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»Ein psychologisch raffinierter Krimi vor düsterer Spreewald-Kulisse.« Eva Almstädt Im sonst so idyllischen Spreewald herrscht Unruhe. Schon seit Monaten tobt ein erbitterter Streit zwischen Wolfsgegnern und Tierschützern. Die Emotionen kochen hoch, als auf einer Weide die von Bisswunden entstellte Leiche eines Jungen entdeckt wird. Die Wolfsgegner machen sich den Vorfall zunutze, doch Kriminalobermeisterin Klaudia Wagner ahnt, dass die Todesursache eine andere war. Kann es sein, dass es auch an einem so beschaulichen Ort wie Lübbenau Wölfe im Schafspelz gibt?
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Spreewaldwölfe
Christiane Dieckerhoff, Jahrgang 1960, machte zunächst eine Berufsausbildung zur Kinderkrankenschwester, ist Mutter zweier erwachsener Kinder und lebt am Rande des Ruhrgebiets. Sie schreibt vor allem aktuelle und historische Krimis.Von Christiane Dieckerhoff sind in unserem Hause bereits erschienen: Spreewaldgrab · Spreewaldrache · Spreewaldtod
Lübbenau im Spreewald ist eigentlich recht beschaulich. Doch die kleine Gemeinde ist in hellem Aufruhr: Seit der Rückkehr der Wölfe bangen die Bauern um ihre Existenz. Schäfer und Tierschützer liefern sich hitzige Diskussionen, als auf einer Weide ein toter Junge gefunden wird. Bisswunden entstellen die Leiche. Doch ist er wirklich den Wölfen zum Opfer gefallen, wie die Schäfer behaupten? Polizeiobermeisterin Klaudia Wagner, die in dem Fall ermittelt, beginnt an der vermeintlichen Todesursache zu zweifeln. Was zunächst wie ein tragischer Unfall erscheint, entpuppt sich mehr und mehr als ein Verbrechen von ungeahntem Ausmaß …
Christiane Dieckerhoff
Kriminalroman
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage März 2019© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © Tim Robinson / arcangel images (Boot); © FinePic®,München (Schrabbel); getty images / © Stock-Foto (Landschaft)E-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-8437-2083-0
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
63. Kapitel
64. Kapitel
65. Kapitel
66. Kapitel
67. Kapitel
68. Kapitel
69. Kapitel
70. Kapitel
71. Kapitel
72. Kapitel
73. Kapitel
74. Kapitel
75. Kapitel
76. Kapitel
Epilog
Danksagung
Empfehlungen
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Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
… und weil der Junge sich langweilte, rief er: »Wolf! Wolf!«
Und die Dörfler rannten den Hügel hinauf, auf dem die Schafe weideten. Sie trugen lodernde Fackeln und Mistgabeln in den Fäusten und Flüche auf den Lippen, als der Junge sie auslachte.
Weil es ihm Spaß gemacht hatte, die Dörfler zu foppen, wiederholte er das Spiel in der folgenden Nacht, und wieder kamen die Dörfler mit ihren Fackeln und Mistgabeln gerannt.
Dem Jungen gefiel der Zorn der Dörfler, und er wiederholte das Spiel ein drittes Mal. Diesmal kassierte er nicht nur Flüche, sondern auch eine Tracht Prügel, und der Knabe verlor die Freude am Zorn der Dörfler.
Doch dann kam der Wolf – es war eine dunkle Nacht, der Mond versteckte sich hinter Regenwolken. Und der Wolf wütete in der Herde, und der Junge schrie: »Wolf, Wolf!«
Und die Dörfler hörten ihn, doch niemand griff nach Fackel oder Mistgabel, sondern jeder schüttelte nur den Kopf über den unbelehrbaren Jungen. Und der Junge schrie, bis der Wolf seinem Schreien ein Ende machte.
Und die Moral von der Geschichte: Wer dreimal lügt, den frisst der Wolf.
(Frei nach Aesop)
Zwischen Eischnee und gesiebtem Mehl krakeelte Klaudias Handy wie eine Dohle. Fauchend sprang der dicke Kater von der Fensterbank, wo er sich zwischen den vertrockneten Küchenkräutern niedergelassen hatte. Seit dem Sommer lebte er mehr oder weniger bei Klaudia. Ihre Beziehung war noch nicht so eng, dass sie ein Katzenklo gekauft hätte, doch sie spielte bereits mit dem Gedanken.
Klaudia hatte den Verdacht, dass sie nicht die einzige Futterstelle war, die er regelmäßig aufsuchte, aber immer wenn er seinen dicken Kopf an ihrem Schienbein rieb, hatte sie das Gefühl, seine Favoritin zu sein.
Aufseufzend stellte Klaudia den Mixer ab, mit dem sie gerade Eigelb und Zucker vermengte, und wischte sich die Hände an der roten Schürze ab, die ihr Wibke zum Einzug ins Haus geschenkt hatte. Dieser Klingelton war für ihren Chef reserviert, und Polizeihauptkommissar Naumann, von allen nur kurz Pi Aitsch genannt, wollte bestimmt nicht mit ihr über Kuchenrezepte plaudern. Auch wenn er kein Kostverächter war.
Klaudia wischte mit dem Daumen über das Display.
»Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte ihr Chef anstelle einer Begrüßung. Immerhin fiel er nicht gleich mit der Tür ins Haus, wie es sonst seine Art war.
»Nein.« Klaudia blickte sich um. Eigelbspritzer zierten den Tisch und reichten bis an die Messbecher mit Eischnee und Mehl. Die rote Lampe am Backofen, die das Aufheizen anzeigte, war bereits erloschen. Es war also alles vorbereitet. Sie, die normalerweise nur Fertiggerichte in der Mikrowelle oder wahlweise im Backofen aufwärmte, hatte sich vorgenommen, an diesem Abend zu backen. Nicht für sich, sondern für Wibke, die morgen Geburtstag hatte und sich einen Kuchen wünschte. Damit schieden Topfblumen, die Klaudia normalerweise verschenkte, aus. Also hatte sie Conny angerufen und sich das Rezept für die mit Schokoraspeln und Sahne gefüllte Biskuitrolle geben lassen, mit dem ihre Stiefmutter sie immer verwöhnte. Dann war sie einkaufen gefahren und hatte sich an die Arbeit gemacht, und nun rief ihr Chef an und fragte, ob er stören würde. Klaudias Adrenalinspiegel schoss in die Höhe. »Was gibt’s?«
»Wir haben eine Todesfallermittlung.«
»Wo?« Das Smartphone zwischen Schulter und Ohr geklemmt, schaltete Klaudia den Herd aus, öffnete den Kühlschrank und packte die Schüsseln hinein. PH nannte eine Adresse in der Nähe von Burg. »Findest du das?«
»Wenn nicht ich, dann mein GPS.« Unwillig schnaubend holte Klaudia die Mehlschüssel wieder aus dem Kühlschrank und stellte sie auf die Anrichte neben dem Herd.
»Alles in Ordnung?«, fragte PH.
