. Manche dienen als Analyse- oder Illustrationsmaterial; im Vordergrund stand jedoch die Idee, Texte zu versammeln, in denen linguistisch nicht speziell Geschulte sich über Sprache äußern.
Die Literaturhinweise schließlich verzeichnen einerseits Werke zum Thema Sprache für ein breites Publikum und andererseits weiterführende Literatur als Hilfestellung für jene, die auch zum gelehrten Schrifttum vordringen wollen oder müssen.
|VIII◄ ►IX|
Dieses Buch hat eine lange Geschichte. Sie beginnt natürlich mit dem kindlichen Staunen über Sprache und darüber, was man sagen und was man nicht sagen kann – ein fortgesetztes Staunen, das unweigerlich zum Studium des Phänomens führte. Dort machte Helmut Gipper mich 1973 mit der Sprachwissenschaft bekannt. Er pflegte zu sagen, dass für einen Professor nichts so schwer sei wie eine Einführung, beherrschte jedoch virtuos die Kunst, in seinen Vorlesungen alltägliches und wissenschaftliches Fragen zusammenzubringen. Dafür sei ihm an dieser Stelle ein später Dank gesagt. Ich habe oft an ihn gedacht.
Wie schwierig es nämlich wirklich ist, das Interesse für Linguistik zu wecken, habe ich in den vielen Einführungsveranstaltungen, an denen ich seit 1983 in Genf mitgearbeitet habe, immer wieder erlebt. In unendlichen Diskussionen über uns nie ganz befriedigende Lehrbücher und über fast jährlich revidierte eigene Arbeitspapiere wurde uns mitunter schmerzlich bewusst, dass es keine wirklich gute Lösung gibt. Mein Dank geht an alle Genfer und auswärtigen Kollegen, die, jeder auf seine Weise, dazu beigetragen haben, dass ich schließlich doch den Mut zu diesem Buch gefunden habe. Ganz besonders danken möchte ich Gottfried Kolde, ohne den es nicht entstanden wäre. Dennoch ist dieses Buch kein Gemeinschaftswerk geworden, eben weil es nicht als Arbeitsmaterial gedacht ist, wie man es für den universitären Unterricht braucht.
Sehr herzlich bedanken möchte ich mich auch beim Verlag für die Aufnahme des Buches in diese Reihe und speziell bei Herrn Stephan Dietrich für die sorgfältige Betreuung des Manuskripts.
Genf, im Oktober 2000
Kirsten Adamzik
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1 Sprache und Sprachen – Ursprungsmythen
Die Sprache im Paradies
Sprache ist ein allen Menschen vertrautes Phänomen. Dennoch soll diese Erkundungsfahrt durch die Welt der Sprache bei ›Adam und Eva‹ beginnen – genauer gesagt: bei Adam. In der Bibel ist nämlich von der menschlichen Sprache dort zum erstenmal die Rede, wo Adam noch allein auf der Welt ist. Es handelt sich um die zweite Version des Schöpfungsberichts, in der Adam vor den Tieren geschaffen und Eva danach aus seiner Rippe gemacht wird:
Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. […]
Und Gott der Herr sprach: »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei.« Und Gott der Herr machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen. Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen; aber für den Menschen ward keine Gehilfin gefunden, die um ihn wäre. Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen […]. (1. Mose 2, 4 und 18 – 21)
Adam schafft seine Sprache selbst
An diesem biblischen Mythos sind für uns zwei Dinge interessant:
Offenbar ist der Mensch von allem Anfang an mit Sprache ausgestattet, er kommt als sprachbegabtes Wesen in die Welt. Es ist ja nicht davon die Rede, dass Gott dem Menschen eigens die Sprache gibt. Er hat sie von vornherein, der »Odem des Lebens« impliziert Sprachfähigkeit. Noch viel bemerkenswerter ist Folgendes: Nach diesem Bericht erfindet sich Adam seine Sprache selbst, er schafft die Namen für die Tiere.
Die ›Ursprache‹
Man hat sich in früheren Jahrhunderten vielfach den Kopf darüber zerbrochen, mit welcher Sprache Adam eigentlich ausgestattet war, welches die ›Ursprache‹ ist, ob der erste Mensch Hebräisch, Aramäisch, Phönizisch oder was sonst für eine Sprache mit auf den Weg bekam. |►2|Im 16. Jahrhundert wurde gar die Auffassung vertreten, Adam habe Deutsch gesprochen.1
Bei all diesen Spekulationen ging man anscheinend von der Vorstellung aus, dass Gott dem ersten Menschen gleich ein großes Wörterbuch samt Grammatik in die Hand gedrückt – bzw. realistischer: ihm entsprechende Kenntnisse in den Kopf gelegt hat. Der Schöpfungsbericht stellt jedoch etwas anderes dar: Gott hat Adam die Sprache nicht in Form einer bestimmten Sprache mitgegeben, sondern als Sprache schlechthin. Er hat ihm die Fähigkeit gegeben, selbst sprachliche Ausdrücke zu erfinden.
Mit dieser Fähigkeit ausgestattet schuf Adam gewissermaßen die Welt noch einmal neu für sich nach, indem er die verschiedenen Dinge benannte, sie sprachlich in Besitz nahm. Damit war zugleich die notwendige Grundlage gegeben, dass er die Erde in Besitz nehmen, sie sich untertan machen konnte.