»Ja, natürlich«, antwortete Klaudia hastig. »So in Ordnung, wie es sein kann, wenn man an einem Freitagabend zu einer Todesfallermittlung muss. Was ist mit der Kriminalbereitschaft?«
»Tut mir leid.« PH räusperte sich. »Aber du bist am nächsten dran.«
»Kein Problem«, murmelte Klaudia. »Sind Spurensicherung und Rechtsmedizin informiert?«
»Ja, die sind bereits alarmiert. Und Demel auch. Kannst du dir vorstellen, dass er gebacken hat?«
»Nein«, antwortete Klaudia, während sie den Kater, der die Eispritzer aufleckte, vom Tisch schob.
»Okay«, fügte PH hinzu. »Dann bis morgen.«
»Bis morgen«, antwortete Klaudia mechanisch. Wibkes Geburtstag würden sie dann wohl in Lübben feiern. Wahrscheinlich im Rahmen einer Lagebesprechung. Klaudia blies die Wangen auf, schaute sich noch einmal um und legte sicherheitshalber einen Teller auf die Schüssel mit dem gesiebten Mehl.
»Komm, Dickie«, lockte sie, und sofort strich der Kater um ihre Beine. Sie nahm ihn auf, öffnete das Fenster und setzte ihn auf die Fensterbank. Auf keinen Fall würde sie ihn im Haus lassen. Vorwurfsvoll drückte er die Nase gegen die Scheibe, und in seinem schielenden Blick lag das ganze Unverständnis seiner Katzenseele.
»Ich muss los.« Klaudia sagte es so laut, dass der Kater sie durch die geschlossene Scheibe hören musste, und kam sich gleichzeitig unendlich albern vor. Sie griff nach Autoschlüssel und Rucksack und verließ ihr Haus am Fließ.
Das GPS führte sie nach Leipe, einem Ortsteil von Lübbenau, der auf einer Talsandinsel, einer sogenannten Kaupe, mitten im Spreewald lag. Früher war der Ort nur übers Wasser zu erreichen gewesen. Erst in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts war der malerische Fußweg von Lübbenau nach Leipe angelegt worden. Zwölf Brücken sorgten dafür, dass Wanderer trockenen Fußes Leipe erreichten. Mit dem Auto musste Klaudia allerdings einen Riesenumweg über Burg fahren. Die Straße war dreißig Jahre später gebaut worden und führte an Feldern, Waldstücken und Gehöften vorbei.
Die Mondsichel leuchtete vom mit Sternen übersäten Nachthimmel und spiegelte sich in den Fließen rechts und links der Straße. Im blassen Licht der Scheinwerfer wirkte die Landschaft so verwunschen, dass man durchaus bereit war, die Geschichten von Irrlichtern, Wendenkönigen und Wassermännern, mit denen die Kahnführer ihre Gäste unterhielten, für bare Münze zu nehmen. Schließlich bog Klaudia um die letzte Kehre. Schon von Weitem sah sie das eingeschaltete Blaulicht des Einsatzwagens, der vor der Bushaltestelle stand. Fuhr man auf dem Landweg nach Leipe hinein, hatte man das Gefühl, durch die Hintertür zu kommen. Da die Höfe alle entlang der Spree gebaut waren, bestand der Ortskern aus landwirtschaftlich genutzter Fläche und eben der Bushaltestelle.
Zu Klaudias Erstaunen war der Streifenwagen von mehr Schaulustigen umringt, als sie zu dieser späten Stunde mitten im Spreewald erwartet hätte. Sie bremste und fuhr die Seitenscheibe herunter. Ein Blitzlicht blendete sie. Was ging denn hier ab?
»Wieso ist die Presse informiert?«, fragte sie den uniformierten Kollegen, der an ihren Wagen trat. Er war jung und blass um die Nase. Wahrscheinlich ein Praktikant.
»Alles Zeugen.«
»Was?«
»Hier war ’ne Wolfswache.«
Klaudia unterdrückte das zweite »Was«. Sie hatte keine Ahnung, was eine Wolfswache war.
»Wo muss ich hin?«
»Von hier aus müssen Sie laufen.«
Der junge Mann war auf jeden Fall ein Praktikant, jeder Kollege hätte sie geduzt. Er zeigte in Richtung eines schmalen Feldweges, der zwischen Weiden und Wald verlief.
»Ist es weit?«, fragte Klaudia.
»Nicht sehr, glaube ich.«
»Wer hat den Toten gefunden?«, fragte Klaudia.
»Ein Herr Delling.« Man hörte dem Praktikanten an, dass er froh war, wenigstens diese Frage eindeutig beantworten zu können. »Polizeiobermeister Kuloth ist bei ihm«, fügte er hinzu.
»Schon jemand von der Kripo da?«
»Sie sind die Erste.«
»Also gut.« Klaudia fuhr die Seitenscheibe wieder hoch und parkte den Wagen am Absperrband. Sie stieg aus, öffnete den Kofferraum und zog die Gummistiefel an. Wieder blitzte ein Fotoapparat auf.
»Hey, Sie.« Klaudia fuhr herum und lief hinüber zu dem Fotografen. »Sie sind von der Presse?«
»Lausitzer Rundschau.«
»Haben Sie Fotos gemacht?«
»Ja, schon«, antwortete der Mann zögernd. Wahrscheinlich ahnte er, was nun kam. Klaudia schätzte ihn auf Mitte dreißig. Er hatte ein freundliches Gesicht mit braunen Augen und zurückweichendem Haaransatz.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Aber Ihre Kamera müssen wir fürs Erste einbehalten.«
»Das können Sie nicht machen.«
»Und ob wir das können.« Klaudia streckte die Hand aus. »Der Kollege gibt Ihnen eine Quittung.« Sie winkte den Praktikanten herbei, gab ihm die Kamera, schulterte ihren Einsatzrucksack und machte sich auf den Weg.
Nach einer Kehre fiel der Schein ihrer Taschenlampe auf einen Mann, der mit dem Kopf zwischen den Knien am Wegrand hockte. Wahrscheinlich der Zeuge. Sie würde nachher mit ihm sprechen, zuerst wollte sie sich selbst ein Bild machen. Klaudia ließ den Schein ihrer Taschenlampe weiterwandern, über wollige Schafrücken hinweg, an dem uniformierten Kollegen vorbei, der am Zaun lehnte. Im Schein der Taschenlampe, die in der Schulterschlaufe seiner Jacke steckte, schrieb er etwas in sein Notizbuch. Klaudia kannte ihn von diversen Lagebesprechungen. Er hieß Kuloth, war zuverlässig, aber nicht der Schnellste. Letzteres war sicherlich auch seinem Körperumfang geschuldet. Kuloth schaute auf, als ihn der Lichtstrahl von Klaudias Maglite traf. Sein Doppelkinn zitterte. Kein gutes Zeichen.
»Die hatten eine Wolfswache hier«, sagte er in dem leicht schleppenden Tonfall, der zu ihm gehörte wie der Bauch, der sich über den Hosenbund wölbte. »Ich hab erst einmal alle Leute weggeschickt, bis auf den jungen Mann, der den Toten gefunden hat. Aber vielleicht willst du mit dem Schäfer und dem Förster sprechen. Die haben das organisiert.«
»Okay. Lass sie kommen. Aber ich schau mir erst einmal den Toten an. Wo ist er?«
»Da hinten.« Kuloths Stimme klang gepresst.
»So schlimm?«, fragte Klaudia.
»Du wirst es ja sehen«, antwortete er und klickte auf das Funkgerät auf seiner Schulter. »Schick mal den Schäfer rüber«, sagte er.
»Na denn.« Klaudia folgte dem Strahl ihrer Taschenlampe. Sie passierte einen Grill, dessen Wärme sie im Vorbeigehen streifte, wich einem umgestürzten Klappstuhl aus, einer abgebrannten Fackel, die in den Boden gerammt war, und hielt auf das rot-weiße Flatterband zu, das den Fundort markierte. Ich sehe was, was du nicht siehst: kalt, warm. Klaudia hielt in der Bewegung inne, der Lichtstrahl zitterte auf dem Fleck. Alles in ihr wehrte sich dagegen zu sehen, was die Dunkelheit so gnädig vor ihr verbarg, doch dann gab sie sich einen Ruck. Heiß.
Es war still im Haus. Nicht, dass es keine Geräusche gab. Jetzt im Spätsommer knackten die Balken. Und dann waren da noch die anderen Geräusche, die zu einem Haus gehörten. Der Kühlschrank, der in der Küche brummte, die fauchende Kaffeemaschine, und im Radio dudelte etwas, das wohl in die Rubrik »Gute-Laune-Musik« gehörte, kurz übertönt von einem Auto, das übers Kopfsteinpflaster der Straße fuhr.
Nein, die Stille war anders, sie kroch aus den Wänden und war so leblos wie die Stille vor einem Gewitter im Hochwald, wenn selbst die Insekten verstummten. Stefan fragte sich, ob diese Stille ihn den Rest seines Lebens begleiten würde oder ob jemals wieder Lachen und Stimmen in dieses Haus einziehen würden. Er zog das Rasiermesser über die Wange, spürte den Widerstand der Bartstoppeln und dann das Gleiten der Klinge auf der Haut. Manchmal hatte Franzi ihn rasiert. Die Stirn gerunzelt, hatte sie vor ihm gestanden und konzentriert das Messer geführt. Vorbei. Nicht daran denken. Aber wie sollte das funktionieren? Er stand mit dem Gedanken an seine Frau auf und ging damit zu Bett. Und wenn er nicht die Schlaftabletten nehmen würde, die Alena ihm verschrieben hatte, würde er auch die ganze Nacht an sie denken. Aber so träumte er nicht einmal. Er fiel einfach in einen bleiernen Schlaf, der ihn am Morgen in einen ebenso bleigrauen Tag entließ. Stefan drehte den Wasserhahn auf und spülte den Rasierschaum von der Klinge. Als er den Kopf hob, um den Hals zu rasieren, fragte er sich, wie es wohl wäre, sich einfach die Kehle aufzuschlitzen. Gleichzeitig schalt er sich einen Idioten. Wer brachte sich schon mit einem Einmalrasierer um, wenn es Polizisten gab, die das für einen erledigten. Einen einfach über den Haufen fuhren. Franzi hatte keine Chance gehabt. Sie war über das Polizeiauto geflogen und auf der Straße gelandet. Vielleicht, wenn sie einen Helm getragen hätte, hatte der Arzt im Krankenhaus gesagt. Stefan hätte ihn am liebsten geschlagen: Es klang, als sei sie schuld an ihrem Tod.
Einsatzfahrt. Aus Eisen geformte und auf die Straße geschleuderte Krähenfüße, die so spitz und scharfkantig waren, dass sie Autoreifen aufschlitzen, ins Schleudern gekommen. Worte, die erklären, die entschuldigen sollten, was nicht zu erklären, zu entschuldigen war. Der Polizist hatte eine Halskrause getragen und hinzugefügt, dass es ihm leidtäte, aber dass sie keine Chance gehabt hätten.
Keine Chance, dachte Stefan. Wenn einer keine Chance gehabt hatte, war das Franziska. Sie war tot. Gleichzeitig fragte er sich, ob dieser Mann bei ihr gewesen war, ob er sie in die stabile Seitenlage gelegt hatte oder ob er versucht hatte, seine Luft in ihre Lungen zu pressen. Oder ob er mit ihr gesprochen, ihre Hand gehalten hatte. Und als hätte der Polizist seine Gedanken gelesen, hatte er gesagt, dass sie nicht bei Bewusstsein gewesen war und dass er wüsste, wie er sich fühlen musste. Woher willst du das wissen?, hatte Stefan gedacht, aber dann war es ihm wieder eingefallen. Auch dieser Mann hatte seine Frau verloren, und sie hatten zusammen geweint. Und die wirklich Schuldigen waren davongekommen. Die Verbrecher, die Krähenfüße auf die Straße geworfen hatten, um ihren Verfolgern zu entkommen. Über die Grenze nach Polen. Unerreichbar. Blut quoll aus einem Schnitt neben Stefans Kehlkopf. Er klebte einen Fetzen Klopapier darauf und rasierte sich zu Ende. Der Gedanke an Rache hatte sich mit dem Schmerz in sein Bewusstsein gefressen. Er rubbelte sich das Gesicht, bis die Wangen brannten, dann verließ er das Bad und stand im Flur, den Blick auf die verschlossene Tür gerichtet, die er zugezogen hatte, als er aus dem Krankenhaus zurückgekommen war. Sie hatten ihn in den Keller geführt, und dort hatte er Franzi das letzte Mal gesehen. Abschiedsraum hatte an der Tür gestanden. Er hatte sich neben sie auf das schmale Brett gelegt und sie ein letztes Mal in die Arme genommen. Sie, und … zögernd streckte er die Hand aus, legte sie auf die Klinge. Mit einem leisen Knarren schwang die Tür auf. Stefan schloss die Augen und wandte sich ab. Es war noch zu früh. Er schaffte es nicht.
»Ach du Scheiße.« Das Gewicht der Taschenlampe zerrte an Klaudias Arm. Kraftlos ließ sie ihn fallen. »Was ist das denn?« Kein Wunder, dass der Kollege so blass war.
Es gab sichere und unsichere Todeszeichen. Zu den unsicheren gehörten: fehlende Atmung, fehlender Puls, Bewusstlosigkeit, Hautblässe, komplette Lähmung aller Muskeln mit fehlenden Reflexen und, und, und …
Klaudia war nicht nah genug, um auch nur eins dieser Zeichen beurteilen zu können.
Dann gab es die sicheren Todeszeichen. Um Totenflecken oder Totenstarre erkennen zu können, war sie ebenfalls noch zu weit entfernt. Doch was das Licht ihrer Maglite enthüllte, ließ keinen Zweifel daran, dass diesem Körper, der wie Abfall zwischen den Büschen lag, Verletzungen zugefügt worden waren, die nicht mit dem Leben vereinbar waren. Vorsichtig sog sie Luft durch die Nase. Und das nicht heute oder gestern. Dieser Mensch war schon länger tot.