Der Turmbau zu Babel
Bekannter ist ein anderer biblischer Mythos von der Sprache, die Geschichte vom Turmbau zu Babel, wo die Menschen – längst aus dem Paradies vertrieben und zahlreich gemehrt, aber mit einer einzigen, allen gemeinsamen Sprache ausgestattet – in Hybris verfallen und einen Turm bauen wollen, »dessen Spitze bis an den Himmel reicht«, um ihre Macht und Stärke zu bezeugen. Angesichts dieser Vermessenheit beschließt Gott:
Ich will herabfahren und ihre Sprache verwirren, dass keiner mehr den andern versteht. Und Gott stieg herab und verwirrte ihre Sprache und zerstreute die Menschen von dort über die ganze Erde, dass sie aufhören mussten ihre Stadt zu bauen. (1. Mose 11, 7 – 8)
Der Schöpfungsbericht, der die Sprache als etwas darstellt, was vom Menschen nicht wegzudenken ist, entspricht einer Auffassung, die wir auch heute noch teilen. Die Geschichte von der babylonischen Sprachverwirrung passt dagegen weder zu dieser Vorstellung von Adams ›angeborener‹ Sprachfähigkeit noch zu unseren heutigen Erkenntnissen über die menschliche Sprache. Was wir über Sprache, Sprachen und Menschen mit verschiedenen Sprachen wissen, lässt sich mit diesem Bericht kaum vereinbaren. Zur Ehrenrettung der mosaischen Schriften sei hinzugefügt, dass dort auch die uns selbstverständliche Annahme begegnet, mit der Erfüllung des göttlichen Auftrags Seid fruchtbar und mehret euch sei Sprachenvielfalt verbunden. Unmittelbar vor der Geschichte vom Turmbau zu Babel wird nämlich von Noahs drei Söhnen und ihren Nachkommen berichtet und am Ende heißt es jeweils: Das sind die Söhne Japheths [bzw. Hams, Sems] nach ihren Geschlechtern, Sprachen, Ländern und Völkern.
Sprachenvielfalt
Führen wir uns diese ›natürliche Sprachenvielfalt‹ etwas genauer vor Augen und legen wir zunächst die biblische Darstellung zugrunde. |2◄ ►3|Gott zerstreute also die Menschen über die ganze Erde, indem er ihre Sprache verwirrte, also die Sprachverschiedenheit und Sprachenvielfalt einführte. Sprachenvielfalt ist nun etwas, was seit den frühesten historischen Zeugnissen der Menschheitsgeschichte das Übliche ist. Was aber haben die Menschen in diesem Sprachenwirrwarr gemacht? Keine Türme mehr gebaut, die bis an den Himmel reichen? Die Skyline von New York lässt uns daran zweifeln. Haben zumindest die in verschiedene Erdteile zerstreuten Menschen aufgehört, miteinander zu sprechen? Keineswegs, sie haben zum Beispiel die Telekommunikation erfunden und können sich heute auch miteinander unterhalten, wenn sie sich an ganz verschiedenen Orten dieser Welt befinden. Für solche Projekte, die u.a. die Erfindung, Installierung und den Gebrauch von Satelliten voraussetzen, bedarf es internationaler Kooperation. Das heißt aber nichts anderes, als dass die Menschen all dies unter den Bedingungen realer Sprachenvielfalt zustande gebracht haben. Das Mindeste, was man angesichts dessen sagen muss: Die babylonische Sprachverwirrung war offenbar kein sehr effizientes Mittel, den Menschen ihren Übermut auszutreiben!
Führen wir uns einmal vor Augen, was tatsächlich geschieht, wenn Menschen sich in einer Situation des Sprachenwirrwarrs befinden und keiner den anderen versteht. In dieser Situation gibt es mehrere Möglichkeiten. Entweder die Sprecher verschiedener Sprachen bringen sich gegenseitig ihre Sprachen bei und lernen also mehrere. Oder – die menschliche Gesellschaft zeichnet sich ja durch Arbeitsteilung aus – sie beauftragen einige ihrer Mitglieder damit, andere Sprachen zu lernen und lassen sich alles übersetzen. Wenn sie für beides keine Zeit oder kein Geld haben, können sie schlimmstenfalls auch noch etwas anderes tun: Wenn es nämlich keine gemeinsame Sprache gibt, dann kann man sich zur Not eine erfinden.
Pidgins und Kreolsprachen
Tatsächlich haben wir historische Beispiele für Verhältnisse, die denen von Babel zum Verwechseln ähnlich sind, Situationen nämlich, in denen Sprecher unterschiedlichster Sprachgemeinschaften zusammentreffen und miteinander kommunizieren wollen oder müssen. Dies gilt z.B. für die Kolonialländer. Gewiss: Oft haben die Mächtigen einfach ihre Sprache durchgesetzt und die Urbevölkerung ausgerottet oder zum Erlernen der eigenen Sprache gezwungen. In anderen Fällen aber ist tatsächlich eine neue Sprache, eine Mischsprache entstanden, zu der sehr viele Einzelsprachen und Dialekte beigetragen haben. Solche Sprachen nennt man Pidgins. Dieser Ausdruck geht wahrscheinlich auf eine chinesisch gefärbte Aussprache des englischen Wortes business zurück, und business war in der Tat die Grundlage für diese Sprachmischungen. Sie entstanden in den Handels- und Verwaltungszentren der Kolonisatoren, in denen eine Vielzahl von Einheimischen aus der näheren und weiteren Umgebung zusammenkamen, die weder untereinander|3◄ ►4|über ein gemeinsames Kommunikationsmittel verfügten noch die Sprache der Kolonisatoren beherrschten, aber gezwungen waren, sich mit diesen und untereinander wenigstens rudimentär zu verständigen. Und offenbar ermöglichte ihre angeborene Sprachfähigkeit es ihnen, die Lücke zu füllen und eine Mischsprache auszubilden. Sie weist zwar einen stark reduzierten Wortschatz und vereinfachte lautliche und grammatische Strukturen auf, reicht aber aus, um die für das business notwendige Verständigung zu gewährleisten. Im weiteren Verlauf, nämlich dann, wenn spätere Generationen Pidgins als gängige (erste) Sprache hören, können dann diese rudimentären Systeme sogar zu voll funktionsfähigen, nicht auf bestimmte Kommunikationsbereiche beschränkten und formal nicht mehr defizienten Sprachen ausgebaut werden. Kinder von Pidginsprechern können nämlich – wiederum auf Grund ihrer angeborenen Sprachfähigkeit – eine neue Sprache kreieren. In diesem Fall spricht man von Kreolsprache.
Die Existenz von Pidgin- und Kreolsprachen macht die Geschichte von Babel so unwahrscheinlich. Solche Sprachen entstehen nämlich gerade unter der Bedingung, dass man ein gemeinsames Projekt hat und deswegen eine gemeinsame Sprache braucht. Und ein solches Projekt hatte man ja in Babel. Der Mythos stellt so gesehen die Dinge gewissermaßen auf den Kopf: Weil die Menschen verschiedene Sprachen hatten, wurden sie in alle Welt verstreut … Im Allgemeinen ist aber die geografische Distanz nicht eine Folge, sondern im Gegenteil eine ursächliche Bedingung für Sprachverschiedenheit. Wenn man einander nicht (mehr) trifft und keine Kommunikationsabsichten hat, besteht nicht der geringste Grund, eine gemeinsame Sprache zu erhalten oder zu entwickeln. Wenn man aber miteinander reden will oder muss, dann wird man dafür auch ein Mittel finden oder eben schaffen.
In den vorangegangenen Ausführungen wurde sehr oft das Wort Sprache benutzt, damit aber zum Teil Verschiedenes gemeint. Einerseits war von der spezifisch menschlichen Fähigkeit zur Spracherlernung und -entwicklung die Rede (Adam), dann von den verschiedenen Einzelsprachen, die die Geschichte von Babel illustriert. Schließlich war auch von Kommunikation die Rede, die aus dem Bedürfnis und der Notwendigkeit entsteht, einander etwas mitzuteilen. Denn es ist ja nicht so interessant, dass der Mensch eine oder mehrere Sprachen ›besitzt‹, sie sprechen kann, sondern dass er auch tatsächlich spricht. Wenn er dies tut, kommt wieder Sprache heraus, diesmal im Sinne von Gesprächen und Texten.
Ferdinand de Saussure langage, langue, parole
Für die Unterscheidungen, um die es hier geht, hat der Genfer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857 – 1913) terminologische Unterscheidungen getroffen, die allgemeinen Eingang in die Sprachwissenschaft gefunden haben. Dabei griff er auf die französische Sprache zurück, die selbst schon mehrere Ausdrücke für ›Sprache‹ hat. |4◄ ►5|Um die menschliche Sprachfähigkeit zu bezeichnen, hat er den Ausdruck langage gewählt, die verschiedenen Einzelsprachen heißen langues. Die Verwendung solcher Einzelsprachen schließlich, den konkreten Gebrauch einer langue in Äußerungen, bezeichnet er als parole. Wir sprechen im Weiteren von Äußerungen als Parole-Akten.
Einzelsprachen
Die langage ist allen Menschen gemeinsam. Nur lässt sie sich als solche gar nicht konkret verwenden. Wer immer seine Sprachfähigkeit praktisch einsetzen will, muss dabei auf eine bestimmte Einzelsprache (langue) zurückgreifen. Einzelsprachen sind z.B. Deutsch, Französisch, Afrikaans, Bhili, Chinesisch, Duru, Kurdisch, Lateinisch, Maledivisch, Nanai, Persisch, Quechua, Rätoromanisch, Suyá, Thai, Usbekisch, Yupik, Zulu und so weiter und so fort. Eine naheliegende Frage ist nun, wie weit dieses »und so weiter und so fort« geht: Wie viele Sprachen gibt es in der Welt?
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2 Wie viele Sprachen gibt es?
Unerforschte und vom Aussterben bedrohte Sprachen
Erstaunlicherweise gibt es auf diese Frage keine eindeutige Antwort: Während man früher oft mit Angaben um 3.000 – 4.000 operierte, kann man in neueren Bestandsaufnahmen Zahlen zwischen 6.000 und 15.000 finden. Wie kommt es zu diesen unterschiedlichen Zahlen? Es lassen sich dafür mindestens zwei Gründe anführen:
1. Von den vielen Sprachen dieser Welt (es handelt sich auf jeden Fall um mehrere Tausend) sind längst nicht alle gleich gut beschrieben, und es sind auch nicht alle Regionen dieser Welt gleich gut auf die in ihnen benutzten Sprachen hin erforscht. Manche Regionen bilden daher einfach noch relativ weiße Flecken auf der Landkarte, und es ist nicht (genau) bekannt, wie viele und welche Sprachen es dort gibt.
Dass es noch weiße Flecken auf der Landkarte gibt, wäre übrigens nicht weiter schlimm, wenn die Sprachwissenschaft noch alle Zeit der Welt hätte, sämtliche Sprachen nach und nach zu erforschen. In letzter Zeit wird man sich jedoch zunehmend bewusst, dass diese Möglichkeit vielleicht nicht gegeben ist – viele Sprachen sind vom Aussterben bedroht. Im 21. Jahrhundert wird wahrscheinlich mehr als die Hälfte der derzeit noch gesprochenen Sprachen verschwinden. Das hängt damit zusammen, dass nicht einmal ein Fünftel aller Sprachen von mindestens 100.000 Menschen benutzt wird; bei fast einem Drittel hat man |5◄ ►6|weniger als 1.000 Sprecher gezählt. – Es gibt in der Zwischenzeit zwar auch eine stärker werdende Gegenbewegung und diverse Gesellschaften zur Rettung bedrohter Sprachen.2 Dazu bedarf es allerdings eines ausgeprägten Bewahrungswillens der betroffenen Sprecher, der z.B. bei den Friesen und Sorben und überhaupt im europäischen Raum durchaus gegeben ist, kaum aber für die vielen (nicht verschrifteten) Kleinstsprachen in Afrika, Asien und Australien.
Grenzen zwischen Einzelsprachen
2. Der zweite Grund ist fundamentalerer Natur und lässt sich (im Gegensatz zum ersten) nicht einmal prinzipiell aus der Welt schaffen – er führt uns direkt auf grundlegende Probleme der Sprachwissenschaft. Diese lassen sich vorerst in folgender Feststellung fassen: Es ist gar nicht so einfach anzugeben, was genau eine Einzelsprache ist und wo ihre Grenzen zu anderen Einzelsprachen sind. – Warum ist dies so?
Wir hatten oben festgestellt, dass man langage nicht als solche anwenden kann, sondern immer eine Einzelsprache benutzen muss. Tatsächlich sind jedoch auch diese Einzelsprachen keine konkreten Objekte, die unmittelbar als solche gegeben wären und die man direkt beobachten könnte. Das einzige unmittelbar beobachtbare – sicht- bzw. hörbare – sprachliche Phänomen sind vielmehr die konkreten Einzelfälle des Sprachgebrauchs, die mündlichen oder schriftlichen Äußerungen, die Sprecher produzieren, also Parole-Akte.