Klaudia atmete einmal tief durch und ging dann weiter. Sie hielt die Taschenlampe dicht auf den Boden gerichtet, um keine Spuren zu vernichten. Jeder vorsichtig gesetzte Schritt drängte ihr Entsetzen zurück, und als Klaudia vor dem Toten stand, war sie mit allen Sinnen anwesend und ganz auf die Aufgabe fokussiert. Ihre Taschenlampe enthüllte in erträglichen Bildausschnitten das Unerträgliche. Soweit sie das erkennen konnte, war der Tote jung, mehr Teenager als Mann: schmales Gesicht, leere Augenhöhlen, zerfetzte Kehle, Kleidung blutgetränkt und zerrissen, Eingeweide aus der Bauchhöhle gezerrt.
Er lag verrenkt da, als hätte jemand versucht, ihn fortzuzerren. Ein Arm war am Oberarm abgerissen. Der Schein von Klaudias Maglite beschrieb einen Halbkreis, keine Spur vom Unterarm. An einem Fuß trug er noch einen weißen Turnschuh, der andere Fuß war ebenso verschwunden wie der Unterarm. Der Tote lag am Rande einer Grube. Klaudia leuchtete sie ab. So wie es aussah, hatte er zunächst in der Grube gelegen, und zwar eine ganze Weile. Das Gras war zerdrückt und blutig. Aber irgendwer, und Klaudia wusste nicht, ob Mensch oder Tier, hatte versucht, den Toten in den Wald zu zerren. Klaudia dachte an einen Todesfall, den sie vor Jahren bearbeitet hatte und den Wildschweine verursacht hatten. Mit ihren Hauern und messerscharfen Zähnen konnten sie durchaus für diese Bauchwunde verantwortlich sein. Vor allem die Bachen waren gefährlich. Aber eher im Frühjahr, nicht jetzt im Herbst. Außerdem würden sie nie versuchen, die Leiche wegzuschleifen, oder vielleicht doch?
Klaudia hatte keine Ahnung. Aber vielleicht konnte ihr der Förster weiterhelfen, so wie ihr bei der Todesfallermittlung damals ein anderer Förster geholfen hatte. An seinen Namen erinnerte sie sich nicht mehr, doch sie wusste noch genau, wie das Trittsiegel eines Wildschweins aussah. Auf der Suche nach den wie eine Nelke – mit zu kurz geratenem Stiel zwischen Blüte und Blättern – geformten Trittsiegeln, die typisch für Wildschweine waren, leuchtete sie den Boden ab. Weich genug wäre er. Doch sie fand nichts, was auch nur im Entferntesten dem Trittsiegel eines Wildschweins ähnelte. Rund um die Leiche gab es nur Hüpfspuren von Vögeln und eine Spur, die aussah, als hätte sich ein großes Tier in den Boden gestemmt. Vielleicht ein Hund? Klaudia schaute hinüber zum Pferch, in dessen Mitte sich die Schafe zusammendrängten, als witterten sie die Gefahr. Kälte rieselte ihre Wirbelsäule entlang. Unwillkürlich schaute sie über die Schulter hinweg zum Wald, dann richtete sie sich auf und kehrte, ihre eigenen Schuheindruckspuren nutzend, zum Pferch zurück. Die Kollegen der Spurensicherung waren mittlerweile eingetroffen. Ihr Wagen stand zwischen Weide und Wald gequetscht. Schon in ihre weißen Ganzkörperanzüge gehüllt, bauten sie die Flutlichtanlage auf, die das Grauen in wenigen Minuten taghell ausleuchten würde. Klaudia erkannte Wibke und winkte ihr zu.
»So kann man auch in den Geburtstag reinfeiern, was?« Die Spusi-Kollegin stopfte sich eine rote Locke unter die Kapuze, dann wuchtete sie den Strahler auf den Ständer.
»Hanusch und Welber sind jetzt auch da.« Kuloth leuchtete mit seiner Maglite zu den Männern, die wartend am Zaun standen.
»Wer?«, fragte Klaudia für einen Moment desorientiert.
»Der Schäfer und der Förster«, erklärte Kuloth geduldig.
»Wer davon ist der Förster?«, fragte Klaudia.
»Welber.« Der uniformierte Kollege zeigte auf einen behäbigen älteren Herrn in Cordhose und Funktionsjacke.
»Ach ja.« Klaudia nickte. »Danke«, sagte sie. »Gute Arbeit übrigens. Ich glaube, nicht einmal Wibke Bredau wird etwas zu motzen haben.«
Die Spusi-Kollegin war bekannt dafür, dass sie Tatorte mit Händen und Füßen gegen Eindringlinge, zu denen sie auch Kollegen zählte, verteidigte.
»Ich bewege mich so wenig wie möglich, das weißt du doch.« Kuloth klopfte sich auf den Bauch.
»Herr Welber!« Klaudia ging auf die Gruppe der Zeugen zu. »Kommen Sie doch mal bitte.«
Der schwere Mann stapfte auf sie zu. Seine aus der Hüfte gezirkelten Schritte zeigten seine Anspannung. Neben seinem Gesicht ragte dunkel der Schaft eines Gewehres auf. Klaudia ging ihm ein paar Schritte entgegen und stellte sich vor.
»Wir bräuchten Ihre Hilfe, Herr Welber.«
»Kennen wir uns?« Verwirrt kniff der Förster die Augen zusammen.
»Wir hatten schon mal miteinander zu tun.«
»Wirklich? Aber daran müsste ich mich doch erinnern.« Welber schüttelte den Kopf. So heftig, dass sein Doppelkinn schlackerte.
»Nicht unbedingt.« Klaudia dachte daran, wie er vor Jahren wutschnaubend in eine Todesfallermittlung im Hochwald gestampft war und wie seine aufgeplusterte Autorität verpuffte, als er den freigelegten Schädel sah.
»Oh.« Welber räusperte sich, offensichtlich hatte ihre Bemerkung ihn auf die richtige Spur gebracht.
»Ich möchte, dass Sie vom Waldrand ausgehend nach Spuren wie Klauen oder den Eindrücken von Pfoten Ausschau halten.«
»Kann ich gerne machen.« Der Förster war ganz gespannte Aufmerksamkeit. Zu gespannt, wie Klaudia fand. Sie hatte schon die merkwürdigsten Sachen mit hilfsbereiten Bürgern erlebt, deshalb fragte sie vorsichtshalber nach. »Sie haben den Toten gesehen?«
»Nein.« Der Förster schüttelte heftig den Kopf. Wieder schlackerte sein Doppelkinn. »Als das Geschrei einsetzte, habe ich dafür gesorgt, dass keiner sich dem Fundort nähert, und den Notruf abgesetzt. War das falsch? Hätte ich …?«
»Sie haben alles richtig gemacht«, beruhigte ihn Klaudia. Der Gruß einer Frau ließ sie aufschauen. »Einen Augenblick, bitte.« Sie ging zu den Ankommenden.
»Wir mal wieder?« Irina Klaas streckte ihr die freie Hand entgegen. In diesem Moment knatterte der Generator los, und Flutlicht tauchte den Platz in gnadenlos weißes Licht. Irina trug einen Arztkoffer, der für die zierliche Rechtsmedizinerin viel zu wuchtig war. Demel stand neben ihr, die Hände in den Hosentaschen und die unvermeidliche Kippe zwischen den Lippen. Von seinem Hals hing die ebenso unvermeidliche Kamera. Klaudia hatte zwar keine Ahnung von Fotoapparaten, aber sie wusste, dass es eine Hasselblad H4D war. Was immer das bedeutete.
Sie freute sich, dass Irina Dienst hatte. Die Ärztin hatte es ebenso wie Klaudia von der Ruhr an die Spree verschlagen. »Einen Moment bitte«, bat sie Welber und ging hinüber zur Rechtsmedizinerin und ihrem Kollegen. Kurz setzte sie die beiden ins Bild.
»Ich hätte unsere Frau Doktor fast gar nicht erkannt.« Demel nickte in Richtung der Rechtsmedizinerin. »Sie werden mit jedem Mord hübscher.« Demel konnte das Flirten nicht lassen.
»Trag nicht zu dick auf«, sagte Klaudia, auch wenn sie ihm recht geben musste Sie musterte den leuchtend roten Haarschopf der Rechtsmedizinerin. Das war jetzt das dritte Mal, dass sie sich bei einer Todesfallermittlung trafen, und jedes Mal hatte Klaas eine andere Haarfarbe gehabt. Klaudia fühlte, wie sich die Verkrampfung in ihren Schultern löste. Jetzt, wo alle da waren, lastete die Ermittlung schon deutlich weniger auf ihren Schultern. Demel hielt sich zwar für ein Geschenk an die weibliche Menschheit und pflegte sein Image des in die Jahre gekommenen Sonnyboys, trotzdem waren sie mittlerweile ein gutes Team.
»Indian Summer.« Irina strich sich über den raspelkurzen Schopf.
»Passt ja zur Jahreszeit.« Neben der quirligen Assistenzärztin fühlte sich Klaudia uralt. Sie sollte vielleicht auch anfangen, ihre Haare zumindest zu tönen. Der Haaransatz wurde schon recht grau, obwohl sie noch nicht einmal Mitte vierzig war.
»Ich mache mich mal an die Arbeit«, sagte Klaas. »Kann ich ihn mir ausleihen?« Sie nickte in Demels Richtung.
»Nimm ihn. Vielleicht erinnert er sich sogar an seine guten Manieren und trägt dir den Koffer.«
»Ich wollte nicht als Chauvi dastehen.« In gespielter Empörung legte Demel die Hand auf die Brust.
»Was macht dein Kuchen?«, fragte Klaudia.
»PH hat also gepetzt?«
»Er hat nur seiner Verwunderung Ausdruck verliehen«, antwortete Klaudia süffisant.
»Backen ist nicht unmännlich«, verteidigte sich Demel. »Viele Männer backen. Und übrigens«, er legte den Kopf schief, »wenn mich mein Ermittlerauge nicht trügt, hast du Eigelb an der Wange.« Nach dieser letzten Bemerkung nahm er der Rechtsmedizinerin den Koffer aus der Hand und stapfte zur Leiche. Nach einem von einem Grinsen begleiteten Achselzucken folgte ihm die Rechtsmedizinerin.
Dämel, dachte Klaudia, kratzte sich aber vorsichtshalber die Wange, bevor sie zum Förster zurückkehrte.
»Tut mir leid«, entschuldigte sie sich für die Unterbrechung.
»Kein Thema. Sie mussten Ihre Kollegen einweisen, nicht wahr? Was kann ich für Sie tun?«
»Wir bräuchten Ihre fachliche Expertise.« Klaudia rettete sich in Korinthenkackerdeutsch Besoldungsstufe A7. Der Gedanke, einen Bürger in die Nähe der Leiche zu führen, gefiel ihr nicht. Sie musste ihn zumindest vorbereiten. Also räusperte sie sich und fuhr fort: »Der Korpus zeigt ausgeprägte Fraßspuren.« Wieder räusperte sie sich, nicht, weil ihr die A7-Worte fehlten, sondern um dem Förster Zeit zu geben zu begreifen, was sie gerade gesagt hatte. Als seine Gesichtsfarbe von Rot zu Blass wechselte, fuhr sie hastig fort, als wären ihre Worte eine Sicherheitsleine, an der er sich festklammern konnte: »Und wir wüssten gerne, welches Tier dafür verantwortlich sein könnte. Wibke«, rief sie über die Schulter, »könntest du bitte Herrn Welber unterstützen?«
Während Wibke sich mit dem Förster entfernte, um den Boden nach Tierspuren abzusuchen, kehrte Klaudia zu den anderen beiden Zeugen zurück. Zunächst wollte sie wissen, was es mit der Wolfswache auf sich hatte, bevor sie den jungen Mann befragte, der den Toten gefunden hatte. Der Schäfer stand am Wegrand. Er hielt den Kopf gesenkt. Ein breitkrempiger Filzhut verbarg sein Gesicht. Ansonsten trug er einen gefilzten Umhang und eine über Stiefeln aufgekrempelte Drillichhose.
»Herr Hanusch?«, sprach sie ihn an. Obwohl Wind und Wetter sein Gesicht gegerbt hatten, schätzte Klaudia ihn auf Anfang bis Mitte dreißig. Ein gepflegter Bart verbarg Kinn und Wangen. Seine Augen waren gerötet. »Mein Name ist Wagner«, stellte sie sich vor. »Kripo Lübben. Sie haben das hier organisiert?«
Hanusch nickte.
Als Klaudia schwieg, fuhr er fort: »Wir haben ’ne Wolfswache gemacht.«
»Und was ist das?«
»War eine landesweite Aktion.«
»Und warum hier?« Klaudia wusste zwar, dass die Wölfe aus Polen einwanderten, doch bisher war der Spreewald verschont geblieben. Zu nass sei es, hatte in der Lausitzer Rundschau gestanden.
»Um auf unsere Situation aufmerksam zu machen.«
»Zu Recht«, mischte sich jetzt der junge Mann ein, der den Toten gefunden hatte. »Oder?« Das Kinn vorgeschoben, baute er sich vor Klaudia auf.
»Haben Sie den Toten gesehen?«
»Nicht richtig«, antwortete der junge Mann hastig, »aber was ich gesehen habe, reicht mir. Zerfleischt hat er ihn.«
»Niemand kann mit Sicherheit sagen, ob es ein Wolf war, Herr Delling.« Gerade noch rechtzeitig erinnerte sich Klaudia an den Namen des Zeugen. »Es könnte auch ein Wildschwein für die Verletzungen verantwortlich sein.«
»Vielleicht ist er tollwütig, oder was weiß ich. Keine Ahnung.« Delling redete sich in Rage. Er stand eindeutig unter Schock. »Vielleicht …«
Klaudia legte ihm die Hand auf den Arm und unterbrach damit seinen Redefluss. »Warum waren Sie hier?«
»Wegen der Wolfswache.« Delling zuckte vor ihrer Berührung zurück, als habe er sich verbrannt.