Normalerweise nimmt man nun natürlich an, dass Parole-Akte produziert werden, indem Menschen auf ihre Kenntnis einer bestimmten Einzelsprache zurückgreifen. Mitunter stellt sich die Frage, um welche Einzelsprache es sich bei bestimmten Parole-Akten handelt. Unproblematisch scheint dies zu sein, wenn man die Sprache kennt, schwieriger dagegen, wenn man sie eben nicht kennt. Denn wer eine Äußerung produziert, sagt ja im Allgemeinen nicht dazu, welche Einzelsprache er gerade benutzt. Das Problem der Identifizierung von Einzelsprachen stellt sich jedoch in Wirklichkeit nicht nur für uns unbekannte Sprachen, sondern kann auch bei Sprachen auftreten, die uns weitgehend geläufig sind. Dies sei ausgehend von einem – authentischen – Parole-Akt demonstriert (Textbeispiel 1). Es handelt sich um den Ausschnitt eines Gesprächs zwischen Frau A und Frau B, das 1994 geführt wurde.
Sprachmischung Mischsprachen
Welche Sprache spricht Frau B? Sie selbst scheint zu meinen, es handle sich um Deutsch (Daitsch), und es ist ja auch mindestens eine Art Deutsch, jedenfalls ähnelt vieles dem Deutschen; anderes lässt dagegen eher an Englisch denken, das in dem Gespräch ja auch erwähnt wird. Möglich wären nun (mindestens) folgende Lösungen: |6◄ ►7|
Textbeispiel 1: was host-n gsaat, ’s kann-s net versteh, see
A:No erzählt mol, was ihr hait alles gschafft hett.B:No erscht hun ich me-n appointment gemacht bei-m doctor un sain ‘nuf un hun mei flue shot geholt, hait morjent, des war s erschte Ding. No, norde sein ich in store gange un hun gschopt, bisje esse, bisje candy for Hallowe’en. No sain ich haam komme un hun bisje Midach gesse, un nore hun ich platzkorn geplatzt. Un des war alles, so weit.A:Seid ihr wohl zu Fuß gange?B:Naa, ich hun die car gfahr, naa, ich fahr car, des’ ganz upstairs, nuf in town, des’ zu weit vor laawe, do mus ich fahre.A:Wie lang bleibt es jetz dou?B:Bis finewe, bissai mame kommt von hospital’s, die schafft in hospital’s, see, so do pickt sie ihn nore uf.A:So ich komm ivemorje zu aichB:Des wär de mitwoch, ja wann ever, des macht mir niks aus, vormidags sain ich imer dou. Do werscht du in town bei Midach oder sou. Well, ach nachmidach iz all right, kolsd mich erscht for sure mache. Mei grandchild kommt jo net haam bis drai Uhr, jetz kommt-s grad reigelowwe, dou is es jo, des’ mei grand ... wie saacht me des, mei Engelje, ha? ‘S kann net Daitsch, wenn ich als emol bisje Daitsch sag, no saad-r »Grand-mother, was host-n gsaat?« in English, know, she ask: was host-n gsaat, ‘s kann-s net versteh, see.
– Frau B spricht eine besondere Sprache. Diese ist aus einer Mischung einer speziellen, vielleicht älteren Variante des Deutschen mit dem Englischen hervorgegangen.
– Frau B benutzt zwei Einzelsprachen: Sie wechselt in ihrem Parole-Akt zwischen dem Gebrauch einer Variante des Deutschen (oder einer dem Deutschen eng verwandten Sprache) und dem Englischen ab.
Die beiden Lösungsmöglichkeiten (die richtige findet sich im Anhang) machen nun schon deutlich, warum es so schwierig ist, genau zu bestimmen, was eine Einzelsprache ist, und warum es dementsprechend auch nicht möglich ist, genaue Angaben über die Menge der existierenden Einzelsprachen zu machen.
Varietäten
Einzelsprachen treten in verschiedenen Unterarten auf. Man spricht hier von Varietäten (auch: Lekten, aus Dia-lekt). Die Frage ist: Was berechtigt uns, verschiedene Varietäten als solche einer Sprache zu behandeln? Gibt es z.B. die Sprache Rätoromanisch, d.h. ist es berechtigt, Sursilvan, Vallader usw. als eine Sprache zusammenzufassen? Wann liegen noch Varietäten einer Einzelsprache vor, ab wann muss oder kann man von mehreren eigenständigen Sprachen reden? Ist z.B. Amerikanisch eine eigene Sprache oder eine Varietät des Englischen?
Dialekte und Idiolekte
Die bekanntesten Varietäten sind regionaler Art und werden Dialekte oder Mundarten genannt. Es gibt aber auch andere Varietäten: |7◄ ►8|Zum Beispiel sprechen Männer und Frauen nicht ganz gleich, Akademiker und Bauern nicht, Schüler und Rentner nicht usw. Letzten Endes spricht überhaupt jeder Mensch ein bisschen anders als jeder andere. Diese individuelle Sprache bezeichnet man als Idiolekt. Aber sogar die Idiolekte sind nicht einheitlich, d.h. auch ein und dieselbe Person spricht nicht immer gleich: Zum Beispiel drückt sich der Anwalt während der Gerichtsverhandlung anders aus als am Stammtisch.
Sprachstadien
Einzelsprachen verändern sich im Laufe der Zeit, treten also in historischen Varietäten auf. Diese bezeichnet man meist als Sprachstadien. Die Frage ist auch hier: Handelt es sich bei verschiedenen Sprachstadien um verschiedene Sprachen? Ist z.B. das heutige Deutsch eine andere Sprache als das Deutsch, das vor tausend Jahren benutzt wurde, oder betrachten wir es noch immer als dieselbe Sprache?