»Sie sind also auch Schäfer?«
»Nein.« Delling schüttelte den Kopf. »Mechatroniker.«
»Und?«, fragte Klaudia. »Warum waren Sie dann hier?«
»Es gab Bier und Würstchen.« Delling warf ihr einen hastigen Blick zu, als würde er sich schämen. Es wurde Zeit, sich auf seine Seite zu schlagen, damit er nicht ganz zumachte.
»Na, das sind schon mal zwei gute Gründe«, sagte Klaudia deshalb. Sie musterte ihn besorgt. Im grellen Licht der Scheinwerfer schimmerte seine Haut fahlgrau, und Schweiß glänzte auf seiner Stirn. »Wenn Sie möchten, kann ich einen Notfallseelsorger benachrichtigen«, sagte sie.
»Ich hab nichts zu beichten.« Delling spuckte aus.
»Es geht nicht um Beichte, sondern um Hilfe.« Klaudia nahm ihm die abwehrende Reaktion nicht übel. »Sie sind traumatisiert.«
»Und Sie meinen, so ein Pfarrer könnte das ändern?« Delling musterte sie mit einem skeptischen Seitenblick.
»Niemand kann etwas ändern«, antwortete Klaudia. »Doch er kann Ihnen helfen, Wege zu finden, mit der Erinnerung zu leben.« Sie räusperte sich. Bevor sie weitersprechen konnte, unterbrach Demels laute Stimme sie.
»Kannst du mal bitte kommen?« Er und Klaas hockten hinter dem Toten. Wie es aussah, hatten sie die Leiche gerade auf die Seite gedreht. »Das musst du dir anschauen.«
Auch wenn es Klaudia drängte, sofort zu den Kollegen zu gehen und sich die Sache anzuschauen, musste sie erst noch dies hier beenden. »Wie kam es, dass Sie den Toten gefunden haben?«
»Ich musste pissen.« Delling schaute an Klaudia vorbei.
»Und deshalb sind Sie zum Waldrand gegangen?«
Delling reagierte nicht.
»Und weiter?«, erinnerte ihn Klaudia an ihre Anwesenheit.
»Na ja, ich hab gepisst, und da hab ich was Helles gesehen und bin hin.«
»Klaudia!« Demels Stimme klang jetzt dringlich.
»Ich muss Sie eben verlassen.« Klaudia winkte Kuloth heran. »Können Sie in der Zwischenzeit dem Kollegen bitte die Stelle zeigen, wo Sie ausgetreten sind?«
»Warum?«
»Um zu wissen, welche fundortnahen Spuren von Ihnen sind.«
»Okay.«
»Was ist mit der Herde?«, fragte Hanusch.
»Was soll damit sein?«
»Kann ich sie wegtreiben? Wenn sich hier ein Wolf rumtreibt, will ich sie im Stall haben. Ich wohne gleich dahinten.« Er zeigte in die Nacht hinaus.
»Es tut mir leid«, sagte Klaudia. »Im Moment ist dies ein Tatort, an dem Sie nichts verändern dürfen. Ich befürchte, bis wir mit unserer Arbeit fertig sind, müssen die Tiere bleiben, wo sie sind.«
»Wie lange dauert das denn?«
»Das kann ich Ihnen noch nicht sagen.« Unschlüssig schaute Klaudia zu den weiß gekleideten Kollegen, die im Gelände unterwegs waren und Spuren sicherten. »Ich frage nach. Aber wahrscheinlich müssen meine Kollegen erst einmal auf die Weide.«
»Sie sagen mir Bescheid?«
»Ich würde es für eine gute Idee halten, wenn Sie erst einmal hierblieben.«
»Aber ich wohne da hinten.«
»Trotzdem.« Klaudia zwang ihre Stimme in den Verhörmodus, um sich ihre Ungeduld nicht anmerken zu lassen.
Der Schäfer öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch Klaudia machte auf dem Absatz kehrt und stapfte zur Leiche. Komischer Kerl, dachte sie. Wenn der Tote nicht so eindeutig zerfleischt worden wäre, hätte dieser Schäfer eine gute Platzierung auf der Liste der Verdächtigen sicher.
»Das hat aber gedauert«, murrte Demel. Er und Klaas hockten immer noch hinter dem Toten, der jetzt wieder auf dem Rücken lag.
»Tut mir leid, ging nicht schneller.« Klaudia wusste selbst, wie blöd es war, warten zu müssen, andererseits konnte man einen Zeugen auch nicht einfach so stehen lassen.
»Nein, aber wehtun«, antwortete Demel geheimnisvoll.
»Na dann? Was gibt’s denn?«
»Sieh selbst.« Der Kollege und die Rechtsmedizinerin drehten die Leiche, und der Geruch von Verwesung wehte über Klaudia hinweg und ließ sie die Luft anhalten. »Das haben wir beim Drehen gefunden«, sagte Klaas. »Er hat draufgelegen.«
»Ups«, sagte Klaudia, als sie erkannte, was vor ihr lag. »Das sind ja ganz neue Aspekte.«
Mit dem Zeigefinger am Abzugsbügel nahm Demel die Pistole hoch und drehte sie vor seinen Augen. »Das ist eine Makarow«, murmelte er. »Wahrscheinlich noch aus NVA-Beständen.«
»Pass auf, dass es keine weiteren Toten gibt«, scherzte Klaudia nur halb. Sie hielt nicht viel davon, fremde Waffen am Zeigefinger hängen zu haben.
Demel beugte sich vor und schnupperte an der Mündung. »Damit wurde geschossen.« Ein letzter Schwenk des Zeigefingers beförderte die Makarow in einen Spurenbeutel, den Wibke ihm hinhielt. »Vielleicht auf den Angreifer.«
»Könnte das ein Wolf gewesen sein?«
»Gibt’s hier überhaupt welche?« Klaas schob die Kleidung des Toten hoch und inspizierte den Rücken.
»Das hier«, Klaudia nickte in Richtung des Grills und der Bierzeltgarnituren, »war eine Wolfswache.«
»Ob es einer war, kann ich so nicht sagen«, antwortete Klaas. »Wir könnten versuchen, genetisches Material von den Wundrändern zu gewinnen. Ansonsten: keine Verletzungen auf dem Rücken oder den hinteren Gliedmaßen«, fuhr sie fort.
»Das Opfer könnte den Wolf also angeschossen haben.« Klaudia kaute an dieser Erkenntnis wie an einem zähen Stück Fleisch. Ein verletztes Tier, das möglicherweise ein Wolf war und einen Menschen getötet hatte, lief hier irgendwo herum. Kein Gedanke, der ihr gefiel. Mussten sie jetzt den gesamten Spreewald absperren? Oder eine Hundertschaft reinschicken? Sie hatte keine Ahnung, was sie in dieser Situation tun musste, irgendwie waren Wölfe während ihrer Ausbildung kein Thema gewesen. Sie schaute hinüber zum Förster, der mit Wibke vor einer Spur hockte. Verletzte Tiere fielen eindeutig in seinen Aufgabenbereich.
»Doch was war die Henne und was das Ei?«, unterbrach Demel ihre Überlegungen. Er half gerade der Ärztin, die Leiche wieder auf den Rücken zu drehen.
»Wie meinst du das?«
»Hat er geschossen, weil er angegriffen wurde, oder wurde er angegriffen, weil er geschossen hat?«
»Kann man so nicht sagen«, antwortete Klaas. »Aber was man sagen kann: Es muss rasend schnell gegangen sein.« Sie griff nach der verbliebenen Hand des Toten. Sie war aufgedunsen, und die Fingernägel drückten sich bereits aus dem Nagelbett. Trotzdem verstand Klaudia sofort, was Klaas meinte. Der Tote wies keine Abwehrverletzungen auf. Nicht an der Hand und auch nicht an dem verbliebenen Unterarm, den die Ärztin nun entblößte.
»Eure Leiche.« Klaas zog sich die Einmalhandschuhe von den Händen und stemmte sich in die Höhe. Rückwärts taumelnd landete sie an Klaudias Brust.
»Hoppla.« Klaudia stützte die Ärztin. »Wie alt schätzt du ihn?«
»Schwer zu sagen.« Nachdenklich musterte Klaas das zerstörte Gesicht. »Höchstens zwanzig.«
»Würde ich auch denken.« Klaudia nickte.
»Genaueres nach der Obduktion.« Klaas grinste schief. »Ich denke, wir nehmen ihn gleich Montag dran. So etwas lässt sich der Chef nicht entgehen.«
»Wann ungefähr?«, fragte Klaudia.
»Um neun hat der Chef Studenten da. Also möglicherweise genau dann. Wollt ihr dabei sein?« Klaas trat einen Schritt zur Seite und stieg aus dem weißen Overall der Spurensicherung.
»Ich weiß nicht.« Klaudia schaute zu Demel.
»Deine Entscheidung«, entgegnete er. »Aber eigentlich haben wir genug zu tun, oder?«
»Ich versuche, da zu sein«, sagte Klaudia schließlich. »Aber wartet nicht auf mich, wenn ich es nicht schaffe.«
»Von mir aus kann er abtransportiert werden.« Wibke beschriftete einen letzten Spurenbeutel. »Ich habe alles, was wir brauchen.«
»Was ist mit der Weide?« Klaudia schaute hinüber zu den Schafen, die wiederkäuend das Treiben beobachteten. Hin und wieder blökte eins, und Klaudia fragte sich, ob dieses Blöken ein Kommentar zu ihrer Arbeit war. »Der Schäfer will sie in den Stall treiben.«
»Kann er machen.« Wibke pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus der Kapuze gelöst hatte. »Solange er sich vom Weg fernhält.«
»Richte ich ihm aus, aber zunächst will ich noch einmal mit dem Förster sprechen. Kommst du mit?«, fragte sie Demel, der ein paar Schritte entfernt rauchte. Der würzige Tabakgeruch legte sich angenehm mild über den Verwesungsgeruch.
Jeder Kollege nahm die Dinge zu einem Tatort mit, von denen er dachte, dass sie wichtig sein könnten. Also Einmalhandschuhe oder auch Lederhandschuhe, ein Klemmbrett mit diversen Formularen, Spurenbeutel, Stifte und was sonst noch so in die Tasche passte. Zu Demels Ausrüstung gehörte ein Taschenaschenbecher. Wahrscheinlich würde er eher die Einmalhandschuhe vergessen als diesen Aschenbecher.
»Es ist auf jeden Fall ein Kanide.« Welber winkte sie zu einer Spur. Ächzend ging er in die Knie, und die Polizisten folgten seinem Beispiel.
»Und was ist ein Kanide?«, fragte Klaudia.
»Ein Säugetier aus der Familie der Hunde.«
»Sie meinen, diese Spur stammt von einem Hund?«
»Hund oder Wolf, das kann ich so nicht sagen. Aber ich kann Ihnen etwas anderes sagen.«
»Nämlich?«, fragte Klaudia in die Kunstpause hinein.
»Sehen Sie das Trittsiegel?« Welbers Finger zeigte auf eine Eindruckspur. »Mehr breit als lang«, dozierte der Förster. »Gerade und gut definierte Krallenspuren. Die hinteren Pranten kleiner als die vorderen.« Welber legte seine Hand neben die Spur. »Recht groß, entweder großer Hund oder nicht ganz ausgewachsener Wolf.«
»So weit waren wir bereits«, sagte Klaudia.
»Ja, natürlich. Warten Sie.« Welber stand auf und winkte sie einen Meter weiter. »Es ist überall zu sehen, aber hier besonders gut.« Er zeigte auf den Boden. Folgsam, wie im Biologieunterricht, hockten sich die Polizisten neben die Spur. Klaudia sah alles, was Welber beschrieben hatte. Die Fußballen, die Krallenspuren, aber sie hatte keine Ahnung, was Welber von ihr wollte. Demel schien es nicht anders zu ergehen. Er räusperte sich und sprach die Frage aus, die auch Klaudia auf den Lippen lag. »Was ist zu sehen?«
»Er ist verletzt.« Nur mit Mühe gelang es Welber, den Triumph aus seiner Stimme zu verbannen.
»Das wissen wir bereits.« Demel richtete sich auf und streckte die Hand aus, um Klaudia aufzuhelfen. Ohne darüber nachzudenken, ergriff Klaudia sie.
»Das Opfer hat einen Schuss abgefeuert.«
»Kann sein«, sagte Welber. »Aber er hat ihn nicht getroffen.«
»Weil kein Blut in der Spur ist?«, fragte Klaudia. »Oder was macht Sie so sicher?«
»Zwei Sachen. Ich zeig’s Ihnen.« Welber winkte sie ein Stück weiter.
»Der macht’s aber spannend«, murrte Demel.
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Jurij stieg vom Rad und schob es von der Landstraße auf einen der lehmigen Wege in den Feldern zwischen Burg und Byhleguhre. Veronika hatte ihn angerufen. Er hatte gerade die Eier eingesammelt und Plisch und Plum in den Zwinger gesperrt. Nachts waren sie immer noch im Haus, lagen am Fußende seines Bettes und wärmten ihm die Füße. Nicht einmal das Rascheln der Mäuse im Gebälk weckte sie dort. Außerhalb des Hauses waren ihre Ohren ständig in Bewegung. Nicht das leiseste Geräusch entging ihrer Aufmerksamkeit.
Ein Wolf sei am Nordumfluter gesehen worden, hatte Veronika gesagt. Ich schicke dir ein Bild. Das ist morgen in der Zeitung. Schau, ob du Spuren von ihm findest.