Sprachverwandtschaft
Verschiedene Einzelsprachen sind miteinander mehr oder weniger eng verwandt und einander daher mehr oder weniger ähnlich. Im historischen Prozess kann eine Einzelsprache sich in verschiedene Varianten aufspalten (z.B. [Vulgär-]Latein in Italienisch, Französisch, Spanisch usw.). Verschiedene Einzelsprachen oder Varietäten können sich aber auch aufeinander zu bewegen, dergestalt, dass sich auf ihrer Grundlage eine neue Varietät oder eine neue Sprache ausbildet (z.B. gibt es so genannte Ausgleichsmundarten, die weiträumiger verständlich sind als lokale Dialekte, und Standardsprachen werden normalerweise auf der Grundlage mehrerer Dialekte entwickelt). Die Frage ist: Wann sprechen wir von einer einzigen Sprache, wann von zwei (oder mehr) sehr eng verwandten Sprachen? Als eine oder zwei Sprachen kann man z.B. Flämisch und Niederländisch oder Dänisch und Norwegisch (Bokmål) ansehen. Diese sind ungefähr so gleich oder verschieden wie die deutsche Standardsprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Handelt es sich hier um eine oder drei Sprachen?
Sprachfamilien
Miteinander verwandte Sprachen bilden eine Sprachfamilie wie z.B. das Indoeuropäische, zu dem wie die meisten europäischen Sprachen auch das Deutsche gehört. Eine Sprachfamilie ist als eine Art Großfamilie zu verstehen und umfasst oft mehrere Gruppen von Sprachen, die einander sehr unähnlich sein können.
Mehrsprachigkeit
Die meisten Individuen sind mehrsprachig, d.h. sie beherrschen mehrere Einzelsprachen, zumindest aber mehrere Varietäten einer Einzelsprache. Einzelsprachen und Varietäten von Einzelsprachen können in Parole-Akten auch abwechselnd gebraucht bzw. gemischt werden (man spricht hier auch von Code-Switching). Wann sollen wir von der Mischung zweier Sprachen, wann von einer (Misch-) Sprache sprechen?
Um nun auch eine Vorstellung davon zu geben, wie sich das Problem der Abgrenzung von Einzelsprachen konkret darstellt, Textbeispiel 2: eine Liste von Parole-Akten, die alle denselben Inhalt haben; es |8◄ ►9|handelt sich um den Beginn des Johannes-Evangeliums. Sie sind (fast ausschließlich und so gut es geht) in Schriftzeichen wiedergegeben, die im heutigen Deutsch verwendet werden. Wie viele Sprachen kann man dort unterscheiden? Welche gehören enger zusammen? (Die Auflösung findet sich im Anhang.)
Textbeispiel 2: Im Anfang war das Wort
1.Im Anfang war das Wort2.Au commencement était le Verbe3.I begynnelsen var Ordet4.Hadjime ni kotobaga atta5.Aum aunfaung is des wuat gwesn6.I begynnelsn fanns Ordet7.In anaginne uuas uuort8.Am Aafang isch ds Wort gsii9.Fil bid i kanat al kalima10.Nel principio era la parola11.In the beginning was the Word12.Al principio era el verbo13.De peschin de gotin bu14.In deme anbeginne was dat wort15.Hapo mwanzo kulikuwako neno16.Au début était la parole17.In die begin was die Woord18.Upotschetku bješe rijetsch19.En la komenco estis la Vorto20.Alussa oli sana21.Am aneuang was das wort22.Fil-bidu kienet il-Kelma23.Pada mulanya adalah Firman24.In dem beginne was daz wort25.Iesakuma bija Vards26.La îuceput era Cuvîntul27.Kezdetben vala az íge28.Da principi eira il pled29.Na poczatku bylo slowo30.I begyndelsen var Ordet31.In principio era il Verbo32.Im anfang war dz wort33.En archä än ho logos34.Am Aafang isch s Wort gsii35.In den beginne was het Woord36.I’ upphafi var Orðið37.In principio erat Verbum38.Em ofang isch s wort gseh39.Khamput naii ton roemton40.Ne fillim ishte Fjala
Unmittelbar gegeben ist nur parole
Fazit: Wenn wir von Einzelsprachen reden, als handele es sich dabei um relativ klar gegeneinander abgegrenzte Kommunikationsmittel, vereinfachen wir die Sachlage sehr stark. Unmittelbar gegeben ist nur parole. Und die Zuordnung von Parole-Akten zu Einzelsprachen ist nicht unproblematisch, da es tatsächlich zwischen verwandten Sprachen und Varietäten nur fließende Übergänge gibt. Auch historisch liegen keine Sprünge von einem Sprachstadium zum nächsten vor, sondern nur ein kontinuierlicher Wandlungsprozess. Und schließlich sind auch nicht miteinander verwandte Sprachen und Varietäten keineswegs strikt gegeneinander abgegrenzt, da sie miteinander in Kontakt treten und sich wechselseitig beeinflussen können.
Dennoch müssen wir natürlich gewisse Einteilungen vornehmen, schon um uns miteinander verständigen und das Forschungsfeld abstecken zu können. In den Abbildungen 1 – 3 daher einige Daten zu den wichtigsten Sprachfamilien und Sprachen und eine Übersicht über die indoeuropäische Sprachfamilie.
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Abb. 1: Sprachfamilien
Muttersprache (Mio. Menschen)Amtssprache (Mio. Menschen)Geschätzte Sprecherzahlen für die 20 bedeutendsten Sprachen der Welt1.Chinesisch (1000)1.Englisch (1400)(in Millionen): Die linke Spalte gibt an, wie viele Menschen die einzelnen Sprachen als Muttersprache (Erstspra che) sprechen. Liegen widersprüchliche Schätzungen vor, ist hier die höhere Zahl aufgeführt. In der rechten Spalte sind die geschätzten Bevölkerungs zahlen von Ländern zusammengefaßt, in denen die jeweilige Sprache offi ziellen Status hat. Die Abweichungen zwischen beiden Listen gehen darauf zurück, daß manche bedeutenden Sprachen (etwa Javanisch und Telugu) nicht Amtssprachen ganzer Länder sind, andere (wie Malaiisch und Ta galog) dagegen Amtssprachen mehr sprachiger Länder. Als Sprecherzahlen sind die Angaben in der zweiten Spalte meist zu hoch gegriffen, da keines wegs alle Menschen in den Ländern, in denen eine zweite Sprache offiziell anerkannt ist (z.B. Indien), diese auch fließend sprechen. Die Zahlen sind aber als Indikatoren für sprachliche Tenden zen von gewissem Interesse.2.Englisch (350)2.Chinesisch (1000)3.Spanisch (250)3.Hindi (700)4. Hindi (200)4.Spanisch (280)5.Arabisch (150)5.Russisch (270)6.Bengali (150)6.Französisch (220)7.Russisch (150)7.Arabisch (170)8.Portugiesisch (135)8.Portugiesisch (160)9.Japanisch (120)9.Malaiisch (160)10.Deutsch (100)10.Bengali (150)11.Französisch (70)11.Japanisch (120)12.Pandschabi (70)12.Deutsch (100)13.Javanisch (65)13.Urdu (85)14.Bihari (65)14.Italienisch (60)15.Italienisch (60)15.Koreanisch (60)16.Koreanisch (60)16.Vietnamesisch (60)17.Telugu (55)17.Persisch (55)18.Tamil (55)18.Tagalog (50)19.Marathi (50)19.Thai (50)20.Vietnamesisch (50)20.Türkisch (50)
Abb. 2: Die 20 bedeutendsten Sprachen
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Abb. 3: Die indoeuropäische Sprachfamilie
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3 Sprache als System
Sprachreflexion
Das Nachdenken über die menschliche Sprache ist – dies zeigen nicht zuletzt die biblischen Berichte – sicher ebenso alt wie die menschliche Sprache selbst. Zum Nachdenken und Sprechen über die Sprache kommt man auf ganz natürlichem Wege schon beim Lernen der Sprache – sei es der Mutter- oder einer Fremdsprache. Und gerade die praktischen Bedürfnisse des Sprachunterrichts haben auch schon früh vielfältige Bemühungen um die mehr oder weniger systematische Beschreibung von Einzelsprachen hervorgebracht.
Linguistik
In diesem Abschnitt soll es uns jedoch um die neuere Zeit gehen, jene Zeit, in der man von wissenschaftlicher Sprachbeschreibung im modernen Sinne spricht und sich die Disziplin der Linguistik, wie es heute meist heißt, etabliert. Welche der verschiedenen Bedeutungen von Sprache und welche Fragestellungen rückten dabei ins Blickfeld?
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Die Ausbildung der Wissenschaft von der Sprache fällt in das 19. Jahrhundert. Dabei richtete sich die Aufmerksamkeit auf die eben besprochenen
Die historischvergleichende Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts
Sprachverschiedenheiten und den Sprachwandel. In dieser Zeit herrschte nämlich eine Forschungsrichtung vor, die als historisch-vergleichende Sprachwissenschaft oder auch Indogermanistik bezeichnet wird. Was kennzeichnet diese sprachwissenschaftliche Schule? Ende des 18. Jahrhunderts hatte man erkannt, dass nicht nur die meisten europäischen Sprachen miteinander verwandt sind, sondern dass eine Verwandtschaft u.a. auch mit dem Sanskrit vorliegt. Dies ist die Sprache sakraler Schriften des Altindischen, die möglicherweise schon im 2. vorchristlichen Jahrtausend entstanden sind. Nach dieser faszinierenden Entdeckung, dass Sprachen, die sowohl geografisch als auch historisch weit voneinander entfernt sind und sich auf den ersten Blick auch keineswegs ähneln, doch miteinander verwandt sein können, setzte man sich zum Ziel, die Verwandtschaftsverhältnisse und die historische Entwicklung der indoeuropäischen Sprachen insgesamt zu erforschen – und dabei möglicherweise sogar die indogermanische Ursprache zu rekonstruieren. Einen besonderen Aufschwung erlebte diese Forschungsrichtung, als man glaubte nachweisen zu können, dass die Auseinanderentwicklung verschiedener Sprachgruppen und Dialekte durch regel-, ja gesetzmäßige Lautentwicklungen (Lautgesetze) zustandekommt. Um dies systematisch untersuchen zu können, wandte man sich auch den zeitgenössischen Dialekten zu. Im 19. Jahrhundert stehen also Sprachverwandtschaft, dialektale Sprachvariation und Sprachwandel im Zentrum des sprachwissenschaftlichen Interesses.
Saussures Neuansatz
Ferdinand de Saussure, der die Termini langage, langue und parole eingeführt hat, ist in der Schule der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft ausgebildet worden und war in Genf seit 1891 als professeur ordinaire de sanscrit et de langues indo-européennes tätig. Die große Bedeutung, die er für die Entwicklung der Linguistik hat, rührt jedoch gerade nicht aus der durchaus wichtigen Arbeit her, die er im Rahmen der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft geleistet hat. Vielmehr ist er dadurch zum Begründer der modernen Linguistik geworden, dass er dieser Forschungsrichtung einen Neuansatz gegenübergestellt hat. Die Überlegungen, die ihn dabei geleitet haben, könnte man grob folgendermaßen zusammenfassen:
Das wichtigste Merkmal der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft besteht darin, dass sie immer mehrere Sprachen und Varietäten zugleich untersucht und z.B. die Frage stellt, wie ein und derselbe Laut (d.h. eine [rekonstruierte] Ausgangsform) sich in verschiedenen Dialekten präsentiert und wozu er sich im Laufe der Zeit entwickelt. Nun ist es aber für einen Sprecher, der jemandem zu einem gegebenen Zeitpunkt irgendetwas mitteilen will, eigentlich gleichgültig, wie die Laute der Einzelsprache, die er benutzen möchte, früher einmal geklungen haben oder später einmal klingen werden. Es ist auch nicht notwendig zu wissen, welche Worte es in irgendwelchen anderen |12◄ ►13|Dialekten seiner Sprache für das gibt, worüber er sprechen will, oder wie gleiche Wörter dort ausgesprochen werden. Alle diese Informationen sind erstens für die praktische Kommunikation kaum von Belang, und zweitens sind sie dem Durchschnittssprecher auch großenteils unbekannt. Und das schadet nichts, denn ein solches Wissen braucht man keineswegs, wenn man sich seiner grundlegenden Sprachfähigkeit (langage) bedienen will. Um effektiv kommunizieren zu können, reicht es durchaus, eine einzelne geografische Varietät einer einzelnen Sprache zu kennen, und zwar in der einen ›Fassung‹, in der sie zum gegebenen Zeitpunkt üblich ist. Ja, es ist sogar in bestimmtem Ausmaß notwendig, dass eine Sprachgemeinschaft sich zu einem gegebenen Zeitpunkt gewissermaßen auf eine bestimmte Ausprägung der jeweiligen Sprache ›einigt‹, dass für die Kommunikation also ein einheitliches Bezugssystem gegeben ist.