Jurij hatte sich das Bild lange angesehen. Es war ein junger Wolf, so viel war klar. Älter als Plisch und Plum, aber noch nicht ausgewachsen. Wahrscheinlich ein Jährling.
Das machte Sinn: Es waren in der Regel die jungen Wölfe, die sich auf den Weg machten, wenn auch nicht unbedingt zu dieser Jahreszeit. Die meisten Wölfe, die hier in der Gegend gesichtet wurden, stammten vom Rudel in der Lieberorser Heide, einem ehemaligen Truppenübungsplatz.
Jurij legte das Rad in die Böschung und zog den Schirm seiner Basecap als Schutz gegen die Sonne über die Augen. Grelles Licht triggerte die Anfälle – ein Andenken an seine Drogenjahre -, deshalb trug er meistens eine Sonnenbrille, aber fürs Spurenlesen konnte er die nicht gebrauchen. Früher hatten die Anfälle ihn umgehauen. Heute kamen sie nur noch, wenn er sich aufregte, und dann hauten sie ihn nicht um, sondern ihm fehlten einfach nur ein paar Stunden.
Frühnebel hing über den abgeernteten Feldern, und die Wiesen dampften im schräg einfallenden Sonnenlicht. Schweiß lief Jurij in den Nacken. Auch wenn es noch früh am Morgen und bereits September war, hatte die Sonne bereits Kraft. Er fragte sich, ob das schon der Klimawandel war: Die Sommer wurden immer feuchter und der Herbst immer sommerlicher, und der Winter war auch nicht mehr der, von dem die Alten erzählten: Novemberwetter bis in den März hinein. Das Wetter war so verrückt wie die Menschheit. Der Mensch würde so lange im Überfluss leben, bis er ganz allein auf der Welt war. Aber wehe, es kamen Tiere zurück, die eigene Rechte einforderten, dann war das Geschrei groß. Dann wurden die alten Geschichten aufgewärmt und Emotionen geschürt. Der böse Wolf ist zurück. Rettet eure Kinder. Dabei war Platz für alle. Für Vieh und Wölfe. Jurij kniff die Augen zusammen. Ein Kotstrang am Rande des Weges erregte seine Aufmerksamkeit.
Jurij bückte sich und nahm den Rucksack mit den Probenkits von den Schultern. Erst fotografierte er die Losung, dazu legte er ein Zentimetermaß daneben, dann zerteilte er sie mit einem Holzspatel, wie es ihn Veronika gelehrt hatte. Die Losung war noch relativ frisch und enthielt alles, was er brauchte, um Hundekot auszuschließen: Haare, kleine Knochen. Allerdings keine Hufe oder größere Knochen, wie sie für Wolfskot typisch waren.
Jurij holte einen der mit vergälltem Alkohol gefüllten Plastikbecher heraus und füllte ihn mit Kot für die genetische Untersuchung. Nachdem er ihn ordentlich geschüttelt hatte, beschriftete er ihn mit Datum und Fundort und füllte das Protokoll aus. Wolfsbeobachtung hatte viel mit Schreibkram zu tun. Alles, was er aufschrieb, würde in die Datenbank eingepflegt. Gleich auf dem Rückweg würde er alles auf dem Schlossberghof abgeben, und der FÖJler würde die Angaben ins Wolfsregister einpflegen.
So war auch Jurij auf die Wölfe gekommen. Durch ein Freiwilliges ökologisches Jahr. Der Schreibkram war nicht so sein Ding gewesen, aber alles andere. Veronika hatte ihm gezeigt, wie man Spuren findet, er hatte Wölfe gefilmt, aber auch gerissene Schafe untersucht. Und er hatte sich zum ersten Mal in seinem Leben sicher gefühlt.
Nach dem FÖJ wusste er, dass sein Platz hier im Spreewald war, und er ging zu Fritz. Veronika hatte ihm von ihrem Nachbarn erzählt, der völlig allein auf seinem Hof lebte und schneller verfiel als sein Hof.
Zuerst war Fritz misstrauisch, aber dann hatten sie sich geeinigt. Sie passten einfach zusammen, Jurij hatte kein Zuhause und Fritz zu viel davon. Er würde den Hof erben, dafür würde er sich um Fritz kümmern und dafür Sorge tragen, dass der Alte anständig unter die Erde kam. Deal. Handschlag. Notar. Jurij hatte schon so viel in seinem Leben vergeigt, das hier wollte er richtig machen.
Von Fritz lernte Jurij, mit dem Jahr zu leben. Im Frühjahr säte er, im Herbst erntete er. Durch die Arbeit seiner Hände blühte nicht nur der alte Mann wieder auf. Jurij reparierte den Hühnerstall und die Kellerstiege, flickte das Dach und schlug das Holz für den Winter. Wenn er nicht einkaufen musste, sah er tagelang nur den alten Fritz, der die Hühner fütterte und ansonsten im Winter auf der Ofenbank und im Sommer vor dem Haus hockte und von früher erzählte. Jurij hörte ihm gerne zu, und wenn Fritz schwieg, erzählte er ihm von seinen Plänen. Und wenn er mal ausfiel, weil sein Gehirn explodierte, war das nicht weiter schlimm.
Es ging ihnen gut miteinander, und Fritz setzte tatsächlich auf seine alten Tage noch Speck an. Wenn Jurij nachts in seinem Bett lag und die mehr als dreihundert Jahre alten Balken über ihm wisperten, wusste er, dass er angekommen war.
Jurij steckte die Probe in den Rucksack, blieb aber in der Hocke. Es war nicht einfach, die Spur zu finden, der Weg war staubig, und es wehte ein leichter, aber stetiger Ostwind. Schließlich fand er den ersten Pfotenabdruck. Er sah aus wie der eines großen Hundes. Um herauszufinden, ob es sich wirklich um eine Wolfsspur handelte, musste er weitere Abdrücke finden und ihnen folgen. Jurij schulterte den Rucksack, fotografierte den Abdruck und ging in die Richtung, in die der Abdruck wies. Es konnte ein langer Tag werden, aber er war geduldig. In einem Waldstück wurde die Spur deutlicher und Jurij sicherer. Dieses Tier verhielt sich nicht wie ein Hund, der überall herumschnüffelte und dabei im Zickzack und vor und zurück stromerte. Dieses Tier lief wie von einer Schnur gezogen immer geradeaus. Wölfe konnten stundenlang in diesem geschnürten Trab laufen und dabei enorme Distanzen zurücklegen, wobei die Abdrücke der Hinterpfoten immer in den Vorderpfoten landeten.
An einer lehmigen Stelle fotografierte Jurij sie wieder und zoomte dann das Bild im Handydisplay. Er scrollte sich durch die Fotos. Wie es aussah, schlappte der linke Hinterlauf immer leicht aus der Spur, was aber wirklich nur in der Vergrößerung zu sehen war. Der Wolf war also verletzt. Das erklärte möglicherweise das Fehlen von Spangen oder anderen Hufresten im Kot. Jurij runzelte die Stirn. Ein verletzter Wolf war keine gute Nachricht.