langue – das Sprachsystem
Für Saussure ist es nun die zentrale Aufgabe der Linguistik, diese einzelsprachlichen Systeme zu beschreiben, die in den Sprachgemeinschaften die Verständigung ermöglichen. Für ein solches System prägte Saussure den Fachterminus langue. Die langue ist also das (zu rekonstruierende) einzelsprachliche System, das der Produktion von parole zugrunde liegt. Es stellt so etwas wie die Spielregeln dar, nach denen Äußerungen produziert werden können, Spielregeln, die natürlicherweise nur in den Köpfen der Sprechenden existieren. Aus diesem Grund bezeichnet Saussure die langue als eine psychische Größe, während die parole ein konkretes physisches (akustisches oder optisches) Phänomen darstellt.
Beziehungen zwischen sprachlichen Elementen
Um das System der langue zu rekonstruieren, ist es notwendig, die Beziehungen zu untersuchen, die seine einzelnen Elemente – z.B. die einzelnen Laute, Wörter oder grammatischen Regeln – zueinander haben (und nicht die Beziehungen, die diese Elemente zu ihnen entsprechenden Größen in anderen Systemen, anderen Dialekten, Sprachen oder Sprachstadien haben, wie es die Indogermanistik untersucht).
Man muss also z.B. wissen, ob es in einer Einzelsprache Kurzvokale und Langvokale gibt, d.h. ob diese Unterscheidung für das Funktionieren der Kommunikation wichtig ist oder nicht. Man muss aber nicht wissen, ob es in einem früheren Sprachstadium auch Kurz- und Langvokale gab oder sich z.B. die Langvokale aus früheren Diphthongen (z.B. üe, ie, uo etc.) entwickelt haben. – Im Neuhochdeutschen ist die Unterscheidung von Kurz- und Langvokalen übrigens wichtig, denn man muss z.B. erkennen können, ob es las (Imperfekt von lesen) oder lass (Imperativ von lassen) heißen soll. In anderen Sprachen ist diese Unterscheidung dagegen nicht wichtig, d.h. es ist ziemlich egal, wie lang man den Vokal dehnt, der Ausdruck bedeutet immer dasselbe.
Strukturalismus
Die langue ist aufzufassen als eine Summe von Elementen, zwischen denen bestimmte Beziehungen bestehen; diese machen die Struktur |13◄ ►14|des Sprachsystems aus. Um deren Rekonstruktion geht es bei der Beschreibung der langue. Daher hat die von de Saussure begründete sprachwissenschaftliche Forschung den Namen Strukturalismus.
Synchronie und Diachronie
Die langue wird von Saussure als stabiles und homogenes System angesehen, d.h. er sieht dabei von Sprachwandel, dialektaler Variation usw. ab. Der Grund ist folgender: Wenn es darum geht, die Struktur eines Systems zu rekonstruieren, kann man immer nur ein System zur Zeit betrachten, die Struktur gilt nur für dieses eine System (im Nachbardialekt kann es z.B. statt mancher Langvokale Diphthonge geben). Praktisch bedeutet das: Man muss bei einer Systembeschreibung davon abstrahieren, dass die Grenzen zwischen den Sprachen und Varietäten fließend sind und sich die Sprache in Wirklichkeit in ständigem Wandel befindet. Die Entwicklung einer Sprache im Laufe der Zeit bezeichnet man als Diachronie (zu griechisch dia- ›durch‹ und chronos ›Zeit‹). Bei der Betrachtung der langue hält man gewissermaßen den Zeit-Film an, macht einen synchronen Schnitt, eine Momentaufnahme (Synchronie; griechisch syn- ›zusammen‹), und beschreibt dieses Bild. Selbstverständlich sind beide Fragestellungen auch nach Ansicht Saussures völlig legitim; nur war zu seiner Zeit die synchronische noch nicht üblich, und sie sollte von der diachronischen auch klar getrennt werden.
Standardsprache
Dass man überhaupt auf die Idee kommen kann, von Sprachwandel und Sprachvariation zu abstrahieren, hat zweifellos damit zu tun, dass es auch in der sprachlichen Wirklichkeit schon etwas gibt, was zumindest als stabil und homogen gemeint ist, nämlich die Standardsprache. Diese nennt man auch oft Hochsprache, und es handelt sich um die sprachliche Varietät, die in ›verbindlichen‹ Wörterbüchern und Grammatiken normativ festgeschrieben (»kodifiziert«) ist. Die Normierung einer Sprache, die Entwicklung einer Standardvarietät – übrigens im Allgemeinen ein relativ spätes Ereignis in der Geschichte einer Sprache – läuft im Grunde darauf hinaus, Varianten (z.B. dialektale oder umgangssprachliche) als inkorrekt auszuschließen. Wie Textbeispiel 3 zeigt, geht dies meist nicht ohne Konflikte ab. Auch Neuerungen (z.B. Übernahmen aus anderen Sprachen) versucht man vielfach abzuwehren – diese werden dann meist als Sprachverfall gebrandmarkt. Dennoch darf man Standardsprache und langue nicht miteinander verwechseln: Langue bedeutet nur: abstraktes System, das der parole zugrunde liegt. Bei diesem System kann es sich um das der Standardsprache, aber auch um das von Dialekten oder sonstigen Varietäten handeln.
Sprache und andere Zeichensysteme
Linguistik als Beschreibung der langue (auch bezeichnet als Systemlinguistik), also der auf Saussure zurückgehende Ansatz, ist diejenige Forschungsrichtung, die den größten Teil des 20. Jahrhunderts beherrscht hat. Saussure betrachtet die Sprache allerdings vor dem Hintergrund anderer Zeichensysteme: |14◄ ►15|
Textbeispiel 3: Goethe in Leipzig
[…] so hatte ich auch vom Leben manche kleine Unannehmlichkeiten; wie man denn, wenn man den Ort verändert und in neue Verhältnisse tritt, immer Einstand geben muß. Das erste, was die Frauen an mir tadelten, bezog sich auf die Kleidung; denn ich war vom Hause freilich etwas wunderlich equipiert auf die Akademie gelangt. […]
Als aber Herr von Masuren, der so beliebte poetische Dorfjunker, einst auf dem Theater in einer ähnlichen Kleidung auftrat, und mehr wegen seiner äußeren als inneren Abgeschmacktheit herzlich belacht wurde, faßte ich Mut und wagte, meine sämtliche Garderobe gegen eine neumodische, dem Ort gemäße auf einmal umzutauschen, wodurch sie aber freilich sehr zusammenschrumpfte.
Nach dieser überstandenen Prüfung sollte abermals eine neue eintreten, welche mir weit unangenehmer auffiel, weil sie eine Sache betraf, die man nicht so leicht ablegt und umtauscht.
Ich war nämlich in dem oberdeutschen Dialekt geboren und erzogen, und obgleich mein Vater sich stets einer gewissen Reinheit der Sprache befliß und uns Kinder auf das, was man wirklich Mängel jenes Idioms nennen kann, von Jugend an aufmerksam gemacht und zu einem besseren Sprechen vorbereitet hatte, so blieben mir doch gar manche tiefer liegende Eigenheiten, die ich, weil sie mir ihrer Naivetät wegen gefielen, mit Behagen hervorhob, und mir dadurch von meinen neuen Mitbürgern jedesmal einen strengen Verweis zuzog. Der Oberdeutsche nämlich, und vielleicht vorzüglich derjenige, welcher dem Rhein und Main anwohnt (denn große Flüsse haben, wie das Meeresufer, immer etwas Belebendes), drückt sich viel in Gleichnissen und Anspielungen aus, und bei einer inneren menschenverständigen Tüchtigkeit bedient er sich sprüchwörtlicher Redensarten. In beiden Fällen ist er öfters derb, doch, wenn man auf den Zweck des Ausdruckes sieht, immer gehörig; nur mag freilich manchmal etwas mit unterlaufen, was gegen ein zarteres Ohr sich anstößig erweist.
Jede Provinz liebt ihren Dialekt: denn er ist doch eigentlich das Element, in welchem die Seele ihren Atem schöpft. Mit welchem Eigensinn aber die meißnische Mundart die übrigen zu beherrschen, ja eine Zeitlang auszuschließen gewußt hat, ist jedermann bekannt. Wir haben viele Jahre unter diesem pedantischen Regimente gelitten, und nur durch vielfachen Widerstreit haben sich die sämtlichen Provinzen in ihre alten Rechte wieder eingesetzt. Was ein junger lebhafter Mensch unter diesem beständigen Hofmeistern ausgestanden habe, wird derjenige leicht ermessen, der bedenkt, daß nun mit der Aussprache, in deren Veränderung man sich endlich wohl ergäbe, zugleich Denkweise, Einbildungskraft, Gefühl, vaterländischer Charakter sollten aufgeopfert werden. Und diese unerträgliche Forderung wurde von gebildeten Männern und Frauen gemacht, deren Überzeugung ich mir nicht zueignen konnte, deren Unrecht ich zu empfinden glaubte, ohne mir es deutlich machen zu können. Mir sollten die Anspielungen auf biblische Kernstellen untersagt sein, sowie die Benutzung treuherziger Chronikenausdrücke. Ich sollte vergessen, daß ich den Geiler von Kaisersberg gelesen hatte, und des Gebrauchs der Sprüchwörter entbehren, die doch, statt vieles Hin- und Herfackelns, den Nagel gleich auf den Kopf treffen; alles dies, das ich mir mit jugendlicher Heftigkeit angeeignet, sollte ich missen, ich fühlte mich in meinem Innersten paralysiert und wußte kaum mehr, wie ich mich über die gemeinsten Dinge zu äußern hatte. Daneben hörte ich, man solle reden wie man schreibt, und schreiben wie man spricht; da mir Reden und Schreiben ein für allemal zweierlei Dinge schienen, von denen jedes wohl seine eignen Rechte behaupten möchte.
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Die Sprache ist ein System von Zeichen, die Ideen ausdrücken und insofern der Schrift, dem Taubstummenalphabet, symbolischen Riten, Höflichkeitsformen, militärischen Signalen usw. usw. vergleichbar. Nur ist sie das wichtigste dieser Systeme.
Man kann sich also vorstellen eine Wissenschaft, welche das Leben der Zeichen im Rahmen des sozialen Lebens untersucht; […] wir werden sie Semeologie (von griechisch sēmeîon »Zeichen«) nennen. Sie würde uns lehren, worin die Zeichen bestehen und welche Gesetze sie regieren. Da sie noch nicht existiert, kann man nicht sagen, was sie sein wird. Aber sie hat Anspruch darauf, zu bestehen.3
Semiotik
Die hier von Saussure konzipierte allgemeine Wissenschaft von den Zeichen hat sich tatsächlich etabliert und wird heute meist mit dem Terminus Semiotik belegt. Wir wollen uns daher im Folgenden zunächst allgemein der Frage zuwenden, ›worin Zeichen bestehen‹, und später Saussures eigene Überlegungen zur Natur des sprachlichen Zeichens vorstellen.
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4 Zeichen: Von Sinneswahrnehmungen zu Interpretationen
Wie unterscheidet man Sprachliches von Nicht-Sprachlichem?
In Kapitel 2 haben wir festgestellt, dass Einzelsprachen keine unmittelbar gegebenen Größen sind. Wir gehen davon aus, dass sprachliche Systeme in irgendeiner Weise in den Köpfen der Sprecher gespeichert sind und versuchen in der Linguistik, diese Systeme zu rekonstruieren. Unmittelbar zugänglich sind jedoch nur sprachliche Äußerungen. Außerdem haben wir gesehen, dass es gar nicht immer so einfach ist zu sagen, welcher ein solcher Parole-Akt zuzuordnen ist. Wir wollen diese Überlegung nun noch etwas fortsetzen und die Frage stellen, ob wir wenigstens unmittelbar darüber entscheiden können, dass es sich bei etwas Wahrgenommenem um eine sprachliche Äußerung handelt, dass im Spiel ist. Wie nehmen wir Parole-Akte wahr?

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